Jean Ziegler
WARUM WIR WEITER KÄMPFEN MÜSSEN
Mein Leben für eine gerechtere Welt
Aus dem Französischen
von Hainer Kober
Pantheon
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
Chemins d’espérance: Ces combats gagnés, parfois perdus mais que nous remporterons ensemble
bei Éditions du Seuil, Paris.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden
bei C. Bertelsmann, München.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe
by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23700-4
V004
www.pantheon-verlag.de
Also seid ihr
Verschwunden, aber
Nicht vergessen
Niedergeknüppelt, aber
Nicht widerlegt
Zusammen mit allen unverbesserbar
Weiterkämpfenden
Unbelehrbar auf der Wahrheit
Beharrenden
Bertolt Brecht1
1 Bertolt Brecht, »An die Kämpfer in den Konzentrationslagern«, in: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt a. M. 1981, S. 456.
Dieses Buch ist dem Gedächtnis
meiner Freunde gewidmet:
Sérgio Vieira de Mello,
Hochkommissar der Vereinten Nationen
für Menschenrechte, und seine
21 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
ermordet am 19. August 2003 in Bagdad,
Raoul Décaillet, Martin Sigam, Rupert Neudeck,
Pater Jean de la Croix Kaelin,
Patrick de Laubier, Elie Wiesel
INHALT
VORWORT
Der Besuch der Scheicha
KAPITEL EINS
Die Oligarchen gegen die Völker
KAPITEL ZWEI
Eine Pause am Wegesrand
KAPITEL DREI
Die sanfte Gewalt der Vernunft
KAPITEL VIER
»Vorwärts zu unseren Wurzeln«
KAPITEL FÜNF
Die imperiale Strategie
KAPITEL SECHS
Krieg und Frieden
KAPITEL SIEBEN
Die universelle Gerechtigkeit
KAPITEL ACHT
Das Gespenst des Völkerbunds
KAPITEL NEUN
Palästina
NACHWORT
Die Kämpfe, die wir gemeinsam gewinnen werden
DANK
PERSONENREGISTER
ORTS- UND SACHREGISTER
VORWORT
Der Besuch der Scheicha
Palais des Nations in Genf: Sie glitt durch den »Saal der Menschenrechte und der Allianz der Zivilisationen« wie eine Fata Morgana. Zwei mit blauen Diamanten besetzte Gehänge an den Ohrläppchen, eine Weißgoldkette dreifach um den Hals geschlungen, die Finger vom kostbaren Glanz ihrer Ringe geschmückt, während ihre hohe Gestalt von einer atemberaubenden purpurfarbenen Tunika eng umschlossen war und das braune Haar teilweise unter einem roten Turban verschwand … So präsentierte sich, von tausend Feuern umspielt, die Scheicha Mozah Bint Nasser Al-Missned, zweite Gemahlin von Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani, dem ehemaligen Emir von Katar, und Mutter des herrschenden Emirs. Sie nahm in der Mitte der Tribüne Platz.
In dem riesigen Saal – ein Geschenk der spanischen Regierung für den Sitz der Vereinten Nationen in Genf – drängten sich Botschafterinnen und Botschafter, Direktorinnen und Direktoren der Spezialorganisationen, verschiedene geladene Gäste. Mir hatte man einen seitlichen Platz in der dritten Reihe zugewiesen, ein paar Meter von der Tribüne entfernt.
Neben mir saß ein untersetzter Mann mit spiegelglatter Glatze und hellwachen Augen, mein Freund Mohamed Siad Doualeh, ein somalischer Dichter und Botschafter Dschibutis.
Fasziniert betrachtete er die seltsam erstarrten Gesichtszüge der Frau. Er beugte sich zu mir und fragte: »Wie viele Schönheitsoperationen?« Etliche, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte. Tatsächlich schienen in dem schönen Gesicht der Scheicha nur die Augen lebendig zu sein.
Es war ein kühler Herbstmorgen des Jahres 2015. Ban Ki-moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, hatte die Scheicha mit einer wichtigen Mission betraut: Sie sollte den Würdenträgern des europäischen Sitzes der Vereinten Nationen die »Agenda 2030« der UNO präsentieren.
Zur Erinnerung: Im September 2000, an der Schwelle des neuen Jahrtausends, hatte Kofi Annan, der damalige Generalsekretär, die Regierungschefs der damals 191 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nach New York eingeladen. 165 von ihnen hatten die Reise auf sich genommen. Es ging darum, die acht größten Tragödien der Menschheit zu benennen und Strategien zu ihrer Beseitigung zu entwerfen. Das Schlussdokument trug den Titel Millenniumsziele (Millennium goals). Man legte eine Frist von fünfzehn Jahren fest, um diese Tragödien wenn nicht zu beenden, so doch, um sie spürbar zu lindern. Ein Beispiel: Ziel Nummer 1 war die Forderung, bis Ende 2015 die Zahl der Opfer von Hunger und Unterernährung weltweit zu halbieren.
Nach Ablauf der fünfzehn Jahre ist die Bilanz beschämend: Nur sehr selten vermochten die – vorwiegend in der südlichen Hemisphäre gelegenen – Staaten, die von den genannten Tragödien geschlagen sind, den Katastrophen zu entrinnen. Vor allem das Ziel Nummer 1, die Verringerung der Zahl der Opfer von Hunger und Unterernährung, wurde vollkommen verfehlt.
Die unter der Federführung von Ban Ki-moon entworfene »Agenda 2030« forderte die Mitgliedstaaten auf, den Kampf auf der bisherigen Grundlage und mit neuen Methoden fortzusetzen. Dieses Mal listete man siebzehn Tragödien auf. Zur Bekämpfung jeder einzelnen wurden spezifische Strategien vorgeschlagen.
Etwas schockiert fragte ich meinen Nachbarn, warum Ban Ki-moon die Scheicha von Katar mit dieser prestigeträchtigen Präsentation betraut habe. Siad Doualeh, der zwei Jahre lang an der Ausarbeitung der »Agenda 2030« in New York mitgewirkt hatte, erwiderte trocken: »Die Kataris zahlen.«
Katar ist eine Halbinsel mit einer Fläche von etwas mehr als 10000 Quadratkilometern im Persischen Golf. Mit dem Iran teilt sie sich den westlichen Schelf und die märchenhaften Gas- und Ölvorkommen, die dort liegen.
Auf der Halbinsel leben 250000 bis 300000 Kataris in verschiedenen, teils verfeindeten Stämmen. Seit Ende der englischen Besatzung im Jahr 1971 steht das Land unter der absoluten Herrschaft der Familie Al Thani.
Katar ist der weltweit führende Exporteur von Flüssigerdgas. Eine Million Barrel pro Tag produzieren die Förderplattformen vor der Küste. Das Land hat nur eine einzige Landgrenze – die Grenze zu Saudi-Arabien. Im Inneren praktizieren die Herrscher von Doha einen strengen wahhabitischen Islam. Als Rechtssystem dient die Scharia.
Die Halbinsel, die lange von den Persern und dann von den Osmanen beherrscht wurde, ist eine riesige trockene Ebene, die gänzlich mit Sand bedeckt ist. Für das Funktionieren der Wirtschaft sorgen 1,8 Millionen Arbeitsmigranten, die vorwiegend aus Bangladesch, Nordindien und Nepal kommen. Die Scheicha und ihr Sohn, der regierende Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, behandeln sie wie Sklaven.
Bei ihrer Ankunft müssen die Einwanderer ihre Pässe abgeben. Es kommt zu zahllosen sexuellen Übergriffen gegenüber Hausangestellten, zu Arbeitsunfällen und Misshandlungen. Die katarischen Arbeitgeber können über Leben und Tod ihrer ausländischen Sklaven entscheiden.
In puncto Außenpolitik ist das Emirat ein lupenreiner Satellit der Vereinigten Staaten. Der größte amerikanische Militärstützpunkt außerhalb der Vereinigten Staaten befindet sich in Katar: Al-Udeid ist sogar der größte Luftwaffenstützpunkt der Welt. Seine Kasernen, Werkstätten, Rollfelder, submarinen Schlupfwinkel, Flugzeughallen, Depots und Kommunikationszentren bedecken fast ein Drittel des katarischen Staatsgebiets.
Die katarischen Geheimdienstler, Finanzagenten und Waffenhändler, die im Mittleren Osten und Maghreb ihr Unwesen treiben, handeln im Auftrag der Amerikaner.
Im Vergleich zu den Herrschern von Doha waren die Atriden der griechischen Mythologie liebenswerte Philanthropen. Die Ermordung von Gegnern aus rivalisierenden Stämmen und Staatsstreiche innerhalb des regierenden Stammes sind an der Tagesordnung.
Eines Morgens im Sommer 1995 war der herrschende Emir so leichtsinnig, sich zur Sommerfrische in eines seiner prächtigen Anwesen am Ufer des Genfersees zu begeben. Einer seiner Söhne nutzte die Gelegenheit, um ihn zu stürzen. Vorangegangen war eine erste Unvorsichtigkeit des Emirs: Kurz zuvor hatte er diesen Sohn zum Verteidigungsminister und Geheimdienstchef ernannt. Allerdings war der Emir selbst ein Usurpator. Er bestieg den Thron, nachdem er seinen Onkel gewaltsam abgesetzt hatte. Übrigens hat der Usurpator von 1995 – vielleicht, um dem Schicksal seiner Vorgänger zu entgehen – 2013 die Macht seinem Sohn Tamim übergeben, dem gegenwärtigen Sklavenhalter in Doha und Lieblingssohn der Scheicha.
Nach einem vollkommen undurchsichtigen Auswahlverfahren hat die FIFA 2010 dem Land der Scheicha die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2022 zugesprochen. Eine Entscheidung, die für die Herrscherfamilie einen willkommenen Prestigegewinn bedeutet. Seither ist das Land mit gigantischen Baustellen bedeckt – für Schnellstraßen, Stadien, Luxushotels, Wasserleitungen, Entsalzungsanlagen und so fort. Diese Arbeiten pharaonischen Ausmaßes verschlingen Menschen. Seit 2010 sind fast 1400 bengalische, indische und nepalesische Arbeiter auf dem Altar der FIFA und der maßlosen Ambitionen des Emirats geopfert worden. Am 23. März 2016 hat Amnesty International eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der sie die Züricher Bürokraten der FIFA auffordert, endlich ihr Versprechen einzulösen und die Wahhabiten in Doha dazu zu bringen, auf den Baustellen minimale Standards des Arbeitsschutzes einzuhalten und den Familien der Unfallopfer die versprochenen Entschädigungen zukommen zu lassen. Amnesty International hat eine Rechnung aufgemacht: Wenn sich an den mörderischen Bedingungen nichts ändert, werden bis 2022 weitere 7000 Arbeitsmigranten auf den katarischen Baustellen ums Leben kommen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben weder die Apparatschiks in Zürich noch die Wahhabiten in Doha auf das Verlangen von Amnesty International reagiert.
Die Nachmittagssonne stand noch hoch am Himmel, als die Scheicha endlich ihre Rede verlesen hatte und die UNO-Zeremonie endete. Am Ausgang des Saals begegnete ich einem eleganten Herrn von etwa sechzig Jahren mit kurz geschnittenen grauen Haaren und freundlichen Augen – Guy Ryder, in Liverpool geboren, Soziologieexamen in Cambridge, Chef des TUC (Trade Union Congress), dann der Confédération des Syndicats libres in Brüssel. Nach einem denkwürdigen Wahlkampf wurde er 2012 Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die ihren Hauptsitz in Genf hat. Wir gehören derselben lokalen Gewerkschaft an, der UNIA Genève. Entsprechend der schönen (wenn auch ein wenig altmodischen) TUC-Tradition begrüßt er seine Freunde mit der Anrede Brother.
Ryder sagte zu mir: »Die Regierung in Doha verstößt gegen fast alle Übereinkommen der ILO … Wenn die Arbeiter weiterhin auf diesen Baustellen sterben und verstümmelt werden, gibt es 2022 keine Fußballweltmeisterschaft in Doha, das verspreche ich dir.« Ryder sagte das vollkommen ruhig. Ich sah ihm in die Augen und zweifelte keinen Augenblick daran, dass er Wort halten würde.
Während der denkwürdigen Tage vom 9. bis zum 12. August 1941 wühlte ein Sturm das Meer auf. Regen peitschte die Wasseroberfläche. Der Wind heulte um den Kreuzer USS Augusta der amerikanischen Kriegsmarine, der vor der neufundländischen Küste festgemacht hatte. An Bord befanden sich der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill.
Die Welt versank in Blut und Verderben, während die Nazi-Ungeheuer und die japanischen Imperialisten Europa und Asien verwüsteten. Unbeirrbar und visionär glaubten Churchill und Roosevelt an den Sieg der Alliierten. Auf der USS Augusta skizzierten sie – durchgeschüttelt und durchnässt – die Grundlagen einer neuen Weltordnung. In der Atlantikcharta, die nach ihrem Treffen am 14. August 1941 veröffentlicht wurde, tauchte zum ersten Mal das schöne Wort von den »Vereinten Nationen« auf. Diese Atlantikcharta hat die am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnete Gründungscharta der Vereinten Nationen antizipiert und inspiriert.
Auf vier Pfeilern ruhte diese neue Weltordnung: erstens dem Recht eines jeden Volkes, die Regierungsform zu wählen, unter der es leben möchte, und der Wiederherstellung dieses Rechts, wenn ihm seine Souveränität gewaltsam genommen wurde; zweitens der Verhinderung aller Kriege zwischen Staaten durch einen Zwangsmechanismus, der für die kollektive Sicherheit sorgt; drittens der Garantie, dass die Menschenrechte aller Bewohner des Planeten gewahrt und geschützt werden; viertens der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit überall auf der Welt.
Während der Jahrzehnte, die auf die Annahme dieser Charta folgten, kam es zu einer Entwicklung, die keiner der beiden Staatsmänner vorhergesehen hatte: der fortschreitenden Machtergreifung durch die Oligarchien eines immer stärker globalisierten Finanzkapitals, die die Souveränität der Staaten, also der Hauptakteure der geplanten neuen Ordnung, zunehmend untergruben und schließlich völlig zerstörten.
Die erklärte Aufgabe von Staaten besteht im Schutz des Allgemeinwohls, in der Verwirklichung des öffentlichen Interesses. Dagegen kennt das Finanzkapital nur ein Gesetz, das der Maximierung seines Profits in möglichst kurzer Zeit.
Vor dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO müssen die 23 UN-Sonderorganisationen, die Sonderinstitutionen sowie die anderen UN-Agenturen und -Organe jedes Jahr ihre Tätigkeitsberichte vorlegen: die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für den Kampf gegen Epidemien und endemische Krankheiten; die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO) und das Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP) für die Aufgabe, Unterernährung und Hunger zu reduzieren; die Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organization, WMO) für das Bemühen, auf die fatalen Folgen des Klimawandels hinzuweisen; das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, UNEP) für die Maßnahmen zur Eindämmung der Wüstenbildung auf Ackerland; das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (ursprünglich: United Nations International Children’s Emergency Fund; heute: United Nations Children’s Fund, UNICEF) unter anderem für den Kampf gegen die Kindersterblichkeit.
2016 sind auf diesen Schlachtfeldern mehr als 54 Millionen Menschen gefallen. Zum Vergleich: Der Zweite Weltkrieg hat in sechs Jahren insgesamt 57 Millionen zivile und militärische Opfer gefordert.
Der Dritte Weltkrieg gegen die Völker der Dritten Welt hat längst begonnen.
Fast unmerklich hat sich diese kannibalische Weltordnung etabliert. Winzige kapitalistische Oligarchien von beinahe grenzenloser Macht, die sich fast jeder staatlichen, gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Kontrolle entziehen, bemächtigten sich des weitaus größten Teils der weltweiten Reichtümer und zwingen den Staaten der Erde nun ihr Gesetz auf.
Die UNO ist blass und kraftlos. Der Traum, den sie ursprünglich verkörperte – die Errichtung einer gerechten Weltordnung –, ist gescheitert. Vor der Allmacht der privaten Oligarchien erweisen sich ihre Interventionsmittel als weitgehend wirkungslos.
Und trotzdem! Unter der scheinbar sterbenden Glut glimmt noch das Feuer. Die Hoffnung vagabundiert durch die Trümmer der UNO. Denn der Horizont der Geschichte bleibt die kollektive Organisation des Planeten unter der Herrschaft des Rechts mit dem Ziel, überall für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zu sorgen.
Nichts anderes zählt.
»Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« Diese Forderung wurde im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 niedergelegt – und von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unterzeichnet.
Mag das Kollektivbewusstsein auch der von den herrschenden Oligarchien verbreiteten neoliberalen Wahnidee auf den Leim gehen, es bleibt dennoch durchdrungen von der Idee der Gleichheit aller Menschen.
Je mehr der Schrecken, die Negation und die Verachtung des anderen um sich greifen, desto stärker wächst rätselhafterweise die Hoffnung. Der Aufstand des Gewissens ist nah. Abermals.
Rousseau, Voltaire, Diderot, d’Alembert, Montesquieu sind die Ahnherren der UN-Charta. Die multilaterale Diplomatie verdankt der Aufklärung ihre Grundprinzipien. Fast im Wortlaut wiederholt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die die französischen Revolutionäre 1789 verkündeten.
Von Ernst Bloch stammt die rätselhafte Aufforderung: »Vorwärts zu unseren Wurzeln!«
Ich will an diesem Kampf teilnehmen. Im Interesse der Wiedergeburt einer dahinsiechenden UNO soll mein Buch dazu beitragen, die Männer und Frauen guten Willens für die bevorstehenden Kämpfe zu rüsten.
Hier der Plan, der ihm zugrunde liegt.
Das erste Kapitel beschreibt die gegenwärtige kannibalische Weltordnung und erinnert an die Entwicklungsziele, die die UNO 2016 in ihrer »Agenda 2030« zur Überwindung des Übels festgelegt hat. Als Symptom dieser Ordnung wird die mörderische Praxis der »Geierfonds« untersucht.
Das zweite Kapitel ist persönlicher. Darin versuche ich zu erklären, warum ich, nachdem ich vor fast einem Vierteljahrhundert das stark autobiografisch gefärbte Buch Wie herrlich, Schweizer zu sein2 veröffentlicht habe, heute eine weitere Pause am Wegesrand einlege; ich möchte mir die Kämpfe vergegenwärtigen, die ich ausgefochten habe – die Kämpfe, die ich gewann, die ich verlor, die uns noch erwarten und die wir gemeinsam führen werden. Im Lauf der letzten fünfundzwanzig Jahre, insbesondere seit meiner Ernennung zum Ersten Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung im Jahr 2000, finden diese Kämpfe im Wesentlichen auf den Schlachtfeldern der UNO statt.
Im dritten und vierten Kapitel erinnere ich an die Gründungsprinzipien der UNO und ihre Entstehungsgeschichte. Zwei im weitesten Sinne politische Strategien dominieren den Planeten und bekämpfen sich: die (von den USA ausgehende) imperiale Strategie und die – bescheidenere und geduldigere – multilaterale Diplomatie, wie sie von der UNO propagiert wird. Im fünften Kapitel geht es darum, die imperiale Strategie und ihre ideologische Rechtfertigung zu beschreiben.
Im sechsten und siebten Kapitel versuche ich, unter den Überschriften »Krieg und Frieden« und »Die universelle Gerechtigkeit« zu zeigen, wie die Blauhelme der UNO auf drei Kontinenten bemüht sind, den Frieden zu bewahren beziehungsweise zu schaffen, und wie die Richter an den verschiedenen internationalen Gerichtshöfen der UNO Recht sprechen.
Ein Gespenst geht um in der multilateralen Diplomatie der Gegenwart: das tragische Geschick des Völkerbunds, der am Ende des Ersten Weltkriegs im Rahmen des Versailler Vertrags gegründet wurde, das heißt, von den Mächten der Entente auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson (und in geringerem Maße des französischen Politikers Léon Bourgeois, der auch der erste Präsident des Völkerbundrats war). Die Gründung des Völkerbunds wurde insgesamt von 63 Staaten ratifiziert (allerdings nie von den Vereinigten Staaten, nachdem der amerikanische Senat, der gegen die Ratifizierung des Versailler Vertrags war, auch gegen den Beitritt zum Völkerbund gestimmt hatte). Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs besiegelte das Schicksal des Völkerbunds. Das achte Kapitel ist ihm gewidmet, dessen Scheitern heute die Vertreter der UNO – einschließlich meiner Person – heimsucht.
Als ehemaliger Sonderberichterstatter und gegenwärtiger Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen ist meine Arbeit heftiger Kritik durch die Regierungen in Washington und Tel Aviv ausgesetzt, aber auch durch zahlreiche sogenannte »Nichtregierungsorganisationen«, die auf Initiative der genannten Regierungen gegründet wurden. Deren Diffamierungskampagnen begegne ich in einem neunten Kapitel mit dem Titel »Palästina«.
Wo ist Hoffnung? Unter anderem im Wiedererstarken der UNO und in der Wiederverwendung jener Instrumente, die sie uns für unseren Kampf zur Verfügung stellt. In den Brüdern Karamasow schreibt Fjodor Dostojewski: »Jeder ist verantwortlich für alles vor allen.« Wie ich im Schlusskapitel darlege, ist das die Aufgabe jedes Einzelnen.
Im Sommer 1961 kam es in Rom zur ersten Begegnung von Jean-Paul Sartre und Frantz Fanon, einem von den Antillen stammenden Psychiater, der in der algerischen Revolution eine entscheidende Rolle spielte. Danach schrieb Sartre über Fanon: »Wir haben den Wind gesät, er ist der Sturm.«3
Den Feind erkennen, den Feind bekämpfen.
Ein Buch kann dazu beitragen, den Feind zu demaskieren, das Bewusstsein zu befreien und den Wind zu säen. Doch morgen wird es an den Völkern sein, die mörderische Weltordnung niederzureißen und jene Hoffnung wiederauferstehen zu lassen, deren Keim 1941 auf der USS Augusta gelegt worden war.
2 Jean Ziegler, Wie herrlich, Schweizer zu sein, München und Zürich 1993; Vollst. überarb. und mit einem aktuellen Nachw. vers. Taschenbuchausg., München 1999. In unveränderter Textfassung seit 2017 wieder lieferbar.
3 Jean-Paul Sartre, »Vorwort«, in: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1966, S. 20.