Knut Krüger

Nur mal schnell
das Mammut retten

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Knut Krüger

© Heike Bogenberger

Knut Krüger ist 1966 geboren und arbeitete nach seinem Germanistik-Studium im Buchhandel und Verlagswesen. Er ist heute freier Autor, Lektor und Übersetzer für englische und skandinavische Literatur. Knut Krüger lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in München.

 

 

Eva Schöffmann-Davidov hat schon als Kind alles gezeichnet, was ihr vor den Pinsel kam. Sie besuchte die Freie Kunstwerkstatt in München und studierte Grafik-Design in Augsburg. Bis heute illustriert sie mit großem Erfolg zahlreiche Bestseller, vorwiegend für Kinder- und Jugendbuchverlage. Sie lebt mit ihrer Familie in Augsburg.

Über das Buch

Eigentlich wünscht sich Henry nichts sehnlicher als einen eigenen Hund. Doch dann stolpert er im Wald über einen Blätterhaufen und traut seinen Augen nicht: Darunter verbirgt sich ein zotteliges Wesen mit fluffigen kleinen Schlappohren und gelben Stoßzähnen – ein Zwergmammut! Gemeinsam mit seinen besten Freunden Finn und Zoe karrt er das Tier heimlich nach Hause. Nur, wie versteckt man ein übermütiges Mammut, wenn es zum Frühstück am liebsten Hausschuhe und Mathehefte verputzt? Und vor allem: Was tun, als es plötzlich in Gefahr gerät?

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

©2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Eva Schöffmann-Davidov

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43133-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71804-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423431330







Für David,

meinen ersten Leser

SAMSTAG

WUFF

Ich will doch nur einen Hund. Ich meine, ist das so ungewöhnlich? Ich bin ein zehnjähriger Junge und wünsche mir eines dieser vierbeinigen Wuschelwesen, von denen es in Deutschland sieben Millionen Stück gibt. Sieben Millionen! Woher ich das weiß? Das steht in dem Hundebuch, das ich mir in der Schulbibliothek ausgeliehen habe. Wenn ich mich draußen so umsehe, habe ich manchmal das Gefühl, alle haben einen Hund, nur ich nicht. Und wenn ich mit dem Fahrrad zur Schule fahre, kommt aus jedem zweiten Haus ein Jaulen, Bellen oder Knurren. Auch mein bester Freund Finn hat jetzt einen Hund, obwohl er sich nicht mal einen gewünscht hat. Plötzlich war der einfach da.

Nur meine Eltern, die wollen überhaupt nichts davon wissen, dass es in Deutschland bald sieben Millionen und einen Hund – nämlich meinen Hund – geben könnte. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Er muss auch nicht groß sein. Vier Beine zum Laufen soll er haben, einen Schwanz zum Wedeln und eine Zunge, um mir die Hände abzulecken – ich kann gerne eine Zeichnung anfertigen, wenn das weiterhilft. Aber bei meinem Zeichentalent würde es wahrscheinlich eher wie ein Nilpferd oder ein Lama aussehen, und was soll ich mit einem Lama? Mich ständig anspucken lassen?

Meine Eltern tun so, als würde ich mir was absolut Ungewöhnliches oder wahnsinnig Gefährliches wünschen.

»Ein HUND?«, hat neulich meine Mutter mit so komisch krächzender Stimme gefragt. Ihr Gesicht war voller knittriger Sorgenfalten, als hätte ich mir ein Rudel Wölfe, ein paar Giftschlangen und ein Krokodil gewünscht.

»Ein HUND!«, hat mein Vater gesagt und lächelnd den Kopf geschüttelt, als wäre das eine lustige Idee meines kleinen Kindergehirns. Der putzige Einfall eines Dreikäsehochs, der gar nicht weiß, was er sich da wünscht. Grrr.

Weiß ich aber genau. Als ich neulich zu Finn kam, ist sein Hund Pluto gleich mit fliegenden Schlappohren auf mich zugestürmt. Ich geh in die Knie, um ihn zu begrüßen, aber Pluto denkt gar nicht dran, mir höflich die Pfote zu geben, sondern springt mir direkt ins Gesicht, sodass ich hintenüberkippe. Der fiepende kleine Kerl hopst voll auf mich drauf und schnuffelt so wild an meinem Hals und schleckt an meinem Ohr, dass ich einen totalen Lachanfall kriege – das war so schön, das kann man sich gar nicht vorstellen. Irgendwann hat Finn »Ist gut jetzt, Pluto!« geschimpft und ihn von mir runtergezerrt. Dann hat er mir erzählt, dass er jeden Tag nach der Schule so begrüßt wird, das wäre nichts Besonderes. Ich glaube fast, er war ein bisschen eifersüchtig.

Seit Plutos Kuschelattacke hält dieser eine Gedanke meinen Kopf besetzt und dreht sich dort im Kreis. Für andere Gedanken ist gar kein Platz mehr, was irgendwie schön, aber auch ganz schön anstrengend ist. Ein Hund … Pluto … kuschel … schnuffel… schleck … hechel … wuff – so geht das die ganze Zeit. Und dann stelle ich mir vor, wie mein eigener Hund vor Begeisterung völlig ausflippt, wenn ich aus der Schule komme. Jeden Tag wieder. Wahrscheinlich haben Hunde ein schlechtes Gedächtnis, aber das ist mir egal.

 

Als ich an unserem Badezimmer im ersten Stock vorbeigehe, sehe ich meinen Vater vor dem Spiegel stehen. Sein halbes Gesicht ist weiß vom Rasierschaum, während er die Musik mitsummt, die aus dem kleinen Radio dudelt. Als er mich sieht, zwinkert er mir zu und fragt, ob ich ihm beim Rasieren helfen will. Ich schüttele den Kopf. Früher hab ich das manchmal gemacht und mir immer wahnsinnig Mühe gegeben, dass nicht ein einziges Barthaar übrig bleibt, aber ich finde, dass ich für solche Kinderspiele inzwischen zu alt bin.

Unten klirrt und klappert es wie wild. Die Frühstücksvorbereitungen müssen in vollem Gang sein. Ich flitze die Treppe runter, um meiner Mutter beim Tischdecken zu helfen, doch natürlich komme ich genau in dem Moment, als sie das letzte Marmeladenglas auf die karierte Decke stellt. Alle Sachen stehen dicht an dicht, als würde gleich eine ganze Fußballmannschaft zu Besuch kommen: ein Korb mit Brötchen und Croissants, Marmeladen in verschiedenen Farben, Honig und Nutella. In einer Glasschüssel drängeln sich rechteckige Melonenstücke und halbierte Erdbeeren. Die Speckscheiben neben dem dampfenden Rührei sind ziemlich verschrumpelt und das Gelbe in der Karaffe muss frisch gepresster Orangensaft sein. Sieht echt toll aus, dabei würde ein Brötchen mit Nutella für mich völlig ausreichen.

»Kommst du gleich mit zum Flughafen, Oma Scarlett abholen?«, fragt meine Mutter.

»Klar«, nuschele ich mit vollem Mund, weil ich mir im Vorbeigehen schon eine Erdbeere stibitzt habe. Alles ist irgendwie leichter und fröhlicher als sonst, und ich frage mich, woran das liegt. Vielleicht am Sonnenlicht, das durch die Lamellen der Jalousie fällt und ein gestreiftes Muster auf den Fußboden zaubert. Oder am neuen türkisfarbenen Pullover meiner Mutter, der ihre blonden Locken noch stärker leuchten lässt als sonst.

»Ferien!«, trällert mein Vater, tänzelt in T-Shirt und Boxershorts die Treppe runter und stößt beim Anblick des reichhaltigen Frühstückstischs ein übertriebenes »Ohhhh!« aus.

Die Ferienstimmung hat jeden Winkel unseres Hauses erfasst, denn noch heute werden meine Eltern zu ihrem Wellnessurlaub in die Berge aufbrechen, was bedeutet, dass meine englische Oma Scarlett in dieser Zeit bei uns den Haushalt schmeißt und auf mich aufpasst.

»Ach, Henry, du fehlst mir jetzt schon«, seufzt meine Mutter und verwuschelt mir die Haare.

Sonst sage ich ihr immer, sie soll das sein lassen, doch heute halte ich so still wie ein Bernhardiner, der hinter dem Ohr gekrault wird. Schließlich warte ich schon gespannt auf eine Gelegenheit, um das Gespräch unauffällig in die richtige Richtung zu lenken.

Mein Vater lässt eine Hand über verschiedenen Tellern und Schüsseln kreisen, scheint sich aber nicht entscheiden zu können.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragt meine Mutter schließlich.

»Ich vermisse ein bisschen Mammutschinken.« Er unterdrückt ein Lächeln. Wie immer, wenn er denkt, dass er einen guten Witz gemacht hat.

»Hunde sind echt unheimlich intelligent«, werfe ich wie zufällig ein und achte darauf, dass es nicht so klingt, als hätte ich meinen Text auswendig gelernt. »Ein Border Collie versteht ungefähr 250 Wörter, so viele wie ein zweijähriges Kind.«

Keine Reaktion. Meine Mutter blättert zum x-ten Mal durch ihren Ferienkatalog, während mein Vater konzentriert beobachtet, wie ein Häufchen Zucker im Milchschaum seines Cappuccinos versinkt. Der riesige Wortschatz von Border Collies scheint sie nicht zu beeindrucken. Oder haben sie mir gar nicht zugehört?

»Der Labrador von Finn«, rede ich weiter, »der ist erst drei Monate alt und kann schon Sitz, Platz und Pfötchen geben.« Dass Pluto die Couchgarnitur angeknabbert und neulich auf den Teppich gekotzt hat, behalte ich natürlich für mich.

»Ja, in dem Alter sind sie noch niedlich«, gibt mein Vater zu, was eine kleine Sensation ist, weil es das erste Mal überhaupt ist, dass er irgendwas Nettes über Hunde sagt. »Aber später …« Er verzieht angewidert das Gesicht. Natürlich weiß er genau, dass ich unbedingt einen eigenen Hund haben möchte, aber leider ist er ein Experte darin, sich immer neue Gründe einfallen zu lassen, warum das eine ganz schlechte Idee von mir ist. Dass Hunde angeblich Krankheiten einschleppen und mit der Zeit fett, faul und gefräßig werden, sind nur zwei seiner Argumente, von denen er einen unbegrenzten Vorrat zu haben scheint. Manchmal kommt er mir vor wie ein Zauberkünstler, der ständig neue Argumente aus dem Hut zieht, obwohl dieser längst leer sein müsste.

»Später sind sie immer noch niedlich, nur ein bisschen größer«, beende ich seinen Satz. Jetzt bloß nicht klein beigeben. »Golden Retriever gelten als die idealen Familienhunde, weil sie so gutmütig und pflegeleicht sind«, lasse ich mein Wissen spielen. »Außerdem sind sie so schlau, dass sie von der Bergwacht als Lawinenhunde und von der Polizei als Sprengstoffsprüh… Sprengstoffspürhunde eingesetzt werden.« Dabei hatte ich dieses Wort extra geübt.

»Und du meinst, wir brauchen unbedingt einen Golden Retriever, falls hier demnächst eine Lawine runterkommt oder jemand Sprengstoff unter unserem Sofa versteckt?«

Dass mein Vater immer noch lustige Bemerkungen macht, ist ein gutes Zeichen. Immerhin lässt er sich überhaupt auf diese Diskussion ein. Ich schaue Hilfe suchend zu meiner Mutter, die sich wie üblich zurückhält und weder für die eine noch für die andere Seite Partei ergreift. Wahrscheinlich findet sie es so am praktischsten, weil es dann keinen Streit geben kann, denn Streit hasst sie wie die Pest.

Ich schmiere mir eine extradicke Schicht Nutella auf den Toast, doch als ich damit fertig bin, ist mir leider immer noch keine schlagfertige Antwort eingefallen.

»Ich habe mir alles gut überlegt«, versichere ich schnell, ehe jemand das Thema wechselt. »Ich kann jeden Tag mit ihm spazieren gehen und dafür sorgen, dass er sein Futter bekommt.«

»Ein Hund verursacht viel mehr Probleme, als du glaubst«, gibt mein Vater zu bedenken. »Was ist zum Beispiel, wenn wir in Urlaub fahren?«

»Dann gibt es genau drei Möglichkeiten«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. »Entweder wir nehmen ihn mit oder wir geben ihn in eine Hundepension, oder wir lassen ihn zu Hause und beauftragen einen Hundehüter, was gleich mehrere Vorteile hat.«

»Und die wären?«, fragt meine Mutter neugierig.

Auch auf diese Frage bin ich vorbereitet.

»Dass der Hund dann auf unser Haus aufpassen kann, während wir nicht da sind. Außerdem leert so ein Hundehüter den Briefkasten und gießt die Blumen.« Ich beiße zufrieden in meinen Toast und spüre sofort, wie mir die braune Masse durch die Zahnlücken schießt. Abbeißen geht nicht richtig, also reiße ich ein Stück heraus, indem ich meinen Kopf hin und her schüttele wie ein Hund, der auf einer Stoffpuppe herumkaut. Hoffentlich habe ich nicht geknurrt dabei.

»Aber das kostet doch bestimmt viel Geld?« Die ewige Sorge meines Vaters. Alles, was ihm nicht in den Kram passt, kostet »bestimmt viel Geld« oder verursacht »unnötige Kosten«.

»Nein, nein, die sind gar nicht teuer«, behaupte ich rasch. »Außerdem könnt ihr mir die Summe gern vom Taschengeld abziehen«, füge ich sicherheitshalber hinzu.

Stille. Meine letzte Bemerkung hat ihnen offenbar die Sprache verschlagen, und ich frage mich, ob das wirklich ein geschickter Schachzug war. Ich meine, ich will zwar unbedingt einen Hund, aber ein bisschen Taschengeld ist ja auch nicht zu verachten.

»Kommt nicht infrage … also das mit dem Taschengeld«, brummt mein Vater schließlich. Er scheint fast ein bisschen beleidigt über meinen Vorschlag zu sein. Ist ja auch logisch. Den Familienhund vom eigenen Kind finanzieren zu lassen – wie peinlich ist das denn?

»Aber du hast dir ja wirklich viele Gedanken gemacht«, sagt meine Mutter anerkennend, und ich fühle mich plötzlich ganz kribbelig, weil ich spüre, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Mein Vater legt das Gesicht in die Hände und wirft mir über den Tisch hinweg einen langen Blick zu.

Kommt schon, bitte, bitte, bitte! Wahrscheinlich muss ich ihnen nur noch einen einzigen überzeugenden Grund liefern. Das entscheidende Argument, dem sie sich geschlagen geben. Das letzte Puzzleteil, das alles vervollständigt.

»Ihr sagt doch immer, dass man lernen muss … Verantwortung zu übernehmen«, beginne ich zögerlich. »Und wenn man sich um ein Haustier kümmert, dann muss man ja, ähm, ich meine, dann lernt man das ja … automatisch. Deshalb will ich mich auch ganz allein darum kümmern.«

Der bohrende Blick meines Vaters fordert mich zum Weiterreden auf.

»Ich glaube wirklich, dass mir ein Hund helfen würde, reifer und verantwortungsvoller zu werden«, füge ich feierlich hinzu. »Vielleicht sogar …« Fast hätte ich gesagt, ein besserer Mensch zu sein, doch ich beiße mir im letzten Moment auf die Zunge. Das Vielleicht sogar schwebt für ein paar Sekunden durch den Raum und zerplatzt dann wie eine Seifenblase.

»Tja …« Mein Vater schiebt ein paar Brösel auf seinem Teller hin und her. »Also, ich finde es natürlich schön, dass du von dir aus Verantwortung übernehmen willst …« Er schlürft einen Schluck Orangensaft. »Aber bei allem, was man anfängt, muss man … wie soll ich sagen … auch das Ende bedenken. Das ist wie mit den Goldfischen, die ich als Junge mal hatte.«

Bitte nicht wieder die Goldfischgeschichte.

Meine Mutter beugt sich interessiert vor, als wäre sie total gespannt auf das, was sie schon hundert Mal gehört hat.

»Die hab ich wirklich sehr liebgehabt«, fährt mein Vater fort, »nur leider bin ich eines Tages auf die Idee gekommen, eine Wasserschildkröte zu ihnen ins Aquarium zu tun. Du weißt ja, was dann passiert ist.«

Ich weiß, was dann passiert ist, aber ich weiß nicht, was das mit meinem Hund zu tun haben soll.

»Die Schildkröte hat die Goldfische gefressen und ist dann selber gestorben.«

Und wenn schon. Goldfische können weder bellen noch Stöckchen holen oder Männchen machen. Goldfische können gar nichts!

»Und ich war am Boden zerstört«, fügt mein Vater kopfschüttelnd hinzu und sieht plötzlich so traurig aus, als wäre es gestern gewesen.

Ein Hund ist ein Hund, und ein Goldfisch ist ein Goldfisch.

»Ich finde, wir sollten jetzt nichts überstürzen«, schaltet meine Mutter sich ein. »Nach unserem Urlaub reden wir noch mal darüber, ja, Henry?«

Ich weiß nicht, warum mich gerade dieser Satz so wütend macht, doch plötzlich fängt meine verdammte Unterlippe zu zittern an, und wenn die erst mal zittert, dann kommen im nächsten Moment die Tränen, das ist bei mir immer so.

»Ja, das finde ich auch«, sagt mein Vater und scheint über den Vorschlag meiner Mutter regelrecht erleichtert zu sein. Dann steht er auf und trägt seinen Teller in die Küche, als wäre das Frühstück damit beendet.

Und da sind sie auch schon, die großen, dicken Tränen. Ein paar Sekunden lang versuche ich, sie zurückzuhalten, aber sie plumpsen mir einfach aus den Augen, und als ich erneut eine Hand in meinen Haaren spüre, schlage ich sie mit einem Schluchzen weg und renne aus der Tür.

»Henry, warte doch!« Die Stimme meiner Mutter.

»Lass ihn.«

 

Ich schnappe mir meine Jacke von der Garderobe, rase in den Keller, und schon eine halbe Minute später trete ich wie wild in die Pedale meines quietschenden Fahrrads. Das Blut pocht in meinem Kopf. Der kalte Fahrtwind brennt in meinen Augen, aus denen das Wasser schießt wie aus einem Duschkopf. Ich könnte schreien vor Wut. Irgendwie wünsche ich mir sogar, dass meine Eltern die ganze Hundediskussion ein für alle Mal beenden und sagen: Schluss, aus, es gibt keinen Hund und damit basta! Aber das tun sie nicht. Stattdessen denken sie sich eine Ausrede nach der anderen aus, und dann heißt es schließlich: Wir reden ein anderes Mal weiter. Wozu denn, wenn die Sache sowieso längst entschieden ist? Und dann zieht mein Vater auch noch diese bescheuerte Goldfischgeschichte aus dem Ärmel.

Ich kann kaum noch das graue Kopfsteinpflaster erkennen, das unter meinen Reifen dahinjagt, weil meine Augen total verschwollen sind. Aber das spielt keine Rolle, ich bin hier schon tausend Mal langgefahren, und im nächsten Moment rase ich in den schummrigen Wald hinein.

Du wirst nie einen eigenen Hund haben, plärrt eine Stimme in meinem Kopf. Nie! Nie! Nie! Finde dich damit ab, Henry.

Schnauze!

Und hör auf zu heulen.

Ich senke den Kopf und strampele, was das Zeug hält. Sause wie im Blindflug zwischen den Bäumen hindurch. Es knackt, wenn ich über die Pfützen brettere, die von einer dünnen Eisschicht überzogen sind. Eigentlich sollte ich lieber mal nach vorne gucken oder ein bisschen bremsen oder beides, doch aus irgendeinem Grund habe ich nicht die geringste Lust dazu. Der Fahrtwind pustet mir die Tränen aus den Augen, während ich keuchend kleine Atemwolken ausstoße. Mit zusammengebissenen Zähnen lege ich mich in die Kurve. Mir egal, wenn ich gegen einen Baum pralle und im Krankenhaus lande, statt mit Mama und Papa zum Flughafen zu fahren. Geschieht ihnen recht. Dann sehen sie mal, was passiert, wenn …

»Aaauuuuuaaaaahhhh!!!«

Ein heftiger Stoß staucht mir die Rippen zusammen. Und während mein Schrei in meinem Kopf explodiert, werde ich aus dem Sattel geschleudert und segele wie in Zeitlupe durch die Luft. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Bild meines Fahrradhelms vor Augen, der zu Hause auf dem Regal liegt. Ich rase der gefrorenen Erde entgegen und strecke die Arme aus, um den Sturz abzufangen – dann wird alles dunkel.

AUTSCH

Als ich die Augen öffne, kitzelt mich kaltes Gras an der Wange. Keine Ahnung, wie lange ich hier so rumgelegen habe. Mein Kopf ist wie in Watte gepackt, aber die Tränen in meinen Augen sind verschwunden. Jedenfalls sehe ich gestochen scharf die verbeulte Felge und die kaputte Vorderlampe meines Fahrrads, das ein paar Meter weiter auf dem Boden liegt. Ich stütze mich auf die Knie – autsch, mein Handgelenk –, kneife die Augen zusammen und stehe zittrig auf. Meine Beine sind wie Schwimmnudeln, mein blauer Anorak hat schmierige Dreckstreifen bekommen und mein verschrammtes Knie guckt neugierig durch ein Loch in meiner Hose. Blut sehe ich keins. Puh …

Dann fällt mir plötzlich das dumpfe Rumpeln unter meinem Vorderrad ein. Ich muss über irgendwas drübergedonnert sein. Also humpele ich ein Stück zurück und schaue den krummen Weg rauf und runter, kann aber nichts Verdächtiges entdecken: kein heruntergefallener Ast, keine weggeworfene Coladose.

Auf dem Grasstreifen neben mir türmt sich ein großer Blätterhaufen mit schmutzig weißen Schneeresten. Ziemlich weit unten schaut etwas Spitzes raus, das zur Seite gebogen ist. Es hat ungefähr die Farbe des alten Schnees, nur etwas gelblicher. So wie die Zähne meiner Oma, die ich nachher wiedersehen werde. Also, natürlich die ganze Oma, nicht nur die Zähne. Dieses spitze Etwas muss der Übeltäter sein. Ich bücke mich, um mein verbeultes Vorderrad zu begutachten, und tatsächlich ist der Reifen der Länge nach aufgeschlitzt worden.

»Scheißding!« Wütend trete ich gegen das gebogene Dingsbums und will gerade mein geschrottetes Fahrrad aufheben, als der ganze Blätterhaufen in Bewegung gerät. Also, nicht doll, sondern nur ein bisschen, und man muss auch wirklich ganz genau hingucken, um das leichte Auf und Ab des Haufens zu erkennen. Ein paar Mal geht das so, dann beruhigt sich alles wieder.

Ich zwinkere und schaue noch mal hin. Keine Bewegung mehr. Gibt’s doch wohl nicht. Ich fasse mir mit beiden Händen an den Kopf und drücke ein bisschen an ihm herum, ob’s irgendwo wehtut. Vielleicht hab ich ja vom Sturz einen Dachschaden gekriegt und bilde mir jetzt Sachen ein, die’s gar nicht gibt. Aber da tut nichts weh.

Ich gehe in die Hocke und streiche mit den Fingern über das gebogene Dings, das kühl und glatt ist. Schiebe ein paar Blätter weg und entdecke weiter oben noch eins von der Sorte. Zwischen den beiden Dingern gucken ein paar Fransen hervor, wie von einem alten Teppich. Echt unglaublich, was die Leute so alles wegwerfen, und dann noch mitten im Wald.

Jetzt will ich’s aber genau wissen, auch wenn meine Finger eiskalt sind und obwohl es mir im Prinzip egal sein kann, was meinen Dachschaden verursacht hat. Mit den Händen wische ich die Blätter abwechselnd nach links und nach rechts, lege immer mehr zottelige Fransen frei – und schaue plötzlich in einen wässrigen Kreis mit einem schwarzen Punkt in der Mitte und ein paar Falten drumrum. Ach du …

Ich bin so baff, dass ich mich nicht mal richtig erschrecke. Denn ich weiß sofort, dass ich in ein Auge blicke, zumindest in ein halbes Auge, weil das Lid sich ein bisschen über die obere Hälfte geschoben hat. Vorsichtshalber gehe ich zwei Schritte zurück, starre aber weiter wie gebannt auf die dunkel schimmernde Pupille, die mich ansieht und doch nicht ansieht. Die es irgendwie schafft, mitten durch mich hindurchzugucken. Trotzdem bin ich ganz sicher, dass das Tier noch am Leben ist, denn sein Atem, der die Blätter erneut in Bewegung versetzt, dampft als weiße Fahne aus seinem kleinen Maul.

Ich stemme die Hände in die Hüften, knabbere auf meinen Lippen rum und hab keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Wahrscheinlich sollte ich mich schnellstens in Sicherheit bringen, denn wenn das hier ein Wildschwein ist, das mit seinen Kinderchen Mittagsschlaf hält und von mir unsanft geweckt wurde, dann gute Nacht, Henry. Aber Moment mal … hier gibt’s doch keine Wildschweine … oder doch? Ich merke, dass sich mein Tierwissen zu 99 Prozent auf Hunde beschränkt, und ein Hund ist das nie im Leben.

MAMApling