Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Playlist
  7. Karte Phantopien
  8. Widmung
  9. Teil I: Die Suche nach der verborgenen Stadt
    1. Auszug aus »Historie Phantopiens Band 2«
    2. 1. Die Königin
    3. 2. Minna
    4. 3. Finn
    5. 4. Die Königin
    6. 5. Finn
    7. 6. Minna
    8. 7. Finn
    9. 8. Die Königin
    10. 9. Minna
    11. 10. Valerian
    12. 11. Minna
    13. 12. Finn
    14. 13. Minna
    15. 14. Finn
  10. Teil II: Der Dichterwettstreit
    1. Auszug aus »Historie Phantopiens Band 3«
    2. 15. Finn
    3. 16. Die Königin
    4. 17. Minna
    5. 18. Die Königin
    6. 19. Finn
    7. 20. Minna
    8. 21. Finn
    9. 22. Valerian
    10. 23. Minna
    11. 24. Finn
    12. 25. Minna
    13. 26. Die Königin
    14. 27. Minna
    15. 28. Finn
    16. 29. Minna
    17. 30. Die Königin
    18. 31. Minna
  11. Teil III: Die Magie der sterbenden Künste
    1. Auszug aus »Historie Phantopiens Band 1«
    2. 32. Valerian
    3. 33. Minna
    4. 34. Finn
    5. 35. Valerian
    6. 36. Minna
    7. 37. Valerian
    8. 38. Die Königin
    9. 39. Minna
    10. 40. Finn
    11. 41. Minna
    12. 42. Der Magiebändiger
    13. 43. Minna
    14. 44. Die Königin
    15. 45. Valerian
    16. 46. Finn
    17. 47. Minna
    18. 48. Die Königin
    19. 49. Finn
    20. 50. Der Magiebändiger
    21. 51. Die Königin
    22. 52. Valerian
    23. 53. Die Königin
    24. 54. Valerian
    25. 55. Minna
    26. 56. Freyd
  12. Epilog
  13. Danksagung

Über dieses Buch

Die Magie in Phantopien ist verschwunden. Nur in der Stadt Fernab gibt es noch Magie. Einmal hier aufzutreten – davon hat die Dichterin Minna Fabelreich immer schon geträumt. Aber Fernab darf nur betreten, wer eine Einladung besitzt. Minna kann ihr Glück daher kaum fassen, als sie eines Tages eine Einladung zu einem Dichterwettstreit bekommt. Zusammen mit dem Schatzsucher Finn macht sie sich auf den Weg. Doch in Fernab entdecken die beiden, dass ausgerechnet die Königin hinter der kunstvollen Fassade der Stadt eine dunkle Kraft verbirgt, die ganz Phantopien bedroht. Und Minna und Finn sind die einzigen, die sich der Gefahr entgegenstellen können.

Über die Autorin

Katharina Seck wurde 1987 in Rheinland-Pfalz geboren. 2017 wurde sie für ihren Debüt-Roman »Die silberne Königin« mit dem »Seraph« als »Bestes Buch« ausgezeichnet. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin arbeitet Katharina Seck in einer Verbandsgemeindeverwaltung.

KATHARINA SECK

ROMAN

Playlist

  1. Lukas Graham – Love someone
  2. Sundara Karma – Indigo puff
  3. Ruelle – Monsters
  4. Ed Sheeran – Give me love
  5. Layla – Fight the fire
  6. The Witcher 3: Wild hunt – Official Soundtrack
  7. Birdy – Not about angels
  8. The Oh Hellos – Hello my old heart
  9. Lord Huron – The night we met
  10. Freya Ridings – You mean the world to me
  11. Freya Ridings – Castles

Für jeden da draußen,
der noch an die Magie von Geschichten glaubt.

TEIL I:

DIE SUCHE NACH DER
VERBORGENEN STADT

Auszug aus »Historie Phantopiens Band 2 (Das verzauberte Zeitalter)«, niedergeschrieben im Turm der Zeiten von Chronist Odin:

Der Aufstieg des Landes, das zuvor in seiner weltlichen Einbettung eher unwichtig gewesen war, war von schleichender Natur. Es bedurfte einiger Generationen von Chronisten, um einen Zusammenhang zum Anstieg der Magie zu erkennen, und es bedurfte noch weiterer Generationen, um darin sogar den Ursprung zu finden.

Sich darauf zu einigen war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, denn:

Die Magie war eingekehrt. Magie, die wissenschaftlich kaum zu erfassen war. In einem Zeitalter, in dem Musik und Literatur, Theater und Bildhauerei an Bedeutung gewannen, wurde auch die Magie Teil eines Landes, das sich fortan mit den großen Ländern der Welt messen konnte.

Die wichtigste Frage aber ließen die Chronisten damals unbeachtet, möglicherweise auch, weil sie sich mit keiner fortschrittlichen wissenschaftlichen Technik herausfinden ließ:

War die Magie nun für immer Teil dieses Landes, oder würde sie eines Tages so unbemerkt verschwinden, wie sie gekommen war?

1.
Die Königin

Eine Königin, dunkler als die Nacht

Die Stadt, die angeblich so geheim und verborgen war, lag in ihrer ganzen Pracht vor ihr, in Wahrheit gar nicht so sehr geheim und verborgen. Es war vielmehr ihr Ruf oder der ihrer Königin, der die Menschen davon abhielt, die Stadt zu suchen. Meistens strandeten eher seltsame Leute an ihren verschlossenen Toren: Künstler, Dichter, gierige Kaufleute, Schatzsucher und zwielichtige Gestalten. Jene Menschen, die auf der Suche nach Dingen waren, die nicht so leicht zu finden waren und von denen sie oft nicht einmal selbst wussten, nach was genau es sie so sehr verlangte.

Die Stadt dort unten vor dem Fenster war das Schönste, das Phantopien zu bieten hatte. Fernab war eine entrückte Stadt, eine Stadt voller krummer Häuser und verwinkelter Gassen, voller Geheimnisse und mit Bewohnern, die mit ihren seltenen Gaben die Stadt am Leben hielten, wobei sie schon lange nur noch an einem seidenen Faden hing. Denn Fernab war der letzte Hort jener Magie, die Phantopien vor langer Zeit einmal besessen hatte, bevor diese mehr und mehr verschwunden und bis heute nicht zurückgekehrt war. Phantopien hatte sein goldenes Zeitalter längst hinter sich. Für Mythen und Wunder war es einst bekannt gewesen. Geblieben waren davon nur noch Geschichten, erzählt von den wenigen Dichtern, die es noch wagten, durch das Land zu reisen, um diese einzige Erinnerung an die vergangene Größe lebendig zu halten.

Aber die Königin hatte Pläne. Große, ehrgeizige Pläne. Sie war eisern und ambitioniert, und ihre Ziele waren so hochgesteckt, dass sie so unerreichbar schienen, wie die Sterne am Firmament. Sie leuchteten in ihren Träumen und drängten alles andere in den Hintergrund. Sie hatte sich selbst das Versprechen abgerungen, ihr Leben dieser einen Aufgabe zu widmen. Sie würde diejenige sein, die Phantopien wieder zu altem Glanz verhalf. Niemand vor ihr hatte diese Stärke besessen, selbst ihre Mutter nicht, aber sie wusste, dass sie es schaffen konnte. Dass sie es schaffen würde.

Denn sie besaß keine Skrupel.

Jemand klopfte an das Tor zum Thronsaal, den sie nur zu Besprechungen mit der königlichen Garde benutzte, weil er kalt und zugig war. Die Königin reagierte nicht sofort. Stattdessen blickte sie immer noch reglos auf das nächtliche Treiben, das in Fernab nicht minder lebendig als am Tage war. Erst nach einer Weile öffneten die Wachen auf ihr Zeichen hin das schwere, kunstvoll verzierte Holztor, das so hoch wie zwei ausgewachsene Männer war. Vertraute Schritte hallten auf dem Marmorboden wider.

Nun endlich drehte sie sich um. Der Mann, dessen Antlitz sie beinahe so gut kannte wie ihr eigenes, blieb in angemessenem Abstand vor ihr stehen und verbeugte sich.

»Gabensucher«, begrüßte sie ihn knapp.

»Meine Königin«, erwiderte er und richtete sich auf. Seine dunklen Augen versprühten lodernden Zorn. Zorn, der ihr galt, das wusste sie. Zorn, der brannte und den er beherrschen musste, denn der Gabensucher war an sie gebunden. An seine Königin. Sie führte ihn wie eine Puppenspielerin an unsichtbaren Fäden. Ihr Wille war sein oberstes Gebot. Der Zorn durfte nur schwelen, wo er sie nicht berühren konnte.

Ungerührt musterte die Königin ihn. »Hast du die Person gefunden, die du suchen solltest?«

»Ja, meine Königin, ich glaube, das habe ich.«

»Du glaubst

»Ich habe viele Informationen über sie sammeln können. Ein Reiter der Garde ist auf dem Weg, um sie zu holen.«

»Ein Reiter?« Sie stieß sich vom Fenstersims ab und ging ein paar Schritte auf den Gabensucher zu. Er wich zurück. Kaum jemand durfte sich der Königin mehr als fünf Schritte nähern. Niemand, auch der Gabensucher nicht. Erst recht der Gabensucher nicht. Zwischen ihnen gab es keine Nähe, nicht einmal atmen sollte er ohne ihre Erlaubnis.

»Es war deine Aufgabe«, fügte die Königin hinzu. Obwohl ihre Stimme leiser geworden war, klang die Drohung unmissverständlich mit. »Ich habe sie dir aufgetragen, niemandem sonst. Du solltest diese Person selbst holen, um ihre Gabe zu testen.«

»Meine Königin, ich vertraue dem Abgesandten voll und ganz.« Der Gabensucher hielt die gebotene Distanz, doch der Zorn war nun von seinen Augen auf seinen Körper übergegangen. Er stand da wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung.

»Ist dem so? Du weißt, was geschehen wird, sollte der Reiter scheitern. Den Preis für Versagen zahlt nicht er«, sagte die Königin immer noch ganz sanft. Ein Lächeln begleitete ihre Worte, das ihre Augen nicht erreichte. Ihre Augen lächelten niemals.

Ein Beben ging durch den Gabensucher. Er sog hörbar die Luft ein. »Ihr habt recht. Ich mache mich gleich selbst auf den Weg«, presste er hervor und ging rückwärts zur Tür.

Doch die Königin entließ ihn nicht, nicht auf diese Weise. Ihr harter Blick fixierte ihn auf der Stelle, als lägen um ihn eiserne Ketten. Der Gabensucher wand sich, ehe er sich erneut verbeugte. In seinen Augen, die er nicht niederschlug, flammte es. Feuer. Hass. Und viel mehr. Sie beide, die Königin und den Gabensucher, hatte das Schicksal miteinander verwoben. Sie waren untrennbar, sosehr er es sich auch anders wünschte. Er konnte nicht vor ihr fliehen, nicht einmal am anderen Ende der Welt wäre er vor ihr sicher. Sie würde ihn immer an einer Leine halten wie einen Köter.

»Ich mache mich gleich auf den Weg, meine Königin«, wiederholte er und betonte die letzten beiden Worte verächtlich.

Die Königin nickte und kehrte zum Fenster zurück, ohne den Gabensucher oder die beiden Wachen noch eines Blickes zu würdigen. Als das Tor mit einem schweren Rumpeln ins Schloss fiel, öffnete sie das Fenster, um kühle Luft einzulassen. Der Gabensucher musste sich beeilen. Viel zu lange schon war das Vorhaben, das sie mit Schweigen und böser Absicht vorantrieb, unerfüllt. Das Ziel war noch zu fern.

Die Königin war müde. Sie wollte nicht länger warten.

Es war an der Zeit.

2.
Minna

Von der niederen Kunst, die niemand hören wollte

Die Nacht, die eigentlich nur ein später Abend war, war in diesen Tagen ein Abbild ihrer selbst. Sie war abgrundtief schwarz, als hätte sie sich einen Spiegel vorgehalten und sich in ihm reflektiert. Der Mond war verborgen, nicht einmal sein blasses Leuchten war hinter den Wolkenschleiern zu entdecken.

Wenn selbst das Licht sich nicht mehr gegen die Finsternis auflehnen kann, dann stehen düstere Zeiten auf Phantopiens Schwelle, dachte Minna Fabelreich.

Die junge Dichterin mahnte sich zur Eile. Sie durfte nicht stehen bleiben, auch wenn ihre Gabe sie immer wieder drängen wollte, zu verweilen und zu beobachten. Alles konnte Inspiration sein, sogar die Dunkelheit, und Inspiration musste man inhalieren und verinnerlichen, damit man daraus eine Geschichte weben konnte, die vielleicht sogar das Potential hatte, ihre eigene Dichterin zu überdauern … oder zumindest eine Weile zu bestehen, ehe sie irgendwann in Vergessenheit geriet, weil die Menschen weder Zeit noch Muße hatten, Musik und Erzählungen zu lauschen, geschweige denn, sie weiterzutragen. So war es kein Wunder, dass es so schlecht um Phantopien stand, dass selbst die Magie schon vor langer Zeit geflohen war. Sie war ihrer Quelle beraubt worden. Ohne die Künste konnte es keine Magie geben.

Obwohl es fast stockfinster war, kannte Minna den Weg. Die wenigsten Frauen hätten es ohne Licht und ohne Begleitung gewagt, den Pfad durch diesen Wald zu nehmen, aber Minna war keine gewöhnliche Frau. Sie war eine jener Verzweifelten, die nichts mehr zu verlieren hatten, und die Wagnisse eingehen mussten, um für Leben und Träume zu kämpfen. Sie ging also Wege, die andere mieden, und sie bot Ängsten die Stirn, vor denen andere flohen. Nur so konnte sie überleben und zugleich sein, was oder wer sie sein wollte.

Der Pfad führte durch den sumpfigen Nymphorawald, dem man seit jeher nachsagte, er würde Fabelgestalten und Seenymphen in seinen Tümpeln beherbergen, aber Minna wusste es besser. In diesem Wald gab es, wie fast überall im Lande, nichts Magisches mehr. Er war ein magischer Friedhof. Es waren lediglich die Ahnungen von früher, die in den Köpfen der Menschen spukten und an denen sie so lange wie möglich festhielten, denn etwas anderes blieb den Phantopiern nicht. Wo keine Magie mehr war, konnte man sie nur noch herbeireden.

Dennoch war der Nymphorawald gefährlich, wenn auch kein fauler Zauber dahinterstecken mochte. Ein falsch gesetzter Schritt, ein Abweichen vom richtigen Pfad und man wurde zu einer verlorenen Seele von vielen. Der nachgiebige Boden konnte zur Todesfalle werden, wenn man die sicheren Stellen nicht kannte, die ein menschliches Gewicht gerade noch trugen. Der Gestank von feuchtem Morast, verwesendem Kleingetier und schimmeliger Erde lag in der Luft, und Minna hatte sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden, um ihn nicht so stark riechen zu müssen. Dabei fragte sie sich, wie viele Leichen sie passierte, die eins mit dem sumpfigen Untergrund geworden waren.

Ihre Schritte waren zielgerichtet und sicher. Sie hatte den Wald bereits einige Male durchquert, bot er doch die kürzeste Distanz zwischen dem Dorf Tuchstatt, wo sie gerade den wöchentlichen Textilmarkt besucht hatte, und Querfeld, einem einfachen Bauerndorf. In Letzterem wollte sie nächtigen und ein wenig Geld verdienen, sofern die Einwohner ihr wohlgesonnen waren und eine unbekannte Geschichtenerzählerin empfingen. Sie war spät dran, und um den Abend mit seinem Wein und dem fließenden Geld noch nutzen zu können, musste sie sich beeilen.

Vor ihr leuchtete ein Lichtreflex auf, ein winziger Schimmer nur, der Minna sofort zur Achtsamkeit rief. Sie kniff die Augen zusammen und suchte rasch die Gegend nach Auffälligkeiten ab. Eine weitere Gefahr waren für eine alleinreisende Frau in diesem Waldsumpf, neben dem tückischen Erdboden, umherstreunende Räuberbanden. Wenn sie auf eine solche stoßen sollte, war sie nicht nur ihren armseligen Besitz los, sondern ihr blühte noch viel Schlimmeres. Diese Verbrecher hatten keine Skrupel, sie nahmen alles, sie plünderten und brandschatzten, vergewaltigten und mordeten für das Einzige, für das sie lebten: Gold und Schätze und Geldkugeln.

Minna hatte in den Jahren, in denen sie mit ihrer brotlosen Kunst auf Wanderschaft war, vor allem eins gelernt: mit den Schatten zu verschmelzen. Lautlos wie eine Schneeflocke zu sein, wenn sie den Boden berührte, und unsichtbar wie die Nacht, in die sie sich kleidete. Minna verhielt sich, welchen Ort sie auch anstrebte, stets so unauffällig, dass die meisten Menschen sie bereits wieder vergessen hatten, kaum dass sie ihr begegnet waren. Sie trug schwarze, zerlumpte Kleidung und eine messerscharfe Klinge unter ihrem ebenso abgerissenen Umhang aus wärmendem Fell. Diese Klinge wusste sie zu benutzen, wenn es nötig war. Ihre Kapuze setzte Minna meistens nur im Schein eines Lagerfeuers ab, wenn sie mit ihrem dicken Buch dasaß und für Mahlzeiten oder Übernachtungen unter einem schützenden Dach eine Geschichte erzählte. Die Menschen, die sie in ihren Bann zog, waren dann zu sehr von ihren Worten abgelenkt, als dass sie auf ihr Gesicht achteten.

Und genau das wollte Minna. Das Einzige, was im Gedächtnis der Menschen bleiben sollte, waren ihre Geschichten, denn die … die wollte sie unvergessen machen. Eines Tages wollte sie die größte Dichterin sein, die Phantopien je gesehen hatte, und selbst in die größten Fußstapfen treten, die eine Reihe begnadeter Künstler und Dichter vor langer Zeit hinterlassen hatten. Und dafür musste sie ihr Buch beschützen, mit ihrer Klinge, mit ihrem Leben, mit allem, was sie besaß, und vor jedem, der danach trachten wollte. In diesem Buch waren auch die wirklich wichtigen Geschichten enthalten, nicht nur jene altbewährten und jedem Kind vertrauten Nacherzählungen, die sie an Herdfeuern rezitierte und welche die Menschen hören wollten.

Es waren ihre eigenen Geschichten. Geschichten, die noch unerzählt waren. Die niemand kannte außer ihr selbst.

Minna stand bewegungslos auf der Stelle. Sie zählte ihre gepressten Atemzüge und ließ die Luft im Schneckentempo aus ihren Lungen entweichen, bis sie sich sicher war, dass außer ihr niemand in der Nähe war. Das kurz aufglimmende Licht war nur der Mond gewesen, der für einen winzigen Augenblick durch einen Wolkenfetzen gebrochen und nun längst wieder verhüllt worden war. Sie war allein mit den alten Geistern des Nymphorawalds.

Flink setzte Minna ihren Weg fort. Ihre abgetretenen Stiefelabsätze saugten sich immer wieder am Untergrund fest, doch sie war zu schnell, als dass der feuchte Boden sie halten konnte. Der Wind blies eisig durch morsche Bäume und schwarzes Gebüsch. Minna aber fror nicht. Die Kälte, wie immer ein letztes Überbleibsel des vergangenen Winters, war ein lästiger Begleiter, an den sie sich in den letzten Jahren zwangsläufig gewöhnt hatte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die milde Jahreszeit begann. Und wenn die Menschen nicht mehr damit zu kämpfen hatten, über einen harten Winter zu kommen, waren sie vielleicht wieder eher bereit, Dichter und Künstler in ihrer Mitte willkommen zu heißen.

Bald kamen die ersten Umrisse von Querfeld in Sichtweite. Das Dorf war aus der Ferne wie ein Feuerschein, es leuchtete in dieser unvergleichlichen Dunkelheit wie eine aufglimmende Glut, unscheinbar, aber einladend. Der Mond schien ohne die Bäume des Nymphorawaldes hier hell genug, um sein Licht auf die Dächer der Häuser zu werfen.

Nervosität stieg in Minna auf. Selbst nach all den Jahren voller gesammelter Erfahrungen war sie immer noch da, die Aufregung, die Vorfreude, der Klumpen im Magen. Würde Minna nur lästig sein wie eine Mücke oder würde man sie erzählen lassen? Würde man ihr einen Unterschlupf und eine Schale Eintopf im Tausch für das bieten, was viele Phantopier mittlerweile als eine unerwünschte Ablenkung vom wahren Leben ansahen? Würde man ihr die Möglichkeit geben, ihre Zuhörer zu verzaubern und dafür sogar ein paar Geldkugeln in ihre Hand wandern lassen? Den Geschichten lauschen wollten die Menschen manchmal noch, die Sache mit dem Bezahlen war dagegen eine kniffelige Angelegenheit geworden. Es hatte dazu geführt, dass Minna, abgesehen von dem Buch, ihrem wertvollsten Besitz, dem Messer und der Kleidung an ihrem Leib kaum etwas besaß. Dabei kam sie aus einer Familie, die andere als wohlhabend bezeichnet hätten. Sie war behütet aufgewachsen, hatte Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt und Ahnung von Geografie, Musik und den kaufmännischen Lehren, denn ihr Vater war ein Geldmacher in einer der östlichen Hafenstädte, die man Bronzestadt nannte. Ihr Vater war aber auch ein gestrenger, konservativer Mann, der Minna in sein Geschäft, das Herstellen der phantopischen Währung, einführen wollte. Das war etwas, das Minnas Fertigkeiten und ihren Wünschen vollkommen widersprach. Sie hatte schon immer eine Vorliebe für Geschichten, für Worte und deren Kombination gehabt. Mit wenigen Worten, dachte sie, konnte man Gewaltiges bewegen. Mit wertvollen Gegenständen konnte man vielleicht das ganze Land beherrschen, nicht aber die Herzen der Menschen, und das gab dem Leben ihrer Ansicht nach einen viel tieferen Sinn.

Minna ließ den tristen Wald hinter sich, und sein modriger Gestank verflüchtigte sich allmählich. Seine schwarzen Klauen entließen sie, das Atmen fiel wieder leichter, sodass sie das Tuch vor der Nase abnahm. Das Licht des Dorfes schien über den Weg, und die Schwärze der Nacht zog sich am Himmel zurück wie ein Mahr vor dem Feuerschein. Die Dichterin erreichte nun eine Straße, die für Kutschen und Bauernwagen erbaut worden war. Eigentlich hielt Minna sich von öffentlichen Straßen fern. Da sie häufig von betuchten Adeligen oder Kaufleuten benutzt wurden, war dort die Wahrscheinlichkeit, von Banden überfallen zu werden, am höchsten. Aber Minna hatte Querfeld beinahe erreicht. Sie passierte eine Mühle und einen daneben gelegenen Bauernhof Richtung Dorfmitte. Obwohl Minna nicht zum ersten Mal hier war, ließ sie ihren Blick aufmerksam über die Dächer der Häuser wandern. Auf ihrer Reise durch Phantopien passierte sie so viele Städte und Dörfer, dass sie manchmal die Eigenheiten eines Ortes wieder vergaß. All die Häuser samt Bewohnern wurden dann zu einer gesichtslosen Masse, die sie aufs Neue kennenlernen musste. Doch genau dieser Prozess war wichtig. Aus den Geschichten jener Menschen formte sie am Ende ihre eigenen.

Bald hatte Minna das Gasthaus gefunden. Es war eigentlich kein richtiges Gasthaus, sondern vielmehr eine Schenke, die Platz für zwei oder drei Reisende bot. Sie hoffte, für ihre Erzählungen ein Zimmer für einen Abend zu ergattern, vielleicht sogar für mehrere Nächte, wenn es gut lief. Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr gegessen, sodass sie auch nichts gegen eine warme Mahlzeit und verdünnten Wein oder wenigstens einen Becher Milch einzuwenden hätte. In ihrer Umhängetasche befanden sich nur noch harte Brotkanten, die sie eisern aufgespart hatte, falls man sie fortschicken würde. Bis zum nächsten Dorf waren es weitere anderthalb Tagesmärsche.

Obwohl es bereits spät war, war das Dorf quicklebendig. Einige Bauern arbeiteten in den Ställen oder waren gerade auf dem Weg in die Schenke. Frauen wuschen vor Anbruch der Nacht noch rasch Kleidung und Stoffe, holten Wasser aus dem Brunnen oder schalten ihre herumlaufenden Kinder und schickten sie zu Bett. Niemand nahm Notiz von Minna, zumindest nicht offenkundig, doch genau das war ihr recht so. Sie holte sich frisches Wasser aus dem Brunnen, als sich gerade niemand dort aufhielt, und trank es in gierigen Schlucken. Dann füllte sie ihre Flasche auf, falls man sie wirklich davonjagte. Das war heutzutage nicht mehr so ungewöhnlich.

Es ist doch ein Jammer, dachte Minna. Wir sind selbst schuld an unserem Elend. Wir verachten die Künste und trauern gleichzeitig Phantopiens alter Magie nach, die nur sterben konnte, weil die Künste vor ihr starben.

Es war ein solches Dilemma, und Minna würde die Menschen manchmal am liebsten schütteln, damit sie es begriffen. Sie alle wollten die Magie zurück, den einstigen Ruhm und Wohlstand, aber Musik und Kunst und Poesie, der Ursprung jener Magie, galt in den Augen der Menschen als vergänglich, unpraktisch, sinnlos. Es gab Wichtigeres zu tun, als Fantasie zu schätzen oder gar zu fördern. Und so hatten sie das Schicksal der schwindenden Magie selbst erwählt.

Als Minna ihren Durst gestillt hatte, kehrte sie zur Schenke zurück, die hell erleuchtet den Mittelpunkt des Dorfes markierte. Auf dem Weg dorthin zog sie ein Salbeiblatt aus ihrem Beutel. In Tuchstatt hatte sie einige auf dem Markt für wenige Bronzekugeln ergattert, und nun war sie umso dankbarer dafür. Sie kaute die Blätter, um ihre Stimme samtweich und einsatzbereit zu machen.

Neben ihr polterte es. Jemand machte sich von innen an der Eingangstür zu schaffen, dann wurde sie schwungvoll aufgerissen. Lärm und Licht drangen heraus, dazu der Geruch von Bier, Wein, Schweiß und Wildbret. Ein großer, plumper Mann mit rotem Gesicht, einer Schürze um den Bauch und hellblondem, schulterlangem Haar kam schnaufend nach draußen. Er trug einen Sack über der Schulter, der aussah, als wäre er bis zum Bersten mit Äpfeln oder Birnen gefüllt. Beim Gedanken an das saftige Obst lief Minna das Wasser im Munde zusammen. Was hätte sie in diesem Augenblick für einen einzigen Bissen gegeben? Energisch schüttelte sie den Kopf und ging ohne Umschweife auf den Mann zu.

»Guten Abend«, rief sie gerade laut genug, dass der Wirt sie nicht überhören konnte. Ihre Stimme war neben ihrer Kunst, Geschichten zu erzählen, das einzige Mittel, andere Menschen für sich einzunehmen, denn es kam vor, dass man sie auf den ersten Blick für eine Bettlerin hielt, die keinen ehrbaren Beruf ausüben konnte. Sie bemühte sich zwar, ihre Kleidung sauber und instand zu halten, doch das war angesichts ihrer Geldnot leichter gesagt als getan. Dass sie mehr vorzuweisen hatte, erkannte man erst auf den zweiten Blick; besser gesagt, wenn man auf den Klang ihrer Worte hörte, der wie warmer, süßer Honig war, und dann auf ihre Worte selbst, die ins Herz treffen konnten, wenn man sie nur ließ. Wenn Minna die Gelegenheit bekam.

Der grobschlächtige Mann blieb stehen und kniff mit einem Brummen die Augen zusammen. »Hab kein Geld, falls du danach suchst«, knurrte er. Sein Blick glitt abschätzig über ihre dürre Gestalt. Die Spuren des Hungers, ihres ständigen Begleiters, ließen sich auch von der weiten Kleidung nicht verstecken.

»Das ist nicht schlimm«, sagte Minna sanft. Sie klopfte auf das Buch, das sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. »Ich suche nicht unbedingt Geld, und selbst wenn es so wäre, habe ich etwas zum Tausch mitgebracht.«

Der Wirt starrte auf das Buch in ihren Händen. Es war alt und zerfleddert, der Lederumschlag rissig und bröckelig, trotzdem fühlte sich jede Erhebung und Unvollkommenheit unter Minnas Fingern vertraut an. Es kam nicht auf die Hülle an, in die ihre Geschichten gekleidet waren. Wichtig war nur, dass sie die Worte bewahrte, um unvergessen zu bleiben. Pergament für die Ewigkeit.

»Du bist schon die Zweite in dieser Woche«, sagte der Wirt und ließ den schweren Sack von der Schulter gleiten. Sein Blick wanderte unruhig zu einer Hütte, die halbversteckt hinter der Schenke lag und vermutlich als Scheune diente. Er wollte die Dichterin loswerden, das war kaum zu übersehen. Minna ignorierte diese Tatsache ungerührt und wartete geduldig.

»Als hätt’ ich Goldkugeln zu verschenken.«

»Ich brauche kein Gold«, sagte Minna. »Eine warme Mahlzeit und eine Nacht unter Eurem Dach reichen mir völlig. Ich bin bescheiden. Es muss nicht das beste Zimmer sein, das Ihr zu bieten habt. Etwas Einfaches ist genug.«

»Nicht das beste Zimmer?«, wiederholte der Wirt spöttisch. »Wie gütig. Die sind eh’ den zahlenden Kunden vorbehalten.«

Minna presste für einen kurzen Augenblick die Lippen aufeinander, um dem Mann keine passende Bemerkung entgegenzuschleudern. Bezahlung erfolgte nicht immer in Form von Geld. Bezahlung konnte alles sein. Ein Lachen, Freundschaft, die ein Leben lang hielt, ein selbstgeflochtener Korb, Liebe, die man nicht in Gold messen konnte, Treue, ein Kohleporträt, um ein Gesicht nicht zu vergessen, oder eben Worte … Worte, mit denen man alles bewirken konnte, wenn man nur wollte und die Fähigkeit besaß, sie zu beherrschen.

»Ich bezahle Euch«, sagte Minna. Ihre Stimme war noch immer sanft, aber sie war nicht mehr so federleicht wie zuvor. »Ich bezahle Euch mit einer Stube, die zum Bersten gefüllt sein wird. Ich bezahle Euch mit guter Stimmung, mit Menschen, die den ganzen Abend in Eurer Schenke verbringen und mir lauschen werden, um ihr hartes Leben da draußen einen Moment lang zu vergessen. Die gut essen und trinken und ihr Geld bei Euch lassen werden. Ich bezahle Euch mit jedem Wort, und ich schwöre, jedes Wort ist eine Bronzekugel wert.«

Minna hielt inne. Sie würde nicht flehen. Sie war eine Dichterin, keine Bettlerin, auch wenn beides in diesen Zeiten nahe beieinander lag.

Der Wirt stieß erneut ein Knurren aus und wuchtete den Sack wieder auf seinen Rücken. Sein Gesicht nahm die Farbe eines Ferkels an.

»Kommt rein. Ich gebe Euch Speis’ und Trank. Die Übernachtung gibt es, wenn Ihr bewiesen habt, dass Eure Worte wirklich so viel wert sind, wie Ihr behauptet.« Er wandte sich von Minna ab, nicht ohne schicksalsergeben zu seufzen.

Bei meiner verdammten Ehre, dachte sie, das werde ich beweisen.

Ihr Name war nicht umsonst Minna Fabelreich, auch wenn ihn kaum jemand kannte.

Noch nicht.

3.
Finn

Ein Schatzsucher, der keiner sein konnte

Ein kräftiger Schlag traf Finn so hart an der Schulter, dass es ihn fast von den Füßen geholt hätte. Doch er hatte Rogars Ausholen vorausgesehen und rechtzeitig sein Gewicht verlagert, sodass er nur kurz ins Straucheln geriet. Der Schmerz brachte ihn kaum ins Wanken, brannte aber bis in seine verkümmerte Hand. Schwarzklaue, die kleine Elster, die auf seiner anderen Schulter saß, stob auf und krächzte erbost. Ihr Schnabel pickte kurz gefährlich in Rogars Richtung, doch der hatte seine Hand längst zurückgezogen. Der Einäugige war für sein Alter noch überraschend flink und stark, und Finn fragte sich immer wieder, woher diese Kraft kam. Gleichzeitig war Rogar auch Finns Onkel, der zugegebenermaßen inzwischen ziemlich lästig wurde. Diese unwillkommene Begleitung hatte er seinem Vater Freyd zu verdanken. Sein alter Herr schien allgegenwärtig zu sein, dabei hatte sich der legendäre Schatzsucher längst zur Ruhe gesetzt. Irgendwo in den nordöstlichen Bergen der Vier Weisen fristete er ein ruhmreiches Dasein, sich im Lichte des Namens sonnend, den er sich über Jahrzehnte aufgebaut hatte.

Freyd, der Schrecken unter den Schatzsuchern, der große Entdecker, der Finder der rubinroten Schätze, Eroberer des Untergrundes. In seinem Leben hatte Freyd so viele Schätze angehäuft, dass er einen verschwenderischen Lebensabend verbringen könnte. Wenn es nach Finn ging, konnte sein Vater das auch gern tun. Besser noch sollte er in den Berghallen verrotten, in denen er sich als König der Schatzsucher aufspielte, obwohl die Schatzsucher keinen König in ihren Reihen besaßen. Dass Freyd dabei so dreist war, sich ausgerechnet im Gebirge der Vier Weisen niederzulassen, war bereits ein Verbrechen für sich, denn dieser Ort war einst heilig gewesen, bevor die Künste mehr und mehr an Bedeutung verloren hatten.

Aber Freyds väterlicher Griff war eisern, er entließ Finn nicht einfach so in die weite Welt hinaus. Er hatte ihm Rogar und seine beiden Kumpanen ans Bein gebunden, mit denen er seit fast drei Jahren durch die Lande zog. Sein Vater hatte eine ganz genaue Vorstellung davon, wie Finns Leben auszusehen hatte: Er musste besser werden als Freyd selbst. Er sollte noch prunkvollere Schätze finden, mehr Gold, Rubine und Diamanten, er sollte diebischer, gerissener und skrupelloser sein. Und genau das sollte er seiner Familie beweisen. In der Tradition der Schatzsucher war festgeschrieben, dass die Söhne eines Tages ihre Väter übertrumpfen mussten, andernfalls wurde ihnen die Unterstützung ihrer Familie entzogen, und sie endeten als Versager gebrandmarkt, arm oder tot. Am Ende seiner Zeit mit Rogar musste Finn unter Beweis stellen, dass er würdig war, den Namen des Hauses Minengräber zu tragen.

Sein Onkel Rogar rieb ihm allerdings dauernd unter die Nase, dass Finn nicht das Zeug dazu hatte, seinen Vater jemals zu übertreffen. Er war weder so stark noch so brutal und gewissenlos wie Freyd, und vor allem: Finn war ein Krüppel. Kein Krüppel im herkömmlichen Sinne, verstand sich. Er konnte rennen und springen, war schnell und geschickt, aber Finn hatte einen Makel, der ihn in den Augen der Schatzsucher zu einem Unwürdigen machte: Seine rechte Hand war verkümmert. Die Finger waren dünn und knöchern, die Gelenke oft geschwollen und steif, kaum fähig, einen Gegenstand oder gar einen kleinen Edelstein richtig zu greifen. Die Hände waren die Werkzeuge der Schatzsucher. Ohne sie wäre es beträchtlich schwerer, feine Edelsteine auf ihren Wert zu untersuchen oder komplizierte Schlösser zu öffnen, so jedenfalls die Worte seines Onkels. Zusammengefasst: Finn fehlte alles, um jemals ein berühmter Schatzsucher zu werden.

Rogar ließ ihn das ständig spüren. Er sprach es nicht aus, vielleicht, weil Freyd es ihm verboten hatte, doch in seinen Augen war sein Neffe eine Schande für die Familie, aus dem man nur noch mit Gewalt und Zucht etwas herausholen konnte. Er hatte Finn in diesen drei Jahren die Fähigkeit und das Wissen der Schatzsucher nur widerwillig beigebracht. Sprachen, ob gesprochen oder schon ausgestorben, die Wertermittlung von Metallen, Münzen vergangener Währungen, Schmuck und antiken Gegenständen hatte Finn schon in den Hallen seines Vaters gelernt. Die Karten- und Fährtenleserei, die Geografie Phantopiens und ferner Länder sowie das Finden von verborgenen Orten allerdings sollte Rogar ihm beibringen, weil er das aus keinem Buch der Welt lernen konnte.

Bis heute hatte Finn nicht ganz verstanden, ob Rogar tatsächlich glaubte, dass seine verkrüppelte Hand ihn daran hindern würde, ein guter Schatzsucher zu werden, oder ob er einfach auf ihn herabsah, weil sie in seinen Augen einen Makel darstellte. Vielleicht war er nicht so stark wie die anderen Männer, dafür verfügte er aber über einen klaren Verstand und genügend Intelligenz, sich alle Fähigkeiten zu eigen machen zu können, die man als Schatzsucher brauchte.

Hauptsächlich hagelte es allerdings Spott und Hohn und manchmal Schläge, wenn Finn nicht damit rechnete oder sogar, wenn er gerade schlief. Wann immer Finn sich wehrte, standen die Männer geschlossen gegen ihn. Irgendwann hatte Finn begonnen, seine Rache im Geheimen zu planen, und ließ alles über sich ergehen. Er wusste, dass er die Gruppe erst dann verlassen durfte, wenn man ihn offiziell entließ, andernfalls würde er sich künftig dauerhaft in Acht nehmen müssen. Am liebsten wollte er lieber heute als morgen verschwinden und seiner eigenen Wege gehen, von denen er genau wusste, wohin sie ihn führen würden: An den einzigen Ort, den sein Vater nie betreten hatte und der vermutlich der einzige Ort in Phantopien war, an dem es noch Schätze zu finden gab.

Fernab.

Die Stadt war der Inbegriff für all die Träume der Schatzsucher. Finn hatte so viele Mythen über sie gehört, dass sein Herz aufgeregt zu klopfen begann, wenn er nur daran dachte, sie eines Tages aufzuspüren und ihre Gassen nach all den Besonderheiten zu durchsuchen, die dort verborgen sein sollten.

Wenn Finn auch nur einen Fuß durch das Stadttor setzen könnte, würde Freyd endlich Ruhe geben. Er wäre in der Achtung seines Vaters gestiegen und hätte sein Erbe gebührend angetreten. Doch Fernab wurde nicht nur nachgesagt, dass es nahezu unmöglich zu finden war, sondern es war auch verboten, es ohne die Erlaubnis der Königin zu betreten. Und wie sollte ein einfacher Schatzsucher wie Finn an eine solche geraten? Das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Genervt stieß Finn Rogars Hand zur Seite, als dieser ihn abermals an der Schulter packen wollte.

»Lass das«, zischte er. »Behalt deine knochigen Finger bei dir.«

Rogar blinzelte mit dem sehenden Auge. Eine Klappe verhüllte die vermeintlich leere Augenhöhle auf der anderen Seite. Manchmal fragte Finn sich, ob sein Onkel wirklich einäugig war oder ob er mit der Klappe seinen Ruf verbessern wollte.

Schließlich schnaufte sein Onkel. Mit der Hand deutete er auf die ersten Sonnenstrahlen, die sich hinter den Baumkronen am Horizont abzeichneten. Die Bande verlor den Schutz der Dunkelheit.

»Wir waren zu lahm, Bürschchen«, knurrte er.

»Und wessen Schuld ist das?«, fragte Finn. Er hatte in der Nacht mehrmals zur Eile gemahnt und die Männer angetrieben. Doch sie hatten dem am Vorabend erbeuteten Wein zu lange gefrönt. Finn hatte als Einziger einen klaren Kopf bewahrt. Betrunken konnte man kaum zu wahrhaftiger Größe taumeln.

»Der Wein war es wert«, erwiderte Rogar grinsend. Sein Blick verklärte sich, als er noch einmal über den Inhalt des kleinen Fasses nachdachte, das sie im letzten Dorf hatten mitgehen lassen.

Wenn Finn es recht bedachte, wurden die Dinge, die sie erbeuteten, immer bedeutungsloser. Sie ergaunerten Nahrung und Wein oder Met, hin und wieder Geldkugeln, Schmuck oder ein verirrtes Huhn, das man schlachten konnte. Und noch viel schlimmer war: Sie fanden sie nicht. Sie stahlen sie. Das widersprach dem Ehrenkodex der Schatzsucher. Man suchte nach Schätzen, die keinen Besitzer hatten. Aber Diebstahl war Betrug an der eigenen Sache. Sie beschissen sich selbst.

»Wir sind doch nichts weiter als gewöhnliche Diebe«, sagte Finn laut.

Hinter seinem Onkel stießen Berd und Groban wütende Laute aus. Was ihnen an Weisheit fehlte, besaßen sie an Stärke, und Finn hätte im direkten Kampf keine Chance gegen sie, das musste er zähneknirschend zugeben.

»Wenn du so redest, ziehst du den Namen deines Vaters in den Dreck. Schwere Zeiten bedeuten eben außergewöhnliche Maßnahmen, das weißt du doch, Junge«, warnte Rogar ihn und fuchtelte mit der Faust vor Finns Gesicht herum, der sich nicht vom Fleck rührte. Er hatte schon lange keine Angst mehr vor den Männern. Jeder Schlag und jeder Hohn ließen seinen Wunsch wachsen, sich fortzuschleichen. Sie konnten die offenkundige Rebellion aus ihm herausprügeln, nicht aber seine Träume und seinen ungebrochenen Willen, sie eines Tages zu erreichen.

Er fühlte sich allmählich bereit, seinen eigenen Weg zu gehen; seinen eigenen Weg zu jener Stadt und der einzigen Möglichkeit, seinem Vater irgendwann gegenüberzutreten und zu beweisen, dass er ihn übertrumpft hatte, und dass er mehr als nur ein feiger, erfolgloser Dieb in der Nacht war.

Es war an der Zeit, nach den wahren Legenden und Schätzen zu suchen.

Sie schliefen ein paar Stunden in einem Schuppen auf altem Stroh. Könnten sie doch Stroh zu Gold spinnen, dann wäre dieser heruntergekommene Bau aus faulendem Holz und zugigen Wänden, durch die der Wind pfiff, ein Ort des Triumphes. So aber wachte Finn am späten Mittag mit durchfrorenen Gliedern und knurrendem Magen auf. Seine Hand schmerzte pochend. Das lag an der nasskalten Jahreszeit, die sich immer in seinen Knochen niederschlug. Er biss die Zähne zusammen und spreizte mit der gesunden Hand die steifen Finger. Es war ein tägliches Ritual, um ihre Beweglichkeit trotz des höllischen Schmerzes zu erhalten. Strohhalme klebten an seiner Haut und verursachten einen unangenehmen Juckreiz. Finn war versucht, aufzustehen und sich davonzuschleichen, um diesem Leben, das sich anfühlte wie das eines herumstreunenden Bettlers, irgendwie zu entkommen, doch die Bande war aufmerksam wie ein Luchs. Neben ihm lagen Rogar und Berd wie eine drohende Mahnwache und schnarchten laut. Sie konnten noch so viel saufen und scheinbar tief und fest schlafen, sobald Finn sich aus dem Staub machen wollte, bekamen sie es spitz.

Er hob den Blick, um Ausschau nach Schwarzklaue zu halten. Die blauschwarze Elster saß hoch oben auf einem Balken des Heuschuppens und wachte über ihn. Finn hatte den damals noch jungen Vogel vor zwei Jahren gefunden, als dieser verletzt war und nicht fliegen konnte. Entgegen dem Willen der Bande hatte er sich um das Tier gekümmert, sein karges Essen mit ihm geteilt und ihn so lange behütet, bis sein Flügel verheilt war. Danach hatte er es freigelassen. Doch Schwarzklaue war nicht weggeflogen. Er war bei ihm geblieben. Aus freien Stücken, nicht wie die Tiere, die von wandernden Schaustellern dressiert und mit Zwang zur Gefolgschaft gezwungen wurden.

Im Laufe der Zeit waren sie Partner geworden, die Elster und er. Schwarzklaue war entgegen den verbreiteten Märchen kein diebischer Vogel, doch er besaß eine andere Fähigkeit, die sogar die Männer irgendwann anerkannt hatten. Mit seinen scharfen Sinnen und wachem Verstand bemerkte Schwarzklaue, wenn sich fremde Menschen oder wilde Tiere näherten, und warnte sie vor allem dann, wenn die Gruppe etwas stehlen wollte. Außerdem war er ein treuer Gefährte. Selbst nach der langen Zeit ließ er sich nur von Finn berühren. Die anderen Schatzsucher konnte er nicht ausstehen, und damit hatten sie beide eine weitere Gemeinsamkeit.

Finn weckte die Männer. Bevor sie sich auf den Weg machten, durchsuchten sie den Schuppen in gewohnter Routine. Sie kannten alle Verstecke, wussten, wo Menschen für gewöhnlich ihr Hab und Gut verscharrten, um es zu verbergen. Es waren immer wieder die gleichen Orte, die niemand finden sollte und die doch so einfach zu finden waren: Unter einer losen Holzdiele, unter dem Stroh, in einem Heuballen, in der mittleren Schublade einer Werkbank, zwischen mehreren alten Laken. Bei den Göttern, flehte Finn jedes Mal, habt doch mehr Verstand, ihr dummen Leute.

Aber die Götter, sofern es sie überhaupt je gegeben hatte, scherten sich schon lange nicht mehr um das Schicksal Phantopiens. Sie waren mit der Magie verschwunden. Und vielleicht war es sogar besser so, damit sie nicht sahen, wie sehr alles in diesem Land verkommen sein musste, dass selbst ein Schatzsucher nicht mehr von einem gemeinen Dieb zu unterscheiden war.

Rogar grunzte einen Befehl, der die Männer vorantrieb. Die Bauern, denen der Schuppen gehörte, waren arm und ihre Ausbeute entsprechend dürftig. Es würde für einige Mahlzeiten, vielleicht sogar ein paar Nächte in einem Gasthaus reichen, für mehr nicht. Finn lag es auf der Zunge, Rogar zu bitten, die Handvoll Bronzekugeln an Ort und Stelle zu lassen, aber er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass sein Onkel keine Gnade kannte, im Gegenteil. Er spielte Finns schlechtes Gewissen wie eine Karte aus: Finde richtige Schätze, dann können die einfältigen Bauern ihr Geld behalten. Es liegt an dir, du bist schuld.

Missmutig wegen der mageren Beute war die Bande unterwegs, als sie den Pfad nach Querfeld einschlugen. Sie waren hungrig und durstig, es verlangte sie nach stark gebrautem Bier, das ihre Gedanken und Gewissen vernebelte und die alten Zeiten von Freyds goldener Herrschaft wiederaufleben ließ. Donner und Zwirn nochmal, wie oft diese alternden Männer sich am Lagerfeuer an diesen alten Geschichten labten, als müssten sie vom Gestern leben, weil das Morgen nichts mehr zu bieten hatte. Weil er, Finn, ihnen nichts zu bieten hatte außer ständiger Enttäuschung. Weil er der Einzige war, der lieber hungern wollte, als sich vom Ersparten ärmlicher Leute zu betrinken.

Schwelende Wut, die ihn in den letzten Wochen immer öfter heimsuchte, ließ ihn die Faust der unversehrten Hand ballen. Er ließ sich zurückfallen, damit die Bande es nicht sah. Er riss einige Blätter von einem Sauerampfer ab und steckte sie in den Mund. Langsam zerkaute er die schon halb verwelkte Pflanze, bis das säuerliche Aroma den bitteren Geschmack im Mund überdeckte.

Rogar bemerkte schon bald, dass er sich von der Gruppe entfernt hatte, und stellte sich demonstrativ breitbeinig auf die Straße, bis Finn wieder aufgeschlossen hatte.

»Wir sind uns einig, Bürschchen«, sagte er mit einem schmierigen Grinsen und einem bedeutungsvollen Blick zu den anderen, der nichts Gutes verheißen konnte.

Finn spuckte die Reste des Ampfers auf den Boden. Er schaute auf und hielt dem Blick seines Onkels stand. »Dass ihr etwas Anständiges zu saufen wollt?«, fragte er mit einer Geste gen Himmel. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits erreicht. Sie mussten sich beeilen, wenn sie Querfeld vor Sonnenuntergang erreichen wollten.

Rogar gab ein Zeichen. Die Männer umringten ihn stillschweigend, die Augen auf ihren Anführer gerichtet. Sein Onkel näherte sich schleppend wie ein alter Bär. Träge und dennoch gefährlich.

»Es wird Zeit«, knurrte er.

Und Finn wusste, was er meinte. Es war Zeit, sich zu beweisen, oder sie würden ihn zurücklassen. Nein, sie würden ihn nicht zurücklassen, sie würden Schlimmeres tun. Die Welt durfte dann nicht erfahren, dass er Schande über Freyds Namen brachte.

Schwarzklaues Schrei zerriss die Stille der feuchten Waldgegend, die sie nun erreicht hatten. Der Boden unter Finns Stiefelabsätzen wurde weich und nachgiebig, doch er kannte den verdorbenen Nymphorawald wie seine Westentasche. Sie hatten ihn auf ihrer Reise schon oft durchquert. Er würde seiner Tücke nicht zum Opfer fallen.

Er hörte das Tuscheln der Männer. Sie würden ihn nicht auf faire Weise prüfen, das wusste er. Gut möglich, dass er tot im fauligen Boden enden würde, wenn er Rogars Prüfung nicht bestand und sie ihn für unwürdig erachteten. Er wäre dann nur eine weitere verlorene Seele, nach der niemand suchen würde.