Die Autoren

Dr. Frank M. Fischer ist Oberarzt am Kinderkrankenhaus auf der Bult Hannover und leitet die Suchttherapiestation für Kinder und Jugendliche »Teen Spirit Island«.

Hon. Prof. Dr. Christoph Möller ist Chefarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Kinderkrankenhaus auf der Bult.

Frank Fischer

Christoph Möller

Sucht, Trauma und Bindung bei Kindern und Jugendlichen

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Für die Mitarbeiter der Suchttherapiestation »Teen Spirit Island« Hannover und für unsere großartigen kleinen Patienten.

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2. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037531-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-037532-1

epub:    ISBN 978-3-17-037533-8

mobi:    ISBN 978-3-17-037534-5

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Insbesondere die schweren und chronifizierten Suchterkrankungen des Kindes- und Jugendalters sind überzufällig häufig mit Bindungsstörungen und (sequentiellen oder einzelnen) Traumatisierungen in der Vorgeschichte verbunden. Auch wenn sowohl »Bindung« als auch das »Trauma« zwischenzeitlich fast eine Art Modethema geworden sind, ist es im Einzelfall von höchster Bedeutung, die Funktionalität eines Drogenkonsums auch im Kontext dieser Faktoren zu sehen und entsprechend die Diagnostik und Therapie durchzuführen.

Im vorliegenden Band werden diese beiden anspruchsvollen Themen – primär unter psychodynamischem Aspekt – schrittweise hergeleitet, so dass auch den tiefenpsychologisch nicht speziell geschulten Fachpersonen der schrittweise biographische Zugang und das Grundverständnis deutlich werden.

Nicht zuletzt im Kontext der aktuellen Migrations- und Flüchtlingsentwicklungen sind beide Themen nicht nur für das betroffene Individuum und seine Familie, sondern auch für Institutionen und gesundheitspolitisch von hoher Bedeutung.

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

Inhaltsverzeichnis

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung und Kasuistik
  3. 1.1 Einleitung
  4. 1.2 Kasuistik
  5. 2 Epidemiologie und Definition
  6. 2.1 Sucht und Trauma als Komorbidität
  7. 2.2 Sucht und Bindungsstörung bei Kindern und Jugendlichen
  8. 3 Grundlagen: Neurobiologie und Psychopathologie
  9. 3.1 Trauma und Sucht bei Kindern und Jugendlichen
  10. 3.1.1 Sucht, Trauma und Bindung als implizite Gedächtnissysteme
  11. 3.1.2 Die neurophysiologischen Folgen des Schreckens
  12. 3.1.3 Trauma als Verlust der Erzählbarkeit
  13. 3.1.4 Bleibende Symptome des Schreckens
  14. 3.1.5 Sucht und Trauma: Fantasie und Realität
  15. 3.1.6 Kognition, Affekt und Sensomotorik
  16. 3.1.7 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
  17. 3.1.8 Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (DESNOS)
  18. 3.1.9 Chemische Dissoziation bei PTBS: Entzug
  19. 3.1.10 Komplexe Dissoziative Störungen (ESD und DIS)
  20. 3.1.11 Trauma bei Kindern und Jugendlichen mit Suchterkrankung
  21. 3.1.12 Neurobiologie der Entstehung von Ego-States
  22. 3.1.13 Ego-State-Theorie: Die Entstehung der inneren Bühne
  23. 3.2 Bindung, Sucht und Trauma: Sicherheit suchen
  24. 3.2.1 Bindung und Belohnung als emotionale Basis
  25. 3.2.2 Entwicklung braucht Sicherheit
  26. 3.2.3 Bindung vermittelt Aufschub von Belohnung
  27. 3.2.4 Epigenetik von Bindung, Sucht und Trauma
  28. 3.2.5 Bindung und Abhängigkeit als transgenerationales Erbe
  29. 3.2.6 Feinfühligkeit als Bindungsqualität der Eltern
  30. 3.2.7 Bindungsstörung und die Droge als Übergangsobjekt
  31. 3.2.8 Sichere und unsichere Bindungsmuster
  32. 3.2.9 Bindungsverhalten, Regression und Suchtverhalten
  33. 3.2.10 Bindungsstörungen und Abhängigkeit
  34. 3.2.11 Bindungsstörung mit Suchtverhalten
  35. 3.2.12 Bindungstrauma, desorganisierte Bindung und Ego-States
  36. 3.3 Theorie und Praxis: Folgerungen für die Therapie
  37. 3.3.1 Sucht, Kindheit und Jugend
  38. 3.3.2 Fünfzehn Regeln für die therapeutische Praxis
  39. 4 Diagnostik
  40. 4.1 Diagnostik von Traumafolgestörungen
  41. 4.2 Diagnostik von Bindungsstörungen
  42. 5 Integrative Therapie von Sucht, Trauma und Bindungsstörung bei Kindern und Jugendlichen
  43. 5.1 Ambulante Strategien der Motivationsförderung
  44. 5.2 Stationäre Therapie: Grundvoraussetzungen und Setting
  45. 5.3 Regeln für den Entzug
  46. 5.4 Regeln für das Teamwork
  47. 5.5 Stabilisierung: Die Kraft der Imagination nutzen
  48. 5.6 Das Herstellen von Sicherheit
  49. 5.7 Gruppentherapie: Probleme und Möglichkeiten
  50. 5.8 Regression: Strategien der kindlichen Reifung
  51. 5.9 Die Innere Bühne: Ego-State-Therapie bei ESD und DIS
  52. 5.9.1 Eine innere Bühne entwickeln
  53. 5.9.2 Den inneren Betäuber verstehen und wertschätzen
  54. 5.9.3 Das sehn-süchtige Kind: Das innere Kind ernähren
  55. 5.9.4 Umgang mit Täter-Introjekten und inneren Verfolgern
  56. 5.10 Kognitive Traumatherapie: Arbeit am Narrativ
  57. 5.11 Arbeit am Affekt: Scham, Schuld und Angst
  58. 5.11.1 Scham
  59. 5.11.2 Schuld
  60. 5.11.3 Angst
  61. 5.12 Bindungsorientierte Therapie
  62. 5.12.1 Korrigierende Bindungserfahrungen herstellen
  63. 5.12.2 Bindung im System: Familientherapie
  64. 5.12.3 Die Gruppe als zweite Bindungschance
  65. 5.12.4 Imagination und Bindungsrepräsentanz
  66. 5.13 Umgang mit Dissoziation: Trigger und Dissoziationsstopp
  67. 5.14 Konfrontation und Exposition bei Sucht und Trauma
  68. 5.14.1 Trauma, Sucht und Narration: Traumalandkarte
  69. 5.14.2 Screentechnik
  70. 5.14.3 Traumakonfrontation mit EMDR: Standard- und Suchtprotokoll
  71. 5.14.4 EMDR bei komplexer PTBS, DESNOS, DDNOS und DIS
  72. 5.15 Körperlichkeit: Umgang mit verkörpertem Schrecken
  73. 5.16 Achtsamkeit: Vom Umgang mit der gegenwärtigen Zeit
  74. 5.17 Rückfallprävention: Sicherheit suchen und finden
  75. 6 Fazit und Ausblick
  76. Danksagung
  77. Literaturverzeichnis
  78. Stichwortverzeichnis

 

 

 

 

 

1

Einleitung und Kasuistik

1.1       Einleitung

Jugendliche mit Suchterkrankungen haben es nach wie vor schwer in Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sie finden dort keinen Platz. Rückfälle in den Drogenkonsum und das schwierige Sozialverhalten machen die Therapie zu einer Herausforderung. Sucht ist wie eine Infektion, sie erzeugt sozusagen eine starke Abwehr im Immunsystem der anderen. Aber noch etwas lastet den Jugendlichen an: Ihr kompliziertes Bindungsverhalten. Sie wechseln den Gesichtsausdruck, wirken unberechenbar, sind aggressiv oder überangepasst, man weiß nicht, woran man bei ihnen ist. Der Grund dafür liegt oft in einer früh entstandenen Bindungsstörung und Bindungstraumatisierung, die niemand mehr sehen und die auch von den Jugendlichen nicht erzählt werden kann. Warum ist das so? Der Grund liegt in den neurobiologischen und psychopathologischen Mechanismen von Trauma und Bindungsstörung begründet. Sie ähneln denen der Sucht und verstärken sich gegenseitig. Besonders bei den früh und schwer abhängig gewordenen Jugendlichen gibt es einen besonders starken Zusammenhang von Sucht und Trauma als häufige Komorbidität. Die Klärung dieses Zusammenhangs ist eine sich gegenwärtig vollziehende neurobiologische Innovation und wirkt sich aktuell vielfach auf das Verständnis von Sucht aus: Einerseits wird die Droge als chemisches Dissoziationsmittel in seiner Schutzfunktion bei Traumastörungen erkennbar, andererseits zeigt sich, wie ähnlich Sucht- und Traumagedächtnis funktionieren. Daraus resultiert für die Therapie der Sucht die Möglichkeit, von den Erkenntnissen der Traumatherapie zu profitieren und umgekehrt. Die Notwendigkeit eines integrativen trauma- bzw. bindungsfokussierten Ansatzes in der Suchttherapie ist auch dadurch begründet, dass gerade die früh abhängig gewordenen Jugendlichen mit Traumaerfahrung im Erwachsenenalter das Klientel der hoffnungslosen Dauerkonsumenten bilden. Es braucht eine frühe und nachhaltige Intervention schon im Kinder- und Jugendalter. Darüber hinaus zeigt sich, dass viele Methoden der Traumabehandlung ganz allgemein für die Sucht angewendet werden können. Die Bindungsforschung ergänzt diesen Zusammenhang mit einem das Leben umspannenden Fundament: Kommt es durch frühe Traumatisierung zu einer Bindungsstörung, wird das Trauma auf dramatische Weise unsichtbar und versteckt sich hinter einem desorganisierten Bindungsverhalten, das weitere Komorbiditäten erzeugt. Aus diesem Grund sind Trauma und Bindungsstörung therapeutisch nur schwer zugänglich und gehen oftmals mit einer Sucht einher.

In diesem Buch wird auch die schwere chronische Traumatisierung thematisiert, die bei Kindern mit einer Abspaltung (Dissoziation) von Persönlichkeitsanteilen einhergeht. Diese Anteile nennt man auch Ego-States. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit Suchtstörung haben verschiedene Ich-Anteile, die sich in der Sucht- und Trauma-Therapie teilweise anpassen und sich scheinbar gut auf die therapeutische Beziehung einlassen können. Es gibt aber andere Anteile, die zunächst unerkannt bleiben oder die Therapie zu zerstören beginnen, weil sie ihren Untergang befürchten. Es handelt sich um destruktive, täterloyale Anteile, die einer Therapie im Weg stehen. Auf der »inneren Bühne« gibt es auch einen Anteil, der einen »inneren Betäuber« darstellt und der Suchtmittel als Betäubung einsetzt, um Täter-Anteile in Schach zu halten. Die Droge fungiert dann meist als chemisches Dissoziationsmittel und als Bindungsfigur zugleich. Für junge Menschen, die aufgrund von Trauma und destruktivem Bindungserleben zur Sucht gelangt sind (und das sind bei den früh abhängig gewordenen Jugendlichen sehr viele), gilt es nun, neue therapeutische Ansätze zu entwickeln. Es soll hier ein integrativer Ansatz dargestellt werden, der sich seit vielen Jahren in der stationären und ambulanten Therapie unserer Klinik bewährt und weiterentwickelt hat. Theoretisch wie praktisch soll gezeigt werden, dass sich die Methoden der Sucht- und Traumabehandlung zwar ergänzen, dass sie aber auch das verbindende Konzept der Bindungstheorie brauchen.

Diese Erkenntnis ist umso wichtiger, als Bindungsstörungen häufig mit Beginn der Pubertät und der Adoleszenz nicht mehr diagnostiziert werden. Plötzlich verschwindet die Diagnose auf dem Radar des Helfersystems. Traumatische zwischenmenschliche Erfahrungen zerstören jedoch das Vertrauen in Bindungen und soziale Sicherheit. Das Bindungsverhalten ändert sich grundlegend und bestimmt womöglich das ganze weitere Leben. Die Gefahr, dass fehlende positive Bindungserfahrungen und somit fehlende soziale Verstärker durch Drogenkonsum als alternative Stimulierung des Belohnungssystems ersetzt werden, ist groß. Die Folgen bleiben ein Leben lang: Das Suchtgedächtnis vergisst nie. Das Bindungsgedächtnis auch nicht. Dies gilt besonders für suchterkrankte Jugendliche und Adoleszente, deren Hirnreifung noch nicht abgeschlossen ist. Die Pubertät ist die Risikozeit für psychiatrische Erkrankungen und es gilt, frühzeitig Wege zu finden, um traumatisierte Kinder und Jugendliche vor der irreversiblen Chronifizierung eines Bindungstraumas zu schützen.

Der aktuelle Stand der Forschung und der (neurobiologische) Zusammenhang von Sucht, Trauma und Bindung werden in Kapitel 3 möglichst prägnant und bereits mit klarem Praxisbezug herausgearbeitet. Um das Verständnis des Theorie-Teils zu unterstützen, werden jeweils Fallbeispiele vorangestellt. Was in der Theorie oft logisch und sinnvoll erscheint, lässt sich nicht selten im therapeutischen und klinischen Alltag nur schwer in ein eindeutiges Schema bringen. Wie dies aber auch bei komplexen Störungsbildern mit hoher Komorbidität möglich ist, soll das kontrastreiche Nebeneinander von Fall und Forschung nachzeichnen. Das Ausweichen des Patienten auf Nebenthemen und in ein Vermeidungsverhalten, der lange Weg voller Rückschläge, Abbrüche, Wiederholungen und sogar Verschlechterungen ergeben oftmals erst einen Sinn, wenn die theoretischen Grundlagen ausreichend in den Blick genommen werden. Erst wenn verstanden wird, worum es bei Trauma und Bindung tatsächlich geht, ergeben sich daraus viele praktische Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Die Theorie gibt Orientierung. Die Epidemiologie versucht ebenfalls, anhand von Studien und Definitionen zur Orientierung innerhalb der komplexen Zusammenhänge beizutragen.

Kapitel 5 des Buches bringt die wichtigsten Aspekte der integrativen Therapie von Sucht, Trauma und Bindungsstörung in wesentlichen Begriffen in einen Zusammenhang. Sowohl die ambulante als auch die stationäre Arbeit und Therapieorganisation werden dabei berücksichtigt. Es kommt die Therapieplanung und Psychoedukation ebenso zur Sprache wie verschiedene Techniken der Stabilisierung, der systemischen Rahmung und der praktischen Traumakonfrontation. Zuletzt werden auch verschiedene Formen der EMDR-Anwendung kurz dargestellt. In Bezug auf die frühen dissoziativen Traumafolgestörungen der Kindheit, die bei abhängigen Jugendlichen eine große Rolle spielen, werden Aspekte der Ego-State-Therapie und der Arbeit mit Ich-Anteilen auf der inneren Bühne vertieft. Das besondere Anliegen des Buches ist es, sich auf frühkindliche Traumafolgestörungen im Zusammenhang mit jugendlicher Suchtentwicklung einzulassen, ohne dass bisher aus wissenschaftlicher Sicht das letzte Wort dazu gesagt wäre. Im Gegenteil, es handelt sich noch um Neuland. An dieser Stelle hoffen wir, dass unsere langjährige Erfahrung einen praktikablen Weg zeigen kann.

1.2       Kasuistik

Die folgenden Fallbeispiele repräsentieren typische Patienten, wie sie auf unserer Station und in unserer Sucht-Ambulanz behandelt werden. Die Beispiele sollen exemplarisch veranschaulichen, mit welchen Herausforderungen die Therapeuten konfrontiert werden, wenn sie es mit kombinierten Sucht-, Trauma- und Bindungsstörungen zu tun hat. Eine gute Balance von Stabilisierung und Konfrontation ist von großer Bedeutung. Der Therapeut muss erkennen können, ob sich der Patient tatsächlich mit seiner dissoziativen Seite der Sucht auseinandersetzt oder ob er »Ausweichmanöver« (die Vermeidung, den Krankheitsgewinn) vorzieht, um seine gewohnte Abwehrstrategie nicht aufgeben zu müssen. Die Sucht-Seite unterstützt massiv die Vermeidung. Sich dem Trauma zu stellen heißt auch, sich der Sucht zu stellen und umgekehrt. Beide Seiten suchen die Vermeidung in der dissoziativen Betäubung. Der therapeutische Weg aus dieser sich selbst verstärkenden, fatalen Struktur ist lang und gezeichnet von Rückschlägen, Rückfällen, Scham und sogar Verschlechterungen während der Therapie. Der Therapeut braucht Leidenschaft, Vertrauen und viel Wissen, um den krisenhaften, turbulenten Entwicklungen der Patienten mit Ruhe begegnen zu können. Vor allem braucht es aber auch eine gute Nähe-Distanz-Regulation des Therapeuten. In der Arbeit mit traumatisierten Patienten ist das Wissen um die Grenzen der Empathie von großer Bedeutung. Es ist wichtig zu wissen, wann Empathie sein darf, wann sie nötig ist und wann sie sich verbietet. Es braucht das Wissen um den richtigen Augenblick. Und es braucht ein hohes Maß an Selbsterfahrung, denn die Gefühle, die der traumatisierte und bindungsgestörte Patient im Therapeuten auslöst, können bedrohlich oder vernichtend sein: wie zum Beispiel das Gefühl, etwas in der Therapie falsch gemacht zu haben, dem Patienten etwas »angetan« zu haben. Täter-Gefühle sind typisch und können den Therapeuten allen Vorbereitungen zum Trotz stark belasten. Es braucht daher immer auch ein »kritisches Organ«, das sich einschaltet, wenn wir uns zu sehr in traumatische Biographien einzufühlen versuchen.

Fall 1: Anja (Dissoziative Identitätsstörung und innere Bühne)

Anja hatte bereits einen langen therapeutischen Weg hinter sich, bevor sie es zu uns auf die Suchttherapiestation schaffte. Zwei Jahre zuvor hatte sie auf einer Jugendstation eine Traumatherapie begonnen. Die Therapie sei schwierig gewesen, weil sie immer wieder heimlich während der Ausgänge Alkohol getrunken habe und die Eltern wenig kooperativ gewesen seien. Es gab Geheimnisse, die nicht thematisiert werden durften. Nach der Therapie ging Anja in eine Jugendhilfeeinrichtung, die sich auf traumatisierte Jugendliche spezialisiert hatte. Auch hier trank Anja immer mehr Alkohol und hielt sich nicht an Absprachen. Daher riet der Supervisor zu einer Suchttherapie auf »Teen Spirit Island«. Über Anjas Trauma waren zum Teil nur Mutmaßungen und Andeutungen bekannt. Der Vater stand als Täter unter Verdacht, massiv Gewalt in der Familie ausgeübt zu haben. Die Mutter habe dies nie bestätigt. Es dauerte lange, bis Anja ansatzweise darüber sprechen konnte. Es gab Hinweise auf einen mehrfachen sexuellen Missbrauch durch einen Nachbarn, denen aber nie nachgegangen worden war. Ein merkwürdiges Schweigen lag über jeder Andeutung. Zudem hatte es eine Wiederholung in Anjas Pubertät gegeben: Sie wurde durch eine Gruppe Jugendlicher vergewaltigt. Die Täter hatten ihre Tat angeblich mit dem Handy aufgenommen und Anja damit gedroht, den Film öffentlich ins Netz zu stellen, sollte Anja darüber reden. Seither musste Anja zwanghaft kontrollieren, ob etwas über sie im Netz zu finden war.

Bei der Aufnahme in unserer Station musste sie ihr Handy abgeben, was ihr sehr schwerfiel. Aber es führte zu einer Entlastung gegen ihren Willen. Das Handy funktionierte als Trigger, es erinnerte Anja täglich an das Trauma und an die Schweigepflicht. Die Scham »klebte« am Handy – eine perfide Installation der Täter. Nach der Entzugsphase begann Anja zu dissoziieren. Sie profitierte zwar von Stabilisierungsübungen und konnte ihre Ressourcen nutzen, aber der Druck, sich selbst verletzen zu müssen, überwältigte sie immer wieder. Es fiel ihr sehr schwer, sich Hilfe zu holen. Schuldgefühle und der Drang, sich selbst bestrafen bzw. verletzen zu müssen, zwangen sie zum Rückzug in sich selbst. Es wurde ein Therapievertrag geschlossen, in dem Mindestanforderungen beschrieben wurden, die Anja erfüllen musste, um ihre stationäre Therapie fortsetzen zu können. Wir entschieden uns für ein konfrontatives, Grenzen aufzeigendes Bindungsangebot. Anja wehrte Nähe, Lob, Anerkennung und Fürsorglichkeit ab, weil sie eine vertrauensvolle Bindung als bedrohlich erlebte. Es war leichter für sie, wenn man ihr nicht zeigte, dass man sie mochte. Bei zu viel Nähe geriet sie unter Druck und ihr Bedürfnis zur Selbstbestrafung wuchs. Bald wurde deutlich, dass Anja zwischen verschiedenen Ich-Zuständen wechselte. Mal wirkte sie schwer belastet, eingeschüchtert und konnte nicht sprechen. Dann zeigte sie kindliche Freude und redete wie ein Kind. Wieder ein anderes Mal zeigte sie oppositionelles Verhalten und wirkte pubertär jugendlich. In extremen Augenblicken konnte sie sich nicht mehr an vorherige Zustände erinnern. Sie merkte oft nicht, dass sie zwischen Ego-States (Ich-Anteilen) wechselte. Die Dissoziation zwischen den Ich-Anteilen schien zum Teil derart ausgeprägt zu sein, dass Anjas dissoziative Störung als Dissoziative Identitätsstörung (DIS, früher »Multiple Persönlichkeit«) zu beschreiben war.

Wir begannen in der Einzeltherapie mit der Arbeit auf der »inneren Bühne«: Anja lernte, ihre verschiedenen Ich-Anteile zu erkennen, zu beschreiben und ihre Motive zu verstehen. Es gab Helfer-Ichs, destruktive Ichs, Täter-Anteile, kindliche Anteile mit und ohne Opfer-Erfahrung und eine anscheinend normale Persönlichkeit (ANP), die versuchte, im Alltag zu funktionieren. Es gab Anteile, die unbedingt zur Schule gehen und einen guten Abschluss erreichen wollten und es gab Ego-States, die im hohen Maße selbstdestruktiv, selbstverletzend und präsuizidal agierten. Anja hatte am Anfang große Schwierigkeiten, die Aufstellung der Anteile auf der inneren Bühne zu akzeptieren. Sie hatte Angst zu »zerfallen«. Es ging ihr zunächst schlechter, sie wirkte verunsichert und depressiv. Die Anteile auf der inneren Bühne mussten sich zunächst darüber einigen, wie diese Aufdeckung der Ich-Struktur zu bewerten sei. Es gab auch Anteile, die sich offenbar gegen den therapeutischen Blick zu wehren versuchten. Aber nach einer gewissen Zeit legte sich die Abwehr und es ging mehr um funktionale Aspekte des gemeinsamen Miteinanders der Anteile: Auch scheinbar destruktive Anteile wurden als wichtig und ehemals notwendig anerkannt, um ihre Angst vor Abschaffung zu beruhigen. Alle Anteile wurden wertgeschätzt und schrittweise in die Therapie einbezogen. Alle Teil-Persönlichkeiten hatten einmal die Aufgabe, die Integrität der Gesamtpersönlichkeit Anjas zu schützen. Durch den Blick auf die »innere Bühne« lernte Anja, den Wechsel zu bemerken und mit den Ich-Anteilen im Kontakt zu bleiben. Nach anfänglichem Chaos entstand eine neue Perspektive: Anja »verschwand« nicht mehr im Wechsel der Anteile. Sie war der inneren Dynamik der Ego-States nicht mehr einfach nur ausgesetzt, sondern sie gewann immer mehr die Kontrolle über sich selbst, d. h. über das, was auf der »inneren Bühne« passierte. Die Sicherheit dieses Prozesses wurde dadurch hergestellt, dass es kaum Kontakte nach außen gab. Die Eltern meldeten sich kaum und auch sonst blieb Anja in der Sicherheitszone der Station. Nach gelegentlichen Telefonaten mit der Familie ging es Anja meist schlechter. Die Eltern sendeten Double Bind-Signale: Mal wirkten sie bereit zur Auseinandersetzung, dann wieder blieben sie abweisend, vorwurfsvoll und verständnislos. Anja wechselte entsprechend in ihren Bedürfnissen zwischen reflektierter Selbstkontrolle, kühler Distanz und kindlicher Sehnsucht nach Geborgenheit. Das »innere Kind« wollte, dass alles wieder gut war und verteidigte die Eltern.

Dann schickten die Eltern Pralinen mit Alkoholfüllung und schon schluckte Anja einen bitteren Widerhaken. Es folgten Suchtdruck, Enttäuschung, Selbstvorwürfe, Traurigkeit und Wut. Die Gefühle wechselten zwar noch mit dem Wechsel der Anteile auf der »inneren Bühne«, aber Anja lernte immer besser, die Gefühle nicht sofort verschwinden zu lassen: Das »innere Kind« durfte nicht nur traurig sein, sondern auch wütend; die »innere Streiterin« durfte nicht nur wütend sein, sondern auch traurig oder sehnsüchtig. So gelang allmählich eine Integration der Affekte, die sonst nur abgespalten voneinander existieren durften. Anja integrierte die Gefühlsanteile immer mehr als gleichzeitige Aspekte einer ganzen Person. Je mehr dieser Prozess voranschritt, umso stabiler wurde sie.

In einem Familiengespräch mit der Mutter nutzte Anja ihre neue Stabilität, um ihren Eltern gegenüber ihr Bedürfnis nach Akzeptanz und Respekt auszudrücken. Die Eltern wurden über Anjas Krankheitsbild aufgeklärt. Die Mutter wirkte erschüttert und zeigte erstmalig eine Bereitschaft, sich zu öffnen. Durch das Fallbeispiel wurde verdeutlicht, dass regelmäßige Kontakte zu Anja nur möglich sind, wenn ein Prozess des Verzeihens und Vergebens eingeleitet werde. Das hieß in aller Deutlichkeit: Vater und Mutter mussten Anja um Vergebung bitten. Der Vater musste seine Gewalttaten bereuen und die Mutter ihr Wegschauen. Für Anja war diese systemische und traumatherapeutische Intervention sehr wichtig: Klartext. Eindeutigkeit. Öffentlichkeit. Affektvalidierung. Realität. Kein Verschwimmen der Scham-Schuld-Grenzen. Anja erhielt ein Modell der Abgrenzung in Bezug auf eigene Bedürfnisse. Sich in Bindungen sicher fühlen hieß für Anja: Eine gute Nähe-Distanz-Regulation durch Wahrung und Sehen der eigenen Bedürfnisse – und das, obwohl die inneren Anteile unterschiedliche Bedürfnisse äußerten. Trotz großer Sehnsucht nach den Eltern konnte mit Anja erarbeitet werden, dass die Eltern den nächsten Schritt machen mussten. Dies würde ein langer Prozess mit ungewissem Ausgang sein. Anja strebte eine Rückkehr in die Jugendhilfeeinrichtung an mit dem Ziel, die Schule wieder zu besuchen, die Traumatherapie fortzusetzen und wöchentlich in unserer Nachsorgegruppentherapie zu erscheinen.

Fall 2: Heiko (frühkindliche Bindungstraumatisierung)

Heikos Fall soll hier nur auf einen Aspekt hin fokussiert werden, der zeigt, wie schwer es oftmals ist, frühkindliche traumatische Strukturen zu erkennen und in einen therapeutischen Rahmen zu bringen, wenn es kaum Erinnerungen an die frühe Kindheit gibt. Heiko kam zu uns aufgrund massiven täglichen Alkoholkonsums und Cannabis-Abhängigkeit. Zudem konsumierte er Ecstasy und gelegentlich Kokain. Er zeigte Symptome einer schweren Depression, hatte einige Suizidversuche hinter sich und gab einen sexuellen Missbrauch durch einen älteren Jungen aus der Drogenszene an. Bei Heiko konnte eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert werden, allerdings war auch sein Bindungsverhalten sehr auffällig. Er somatisierte stark und hatte eine Neigung zu hysterisch wirkenden körperlichen Störungen. Diese Konversionsstörungen (Taubheit, Schmerzen, Lähmungen) gingen mit ausgeprägten Ängsten und Schlafstörungen (Alpträumen) einher. Er sah abends im Halbdunkel Gesichter mit großen Augen und ohne Mund und wirkte auf kindliche Weise verängstigt und erstarrt, wenn er davon berichtete. Mit der Pflegefamilie wurde die frühkindliche Geschichte Heikos aufgearbeitet und es stellte sich heraus, dass er als »Frühchen« zur Welt gekommen und sofort aus seiner Familie entfernt worden war. Die Eltern waren drogenabhängig und konnten sich nicht um ihn kümmern. Während Heiko in der Neonatologie unseres Hauses versorgt worden war, wurden Pflegeeltern gesucht. Das Baby wechselte danach mehrfach die Pflegefamilien, bis sich eine Familie seiner Schreikrämpfe zum Trotz erbarmte und ihn länger behielt. Adoptiert wurde Heiko allerdings nie.

Nach einer Stabilisierungsphase wurde Heiko mit Konflikten in der Gruppe konfrontiert. Dabei zeigten sich große Verlustängste und die Angst vor Ablehnung und Zurückweisung. In dieser Phase wurden seine PTBS-Symptome stärker. Die Gesichter ohne Mund, die ihm abends »erschienen«, wurden als Erinnerungen aus seiner Zeit als Frühchen in der Neonatologie gedeutet: Er lag dort verlassen, zu früh in die Welt gesetzt, ohne Eltern, von intensivmedizinischen Instrumenten verletzt (Nadeln, Infusion, Medikamente) und wurde von Gesichtern ohne Mund (Mundschutz) angesprochen. Diese Deutung machte es Heiko möglich, ein Narrativ für seine verwirrenden (früher als psychotische drogeninduzierte Symptomatik gedeuteten) Visionen zu finden. Er konnte seine eigene Geschichte neu erzählen, als eine Geschichte des Überlebens und des Stolzes, es bis in die Therapie geschafft zu haben. So konnte Heiko seiner bis dahin als »Vernichtungsgeschichte« erlebten Biographie eine neue Würde zurückgeben. Er fand damit die Kraft, alten suizidalen Impulsen einen neuen Lebenswillen entgegenzustellen. Die Flashback-Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch konnten mit EMDR gut prozessiert werden, ohne dass danach neue dissoziative Zustände auftraten. Auch war es jetzt möglich, die Trigger für die chemische Dissoziation durch Drogen zu analysieren und zu bearbeiten.

Fall 3: Ferris (Bindung, Sucht und Risiko)

Häufig gibt es im Erstkontakt mit den Patienten sogenannte »Urszenen«, wie man es in der Psychoanalyse nennen würde. Es entsteht oft eine initiale Kennenlern-Sequenz, in der ein Patient sein ganz besonderes Bindungsverhalten offenbart. Diese Sequenz bildet nicht selten eine Art symbolische Verbindung (bedeutungsvolle »Nabelschnur«) zwischen Patient und Therapeut, ein Bild, auf das man die therapeutische Beziehung aufbauen kann.

Ich lernte Ferris als extrem durchtrainierten, blonden, jungen Mann kennen. Er trug alle Insignien eines coolen, von seiner Peergroup bewunderten Heros vor sich her: seinen Körper, sein Käppi, eine schwere Kette, Baggyhosen, Surfer-T-Shirt, Tätowierung, Nasenring und gewonnene BMX-Meisterschaften. Allerdings begann er immer mehr, Cannabis, Alkohol, Ecstasy und Amphetamine zu konsumieren. Außerdem hatte er, was erst später herauskam, Diebstähle, Körperverletzungen und einen Raubüberfall auf eine Tankstelle begangen. Er kam aus einer Professorenfamilie, die ihn als Baby adoptiert hatte. Seine Schulnoten waren schlecht, seine Versetzung in die nächste Klasse auf der Realschule gefährdet.

Bei der ersten Begegnung auf der Station rannte Ferris plötzlich auf mich zu – ein sehr irritierender Moment. Er blieb aber nicht bei mir stehen und ergriff auch nicht meine ausgestreckte Hand, sondern lief mit riesigen Sprüngen an mir vorbei. Auch andere Stationsmitglieder wurden Zeuge des nun ablaufenden Geschehens: Ferris wollte wie ein Parcour-Kletterer den Stamm eines nahestehenden Baumes einige Meter senkrecht hochlaufen, um dann mit einem Überschlag auf den Boden zurückzukehren. Ein akrobatisches Kunststück, das schiefging: Ferris rutschte vom Stamm ab und trug eine erhebliche Schürfwunde im Gesicht davon. Die Wunde war während der ganzen Therapie sichtbar und verheilte nur langsam. Ich kam therapeutisch immer wieder auf diese Wunde (diese Szene) zurück, um zu verdeutlichen, dass ich mir Sorgen um ihn machte. Er hatte ein extrem hohes Risikoverhalten, das Züge einer Selbstverletzung trug. Ferris hasste diesen Bezug. Er hasste es, wenn man sich Sorgen um ihn machte. Sobald man ihm zu nahe kam, blockte er aggressiv ab und steigerte seine Risikosuche. Von seinen leiblichen Eltern wusste er nichts. Er war sofort nach Geburt weggegeben worden. Im Laufe der Therapie wurden dissoziative Zustände sichtbar, die mit starker Angst einhergingen. Angst hatte Ferris bis dahin »nicht gekannt«. Er konnte lange keinen Nutzen für sich darin erkennen, die Angst zuzulassen und Nähe auszuhalten. Erst allmählich konnte er genug Vertrauen zur Gruppe aufbauen und korrigierende Bindungserfahrungen machen.

 

 

 

 

 

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Epidemiologie und Definition

2.1       Sucht und Trauma als Komorbidität

Inzwischen ist die signifikante Häufigkeit der Komorbidität insbesondere von Sucht- und Trauma-Störungen statistisch gut belegt. Die Biografien suchtkranker Menschen sind häufig von traumatischen Lebensereignissen und Lebensumständen geprägt. Gerade bei der Anamnese schwer und früh drogenabhängiger Jugendlicher sind traumatische Bindungserfahrungen, Verluste, Gewalt und Sucht in der Familie, Erziehung in Institutionen und Missbrauch typische und fast schon zu erwartende Eckdaten. Dennoch, so bemerken z. B. Schäfer und Krausz (2006), wurde der Bedeutung traumatischer Erfahrungen für die Genese und die Therapie von Suchtstörungen in der Vergangenheit kaum Beachtung zuteil. Inzwischen hat sich durch wissenschaftliche Fortschritte der Psychotraumatologie und der Entwicklungspsychologie der Fokus verändert: Die Bedeutung von Traumatisierungen in der Kindheit für die Entstehung von Suchterkrankungen wurde ebenso evaluiert wie die traumabezogene Komorbidität und die traumafokussierte Therapie betroffener Suchtpatienten.

In vielen Studien zeigte sich ein Zusammenhang von affektiven Störungen, Angsterkrankungen, Essstörungen und Suchterkrankungen mit traumatischen Erfahrungen in frühen Lebensabschnitten (Kendler et al. 2000, Nelson et al. 2002, Read et al. 2005). Bei Suchterkrankungen ist der Zusammenhang mit am besten belegt. Eine aufgrund hoher Probandenzahl sehr bekannt gewordene Studie ist die Adverse-Childhood-Experiences-Studie (ACE-Studie). Bei einer Stichprobe von 9 508 Personen wurde in Kalifornien der Einfluss verschiedener Belastungsfaktoren wie sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung, Vernachlässigung und Substanzmissbrauch auf spätere somatische und psychische Erkrankungen untersucht (Felitti et al. 1998). Zwischen der Anzahl der Risikofaktoren und dem Einsetzen des Drogenkonsums (bzw. der Drogenabhängigkeit) zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang im Sinne einer Dosis-Wirkung-Beziehung. Auch hatte die Anzahl von Belastungsfaktoren eine Bedeutung für das Einstiegsalter in den Drogenkonsum: Je mehr Belastungen es gab, desto früher begannen die Jugendlichen (unter 14 Jahren) mit dem Konsum (um den Faktor 2–4; Dube et al. 2013). Ein ähnliches Ergebnis zeigte die Studie des »National Comorbidity Survey« (Kessler et al. 1997). Die Befragung von 8 098 Probanden aus der Normalbevölkerung zum Vorliegen 26 schädigender Kindheitseinflüsse (z. B. Verluste, psychische Störung der Eltern, körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch) und zum Auftreten von späteren psychischen Störungen zeigte einen Zusammenhang zwischen Risikofaktoren und dem Auftreten von Suchterkrankungen, nicht aber zwischen Risikofaktoren und dem Verlauf der Suchtstörung.

Sehr aussagekräftig sind prospektive Langzeituntersuchungen. Fergusson und Lynskey (1996, 1997) untersuchten eine 1 265 Personen umfassende, neuseeländische Geburtenkohorte bis zum 18. Lebensjahr. Es wurden psychosoziale Belastungsfaktoren in der Kindheit erfasst wie z. B. Trennungen, Erziehungs- und Bindungsverhalten der Eltern, Substanzmissbrauch und sonstige psychiatrische Probleme der Eltern. Später wurde auch nach sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung gefragt. Hier zeigten sich deutliche Zusammenhänge zwischen sexuellem Missbrauch und substanzbedingten Störungen. Bei körperlicher Gewalt gab es eher signifikante Zusammenhänge mit Alkoholkonsum und -abhängigkeit. Auch die Schwere der Misshandlung wirkte sich offenbar auf die Deutlichkeit dieses Zusammenhangs aus.

Duncan et al. (1996) untersuchten 4 000 Frauen als repräsentative Stichprobe aus der Normalbevölkerung und fanden heraus, dass körperliche Misshandlung im Kindesalter mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Substanzmissbrauch einherging.

Wilsnack et al. (1997) untersuchten 1 099 Frauen, wobei »problematisches Trinken« zweimal so häufig bei Frauen mit kindlichen Missbrauchserfahrungen auftrat.

Viele Studien befassten sich mit der Häufigkeit kindlicher Traumata bei Patienten in Suchtbehandlung. Es liegen dazu verschiedene Übersichtsarbeiten vor, die eine Häufigkeit von sexuellem Missbrauch und körperlichen Misshandlungen je nach Definition und Art der Erhebung zwischen 22% und 70% angeben.

Folgt man Simpson und Miller (2002), kommt man zu folgenden Ergebnissen in der Übersicht: In 47 Studien, in denen weibliche Suchtpatientinnen bezüglich kindlichen sexuellen Missbrauchs untersucht wurden, ergab sich eine durchschnittliche Prävalenz von 45%. Bei Männern fand sich in 20 Studien eine Prävalenz von 16%. Bei der Untersuchung von körperlicher Misshandlung fand sich in 19 Studien, die sich mit weiblichen Suchtpatientinnen befassten, eine Prävalenz von durchschnittlich 39%. Bei 12 Studien an männlichen Patienten berichteten 31% von körperlicher Gewalt in der Kindheit.

Es gibt Studien, die sich mit dem Abhängigkeitspotential von spezifischen Subtanzklassen und der Frage nach Missbrauch und Gewalt beschäftigen. Schmidt (2000) befragte substituierte Opiatabhängige zu sexuellen Missbrauchserlebnissen in der Kindheit. Es zeigte sich bei enger Definition eine Prävalenz von 60% bei Frauen und 25% bei Männern (11% und 6% in der Kontrollgruppe). In der Gruppe der Opiatabhängigen gab es signifikant häufiger und schwerere Missbrauchserlebnisse, die in jüngerem Alter stattfanden und öfter auf Inzestverhalten zurückgingen. Schäfer et al. (2000) befragten 100 Patienten mit multiplem Drogenkonsum nach erzwungenem Geschlechtsverkehr vor dem 16. Lebensjahr. 50% der weiblichen und 40% der männlichen Patienten waren betroffen.

2.2       Sucht und Bindungsstörung bei Kindern und Jugendlichen