Impressum:

© 2019 Jakob Ney (Hrsg. u. Bearb.)

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-75045-658-7

Vorrede.

DIE gegenwärtige Übersetzung auserlesener Stellen aus Senecas Schriften ist eigentlich, wie schon der Titel sagt, weder für Gelehrte noch für Studierende, sondern zunächst für gebildete Leser bestimmt, die das Original nicht selbst lesen können. Ich konnte und wollte auch keine wörtliche Übersetzung liefern, sondern die Ideen des Verfassers in die deutsche Sprache übertragen, ohne mich genau an seine Worte zu binden. Denn so vortrefflich und zum Teil erhaben die Lehren und moralischen Grundsätze dieses Weltweisen sind, so äußerst dunkel ist zuweilen seine Schreibart, wie jeder zugestehen wird, der seine Schriften gelesen hat. Manche Stellen sind so dunkel, daß man ihren Sinn bloß aus dem Zusammenhang erraten muß, und wenn man sie wörtlich übersetzen wollte, so würde sie kein Deutscher verstehen. Ich habe mich so deutlich als mir möglich war, auszudrücken gesucht. Wenn aber die Leser dennoch hier und da Dunkelheiten finden sollten, da mögen sie vermuten, daß entweder der Autor seine Ideen nicht gut geordnet, oder daß ich unrichtig übersetzt habe.

So kurz und dunkel sich aber Seneca bisweilen ausdrückt, so redselig und weitschweifig ist er wieder in anderen Stellen; ingleichen ist der Wiederholungen einer und eben derselben Sache eine große Menge in seinen Schriften zu finden. Außerdem beobachtet er auch keine gute Ordnung, und läßt seiner lebhaften Einbildungskraft oft einen allzu freien Lauf. Man wird ihm jedoch diese und andere dergleichen Fehler nicht zu hoch anrechnen, wenn man bedenkt, daß er als Staatsminister des Kaisers Nero, zumal in den ersten Jahren seiner Regierung mit überaus vielen Geschäften überladen war. Er scheint daher seine Gedanken oft hingeschrieben zu haben, wie sie ihm einfielen, ohne sich allemal Zeit und Mühe zu nehmen, das bereits Niedergeschriebene wieder zu überlesen, und zu verbessern. Da auch sein Gemüt bei den Abwechslungen seiner Schicksale nicht immer in gleicher Verfassung war, so sehr er sich auch anstrengte sich immer gleich zu bleiben, so darf man sich nicht wundern, wenn er sich bisweilen widersprach. Indessen wird wohl schwerlich ein Werk aus dem heidnischen Altertum zu finden sein, in welchem mehr erhabene, scharfsinnige und zum Teil erbauliche Gedanken angetroffen werden, als in den Schriften dieses Weltweisen.

Was ich von dem Mangel an guter Ordnung gesagt habe, das gilt vornehmlich von den Abhandlungen, in welchen besondere Materien ausgeführt werden sollen. Ich habe daher, um einen Zusammenhang herauszubringen, bisweilen, jedoch selten meine eigene Gedanken hinzugesetzt, hingegen auch viele ausgehobene Stellen, wo die Bilder und Gleichnisse zu sehr gehäuft sind, abgekürzt. Diejenigen, die das Original selbst zu Rate ziehen, werden ohne Zweifel oft mit mir unzufrieden sein. Aber meine einzige Absicht bei dieser gewiß nicht leichten Arbeit war, gebildeten Lesern eine Schrift in die Hände zu geben, aus welcher sie gesunde Nahrung für Geist und Herz schöpfen könnten, und wenn diese Absicht, wie ich wünsche, bei vielen Lesern erreicht wird, so bin ich für meine Arbeit reichlich belohnt.

Der Übersetzer.

Inhalt.

  1. Aus den Briefen.
  2. Aus den Büchern vom Zorn.
  3. Von der Vorsehung.
  4. Von der Kürze des menschlichen Lebens.
  5. Von dem seligen Leben.
  6. Von Wohltaten.
  7. Von der Gemütsruhe.
  8. Aus den Naturbetrachtungen.

I.

Aus den Briefen.

1.
Wie man Bücher lesen soll.

DEM Lesen vieler Schriften von zu verschiedenem Inhalt ist zu widerraten. Wenige, aber gute Bücher, in welchen man eine gesunde Geistesnahrung findet, sollte man lesen, und ihren Inhalt seinem Gedächtnis einprägen. Wer überall ist, der ist nirgends zu Hause. Diejenigen, die ihr Leben beständig auf Reisen zubringen, haben viele Herbergen, aber keine Freunde. Das Nämliche begegnet denen, die sich mit keinem trefflichen Schriftsteller genau bekannt machen, sondern alles was sie lesen, flüchtig durchlaufen. Eine Speise, die man wieder von sich gibt, so bald man sie genossen hat, nützt nichts, und trägt nichts zur Nahrung des Körpers bei. Wie der Gesundheit nichts nachteiliger ist, als die häufige Abwechslung der Nahrungsmittel; wie eine Wunde, an welcher zu oft kuriert wird, nicht vernarbt, und eine Pflanze, die zu oft versetzt wird, nicht gedeiht: so wird auch der Geist keine gesunde Nahrung finden, wenn man ohne Wahl und Ordnung alles untereinander zu lesen pflegt. Die Menge der Bücher zerstreut das Gemüt. – Man lese daher immer nur bewährte Schriften, und wenn man bisweilen mit anderen abgewechselt hat, so nehme man die vorigen wieder zur Hand, zeichne sich nach dem Lesen eine Stelle aus, und denke weiter darüber nach.

2.
Der erste Schritt zur Besserung.

ICH merke, mein Freund, daß ich nicht nur besser, sondern auch ein ganz anderer Mensch werde; denn ich erkenne meine Fehler, die ich vorher nicht erkannte. Man wünscht manchen Kranken Glück, wenn sie ihre Krankheit fühlen. So verhält es sich auch mit moralisch Kranken. Man kann ihnen Glück wünschen, wenn sie ihre Gebrechen erkennen und fühlen.

3.
Die Genügsamkeit des Weisen.

DER Weise ist zwar mit sich selbst zufrieden; er wird aber doch wünschen, auch einen Freund zu haben, mit welchem er umgehen kann. Wie kann man sich aber Freunde erwerben? Man bedarf hierzu keiner Zaubermittel oder Liebestränke. Das beste Mittel ist: lieben. Willst du geliebt sein, so liebe. Nicht nur die Fortsetzung einer alten, bewährten Freundschaft, sondern auch die Anknüpfung einer neuen ist mit vielem Vergnügen verbunden. Nur muß die Freundschaft auf Tugend gegründet, und uneigennützig sein. Wer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, und bloß in dieser Absicht Freunde zu haben wünscht, der verrät eine schlechte Denkungsart. Seine Freundschaft wird auf einmal ein Ende haben, wenn er seinem Freund in der Not beistehen, oder etwas für ihn wagen soll.

Aber so angenehm es dem Weisen ist, tugendhafte Freunde zu haben, so wird er sich doch nicht für elend halten, wenn er ihrer entbehren muß. Ihm wird das Gute genügen, was er in sich selbst findet. Ein weiser Mann, namens Stilpo, hatte bei der Eroberung seiner Vaterstadt Weib und Kinder und sein ganzes Vermögen verloren. Als ihn nun der Eroberer fragte, ob er etwas verloren habe, so antwortete er: „Ich habe noch alle meine Güter: Gerechtigkeit, Mut, Mäßigkeit, Klugheit, selbst die Überzeugung, daß nichts für ein Gut zu achten ist, was mir entrissen werden kann. Dies alles besitze ich noch.“ – So kann jeder Weise sprechen.

4.
Die Einsamkeit. Was man von Gott bitten soll.

DIE Einsamkeit ist nützlich; aber nur guten Menschen. Als der Weltweise Krates1 einen jungen Menschen allein spazieren gehen sah, fragte er ihn, was er da allein mache? Er sprach: „Ich rede mit mir selbst.“ Jener antwortete: „Ich bitte dich, siehe wohl zu, ob du nicht mit einem bösen Menschen redest.“ Einen Schwermütigen und Furchtsamen pflegen wir zu bewachen, damit er die Einsamkeit nicht mißbrauche. Unverständigen sollte man nie gestatten, einsam zu sein; denn da schmieden sie böse Anschläge; da bereiten sie anderen, oder sich selbst künftige Gefahren; da sinnen sie auf die Befriedigung ihrer bösen Begierden, und begehen Böses.

Bitte Gott vor allen Dingen um ein gutes Herz, um Gesundheit des Geistes, und dann auch des Leibes. Wisse, daß du alsdann von bösen Begierden frei sein wirst, wenn du so weit im Guten gekommen bist, daß du nichts anderes von Gott bittest, als was du öffentlich von ihm bitten könntest. Denn wie groß ist die Torheit der Menschen! Sie blasen ihren Göttern die schändlichsten Wünsche in die Ohren. Wenn jemand hören wollte, was sie sagten, so würden sie schweigen; und was sie Menschen nicht wollen wissen lassen, das erzählen sie ihren Göttern. Überlege daher, ob es nicht eine heilsame Vorschrift sei: Lebe so mit Menschen, als ob dich Gott sähe; rede so mit Gott, als ob dich Menschen hörten.

5.
Dem Lasterhaften nützt weder Reichtum noch Armut.

MANCHE Arme glaubten durch Reichtum zufrieden zu werden. Sie erwarben sich Reichtum; aber dadurch haben sie ihrem Elend kein Ende gemacht; sie haben es nur verändert. Darüber wundere ich mich aber nicht. Der Fehler liegt nicht an den Dingen selbst, sondern an der Gemütsbeschaffenheit. Was ihnen die Armut lästig gemacht hatte, das machte ihnen auch den Reichtum lästig. Gleichwie es einerlei ist, ob man einen Kranken in ein hölzernes, oder in ein goldenes Bett legt; (denn wohin man ihn legen mag, nimmt er seine Krankheit mit;) ebenso ist es einerlei, ob man einem kranken Gemüt Reichtum oder Armut gibt. Sein Übel folgt ihm überall nach.

6.
Zweck der wahren Weltweisheit.

DIE wahre Weltweisheit lehrt tun, nicht bloß sprechen. Sie fordert, daß jeder nach ihrer Vorschrift lebe; Taten und Lehren dürfen durchaus nicht im Widerspruch miteinander stehen. Das ist das Wichtigste was die Weisheit bewirken soll; das ist das rechte Kennzeichen des Weisen, daß er sich überall gleich und immer derselbe ist. Wer kann es aber so weit bringen? Wenige; jedoch einige. Es ist schwer; und ich behaupte nicht, daß der Weise stets in dem nämlichen Schritt, aber doch stets auf dem nämlichen Weg zum Guten fortgehe. Gib acht, ob nicht dein Kleid und dein Haus mit deinen Grundsätzen in Widerspruch stehen; ob du nicht gegen dich freigebig, und gegen die Deinigen geizig bist; ob du dir an mäßigen Mahlzeiten genügen läßt, und nicht zu viel auf kostbare Gebäude verschwendest. Schreibe dir einmal für allemal eine Regel vor, nach welcher du leben willst, und nach derselben richte dein ganzes Leben ein. – Was ist Weisheit? Stets das Nämliche wollen, und das Nämliche nicht wollen; ich brauche nicht hinzuzusetzen, daß man nur das, was recht und gut ist, wollen, und nur das Böse nicht wollen soll; denn das versteht sich von selbst.

Nichts als was recht und gut ist, kann stets gefallen. Harmonie muß in unseren Gesinnungen und Handlungen sein. Menschen, die keine festen Grundsätze haben, werden nie einig mit sich selbst. Sie wissen nicht eher was sie wollen, als in dem Augenblick, da sie es wollen; im ganzen genommen haben sie keine Regel ihres Wollens und Nichtwollens. Täglich ändert sich ihr Urteil, und verwandelt sich in ein entgegengesetztes. Die meisten bringen ihr Leben mit Tändeleien zu.

7.
Unterschied zwischen Freude und Wollust.

LERNE dich freuen. Die Freude ist ernsthaft. Nicht jeder, welcher lacht, freut sich wirklich. Die Dinge, woran sich der große Haufe ergötzt, gewähren ein geringes und oberflächliches Vergnügen, und jeder Freude, welche von außen her zugeführt wird, mangelt der Grund. Die wahre Freude muß ihren Grund in dem Innern des Menschen haben. Bewirb dich um das, was allein dich glückselig machen kann. Tritt alles unter die Füße was von außen glänzt, was dir von einem anderen versprochen wird, und richte dein Augenmerk auf das wahre Gute; freue dich über das Gute was du in dir selbst findest, über deinen besten Teil. Obgleich ohne den Körper nichts getan werden kann, so halte ihn dennoch mehr für eine nötige, als für eine wichtige Sache. Er reizt zu kurzen Vergnügungen, die man aber bereuen muß, wenn man sie nicht mäßig genossen hat. Sinnliche Wollust ist dem Menschen gefährlich und endigt sich mit Schmerz. Du darfst sie daher nicht für ein großes Gut halten; denn es ist schwer sich in dem Streben nach dem, was man für ein Gut hält, zu mäßigen. Das Streben nach dem wahren Gut gewährt uns dauerhaftes Vergnügen. Es entspringt aus einem guten Gewissen, aus tugendhaften Gesinnungen und Handlungen, aus Geringschätzung zufälliger Dinge, aus einer sanften und gleichförmigen Lebensweise, welche beständig auf einem Weg bleibt. Denn wie können jene unstete, hin und her wankende Menschen, die von einem zum anderen überspringen, und nicht einmal überspringen, sondern durch den Zufall gleichsam wider ihren Willen fortgerissen werden, etwas Gewisses und Bleibendes haben? Es gibt wenige, die mit Überlegung und nach gewissen Absichten zu handeln pflegen. Die übrigen gehen nicht, sondern werden nach Art der Dinge, welche auf Flüssen schwimmen, fortgetrieben. – Wir müssen daher festsetzen, was wir wollen, und dabei müssen wir beharren.

8.
Sei nicht ängstlich wegen der Zukunft besorgt.

ÄNGSTIGE dich nicht wegen künftiger Übel, ehe sie da sind. Warum willst du die gegenwärtige Zeit durch Furcht vor der künftigen verderben? Was du fürchtest, ist entweder von keiner großen Wichtigkeit, oder von keiner langen Dauer. Betrachte die Dinge nach ihrer wahren Beschaffenheit, dann wirst du einsehen, daß in ihnen nichts fürchterlich ist, als die Furcht selbst. Was den Knaben zu begegnen pflegt, das begegnet oft uns großen Knaben. Wenn jene ihre lieben Gespielen maskiert sehen, so erschrecken sie. So geht es auch uns. Wir müssen nicht nur den Menschen, sondern auch den Dingen die Maske abziehen, und ihnen ihre wahre Gestalt geben; dann werden sie uns nicht mehr fürchterlich vorkommen. Das Letzte was uns bevorsteht ist der Tod; und diesen haben wir nicht zu fürchten; er ist jeder anderen Wohltat vorzuziehen.

9.
Der muntere Greis.

I CH bin nunmehr in die Jahre des höheren Alters getreten; aber ob ich gleich die Beschwerden des Alters am Körper fühle, so fühle ich sie doch nicht am Geist. Nur die Fehler und die Werkzeuge der Fehler veralten. Der Geist ist munter, und freut sich, daß er nicht viel mit dem Körper zu schaffen hat; einen großen Teil seiner Last hat er abgelegt; er frohlockt, und macht mir es streitig, daß ich alt sei. Er sagt, dies sei seine Blüte. Wir wollen ihm glauben; er genieße sein Glück. Ich will aber untersuchen, was ich von dieser Gemütsruhe und Gleichmütigkeit der Weisheit, was ich dem Alter zu danken habe. Sorgfältig will ich forschen, was ich nicht tun könne, und was ich nicht tun wolle? Ob ich nicht etwas tun könnte, was ich nicht wollte. Denn wenn ich etwas (Böses) nicht tun kann, so freue ich mich, daß ich es nicht tun kann. Warum wollte man sich darüber beklagen, daß dasjenige, was einmal aufhören muß, schwach geworden ist?

10.
Nur die Tugend gewährt wahre Freude.

LAß erst deine Fehler sterben, ehe du stirbst. Meide jene trüben Vergnügungen, die man teuer büßen muß. Sie schaden nicht nur vor, sondern auch nach dem Genuß. Gleichwie grobe Verbrechen, wenn sie auch nicht entdeckt worden sind, indem sie begangen wurden, Sorge und Unruhe zurücklassen, so folgt auch Reue auf lasterhafte Vergnügungen, wenn man sie genossen hat. Sie haben keinen Wert, sind nicht treu; wenn sie gleich nicht schaden, so fliehen sie doch. Strebe nach einem bleibenden Gut; es gibt aber kein anderes als ein solches, welches das Gemüt aus sich selbst erfunden hat. Bloß die Tugend gewährt beständige, sichere Freude. Was ihr widersteht, gleicht Wolken, die unterwärts getrieben werden, und den Tag niemals besiegen.

11.
Notwendigkeit der Selbstprüfung.

ERKENNTNIS der Sünde ist der Anfang des Seelenheils. Denn wer nicht weiß, daß er sündigt, der will sich nicht bessern; du mußt dich betroffen fühlen, ehe du dich besserst. Manche rühmen sich ihrer Laster. Glaubst du aber, daß diejenigen, die ihre Laster für Tugenden halten, an ein Heilmittel denken werden? Strafe dich daher selbst so viel du kannst. Stelle eine strenge Untersuchung mit dir an. Übernimm zuerst die Rolle eines Anklägers, hernach eines Richters, zuletzt eines Fürbitters; bisweilen sei unwillig auf dich selbst.

12.
Man soll den Tod nicht fürchten.

DER Tod, den wir so sehr fürchten, raubt uns das Leben nicht; er unterbricht es nur. Es wird wieder ein Tag kommen, der uns dem Licht darstellt; ein Tag, welchen viele scheuen würden, wenn er nicht die Vergessenen zurückführte. Alles, was zu vergehen scheint, wird nur verändert. Wer wieder zurückkommen wird, kann ruhig ausgehen. Betrachte den Kreislauf der Dinge. Du wirst wahrnehmen, daß in dieser Welt nichts vertilgt wird, sondern wechselweise niedersteigt, und sich wieder in die Höhe erhebt. Der Sommer vergeht; aber das nächste Jahr führt ihn wieder herbei. So ist es auch mit dem Winter. Die Nacht verdeckt die Sonne; aber der Tag vertreibt sie wieder. Nur das Einzige will ich noch hinzusetzen, daß weder Kinder, noch Knaben, noch Wahnsinnige den Tod fürchten, und daß es eine überaus große Schande ist, wenn uns die Vernunft die Furchtlosigkeit nicht gewähren kann, zu welcher die Narrheit führt.

13.
Verächtlichkeit des Lasters.

DAS Laster ist ein niedriges, verächtliches, schändliches, sklavisches, vielen, und zwar den grausamsten Gemütsbewegungen unterworfenes Ding. Von diesen lästigen Herren, die bisweilen wechselweise, bisweilen zugleich gebieten, wird dich die Weisheit befreien, welche allein die wahre Freiheit ist. Zu dieser führt ein einziger, und zwar ein gerader Weg. Weiche nicht davon ab: gehe mit festem Schritt. Wenn du dir alles unterwerfen willst, so unterwirf dich der Vernunft. Du wirst viele regieren, wenn du dich selbst regierst. Von ihr wirst du lernen, was du unternehmen, und wie du es unternehmen sollst, und wirst nicht dem Zufall ausgesetzt sein. – Es ist schändlich, wenn man nicht geht, sondern fortgetrieben wird, und plötzlich, mitten im Wirbelwind der Dinge staunend fragt: „Wie bin ich hierher gekommen?“

14.
Der Nutzen kurzer Sittensprüche.

KURZE Sittensprüche wirken oft mehr als lange Reden. Sie dringen nicht nur leichter in die Seele, sondern werden auch leichter im Gedächtnis behalten. Nicht viele, sondern kräftige Worte sind nützlich. Man muß sie gleich Samenkörnern ausstreuen, die zwar klein sind, aber ihre Kräfte äußern, und hoch emporwachsen, wenn sie einen tüchtigen Boden gefunden haben. – Es verhält sich, sage ich, mit kurzen, guten Lehren ebenso wie mit Samenkörnern. Wenn sie nur das Gemüt ergreift, und in sich aufnimmt, so wirken sie viel, wenn sie auch aus wenigen Worten bestehen. Ein solches Gemüt wird gute Früchte bringen, und mehr geben als es empfangen hat.

15.
Allzugroßes Glück ist der Tugend gefährlich.

GLEICHWIE die Feuerflamme gerade in die Höhe steigt, und weder niedergedrückt werden, noch ruhen kann: so ist auch unsere Seele in beständiger Bewegung, und desto beweglicher und tätiger, je heftiger sie ist. Aber glückselig ist derjenige, der diesen Trieb zur Tätigkeit auf das Bessere gerichtet hat. Er wird sich über die Gewalt des Schicksals erheben. Es ist Merkmal einer großen Seele, wenn sie das Große geringschätzt, und lieber das Mittelmäßige als das zu viele wünscht. Denn jenes ist nützlich, und trägt zur Erhaltung des Lebens bei; aber dieses ist eben deswegen schädlich, weil es überflüssig ist. So schlägt allzureiche Frucht die Saat darnieder; so zerbrechen die Äste des Baums von zu großer Last; so kommt zu große Fruchtbarkeit nicht zur Reife. Das Nämliche begegnet den Seelen. Übermäßiges Glück zerreißt sie, weil sie dasselbe nicht nur zum Schaden anderer, sondern auch zu ihrem eigenen Nachteil mißbrauchen. Welcher Feind hat jemals seinen Feind ärger beschimpft, als manche sich durch ihre wollüstigen Ausschweifungen beschimpfen? Aber dafür werden sie auch gestraft; denn sie strafen sich selbst. Ihre Frechheit geht bis zur Raserei, und plagt sie mit Recht; denn eine Begierde, welche das gehörige Maß überschritten hat, muß notwendig immer unmäßiger werden, und unbefriedigt bleiben. Sie hat keine Grenzen, sondern wird immer heftiger. Menschen, die sich von ihr beherrschen lassen, versinken immer tiefer in wollüstige Ausschweifungen, und wenn sie ihnen zur Gewohnheit worden sind, so können sie ihrer nicht mehr entbehren; und eben deswegen sind sie höchst elend, weil es mit ihnen so weit gekommen ist, daß ihnen dasjenige, was überflüssig war, zum notwendigen Bedürfnis worden ist. Sie sind also Sklaven der Wollust, ohne sie zu genießen; und was das ärgste unter allen Übeln ist, sie lieben ihre Übel. Dann aber ist die Unglückseligkeit vollendet, wenn das Schändliche nicht bloß ergötzt, sondern auch gefällt, und es findet kein Heilmittel mehr statt, wenn aus Lastern Gewohnheiten worden sind.

16.
Ein durchaus rechtschaffener Mann ist eine seltene Erscheinung.

WENN mancher wüßte, was zu einem rechtschaffenen Mann erfordert wird, so würde er sich nicht dafür halten; er würde vielleicht zweifeln, ob er es je werden könne. Ich rede jetzt von einem, der dem Rechtschaffensten am nächsten kommt; denn jener wird vielleicht, wie der Phönix, in 500 Jahren nur einmal geboren. Es ist noch kein Kennzeichen eines rechtschaffenen Mannes, wenn er das Böse haßt; denn das tun auch die Bösen. Er verabscheuet vielleicht diejenigen, die ihre Gewalt mißbrauchen; er würde aber das Nämliche tun, wenn er das Nämliche tun könnte. Manche enthalten sich von gewissen Lastern, weil ihnen die Kräfte mangeln, sie zu begehen. Wenn es in ihrem Vermögen steht, anderen zu schaden, so tun sie ohne Bedenken was ihnen gelüstet. Sie sehen aber nicht ein, daß sie sich selbst unglücklich machen, indem sie andere in das Verderben stürzen; bedenken nicht, wie lästig ihnen die Dinge sein würden, wonach sie trachten, wenn sie auch nicht überflüssig wären.

Bei dem Streben nach äußerlichen Gütern sollten wir daher überlegen, ob sie uns nützlich sein, oder ob sie uns nicht mehr Schaden als Nutzen bringen werden. Manche Dinge sind überflüssig, andere unbedeutend. Aber das überlegen wir nicht; und wir glauben umsonst zu bekommen, was uns teuer zu stehen kommt. Daraus erhellt unser Stumpfsinn, daß wir meinen, nur das werde gekauft, wofür Geld bezahlt wird, und daß wir umsonst zu haben glauben, wofür wir uns selbst hingeben. Was wir nicht würden kaufen wollen, wenn wir unser Haus, oder ein angenehmes, fruchtbares Landgut dafür geben sollten, das suchen wir mit der größten Bereitwilligkeit zu erlangen, mit Sorge, mit Gefahr, mit Verlust unserer Ehre, unserer Freiheit und unserer Zeit. So halten die meisten Menschen nichts für wohlfeiler als sich selbst.

Wir wollen daher bei allen unseren Unternehmungen und Geschäften eben das tun, was wir zu tun pflegen, wenn wir zum Verkäufer irgendeiner Ware kommen. Wir wollen untersuchen, wie hoch dasjenige, was wir zu erlangen wünschen, geboten werde. Oft ist das der höchste Preis, wofür keiner gegeben wird. Viele Dinge, die wir erworben und erlangt hatten, haben uns um unsere Freiheit gebracht; wir würden unsere eigenen Herren sein, wenn wir jene nicht hätten. Dies überlege wohl, nicht nur bei Vermehrung, sondern auch bei Verlust deines Vermögens. Du wirst dies oder jenes verlieren! Gräme dich nicht; es ist von außen her gekommen. Du wirst ebensogut ohne dasselbe leben können, als du bei dem Besitz desselben gelebt hast. Hast du es lange gehabt, so verlierst du es, nachdem es dich lange gesättigt hat. Hast du es nicht lange gehabt, so verlierst du es, ehe du dich daran gewöhnt hast. Du wirst weniger Geld haben? Aber auch weniger Beschwerlichkeit; weniger Ansehen? Aber auch weniger Neid. Betrachte nur die Dinge, die uns zur Raserei treiben, und die wir mit vielen Tränen verlieren. Du wirst einsehen, daß hierbei nicht der Verlust selbst, sondern unsere Meinung von ihrem Verlust uns lästig ist. Niemand fühlt, daß sie verloren sind; er denkt es nur. Wer sich selbst hat, der hat nichts verloren. Aber wie vielen Menschen gelingt es, sich selbst zu haben?

17.
Ohne Gottes Beistand wird niemand ein rechtschaffener Mann.
Würde eines solchen Mannes.

GOTT ist dir nahe; er ist bei dir, er ist in dir. Es wohnt in uns ein heiliger Geist, ein Beobachter und Aufseher unserer guten und bösen Eigenschaften; wie er von uns behandelt wird, so behandelt er uns. Es gibt keinen rechtschaffenen Mann ohne Gott. Kann sich jemand über das Schicksal erheben, wenn er nicht von ihm unterstützt wird? Er gibt herrliche und erhabene Gedanken. In jedem rechtschaffenen Mann wohnt Gott. – Wenn du einen in Gefahren unerschrokkenen, von Begierden unangetasteten, in Widerwärtigkeiten glückseligen, mitten unter Stürmen ruhigen Menschen siehst, wirst du ihm deine Ehrfurcht versagen können? Wirst du nicht sprechen: „Das ist etwas Größeres und Höheres, als daß man glauben könnte, es sei dem Körper, in welchem es sich befindet, ähnlich?“ Eine göttliche Kraft ist da hinabgestiegen. Eine himmlische Macht bewegt eine vortreffliche, moralisch gute Seele, welche alles, was wir fürchten und wünschen, verlacht. Ohne Beistand der Gottheit kann eine so große Sache nicht bestehen. Eine solche Seele ist daher größtenteils da, woher sie gekommen ist. Gleichwie die Sonnenstrahlen die Erde zwar berühren, aber da sind, woher sie gesendet werden: so ist auch eine große und heilige Seele, welche dazu herabgesendet worden ist, daß wir göttliche Dinge näher sollen kennenlernen, in uns; aber sie hält sich an ihren Ursprung. Von ihm hängt sie ab; auf ihn verläßt sie sich. – Von welcher Beschaffenheit ist also eine solche Seele? Es ist eine solche, die sich auf kein anderes, als auf das ihr eigene Gut verläßt; und nur sie allein verdient Achtung und Lob; denn was ist törichter als an einem Menschen loben, was ihm nicht eigen ist? Welcher Unsinn ist es, wenn man lobt, was alle Augenblicke einem anderen zuteil werden kann? Goldene Zäume machen ein Pferd nicht besser als es ist. – Niemand soll sich desjenigen rühmen, was ihm nicht eigen ist. Wir loben einen Weinstock, wenn er überaus viele Früchte trägt. Wird ihm wohl jemand einen Weinstock vorziehen, von welchem goldene Trauben, und goldene Blätter herabhängen? Was dem Weinstock seinen eigentlichen Wert gibt, ist seine Fruchtbarkeit. Auch an dem Menschen ist das zu loben, was sein eigenes ist. Er hat eine schöne Familie und ein schönes Haus. Er sät viel; er wuchert viel. Nichts von dem allen ist in ihm selbst; es umgibt ihn. Lobe an ihm, was ihm weder genommen noch gegeben werden kann. Fragst du was das sei? Es ist die Seele, und eine in der Seele vollkommene Vernunft; denn der Mensch ist ein vernünftiges Geschöpf. Sein Gutes ist also vollendet, wenn er das erfüllt hat, wozu er geboren ist. Was fordert aber diese Vernunft von ihm? Eine überaus leichte Sache: seiner Natur gemäß leben. Sie wird aber schwer durch den gemeinschaftlichen Unsinn der Menschen, die den Gesetzen der Vernunft geradezu entgegenhandeln, und einander durch böse Beispiele verschlimmern. Einer stößt den anderen in Fehler. Wie können aber diejenigen wieder zurechtgebracht werden, welche niemand zurückhält, und die das Volk immer weiter fortstößt?

18.
Das Gewissen.

EIN gutes Gewissen scheut sich nicht vor Menschen, (ruft das Volk herbei), ein böses ist auch in der Einsamkeit ängstlich und unruhig. Wenn du recht tust, so mögen es alle Leute wissen; wenn du schlecht handelst, was liegt daran, daß es niemand weiß, da du es weißt? Wehe dir, wenn du diesen Zeugen verachtest!

19.
Verderbe die edle Zeit nicht mit spitzfindigen,
unnützen Untersuchungen.

MAN würde in der Erforschung nützlicher Wahrheiten viel weiter gekommen sein, wenn man sich nicht so oft mit spitzfindigen und verfänglichen Fragen beschäftigt hätte, wodurch der Scharfsinn auf eine ganz unnütze Weise geübt wird. Wir knüpfen Knoten, und geben den Worten einen zweideutigen Sinn, und nun lösen wir sie auf. Haben wir denn so viel Zeit übrig? Wissen wir schon, wie wir leben und sterben sollen? Wir müssen uns mit möglichster Sorgfalt vorsehen lernen, daß uns weder Sachen noch Worte betrügen. Wozu unterscheidest du Ähnlichkeit der Worte, durch welche niemand außer 2Glückseligkeit