Für Tagträumer und Pusteblumenflügeljäger,

Regenbogenliebhaber und Straßenmalkreidekünstler,

Geschichtentänzer und Heldenherzenträger.

Für dich! <3

Prolog

Eustachinus Nervensäge alias Peter Pan

Es gibt diese Tage, an denen man spürt, dass sie etwas Besonderes werden. Dass sie anders sind und sich für immer ins Gedächtnis brennen werden. Wie der Tag, an dem Katniss Everdeen aufwachte und wusste, dass heute das Los für die neuen Hungerspiele gezogen werden würde. Wie der Tag, als Mulan beschloss, loszuziehen und China vor den Hunnen zu retten.

Und der heutige Tag war auf jeden Fall besonders.

Besonders unerträglich heiß!

»Ich hoffe wirklich, dass das nicht zur Gewohnheit wird. Mitternächtliche Besuche deinerseits hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt«, brummte Sam und sah, wie Hopes Schultern vom unterdrückten Lachen zuckten, während sie vor ihm durch den weichen Sand stapfte. Hitze flimmerte um ihn herum. Sein Atem ging keuchend, Luft holen tat fast schon weh. Die Sonne knallte von einem strahlend blauen Himmel auf die beiden hinunter, seit sie durch das Feentor nach Yaoráo gereist waren. Neidisch betrachtete er Hopes dünne Bluse und die leichten Hosen, die sie sich gleich nach der Landung an diesem zugegeben wunderschönen Strand übergestreift hatte. Er selber hatte Pullover und Jacke schon in seinem Rucksack verstaut und sich aus dem Schaal einen provisorischen Turban als Sonnenschutz gebastelt. Trotzdem ging er nahezu ein vor Hitze, seine Beine schmerzten, während das magische Feenmädchen mit eleganten Schritten über den Sand der Buchwelt hinweglief, in die sie ihn gezogen hatte.

Urplötzlich zuckte Hopes Kopf zur Seite. Sam reagierte zu spät und ein riesiges blaues Insekt summte gefährlich nah an seiner Nase vorbei. Mit fuchtelnden Armen machte er einen Satz und geriet beinahe aus dem Gleichgewicht, als der heimtückische Sand ihm ein Bein stellte. »Hey, weiche von mir, du mutierte Monsterlibelle!«

»Könntest du bitte aufhören, hier so rumzuschreien? Ich hab sowieso schon das Gefühl, über einen Präsentierteller zu marschieren«, zischte Hope und warf ihm über die Schulter einen gespielt bösen Blick zu, der nicht wirklich lange böse blieb. Ein Grinsen vertrieb das Grimmige und er ahnte schon, was für ein Bild er bot. Robinson Alexandre Isaac Leonardo Winterbuttom, kurz Sam, König der Nerds, peinlichen T-Shirts und dummen Sprüche, völlig verschwitzt und aus der Puste, inmitten eines magischen Strandes. Und noch dazu mit einem höchst unguten Gefühl im Bauch.

»Lach du nur«, stöhnte er. »Überleg dir lieber, wie du deine Magic Skills auch auf mich ausweiten kannst. Die letzten zwei Ausflüge gingen in Eiswüsten. Kaum stelle ich mich darauf ein, führst du uns an einen Strand in brütender Hitze. Du bist eine miese Reiseplanerin, weißt du das?« Mühsam schlüpfte er aus seinen Schuhen. Große Güte, er hasste Sand. Krümeliges heimtückisches Zeug.

»Es ist bestimmt nicht mehr weit«, tröstete ihn Hope. »Wir könnten näher an den Felsen entlanglaufen, dann bist du im Schatten.«

Grummelnd knotete er die Schuhe am Rucksack fest und krempelte die Hosenbeine hoch, wobei er fast einen Kreislaufkollaps bekam. Ein Hoch auf England, seine Regenwolken und Nebelbänke. »Ein Glück, dass wir nicht direkt da oben gelandet sind, das wäre ein tiefer Fall geworden, so wie im Wunderland, als …«

»Schon klar«, unterbrach sie ihn und dieses Funkeln trat in ihre Augen, das ihm jedes Mal verriet, wenn er sie langsam, aber sicher auf die Palme brachte. Es war süß, wie ein fauchendes Kätzchen. »Fängst du jetzt wieder damit an? Es war keine Absicht, dass wir direkt an dieser Klippe rausgekommen sind.«

»Ich hätte mir fast den Hals gebrochen!«, rief Sam.

»Unsinn«, entgegnete Hope trocken.

»Und wenn du dich dieses Mal wieder irrst? Sind wir hier echt richtig?« Er ahnte, dass es besser wäre, es gut sein zu lassen, aber er war müde und schwitzte erbärmlich.

»Ich irre mich nicht.« Hope stach mit dem Zeigefinger auf Höhe seiner Brust in die Luft und stapfte weiter auf die gigantische Felswand vor ihnen zu. Seufzend trottete er ihr nach. Seit Tagen schon brütete sie über dieser Karte und dem dazugehörigen Rätsel, das sie auf der letzten Seite des Buches gefunden hatte, das unter dem Robin-Hood-Baum vergraben gewesen war. Bislang vergeblich.

Der Wind drehte, brachte den Geruch nach Salzwasser mit sich und … ein Geräusch. Sam erstarrte. »Hope …«

»Sschh.« Sie hob die Hand und bedeutete ihm still zu sein, während sie sich hektisch umsah.

Vom Meer kam der Gesang nicht, es klang eher, als dringe er von der anderen Seite der Felszunge zu ihnen, die das Ende der Bucht markierte, in der sie sich befanden. Um den Strand verlassen zu können, würden sie entweder durchs Wasser waten müssen oder die steile Felswand emporklettern. Sam zog den Kopf ein, obwohl das eigentlich völliger Unsinn war: Sie boten hier, ohne jegliche Deckung, eine perfekte Zielscheibe.

»Ein Königreich für einen Tarnumhang«, murmelte Hope.

Er sah ihren Blick und wusste, was jetzt kommen würde. »Nein, Hope, bitte nicht …«

Doch sie spurtete bereits los, rannte geduckt auf die ins Meer ragende Felszunge zu und drückte sich in deren Schatten, vorsichtig immer weiter nach vorne, wo die Felsen niedriger wurden und man hinüberspähen konnte.

»Na dann, auf in den Untergang.« Er rannte ihr nach, den Strand hinunter Richtung Meer. Wasser schwappte über seine Füße und die Kälte ließ ihn schaudern. Hope griff nach seiner Hand und drückte sie beruhigend. Wärmende Sicherheit durchflutete ihn, erinnerte ihn daran, wie er zu diesem Mädchen stand. Youké und Maó. Reisende und Anker. Heldin und Beschützer. Seit Hope zurück in sein Leben getreten war, hatte sich alles verändert, und auch wenn ihn ihre Abenteuer noch an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachten – er wollte niemals wieder ohne sie sein.

Gemeinsam spähten sie über die Felsen. Ein Schiff lag in der nächsten Bucht vor Anker, wiegte sich majestätisch auf den Wellen. Es handelte sich um ein Piratenschiff, wie man es auf alten Gemälden findet, mit weißen Segeln, das Steuerrad thronte auf dem Heck, wo sich vermutlich auch die Kajüte des Kapitäns befand; mit schwarzen Kanonenrohren und einer bronzefarbenen Meerjungfrau, die sich um den Bug wand. Sogar die schwarze Flagge mit dem Totenkopf wehte hoch oben am Mast. An Deck bewegten sich mehrere Gestalten und die Musik war jetzt deutlich zu hören.

»Jo ho, jo ho, Piraten haben’s gut!«

»Wahre Chorknaben«, ächzte Sam. Reden und gleichzeitig schwer atmen war gar nicht so leicht. »Dieses Schiff ist ja das volle Klischee.«

»Und liegt dazu noch ziemlich ungünstig.« Hope zog das zerknitterte Stück Papier aus der Brusttasche ihrer Bluse und glättete es vorsichtig auf dem Felsen. »Siehst du die Spitze da oben? Das sieht genau aus wie hier. Das heißt, das ist unsere Bucht.«

»Warum nur?«, stöhnte Sam und drückte seinen mit dem Schal umhüllten Kopf gegen den Felsen. »Was genau wollen wir da denn finden?«

»Das frage ich mich allerdings auch.«

Mit einem erschrockenen Japsen fuhr Sam herum. Vor ihnen auf der Klippe saß – nein, schwebte eine in Grün gekleidete Gestalt. Das Haar auf dem Kopf des Jungen war so rot, dass es aussah, als würden Flammen über seinen Schädel huschen. Es stand in alle Richtungen ab und quoll unter einer schräg sitzenden Mütze hervor, die eine elegante Feder zierte. An seinem Gürtel waren allerlei kleine Taschen und ein Dolch mit einem glänzenden Griff befestigt. Der pausbäckige Junge mochte etwa fünfzehn Jahre alt sein. Sein Gesicht war mit Sommersprossen übersäht und in seinen Augen funkelte purer Schabernack.

»Das darf doch nicht wahr sein«, seufze Sam und wünschte sich zurück in die warme Behaglichkeit seines Bettes. »Peter Pan, mit dem Gesicht von Eustachius Vollidiot Knilch.«

»Was redet der?« Der Junge, Peter, legte den Kopf schief. »Der Typ sieht ziemlich schräg aus.«

»Ach ja?« Kampfeslustig richtete Sam sich auf, aber Hope hielt ihm blitzschnell den Mund zu. Empört prustete er in ihre Handfläche.

»Hi«, sagte sie an Peter gewandt und versuchte es mit einem möglichst einnehmenden Lächeln, das irgendwie mehr zu einer Grimasse geriet. »Du bist Peter Pan.«

»Korrekt. Schön, dass ihr von mir gehört habt.« Er reckte sich stolz. »Und ihr beide seid …?«

»Hope und Sam«, erwiderte Hope und versetzte Sam einen Tritt, weil er ihre Hand angeleckt hatte. »Wir müssen in diese Bucht dort vorne.«

»Das habe ich gehört. Aber wieso, frage ich mich. Wisst ihr nicht, wer da ankert? Das ist Hooks Schiff, die Jolly Rogers. Das gefürchtetste Schiff in diesen Gewässern. Wenn der euch erwischt, lässt er euch kielholen.«

»Nicht, wenn du uns hilfst«, sagte Hope. »Auf meiner Karte ist dort eine Höhle eingezeichnet. Da müssen wir hin.«,

In den Augen des Jungen, der in der Menschenwelt zur Legende geworden war, glomm etwas auf. Listig neigte er den Kopf zur Seite. »Und was hätte ich davon? Diese Höhle ist dem alten Stinkstiefel ziemlich wichtig.«

»Spaß?«, schlug Hope vor.

»Spaßig wäre sicher auch zu sehen, wie ihr versucht vor ihm wegzulaufen«, meinte Peter.

Der Grünschnabel ging Sam mächtig auf den Zeiger. Er protestierte unter Hopes Hand, aber die hielt ihm mit erstaunlicher Kraft stand. Er würde morgen früh kontrollieren müssen, was sie sich alles in ihr Müsli schaufelte, denn das Krafttraining, das er die letzten zwei Wochen durchgezogen hatte, hatte sie regelmäßig geschwänzt.

Sam merkte auf, als Hope in seine Hosentasche langte, während sie zu Peter Pan sagte: »Gut, dann gebe ich dir noch etwas anderes. Etwas Besonderes, was du hier in Nimmerland nirgendwo finden wirst. Es ist ein Schatz, ein sehr kostbarer. Willst du ihn?« Peters Neugier verwandelte sich in die Gier eines kleinen Jungen, als er nickte. »Du lenkst die Piraten ab, während wir uns umsehen.«

»Abgemacht. Aber erst gib mir diesen Schatz«, sagte er.

»Mach die Augen zu und streck die Zunge heraus«, forderte Hope und Peter gehorchte nur zögernd. Sams Verlangen, dem milchgesichtigen Rotschopf ins Gesicht zu springen, wuchs, als Hope ihm seinen Weingummivorrat aus der Tasche zog. »Das ist der einzige Weg«, zischte sie leise. »Oder willst du dich in Hooks Verlies mal näher umsehen? Eine Fußkette mit so einer fetten Eisenkugel dran steht dir sicher gut.« Bei dem Gedanken verging Sam tatsächlich jeder noch so dumme Spruch. Hope nahm endlich die Hand von seinem Mund und Sam bleckte probehalber die Zähne.

Der Knilch kaute derweil auf seinem ersten Weingummi herum und verzog entzückt das Gesicht. »Was ist das für eine Zauberei?«

»Mein Freund hier ist ein sehr mächtiger Zauberer. Aber wenn wir dir zu viel sagen, verfliegt die Magie«, erwiderte Hope zuckersüß. »Also, geht es los?«

»Du bist hübsch. Ich will einen Kuss.«

Sam gab ein Geräusch von sich, als würde er ersticken. Dieser eingebildete, grüne …

»Ich küsse keine fremden Jungs«, konterte Hope mit einer Gelassenheit, die Sam im Laufe der letzten Monate zu durchschauen gelernt hatte. Der Knirps sollte aufpassen, sonst würde Hope ihm noch mit einer verhexten Feenwaffe den Kopf abschlagen. »Aber ich schlage vor, du bläst jetzt zum Angriff.«

»Und zwar hurtig«, fügte Sam hinzu. »Lass dich nicht aufhalten. Und immer schön den Kanonenkugeln ausweichen. Oder du probierst mal eine zu fan… aua!« Hope hatte ihn wie ein echtes Mädchen fies in den Arm gekniffen. Ihre Augen sprühten schon wieder diese Glitzerfunken, aber der Schalk, der ihre sturmgraue Iris heller färbte, war nicht zu übersehen.

»Ihr seid seltsam. Wirklich sehr seltsam. Aber Peter Pan steht immer zu seinem Wort.« Mit einem Satz war der Junge in der Luft, die Hände trichterförmig an die Lippe gelegt stieß er einen heulenden Sirenenlaut aus, der keineswegs so cool klang, wie er vermutlich glaubte, sondern eher nach einem liebeskranken Seehund. Trotzdem – das mit dem Fliegen hatte was. Sam starrte ihm noch nach, als Hope energisch an seinem Ärmel zog. »Hör auf ihn anzuhimmeln und komm!«

»Ich habe ihn nicht … das war kein …« Aber Hope grinste nur und begann über die Felsen zu klettern, die an vielen Stellen glitschig von der Gischt waren, aber es gelang ihnen, unbeschadet hinüberzukommen.

»Da vorne!« Hope deutete auf einen kaum sichtbaren Pfad die Felswand hinauf, an deren Ende sich ein dunkler Fleck befand. Im ersten Moment wirkte es wie ein Schatten, doch wenn man genauer hinsah, konnte man den Eingang zu einer Höhle erkennen.

Sam stöhnte. Da hochzukommen würde nicht leicht werden. Hope zog sich bereits am Gestein nach oben und er hechtete ihr hinterher, im Augenwinkel das Schiff, auf dem es jetzt hektisch wurde. Schrille Rufe erklangen und von überall her sausten kleine fliegende Gestalten herbei, die einen tierischen Lärm veranstalteten. Und dann brach der Krieg aus. Als die erste Kanone losging, erlitt Sam beinahe einen Herzinfarkt, auch Hope zuckte heftig zusammen, doch dann arbeitete sie sich weiter unaufhaltsam die Felsen hoch, auf den dunklen Höhleneingang zu. Seufzend zog der den Rucksack fester. »Hoffentlich ist da oben wenigstens eine neue Ausgabe von ’nem Wolverine-Comic oder ein kaltes Bier.« Der Fels schnitt ihn zwei Mal so fest in die Hand, dass es blutete, und den letzten Meter musste Hope ihn mit aller Kraft über den Felsrand hochziehen, wo er stöhnend liegen blieb. »Du schaffst mich, Weib. Ganz im Ernst.«

»Armer Sam.« Hope ging neben in die Hocke, in ihren Augen lag so viel Hoffnung, dass sie wie zwei Sterne leuchteten. Himmel, für diesen Blick würde er wirklich alles tun, dachte er. »Komm schon. Wir sind doch nicht so weit gereist, um jetzt schon aufzugeben. Sieh dich doch mal hier um! Ich weiß, es ist kein Comicladen, aber doch ziemlich beeindruckend.« Sie zog ihn auf die Füße und ein Stück in die Höhle hinein.

»Wow.« Sam schluckte. »Dagobert Duck ist dagegen ja quasi ein armer Schlucker.«

Die Höhle war bestimmt zwei Meter hoch und so tief, dass er ihr Ende nicht erkennen konnte. Überall lagen Kisten und Säcke, bis zum Bersten gefüllt mit Münzen, Schmuck oder Goldbarren. Das Sonnenlicht brachte die ganze Höhle zum Funkeln. Sam pfiff leise durch die Zähne. »Ich bin ein wenig enttäuscht. Sollte der Typ nicht mittlerweile in einem Palast leben oder so was? Wie ging das im Buch noch mal aus?«

»Deine Allgemeinbildung ist wirklich traurig, mein Lieber. Das Leben besteht aus mehr als Comics«, meinte Hope.

»Sagt wer bitte?« erwiderte Sam pikiert. »Du? Du, die eine Woche nicht geschlafen hat, nachdem ich dir meine Arrow-Staffeln gegeben habe, weil du ununterbrochen vor der Glotze gehangen hast? Viereckige Augen war gar kein Ausdruck für deinen Anblick, kleine Fee. Die Flash-Folgen werde ich dir nur wohl dosiert …« Er musste sich blitzschnell ducken, um einem Rubin auszuweichen, den Hope nach ihm warf. »Hey, das war mein College-Fonds!«

»Du bist fertig mit dem College, wenn ich darauf hinweisen darf«, spottete Hope und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Los, hilf mir suchen. Irgendetwas muss hier sein. Und beeil dich, da draußen scheint es ruhiger zu werden.«

Sam warf einen nervösen Blick über die Schulter. Das ungute Gefühl in seinem Bauch war immer noch da und eigentlich war sein Bauch ein sehr kluger Ratgeber. Nichtsdestotrotz legte er seinen Rucksack an und folgte Hopes Beispiel, begann Gegenstände durch die Gegend zu schieben und wahllos Kisten zu öffnen, während er weiterhin nach draußen lauschte. Der Restlärm hielt an, ein Sieger schien nicht wirklich festzustehen. Und doch … irgendetwas stimmte hier nicht. Sam richtete sich auf. »Hope, lass uns verschwinden. Ich habe das Gefühl …«

»Sam!« Ihr Ruf ließ ihn erschrocken herumfahren. Hope kniete ein Stück hinter ihm am Boden und schob eben einen dicken Teppich beiseite. »Komm her! Ich denke, ich hab’s.«

In einer Vertiefung im Fels lag ein Bündel. Der Stoff kam ihm bekannt vor: Es war derselbe wie der, in dem das Buch eingewickelt gewesen war, das sie im Sherwood Forest gefunden hatten. Das Buch, in dem die Geschichte von Faith und Sky, Hopes Eltern, aufgeschrieben war. Oder zumindest ein Teil davon. Hopes Finger zitterten, als sie den Stoff auseinanderschlug. Darunter kam eine lederne Mappe zum Vorschein, darin ein Stapel Papiere. Behutsam, als hielte sie den kostbarsten Schatz der Welt in den Händen und als könnte nur eine falsche Bewegung das ganze Universum aus dem Gleichgewicht bringen, blätterte Hope durch die Unterlagen.

Sam sah das Beben in ihrem Kiefer, das die Tränen ankündigte. »Hope?«

»Das sind … das … das …« Sie hielt ihm eine Karte entgegen. »Das ist meine Geburtsurkunde. Und Zeugnisse und … Sam! Weißt du, was das bedeutet?«

»Dass du nächste Woche Geburtstag hast und ich das nicht wusste und darum kein Geschenk für dich habe, was man mir, finde ich, nicht zu Last legen darf?«

»Lern lesen, das ist noch ewig hin«, winkte sie unwirsch ab. »Es bedeutet, dass meine Eltern mich nicht einfach im Stich gelassen haben! Sie hatten einen Plan!«

Sam trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während sein Blick zum wiederholten Mal durch die Höhle huschte. Irgendwas stimmte hier nicht.

»Aber etwas muss schiefgelaufen sein«, fuhr Hope fort.

Es war als würden sich Augen in seinen Rücken bohren. Ein Blick so böse, dass …

»Etwas muss sie aufgehalten haben und …«, murmelte sie.

Sam richtete sich auf. »Hope? Wir müssen hier weg!«

»Was?« Verständnislos starrte sie zu ihm hoch.

»Hope bitte, öffne das Tor. Lass uns nach Hause verschwinden.«

»Aber wieso denn?«, sagte eine Stimme, die direkt aus den Schatten zu stammen schien und in der ebenso viel Dunkelheit lag. »Wir amüsieren uns doch gerade so gut.« Eine Gestalt löste sich von der Höhlenwand. Der altmodische Gehrock war aus blutig rotem Stoff, die seidig schwarzen Hosen passten perfekt dazu. Die Füße steckten in lächerlich spitzen schwarzen Schuhen und ein Degen reichte fast bis auf den steinernen Boden. Doch der Harken, der die linke Hand ersetzte, der war das Schlimmste. Sams Kehle schnürte sich zu, als der Albtraum seiner Kindheit böse lächelnd auf ihn zutrat. »Guten Morgen. Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Mein Name ist Hook, Kapitän Hook, und ihr befindet euch in meiner Schatzkammer. Einem Ort, wo ihr wirklich nicht sein solltet. Und da stellt sich mir die Frage, warum seid ihr es doch?«

Sam fühlte sich, als hätte ihn der Eisstrahl von Captain Cold getroffen. Jede einzelne seiner Zellen war wie erstarrt. Eingefroren. Zum Stillstand verdammt.

Jedenfalls bis ein glänzend roter Stein, der ihm irgendwie bekannt vorkam, durch die Luft zischte und den Piraten mit einem dumpfen Geräusch am Kopf traf.

»Was steht ihr da so rum, ihr Landratten?«, brüllte die unglaublich nervige Stimme eines noch nervigeren Rotschopfs mit Grün-Fetisch. »Haut gefälligst ab!«

Hope reagiert blitzschnell. Sie raffte das Papier zusammen und drückte es in dem Bündel an ihre Brust, im nächsten Moment packte sie schon Sam bei der Hand, der gerade noch seinen Rucksack schnappen konnte, und zerrte ihn aus der Höhle, wo Peter Pan wild gestikulierend in der Luft schwebte.

»Nach oben, los hoch da!«, rief der.

Sam kletterte hinter Hope die Klippe nach oben. Sein Herz schlug schneller als die Flügel eines Kolibris und jeder Gedanke an Hitze, ätzenden Sand oder Schweißflecken war von unbändiger Angst verdrängt worden. Wieder war Hope schneller und wieder half sie ihm auf die Beine, ehe sie Hand in Hand losrannten. Doch weit kamen sie nicht: die Klippe entpuppte sich als Felszunge. Und als Sackgasse. Umgeben von Abgründen standen sie in schwindelerregender Höhe weit über dem tiefen blauen Meer, das unter ihnen toste.

In der nächsten Sekunde schlug eine Kugel genau neben ihnen in den Stein ein. Splitter wirbelten auf und stachen Sam in den Arm, den er geistesgegenwärtig hochgerissen hatte. »Erst schießen, dann fragen, eindeutig Amerikaner«, keuchte Sam. »Okay, los, tu die Sachen in meinen Rucksack, so bleiben sie trocken.«

»Was hast du vor?«, fragte Hope.

»Wir müssen springen«, antwortete Sam.

»Was?!« Hope starrte ihn entgeistert an.

Sam verdrehte die Augen. »Was genau war an diesem Satz denn jetzt unklar?«

»Sam, das ist eine endlos hohe Klippe«, sagte sie.

»Nicht endlos.« Er hob einen Stein vom Boden auf, wog ihn in der Hand und warf ihn den Abgrund hinunter, während Hope wieder nervös über die Schulter blickte. »Ich schätze, das sind so circa 20 Meter. Halt einfach meine Hand und mach dich ganz steif, okay?«

»Was?«, schrie sie.

Sam seufzte erneut. »Wir müssen wirklich an unserer Kommunikation arbeiten.« Hinter ihnen erklang ein Schuss, gefolgt von einem wütenden Ruf. Eine Hand schob sich über den Klippenrand. Und dann ein Harken. Sam drehte sich der Magen um, hastig wandte er sich wieder dem Abgrund zu. »Gleich nachdem wir das hier überlebt haben, würde ich sagen.« Sam schnappte sich Hopes Hand. »Fertig?«

»Nein!« Hope wich einen Schritt zurück.

»Prima.« Er zog sie an den Rand der Klippe. »Es ist wirklich ganz einfach. Wir springen, landen sicher im Wasser, gehen bei den Felsen in Deckung und du zauberst uns hier weg. Alles ganz easy. Schau, da vorne ist eine Bucht. Da kriegst du sogar noch Strandfeeling, während du das Tor ins kuschelige gute alte England öffnest, ein England, in dem niemand auf mich schießt, denn wir sind Briten, wir bevorzugen den Regenschirm zum Duell.«

»Sam …«, versuchte Hope seinen Redeschwall zu unterbrechen.

»Das wird ganz einfach, wirklich. Ich fische dich auch wieder aus dem Wasser. Bereit?«

Hope schluckte. Das Wasser war unendlich weit weg und glich einer soliden blauen Fläche, die nicht wirklich danach aussah, als sollte man auf sie drauf springen.

»Okay, warte kurz.« Sam zog sie an der Hand, bis sie gegen ihn prallte. Und dann küsste er sie.

Einen Moment war Hope wie gelähmt, dann grub sie die Finger in seinen Nacken und erwiderte den Kuss, ehe sie sich verdutzt von ihm losmachte. »Wofür war das denn jetzt?«

»Nur für den Fall, dass ich mich irre und wir gleich tot sind.«

»Wa…« Hopes Protestruf verwandelte sich in einen Entsetzensschrei, als Sam mit ihr über die Klippe sprang.

Ein Monat später

Kapitel 1

Pusteblumenflügeltanz

Die Junisonne lächelte träge durch ihr hellgraues Wolkenkleid hindurch, das sie schon während der letzten Tagen getragen hatte, lediglich die gräulichen Nuancen wichen einen Hauch voneinander ab. Eine eitle Sonne war das, die Grinsby Town diesen Sommer über beobachtete, stets behängt mit Nebelschmuck und Wolkenmasken; in voller Pracht war sie nur sehr selten gesehen worden.

»Wie nennt man Steve Rogers noch?«, fragte Sam.

»Capitain America.« Ich blinzelte in den Himmel. Der Geschmack von Zimt und Kaffee tanzte auf meiner Zunge in einem lustigen Takt. Obwohl ich wegen der Filmsucht eines gewissen Jemandes nicht viel geschlafen hatte, war ich erstaunlich wach.

»Wo haben sich die Guardians of the Galaxy das erste Mal zusammengetan?«, lautete Sams nächste Frage.

Ich kramte in meinen Erinnerungen. »Ähm … im Knast?«

»Wirklich gut, mein junger Padawan. Wer ist der beste Freund von Capitain America?«, fuhr er fort.

»Du?« Grinsend wich ich dem herannahenden Stupser aus und hüpfte beiseite, während der Muskelkater in meine Wade biss. In dem Becher in meiner Hand schwappte ein mickriger Rest von flüssigem Glück. Eigentlich hatte ich den Kaffee wenigstens bis zur ersten Stunde genießen wollen, doch so wie es aussah, würde dieser Becher nicht einmal die Schwelle des Grinsby College erreichen. Zu schade.

Ich drehte mich zu meinem Begleiter um. Sam sah mit gespielt kritischer Miene auf mich hinunter. Er trug eine seiner dünnen Strickmützen, unter der er gerne seine wuschelige Mähne verbarg. Die darunter hervorguckenden Spitzen hatten die Farbe meines Lieblingsbaumes: ein sattes Braun, das in der Sonne manchmal rötlich schimmerte. Sein schmales Gesicht war etwas blass (PC Licht bräunt nun mal nicht) und die freundlich blitzenden Augen hatten die Farbe von geschmolzener Schokolade.

»Ein vorlauter Schüler du bist«, krächzte er. »Viel zu lernen du noch hast. Filmbildung wichtig für dich ist.«

Ich machte einen Schritt auf ihn zu und lehnte mich gegen seine Brust, darauf bedacht, ihm nicht den kläglichen Inhalt meines Bechers über den Bauch zu kippen. »Verzeiht mir, Meister«, hauchte ich und war entzückt, dass Sams Augen ein kleines bisschen größer wurden. »Ich gelobe Besserung.« Sam beugte sich vor. Sein Brustkorb weitete sich unter meiner Hand in einem tiefen Atemzug. Mein Blick blieb an seinen Lippen kleben und ein riesiger Schmetterling begann wie wild in meinem Bauch mit den Flügeln zu schlagen. Sam senkte den Kopf und …

»Du zerknitterst mein Hemd«, raunte er und zerstörte den süßen Augenblick. Mit einem empörten Japsen sprang ich förmlich vor ihm zurück, doch Sam schnappte sich blitzschnell meine Ellenbogen und hielt mich in Reichweite, während er sich vor Lachen schüttelte.

»Böse«, meinte ich kopfschüttelnd. »Sehr böse.« Wobei ich zugeben musste, dass er in diesem Hemd wirklich gut aussah. Es war schiefergrau und schmiegte sich genau an den richtigen Stellen an seinen Körper. Sam war noch immer sehr schlaksig, doch nach unserem Abenteuer hatte er zwei Selbstverteidigungskurse besucht, dann hatte er mit Karate angefangen und am Wochenende ging er fechten. Im Keller gab es jetzt Fitnessgeräte und in seinem Zimmer hing ein Boxsack, auf den er ziemlich regelmäßig einschlug. Sam hatte sich verändert. So wie ich.

Ein Kichern lenkte meinen Blick zur Seite. Zwei Mädchen schlenderten an uns vorbei und lächelten in Sams Richtung. Sam erwiderte das Lächeln, ganz der Gentleman, und die zwei zogen tuschelnd davon. Ich seufzte, als mir nach einem kurzen Rundblick klar wurde, dass wir die Showeinlage für die gesamte Parkplatzbevölkerung des Grinsby Colleges zu sein schienen. Sam hatte darauf bestanden, mich heute zur Schule zu bringen, da er ohnehin einen Termin in der Nähe hatte – deswegen auch das Hemd. Normalerweise fuhr ich mit dem Bus vom Anwesen der Winterbuttons, wo ich vor fünf Monaten eingezogen war, zum College oder ich ging zu Fuß, wenn ich den Kopf frei kriegen wollte. Es war seltsam, wieder ein Zuhause aus Stein und Zement zu haben, mit verschließbaren Türen, fließendem Wasser und Strom. Ich konnte duschen, wann immer ich wollte, das Bad war nur ein paar Schritte entfernt. Ich teilte es mir mit Sam und Anni, was zur Folge hatte, dass meine Zahnpasta pinke Streifen hatte und auf der Verpackung ein Einhorn abgebildet war. Der Inhalt des Kühlschranks oder die Nutzung der Küche standen mir jederzeit zur freien Verfügung und es gab einen kleinen Notizblock, auf dem jeder seine Wünsche für die Einkaufsliste notieren konnte, ganz egal was! Okay, Anni hatte »einen echten Olaf, der für mich singt und mich zur Schule begleitet« drauf geschrieben. Das hatte bisher nicht funktioniert.

Ich hatte mein Baumhaus nur zögernd verlassen, erst recht, seit ich wusste, dass mein Vater es für mich gebaut und mit Hilfe einer rebellischen Fee in diese Welt gezaubert hatte. Ich hatte es schon immer geliebt, doch jetzt war es noch etwas anderes als ein Zufluchtsort. Es war ein Stück Vergangenheit und für immer mit mir verbunden. Ich hatte es auch nicht leer geräumt, sondern verbrachte immer noch Zeit dort, aber meistens mit Sam. Dann brütete ich über meinen Hausaufgaben oder las ein Buch, während er in einem Comic blätterte.

Unwillkürlich musste ich bei dem Gedanken an dieses Bild lächeln. Robinson Alexandre Isaac Leonardo Winterbuttom, Sohn von Leo und Juliet, Nerd, Morgenmuffel und der Typ, dessen Herzschlag mit meinem immer synchron war. Der Kerl, bei dem mein Herz einen Satz machte, wenn er mir auf diese ganz bestimmte Art in die Augen sah. Sam war großartig. Gut, er trieb mich hin und wieder in den Wahnsinn und seine Sucht nach Weingummis würde ich wohl nie nachvollziehen können, aber er war mein Sam. Und der Umgang mit mir war sicher auch nicht gerade ein Spaziergang, schon gar nicht, seit ich diese Fähigkeit entdeckt hatte, magische Tore in eine Parallelwelt öffnen zu können, in der Sagengestalten wie Robin Hood und König Arthur existierten.

Sam hatte mich gesehen, als ich noch Hope, das Straßenmädchen, gewesen war. Er hatte mich berührt, als meine Fingernägel noch vor Schmutz gestarrt hatten, und er hatte mich umarmt und gehalten, als alles andere um mich herum zerbrochen war. Sam war mein Máo, mein Anker und ich war eine Yóukè, eine Reisende, die die Welt Yaoráo besuchen konnte. Eine Tatsache, die mein Leben letzten Winter völlig auf den Kopf gestellt hatte, und auch wenn sich der Verdacht, ich sei ein Feenkind, nicht bewahrheitet hatte, so war ich doch zu jemand anderem geworden. Feen und Helden waren keine Träume mehr und das Böse, das hatte jetzt ein Gesicht. Die Mahre.

Eine Gänsehaut huschte mir über den Rücken, als ich an die dunkel gewandeten Gestalten mit den schönen Gesichtern dachte, die doch so viel Grausamkeit ausstrahlten, dass es mir schwergefallen war, ihrem Blick lange standzuhalten. Die Königin der Feen, Liviana, die Herrin des Weißen Stabes, hatte ihnen den Krieg erklärt, nachdem ich mich mit ihr in dieser Sache angelegt hatte. Wir waren nicht gerade Freundinnen, meine Mutter hatte ihr das Herz gebrochen und die Königin war die Definition von nachtragend, doch als es ernst geworden war, war Liv trotzdem gekommen, um mir zu helfen. Wie es jetzt um sie und ihre Krieger stand, wusste ich nicht wirklich. Irgendwo um uns herum tobte das Geschehen, ein uralter Kampf zwischen Gut und Böse, aber ich war nur noch ein kleiner Teil davon.

»Hey, kleine Fee.« Sam schnippte mir sacht gegen die Nasenspitze. »Komm zurück aus deiner Traumwelt. Du hast mich hier vergessen.«

Ich legte den Kopf in den Nacken, stellte den Becher auf der Motorhaube von Sams Wagen ab und schlang die Arme um seine Mitte, ohne mich um sein Hemd zu scheren. »Danke«, murmelte ich in den nach Weichspüler duftenden Stoff. Obwohl ich Sam verboten hatte, mir Geschenke zu kaufen (und deswegen auch immer noch kein Handy oder Laptop besaß, weil es mir einfach reichte, seine Sachen mitzubenutzen), hatte er mir doch mehr gegeben, als ich je hätte ausdrücken können.

Mein Blick fiel auf das College mit den weißen Mauern und dem spitz zulaufenden Turm, in dem die Unterrichtsräume für Geschichte und Politik untergebracht waren. Weiße Pusteblumenflügel tanzten auf einem der wenigen Sonnenstrahlen um das Dach. Grinsby College. Ich ging wirklich wieder zur Schule. Das war Juliets Verdienst. Sie war mit den Dokumenten, die wir in Hooks Schatzhöhle gefunden hatten, losgezogen und hatte ihre Kontakte spielen lassen. Ich hatte Leistungstests machen müssen und tagelang gebüffelt, bis es mich an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, aber ich hatte es geschafft. Ich war jetzt Hope Cooper, Schülerin am Grinsby College mit Unmengen von Aufholkursen und Wissenslücken, aber ich war glücklich.

Sam hatte mir in all dem treu zur Seite gestanden. Ebenso wie in all den Schreckensszenarien, die wir im Winter erlebt hatten. Und er bestand darauf, meine Filmbildung voranzutreiben. Am ersten Abend des Schulungsprogrammes hatte er mich in eine Decke gehüllt empfangen und versucht mich dazu zu bringen, ihn Meister Obi-Wan zu nennen. Der Typ hatte wirklich einen an der Waffel. Aber unsere Filmabende liebte ich, auch wenn ich ihm das nicht zu häufig sagte, sein Selbstbewusstsein passte ohnehin schon kaum neben ihm in seine Klamotten.

Sam stützte das Kinn auf meinen Kopf. Irgendjemand pfiff und meine Wangen wurden heiß. Mit hochrotem Kopf wich ich ein Stück zurück.

Sam grinste schief, beugte sich durch das offene Fenster in seinen Wagen und reichte mir eine Papiertüte. »Hier, Frühstück. Nervennahrung. Oder wir nennen es beim Namen: Zuckerschock in Donut-Form.«

»Du verwöhnst mich viel zu sehr.«

»Ich will doch, dass du einen guten ersten Schultag hast.«

»Es ist nicht mein erster Schultag.«

»Diese Woche schon.« Sam warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zuckte kaum merklich zusammen.

»Musst du los?«, fragte ich mitfühlend. Sam hatte heute einen Termin an der Uni, wo auch seine Mutter lehrte. Einer der Professoren wollte mit ihm über seine berufliche Zukunft sprechen.

»Die Pflicht ruft«, seufzte er und zupfte an seiner Mütze herum.

»Die wirst du abnehmen müssen«, meinte ich.

Sam brummte etwas Unverständliches und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich hol dich später ab, okay? Steig nicht in den Bus und lass mich hier wie einen Trottel dastehen.«

»Das ist mir nur einmal passiert!«, protestierte ich, während meine Wangen schon wieder heiß wurden. »Und es war keine Absicht.«

»Natürlich nicht. Jemanden wie mich versetzt man schließlich nicht.« Sam strich sich affektiert ein imaginäres Staubkörnchen von der Schulter und hob im nächsten Moment grüßend die Hand. »Hey, Emma.«

Emma Buchan erwiderte die Geste mit einem schüchternen Lächeln und blieb stehen, offenbar unschlüssig, ob sie sich zu uns gesellen sollte. Sie sah hübsch aus mit ihren elfenblonden langen Haaren und der bordeauxroten dicken Brille. Emma besuchte einige meiner Kurse und war inmitten der neugierigen Blicke und des Getuschels über ›die Neue‹ eine freundliche Erscheinung gewesen, die mir alles Wichtige gezeigt und mich willkommen geheißen hatte. Sie war eine gute Seele, hob verstreute Papiere auf, wischte die Tafel oder schloss das Fenster, wenn ein Lehrer bemängelte, dass es zog. Manche nannten sie eine Streberin, aber ich glaubte, dass sie einfach herzensgut war. Sie grüßte jeden freundlich, auch mich, und als ich einmal von der Schultoilette kam und Papier an meinem Schuh klebte, hatte sie mich sofort darauf hingewiesen, während einige andere Mädchen nur gelacht hatten. Ich mochte sie und es tat mir leid, dass sie so unheimlich schüchtern war.

Meine gute Seele von einem Freund rief ihr zu: »Nimmst du Hope mit rein? Sie kann sich heute leider so gar nicht von mir trennen.«

Ich schnaubte. »Davon träumst du wohl.«

»Davon und noch von ganz anderen Dingen«, hauchte er und zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Hab einen schönen Schultag.«

»Hab ein schönes Date mit der Erwachsenenwelt«, entgegnete ich.

Sam verzog das Gesicht und trottete zur Fahrerseite seines Autos. Mit einem lauten Hupen fuhr er an uns vorbei und verschwand hinter den Toren des Colleges.

Emma lächelte mich an. »Süß, dass er dich extra herbringt.«

»Nicht wahr? Und das hier ist noch viel süßer«, sagte ich und hielt die Tüte hoch, die Sam mir überreicht hatte. »Damit werde ich Mathe überleben.«

»Oh, das hoffe ich doch, Mr. Clarke hat was von einem Test gesagt. Ich hab das halbe Wochenende gelernt.«

»Test?«, quietschte ich entsetzt, denn Mathe war alles andere als mein Lieblingsfach und Mr. Clarke hatte so absolut gar nichts mit seinem Namensvetter gemeinsam. »Ich will wieder ins Bett.«

Emma lachte, hakte sich bei mir unter und gemeinsam stiegen wir die Stufen zum Eingang hinauf.

 

Kapitel 2

Ein leicht missglückter Ausflug

Es gab zum Glück keinen Mathetest. Trotzdem war die Stunde nicht gerade ein Zuckerschlecken und kostete mich einiges an Nerven und außerdem einen Bleistift. Emma erwies sich als gute Fee. Sie flüsterte mir die Antworten zu, wenn ich aufgerufen wurde, und korrigierte meine Gleichung, ehe ich mich total verfranzte. Als es zur Pause klingelte, war ich fix und fertig und sehnte mich nach meinem Bett. Ich trödelte ein bisschen, um nicht im großen Strom durch den Flur geschwemmt zu werden, in dem es verrückterweise immer nach Orangen roch. Allerdings nach künstlichen, nicht nach frisch gepresstem Orangensaft wie der, den Juliet am Wochenende zu Frühstück machte. Emma hatte mir erklärt, dass das am Reinigungsmittel lag, als ich sie an meinem ersten Tag danach gefragt hatte.

»Ich muss zur Besprechung der Schülerzeitung«, rief Emma mir zu. »Bis später in Sport!« Und fort war sie.

Ein wenig unschlüssig verließ ich den Klassenraum und schlenderte durch den Flur, während ich überlegte, wo ich meine Pause verbringen sollte. Und da hörte ich es.

Das Wispern kroch durch die Luft, stieß sich an den Wänden ab und ließ sich schließlich auf meinen Schultern nieder, um mir sachte ins Ohr zu pusten. Augenblicklich begannen meine Nerven zu kribbeln, Funken stoben durch mein Blut und ließen mein Herz in einem mir mittlerweile bekannten Rhythmus tanzen. Automatisch wandten sich meine Füße nach links, den Flur entlang, eine Treppe hinunter und traten durch die breite Tür, die schwer aufging, weil sie so selten bewegt wurde. Hinter mir erstarben die Geräusche der Schule, Lachen und Stimmen wurden einfach ausgelöscht, durch eine nahezu magische Stille ersetzt. Und das Flüstern. Erfreut strich es mir durch die Haare wie ein lustiger Geist, der mich in seinem Reich begrüßte, tätschelte mir die Wange.

Der Raum, der sich vor mir auftat, war nicht unbedingt riesig, aber sehr hoch; darum hatte man eine zweite Etage einziehen können, die sich in Form einer Galerie an den Wänden entlangschmiegte. Den Mittelpunkt des Raumes bildete eine halbrunde Theke. Hier saß die Herrin der Bücher, Miss Rennil, und starrte abwesend auf den Bildschirm ihres Computers, während sich um sie herum Bücher stapelten, die darauf warteten, einen Platz in den unzähligen Regalen zugewiesen zu bekommen. Rechts von mir befand sich eine Wendeltreppe, über die man auf die Galerie gelangte.

Miss Rennil hatte bei meinem Eintreten nicht einmal den Kopf gehoben. Sie war so anders als der Drachen, der die öffentliche Bücherei in der kleinen Stadt beherrschte. Solange man sie nicht beim Anschauen ihrer Lieblingsserien im Internet störte, war sie mit allem einverstanden, was hier passierte. Mit einer gewissen Wehmut erinnerte ich mich an den Büchereiausweis, den Sam mir für die öffentliche Bücherei hatte ausstellen lassen. Hope Fayborn, stand dort als Name, ein Hinweis auf mein Erbe, das mich mit der Feenwelt verband.

Auf leisen Sohlen erklomm ich die Treppe, tappte durch die Gänge, die die Regale bildeten, und meine Fingerspitzen tasteten über die unterschiedlichen Buchrücken, sachte wie die Flügel einer Pusteblume. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Wälder, Meere, gigantische Schlösser und fremde Welten. Jedes Bild schien mich zu rufen, jedes Buch kannte meinen Namen. Auf einem verharrten meine Finger dann. Nur kurz, dachte ich. Nur einmal schnell frische Luft schnappen und dann gleich zurück. Es wird überhaupt niemand merken. Ich legte meine Bücher und Unterlagen in das Regal, behielt nur die kleine Umhängetasche, mit meinen Stiften, Frühstück und einem Buch darin, das mir den Rückweg ermöglichen würde. Nur kurz den Donut in der Sonne essen und dann gleich wieder in den Unterricht.

Mein schlechtes Gewissen zwackte mich mit spitzen Fingern, aber es war ja eigentlich kein wirkliches Schulschwänzen – ich verbrachte bloß die Pause an einem etwas … magischerem Ort als der Mensa, wo ich niemanden wirklich kannte und nicht wusste, wo ich mich hinsetzen durfte/konnte. An meinem zweiten Tag hatte ich aus Versehen einer Cheerleaderin den Stuhl weggenommen. Den Rest der Pause hatte ich auf der Schultoilette verbracht.

Doch was würde Sam sagen? Ich war noch nie ohne ihn durch ein magisches Tor gereist. Irgendwie war das doch unser Ding! Andererseits … es war doch nur für einen Donut, nur ein paar Minuten. Ich würde ja kein Abenteuer ohne ihn bestehen oder einen Hippogreif reiten oder Westeros erobern oder so.

Schon hielt ich das Buch in der Hand. Fühlte, wie es unter meiner Berührung zu atmen begann, fühlte beinahe, wie die Flügel des hölzernen Vogels, der an einem einfachen Band um meinen Hals hing, zuckten. Und dann schlug ich das Buch auch schon auf. Helles Licht quoll aus den Seiten und umarmte mich. Die Karte von Yaoráo formte sich kurz vor mir in der Luft.

Und dann verschwand ich zwischen den Seiten.

***

Vogelgezwitscher begrüßte mich in Yaoráo. Ein strahlend blauer Himmel erstreckte sich über mir und die Sonne grinste so breit auf mich hinab, dass ich unwillkürlich lachen musste. Der hölzerne Vogel erwachte zum Leben, streckte die Flügel und drehte seinen winzigen Kopf. Irgendwo schrie ein Tier, es klang seltsam. Ob es sich erschreckt hatte? Vor mir?

Ich blickte mich rasch um: eine Lichtung, Wald, keine Menschen. Trotzdem, Sicherheit ging vor. Ich streckte die Arme aus und verwandelte meine Schuluniform mit Hilfe meiner Feenreich-Superkräfte in schlichte braune Hosen, wadenhohe Stiefel und ein Hemd aus fester Baumwolle, dessen Ärmel ich nach oben schob.

Hinter mir raschelte es, ein Ächzen und ein Plumpsen ertönten, als etwas zu Boden fiel. Ich fuhr herum und blickte in die verblüffte Miene eines jungen Mannes mit ordentlich geschnittenen braunen Haaren und strahlend blauen Augen. Artus, Sohn von Uther Pendragon, Träger von Excalibur und König von England. Und neben ihm lag Guinevere, seine Braut. Erst jetzt wurde mir klar, dass der Tierruf eben gar kein Tier gewesen war, sondern Arthurs Königin, die erschrocken aufgeschrien hatte. Mein Auftauchen musste ein Schock für sie gewesen sein, und als ich dann noch meine Kleider verwandelt hatte …

»Ach du Schande«, entfuhr es mir und ich eilte bestürzt auf die beiden zu. »Es tut mir so leid! Artus … König … wisst Ihr noch …?«

»Hope?«, fragte er.

Ich nickte wie ein überdrehter Wackeldackel, erleichtert, dass er mich erkannte und nicht direkt abmurkste. Einen Moment starrte er fassungslos von mir zu seiner ohnmächtigen Frau und wieder zurück. Dann stemmte der König von England, der Held meiner Kindheit, die Hände in die Knie und fing schallend an zu lachen. Verdutzt starrte ich ihn an, unsicher, ob er verrückt geworden war. »Ehm … Artus?«

»Ach, es ist einfach zu herrlich.« Eine Träne rann ihm aus den Augenwinkeln. »Erst tauchst du mitten aus dem Nichts auf und dann … Die arme Gwen, sie hat sich so erschrocken.« Behutsam schob er seiner Frau seinen Umhang unter den Kopf.

»Sie hat doch nicht der Schlag getroffen oder?«, fragte ich besorgt.

»Nein, nein, nur eine Ohnmacht.« Artus kicherte noch immer.

Ich fand das Ganze gar nicht so lustig. Eigentlich hatte ich bloß irgendwo im Wald auftauchen wollen und nicht gerade vor Artus und seiner Frau und schon gar nicht so, dass diese auch noch in Ohnmacht fiel vor lauter Schreck. Peinlich berührt trat ich von einem Fuß auf den anderen. »Es tut mir wirklich so leid!«

Lächelnd sah Artus zu mir auf, ehe er aufstand und mich fest in die Arme schloss. »Es ist schön, dich zu sehen, Hope. Wirklich. Du warst lange nicht hier.«

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich schon wieder und kam mir vor wie eine Idiotin.

»Wie ich sehe, trägst du noch meinen Ring. Ich fühle mich geehrt«, sagte Artus.

»Natürlich.« Rasch hob ich die Hand mit besagtem Schmuckstück hoch. Artus hatte mir diesen Ring bei unserer ersten Begegnung geschenkt und ich hing sehr daran.

»Das war …« Er deutete auf meine Kleidung. »Ziemlich beeindruckend. Faith konnte das nicht.«

»Ach nein?« Wie immer, wenn das Gespräch auf meine Mutter kam, war da dieses seltsame Ziehen in meinem Bauch. »Bist du sicher?«

»Ziemlich. Einmal ist sie in sehr seltsamer Kleidung in Camelot aufgetaucht. Ich musste ihr meinen Umhang geben, damit sie einigermaßen bekleidet war. Die Hofdamen waren ganz außer sich und haben noch wochenlang darüber getuschelt. Zum Glück war Guinevere nicht anwesend«, erzählte der König. Bei dem Bild, das vor meinem inneren Auge entstand, musste ich unwillkürlich grinsen. Artus zwinkerte mir zu. »Geht es dir gut, Hope? Brauchst du etwas? Kann ich dir helfen?«

»Ja. Ich meine, nein, es geht mir gut und ich brauche nichts. Ich wollte einfach nur einen kurzen Moment hier genießen, verstehst du?« Ich hob die Schultern, doch Artus nickte verständnisvoll.

»So war Faith auch. Du bist ihr sehr ähnlich«, sagte er.

»Die Feen behaupten … sie behaupten, sie war meine Mutter.«

Artus Augen weiteten sich. »Oh! Aber …« Er kratzte sich am Kopf. »Das ist … außergewöhnlich. Wieso ist sie dir dann so fremd?«

In knappen Sätzen berichtete ich ihm davon, wo ich aufgewachsen und wie mein Leben nach Eleonores Tod verlaufen war.

Betroffen tätschelte er meine Schulter. »Ach, Hope, du weißt, Camelot wird für dich immer ein Zuhause sein.«

»Danke.« Ich zuckte zusammen, als Guinevere sich neben uns regte.

»Geh lieber«, sagte Artus und drückte mich noch einmal kurz an sich. »Ich versuche es ihr irgendwie schonend beizubringen. Immerhin weiß sie ja, wer und was du bist. Lauf immer geradeaus und dann an den beiden roten Ahornbäumen nach rechts, dort ist ein Teich. Da bist du ungestört. Außer mir kommt kaum jemand dorthin, weil es heißt, die Feen würden dort baden, aber bisher habe ich dort noch keine gesehen. Und wenn du doch länger bleiben willst, dann komm nach Camelot. Merlin würde sich freuen und meine Männer auch.«

Na ja, bei dem grummeligen Merlin war ich mir da nicht so sicher, doch die Ritter der Tafelrunde würde ich gerne wiedersehen. Ehe Guinevere aufwachte, suchte ich das Weite, fand die Ahornbäume und schließlich auch (nach zwei Mal stolpern und einmal Kopf stoßen) den Teich, den Artus beschrieben hatte. Er war wunderschön und ich wünschte, Sam wäre hier und könnte ihn ebenfalls sehen.

Sam.

Er fehlte mir. Irgendwie war so eine Reise ohne ihn nicht das Gleiche. Ich warf einen Blick in meinen Rucksack, doch der Donut, auf den ich mich eigentlich gefreut hatte, erschien mir jetzt fad und langweilig. Ich riss ein Stück ab und warf es in den Teich. Eine Sekunde später tauchte ein Schatten mit Zähnen und schuppig glitzernder Haut auf und das Gebäck war fort. Schaudernd öffnete ich das Buch und erbat einen Weg zurück in die Menschenwelt.

***

Wenige Augenblicke später fand ich mich auf der Galerie der Schulbücherei am Fuß des Bücherregals wieder, ein Hauch Wehmut klang noch in mir nach, wie so oft, wenn ich das Feenreich verließ. Ich zupfte einen Grashalm von meinem Stiefel und erstarrte.

Stiefel.

Mist!

Ich hatte vergessen, meine Kleidung vor dem Passieren des Feentors wieder zurückzuverwandeln, und jetzt trug ich die Sachen von dort! Ich sah aus, als wollte ich in einem Theaterstück mitspielen. Oder als hätte ich gewaltig einen an der Waffel. Unter mir am Tisch der Bibliothekarin erklangen Stimmen. Mist, Mist, MIST! Sonst war hier doch auch niemand, warum gerade jetzt? Hastig krabbelte ich rückwärts, tiefer in die Schatten der Regale hinein, während ich fieberhaft überlegte, was ich jetzt tun sollte. Jedenfalls konnte ich in diesem Aufzug die Bibliothek nicht verlassen. In meinem Spind hatte ich Wechselkleidung, aber wie sollte ich dort hinkommen? Die einzige Chance war zu warten, bis der Unterricht in vollem Gange war, und darauf zu hoffen, dass mich dann niemand sah.

Im nächsten Moment knarrte die unterste Stufe der Wendeltreppe – die, die ich schon im Schlaf übersprang, weil ich das Geräusch so furchtbar fand. Jemand kam hoch.

Mit gewaltigem Herzklopfen drückte ich mich tiefer in den Spalt zwischen zwei Buchregalen und wünschte mir nicht zum ersten Mal in diesem Leben einen Unsichtbarkeitsmantel. Die Schritte bewegten sich ohne Hast den Gang entlang, entfernten sich und kamen dann, gerade als ich aufatmen wollte, zurück in meine Richtung. Ich sah einen Schatten, dann wurde es wieder still, bis auf ein leises Rascheln.

Ich schluckte. Meine Schulsachen! Die lagen noch immer ziemlich offensichtlich fehl am Platz in dem Regal herum und auf meinem Block war ein fetter Einhorn-Sticker, in den Anni in kindlichen Großbuchstaben meinen Namen geschrieben hatte. Ich war so was von geliefert! Mein Blick fiel auf das Buch in meiner Hand. Sollte ich zurück ins Feenreich? Aber was, wenn die Person da vorne genau in dem Moment näher kam und das Licht sah – oder mich, wie ich verschwand? Das würde noch weitaus mehr Fragen aufwerfen als mein aktuelles Outfit. Wieder raschelte es, als jemand meine Unterlagen entweder zurückschob oder an sich nahm. Und dann kamen die Schritte wieder näher, zögerlich, aber eindeutig gewillt mich zu finden. Ich grub die Zähne so fest in die Unterlippe, bis es wehtat. Was bin ich nur für eine unendlich blöde, unvorsichtige …

»Hope?«

Die Erleichterung schwappte über mich wie eine riesig große Flutwelle. Meine Hände sackten hinab, fast wäre mir das Buch entglitten. »Sam?«, wisperte ich, nur ein winziger Zweifel schwang noch in meiner Stimme mit.

Die Schritte kamen noch näher und dann bog eine schmale Gestalt um die Ecke, deren Augen sich bei meinem Anblick verblüfft weiteten. »Hope?«, fragte er erneut, als sei er nicht sicher, wen er da vor sich hocken sah. »Was tust du denn da?« Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er schon eins und eins zusammengezählt. Das Buch in meiner Hand, die Klamotten … »Du warst im Feenreich. Ohne mich?«

»Es tut mir leid!«, seufzte ich. »Wirklich, Sam! Es war nur – ich wollte zur Pause und dann … dann plötzlich stand ich hier und ich wollte doch, ich wollte nur ganz kurz … und dann hab ich es vergessen.«

»Was hast du vergessen?« Sam ging vor mir in die Hocke. Er legte eine Hand auf mein Knie.

Funken schienen von seinen Fingerspitzen über meine Haut zu stieben. Ich war so erleichtert ihn zu sehen. Er konnte mir helfen ungesehen von hier zu verschwinden. »Die Klamottensache«, gestand ich.

»Und jetzt versteckst du dich hier?«, fragte er ungläubig.

Ich nickte kläglich. Was war ich auch für eine Heldin. Eher ein Trampeltier.