Carol Marinelli
JULIA BEST OF BAND 187
IMPRESSUM
JULIA BEST OF erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: kundenservice@cora.de |
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Redaktionsleitung: | Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.) |
Produktion: | Jennifer Galka |
Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
Erste Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,
in der Reihe: JULIA BEST OF, Band 187 – 2017
© 2011 by Carol Marinelli
Originaltitel: „Heart of the Desert“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: SAS
Deutsche Erstausgabe 2012 by harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,
in der Reihe JULIA EXTRA, Band 347
© 2003 by Carol Marinelli
Originaltitel: „The Billionaire’s Contract Bride“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Annette Stratmann
Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe JULIA, Band 1647
© 2005 by The SAL MARINELLI FAMILY TRUST
Originaltitel: „In The Rich Man’s World“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Jochen Gaida
Deutsche Erstausgabe 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe JULIA EXTRA, Band 253
Abbildungen: soup_studio, DougLemke / Thinkstock, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733708887
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Lass es uns irgendwo anders versuchen.“
Georgie hatte ja gewusst, dass sie keine Chance hatten, in den exklusiven Londoner Nachtklub hineinzukommen. Sie hatte gar nicht erst hingehen wollen.
Ehrlich gesagt … sie würde jetzt viel lieber zu Hause im Bett liegen, aber schließlich war es Abbys Geburtstag. Der Rest der Clique hatte sich bereits verabschiedet, nur wollte Abby ihren besonderen Tag noch nicht so einfach ausklingen lassen. Sie schien ganz zufrieden damit, hier in der ellenlangen Schlange zu stehen, während der Türsteher die dicke rote Kordel ausschließlich für die Reichen und Schönen zur Seite zog.
„Nein, bleiben wir noch. Wo sonst bekommt man so viele tolle Leute auf einmal zu sehen?“ Eine große Limousine fuhr vor, und eine prominente Dame der High Society stieg aus. „Oh!“ Abby war hingerissen. „Was für ein Kleid! Ich muss unbedingt ein Foto machen!“
Auch das Blitzlichtgewitter der Paparazzi ging auf die junge Frau nieder, die sich von einem deutlich älteren Schauspieler zum Eingang eskortieren ließ. Beide posierten für die Kameras.
Georgie zitterte vor Kälte in ihrem knappen Cocktailkleid, aber sie war entschlossen, kein Spielverderber zu sein. Ihre Freundin hatte sich so sehr auf diesen Abend gefreut. Der Türsteher kam jetzt auf die Schlange der wartenden Partygäste zu, und insgeheim flehte Georgie darum, er möge laut verkünden, dass es keinen Sinn hatte und alle nach Hause gehen sollten. Doch er schien ein Ziel zu haben. Um genau zu sein, er steuerte auf sie zu … Georgie strich sich nervös über das blonde Haar. Hätte Abby besser kein Foto schießen sollen?
„Kommen Sie durch, Ladys.“ Er hängte die rote Kordel für sie aus. „Tut mir leid, ich hatte Sie nicht gleich gesehen.“
Georgie öffnete schon den Mund, um zu fragen, für wen der Mann sie hielt, doch Abby stieß ihr leicht den Finger in die Rippen.
„Geh einfach“, flüsterte sie aufgeregt.
Alle Köpfe drehten sich, und man fragte sich, wer diese Frauen sein mochten. Eine Kamera blitzte auf, dann noch eine und schließlich alle. Die Fotografen gingen auf Nummer sicher. Irgendwer mussten die beiden wohl sein, wenn sich die schweren Glastüren des Klubs für sie öffneten!
„Das ist der beste Geburtstag überhaupt!“ Abby konnte vor Begeisterung kaum an sich halten.
Georgie dagegen hasste es, derart im Rampenlicht zu stehen. Allerdings war das nicht der einzige Grund, weshalb ihr Herz wie verrückt hämmerte, als sie durch den dämmrigen Raum auf einen Tisch zugeführt wurden. Ein mulmiges Gefühl rührte sich in ihrem Magen, und die Kehle wurde ihr eng. Das war bestimmt kein simpler Irrtum des Türstehers. Solche Irrtümer passierten einfach nicht.
Georgie kannte nur eine Person, die die Macht hatte, Türen so mühelos zu öffnen. Seit Monaten bemühte sie sich, nicht an diesen Menschen zu denken. Und sie würde alles tun, um dem Mann nicht zu begegnen.
„Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Miss Anderson.“ Der Kellner, der die Flasche Champagner auf den Tisch stellte, bestätigte Georgies Verdacht. „Ibrahim hat darum gebeten, dass wir uns um Sie kümmern.“
Somit war ein Treffen also nicht mehr zu umgehen. Georgie wappnete sich, zwang sich, ruhig durchzuatmen, und hoffte insgeheim, dass ihr eine gelassene Begrüßung gelingen würde.
„Georgie. Lange nicht gesehen.“
Selbst nach all der Zeit begann es beim Klang seiner Stimme mit dem kaum wahrnehmbaren Akzent prompt in ihrem Magen zu flattern. Georgie stand auf … und für einen Moment war sie wieder in Zaraq zurück, zurück in seinen Armen. „Stimmt, es ist lange her.“ Sie war stolz auf sich, weil ihr sogar ein Lächeln gelang.
Offensichtlich wollte er gerade gehen. Die blonde Frau an seinem Arm warf Georgie einen unmissverständlich warnenden Blick zu, den Georgie ignorierte.
„Wie geht es dir?“
„Gut“, lautete seine knappe Antwort, und er sah auch so aus.
Trotz seines exzessiven Lebensstils, über den Georgie alle Zeitungsberichte gelesen hatte. Er schien ihr größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Oder hatte er vielleicht abgenommen? Seine Züge wirkten irgendwie kantiger. Sein rabenschwarzes Haar war länger als damals, doch selbst um zwei Uhr nachts saß es noch immer perfekt. Seine dunklen Augen musterten sie von Kopf bis Fuß, genau wie an jenem Tag, und genau wie an jenem Tag wartete er gelassen ab, bis ihr Blick schließlich den seinen traf.
Sein Mund hatte sich nicht verändert. Müsste Georgie ihn identifizieren, würde ihr das allein anhand eines Fotos dieser Lippen ohne den geringsten Zweifel gelingen. Denn im Gegensatz zu seinen fast harschen Zügen war sein Mund weich und voll. Vor langer Zeit hatte dieser Mund sich zu einem hinreißend trägen Lächeln verzogen, hatten diese vollen Lippen eine Reihe perfekter weißer Zähne freigegeben.
Heute Abend jedoch würde es kein Lächeln geben. Trotzdem blieb es ein Mund, der eine seltsame Reaktion in ihr auslöste. Während Georgie hier stand und gezwungenermaßen Konversation machte, war es dieser Mund, der ihre Gedanken beherrschte. Es waren diese Lippen, die sie, trotz des vollen Klubs und trotz der Frau, die sich an seinen Arm klammerte, küssen wollte.
„Und wie geht es dir?“, erkundigte er sich höflich. „Wie macht sich deine Praxis? Kommen die Leute?“
Seine Fragen machten klar, dass er sich nicht nur an jene Nacht erinnerte, sondern auch an die Details, die sie so willig preisgegeben hatte. Sie hörte wieder die Begeisterung in ihrer Stimme, als sie ihm von Reiki und Heilölen vorgeschwärmt hatte, und sie erinnerte sich an sein Interesse. Nur gut, dass es so schummrig in diesem Klub war. Denn es war denkbar, durchaus denkbar, dass Tränen in ihren Augen glitzerten.
„Es läuft bestens, danke“, antwortete sie.
„Hast du deine Nichte in letzter Zeit gesehen?“
Wie förmlich er klang. Und wie sehr sie sich den echten Ibrahim zurückwünschte. Ibrahim, der sie bei der Hand nehmen und aus dem Klub ziehen würde, um sie zu seinem Wagen, in eine Seitengasse oder in sein Bett zu bringen, irgendwohin, wo sie allein sein konnten.
„Nur als Felicity und Karim mit ihr in London waren, aber seit …“ Sie brach ab. Seit sich die Zeitrechnung für sie in „Davor“ und „Danach“ geteilt hatte. Seit dem Kuss, der sie für immer verändert hatte. Seit den feindseligen Worten, die gewechselt worden waren. „Seit der Hochzeit war ich nicht mehr dort.“
„Ich war letzten Monat noch einmal in Zaraq. Azizah macht sich prächtig.“
Sie wusste, dass er wieder dort gewesen war, obwohl sie sich geschworen hatte, sich nicht darum zu kümmern. Wenn sie mit ihrer Schwester sprach, druckste sie immer herum, um seinen Namen nicht erwähnen zu müssen und trotzdem so viel wie möglich über ihn zu erfahren. Sie war nicht stolz darauf.
Die Blondine an seinem Arm gähnte übertrieben verstohlen und drückte leicht seinen Arm. Georgie nutzte die Gelegenheit, um sich für seine Hilfe, in den Klub eingelassen zu werden, und für den Champagner zu bedanken, und Ibrahim wünschte ihr eine gute Nacht.
Normal und höflich wäre es, wenn sie sich jetzt mit einem Kuss auf die Wange verabschieden würden. Beide bewegten die Köpfe ein winziges Stückchen vor, beide zögerten sie und verharrten, als hätten sie sich abgesprochen. Trotz der typischen Klubgerüche hatte sich die Luft in ihrer unmittelbaren Nähe mit einer fatalen Mischung aus ihren persönlichen Düften angefüllt – schwül, berauschend und ungemein gefährlich.
Georgie zwang sich, diesen verführerischen Duft zu ignorieren.
„Gute Nacht“, sagte sie also nur und sah zu, wie die Menge sich teilte, um den Weg für Ibrahim frei zu machen.
Köpfe drehten sich von dem aufsehenerregenden Mann zurück zu ihr. In dieser oberflächlichen Gesellschaft hatte der kurze Kontakt mit ihm sie zu jemand Wichtigem gemacht. Vor allem, als er es sich plötzlich anders überlegte, seine Begleiterin stehen ließ, sich umdrehte und zu Georgie zurückkam. Es war wie damals – die Anziehungskraft, der unwiderstehliche Sog … Georgie wollte auf ihn zueilen, doch sie blieb stehen, wo sie war. Mit feucht schimmernden Augen vernahm sie Worte, die sie von ihm nie zu hören erwartet hätte.
„Ich entschuldige mich.“
Und sie konnte nichts erwidern, denn sie befürchtete, dann in Schluchzen auszubrechen. Oder sich an ihn zu klammern und den Mund zu suchen, nach dem sie sich schon so lange sehnte.
„Nicht für alles, aber für einige Dinge, die ich gesagt habe. Du bist keine …“ Er brauchte das Wort nicht zu wiederholen. Seit Monaten hallte es in ihren Ohren nach. „Es tut mir leid.“
Irgendwie schaffte sie es, dass ihr die Stimme gehorchte. „Ja, mir auch.“
Als er sich wieder umwandte, setzte sie sich zurück an den Tisch. Sie würde es kein zweites Mal ertragen, ihn gehen zu sehen.
„Wer war das denn?!“, fragte Abby ehrfürchtig.
Georgie antwortete nicht gleich. Sie nippte an dem Champagner, nippte noch einmal in der Hoffnung, er würde ihre raue Kehle besänftigen, dann wandte sie den Kopf zur Tür, zu dem Mann, der niemals zurückblickte. Doch in diesem Moment tat er es. Und die Wirkung seines Blicks war so überwältigend, dass sie, hätte er nur das kleinste Zeichen gegeben, zu ihm gerannt wäre.
Es war eine Erleichterung, als die Tür sich endlich hinter ihm schloss. Dennoch dauerte es eine Weile, bis Georgie in die Normalität zurückkehren konnte. In die Welt ohne ihn.
„Georgie?“ Abby wurde ungeduldig.
„Du weißt doch, dass meine Schwester Felicity in Zaraq lebt, oder? Und das war der Bruder ihres Mannes.“
Abbys Mund stand offen. „Er ist ein Prinz?“
Georgie versuchte es mit Nonchalance. „Nun, da Karim ein Prinz ist, nehme ich an, dass Ibrahim auch einer sein muss.“
„Du hast nie erwähnt, dass er so …“, Abby beendete den Satz nicht, aber Georgie wusste, was die Freundin meinte.
Felicity war als Krankenschwester nach Zaraq gegangen und hatte in die Königsfamilie eingeheiratet, aber Georgie hatte es vor ihren Freunden immer heruntergespielt, hatte getan, als wäre Zaraq ein winziger Punkt auf der Landkarte, in dem es Aristokraten wie Sand am Meer gäbe. Sie hatte nie viel von dem wunderschönen Land erzählt, von der weiten Wüste, von den bunten Basaren und der tief verwurzelten Tradition in den ländlichen Gegenden, die in krassem Kontrast zu den schillernden Städten mit den Luxushotels und namhaften Designerboutiquen standen.
Und ganz sicher hatte sie nichts von ihm erwähnt.
„Was ist da drüben eigentlich vorgefallen?“
„Was meinst du?“
„Du warst anders, als du zurückkamst. Obwohl du nie darüber gesprochen hast.“
„Es war nur eine Hochzeitsfeier.“
„Oh, komm schon, Georgie. Hast du ihn dir mal angesehen? Der Mann ist regelrecht schön! Du hast mir auch nie Fotos von der Hochzeit gezeigt.“
„Nichts ist vorgefallen.“ Und es stimmte, denn was zwischen ihr und Ibrahim passiert war, war eine einseitige Angelegenheit gewesen, auch wenn sie jeden Tag daran dachte …
Noch heute konnte Georgie ihre Mutter hören.
„Kennen Sie das alte Sprichwort nicht? Bei uns sagt man, wer dreimal Brautjungfer war, wird niemals …“
An dem Punkt hatte ihre Mutter aufgehört mit den Erklärungsversuchen, denn die Zeremonie begann. Die Zaraquianer waren nicht an nervösem Geplapper interessiert, wenn eine königliche Trauung stattfand. Dabei war es bei all dem Pomp und Prunk nicht einmal die richtige Hochzeit, die hatte bereits vor Wochen vor einem Richter stattgefunden. Doch da der König sich inzwischen von seiner schweren Operation erholt hatte und Felicity eine würdige Braut für Karim zu sein schien, wurden die offiziellen Festlichkeiten so schnell wie möglich nachgeholt – bevor man Felicity die Schwangerschaft ansehen konnte.
Auch wenn niemand mehr zuhörte … für einen Moment schloss Georgie beschämt die Augen. Wenn ihre Mutter wüsste … Es gibt keinen Grund, weshalb sie es wissen sollte, beruhigte sie sich in Gedanken und atmete tief durch.
Als sie die Lider wieder hob, schoss neuerliche Unruhe in ihr auf – weil der bewundernde Blick eines imposanten Mannes auf ihr lag. Er trug die gleiche Galauniform wie sein Vater und sein Bruder, doch an ihm sah sie wesentlich besser aus. Georgie schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Wären sie in England, würde sie als Brautjungfer mit dem Trauzeugen tanzen müssen.
Sie erwartete eigentlich, dass er den Blick abwenden würde, nachdem sie ihn ertappt hatte, doch er dachte gar nicht daran. Es war schließlich Georgie, die verlegen nach vorn schaute. Und so stand sie hier, in dem apricotfarbenen Brautjungfernkleid, bei dem sie keinerlei Mitspracherecht gehabt hatte, das dichte blonde Haar zu einem festen Zopf geflochten über die Schulter gelegt und mit dem für ihren hellen Teint viel zu schweren Make-up. Das war nicht unbedingt der erste Eindruck, den sie bei einem so fantastisch aussehenden Mann hinterlassen wollte. Dennoch spürte sie seinen Blick während der gesamten Zeremonie auf sich liegen.
Georgie wusste nicht, was sie von dieser Hochzeit erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht, dass sie Spaß haben würde. Doch nachdem alle Fotos geschossen und alle Reden gehalten waren, erhielt sie einen Blick auf die Menschen, deren Gesichter sie bisher nur von Fotografien kannte, und auf das Land, das ihre Schwester so sehr liebte. Angeführt von Bauchtänzerinnen und begleitet von rhythmischer Musik, führte die Parade von Hochzeitsgästen das Brautpaar in den großen Ballsaal, der nur von Kerzen erleuchtet war. Georgie sah zu, wie Felicity, sonst immer so nüchtern und sachlich, auf ihren Mann zutanzte. Sie erkannte die sinnlich lächelnde Frau kaum wieder. Die Gäste scharten sich lachend und klatschend um das Brautpaar. Die lebenslustige Atmosphäre war ansteckend, doch Georgie traute sich nicht so recht mitzumachen.
Bis eine warme Hand an ihrem Rücken sie auf die tanzende Menge zuschob und eine Stimme an ihrem Ohr raunte: „Du musst bei der zeffa mitmachen.“
Sie wusste nicht wie, doch mit Ibrahim an ihrer Seite versuchte sie es, und es war eine außergewöhnliche Erfahrung.
„Die zeffa findet eigentlich vor der Hochzeit statt“, erklärte er. „Doch wir passen die Tradition eben unseren Bedürfnissen an …“
Er wich nicht von ihrer Seite, auch nicht, als die Musik ruhiger wurde, und schließlich tanzten sie einen Tanz zusammen. Selbst wenn es nur der Form halber war … es fühlte sich anders an. Von einem so starken und selbstsicheren Mann gehalten zu werden, sich den ganzen Abend über seiner Aufmerksamkeit bewusst zu sein, war schwindelerregend.
„Alles in Ordnung?“
Er musste sie gesucht haben, nachdem sie das Brautpaar verabschiedet hatten und Georgie noch in der Halle stand.
„Es war so …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ja, sicher, ich bin nur etwas müde. Die letzten Tage waren anstrengend. Mir war nicht klar, wie viele Dinge noch vor einer Hochzeit zu erledigen sind.“ Sie lächelte schwach. „Ich hatte gedacht, ich könnte ein wenig Zeit mit meiner Schwester verbringen und vielleicht die Wüste sehen …“
„Komm, ich zeige dir die Wüste, gleich jetzt.“ Ibrahim deutete mit dem Kopf zu den Treppen.
Sie stiegen die Stufen hinauf, gingen den Korridor entlang, vorbei an Georgies Zimmer, bis zu einer Balkontür, die Ibrahim aufstieß.
„Da“, meinte er. „Das ist sie. Jetzt hast du sie gesehen.“
Georgie lachte. Natürlich hatte sie bereits von dem störrischen Prinzen gehört, der die Wüste verabscheute und lieber, wie Karim immer sagte, in einer überfüllten Bar saß, als den Frieden zu finden, den nur die Abgeschiedenheit brachte.
„Du ziehst also die Stadt vor?“ Als er nicht antwortete, schaute sie wieder auf die endlose Weite hinaus. „Es sieht wie ein Ozean aus.“
„Das war einmal ein Ozean. Und wenn man den alten Sagen glauben will, wird es auch wieder ein Ozean.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich verlasse mich lieber auf die Wissenschaft. Die Wüste ist nichts für mich.“
„Sie ist faszinierend.“ Schweigend standen sie nebeneinander. „Und einschüchternd“, sagte Georgie in die Stille hinein. Und obwohl sie nichts mehr hatte sagen wollen, gestand sie nach einer Weile die Wahrheit. „Ich mache mir Sorgen um Felicity.“
„Deine Schwester ist glücklich.“
Georgie erwiderte nichts. Ja, Felicity schien wirklich glücklich zu sein. Sie hatte sich in diesen umwerfend aussehenden Chirurgen verliebt, der sich dann als Prinz entpuppte. Sie beiden waren schrecklich verliebt ineinander und freuten sich auf das Baby, dennoch vermisste Felicity ihr Zuhause. An manche Sitten und Gebräuche hier hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt.
„Sie möchte, dass ich herkomme und hier lebe. Damit ich mit dem Baby helfe.“
„Sie kann sich doch ein Kindermädchen leisten!“
Das hatte Georgie auch gedacht. Aber wenn sie fair zu Felicity war, dann war das nicht der einzige Grund. So leicht die Unterhaltung mit Ibrahim fiel, es gab Dinge, die sie nicht unbedingt zugeben wollte – eines davon war, dass Felicity die Schwester bei sich haben wollte, um sich um sie kümmern zu können.
„Sie will ein Auge auf dich haben.“ Ibrahim hatte die Geschichten von der schwierigen Schwester gehört. Von dem Teenager, der ständig weggelaufen war, der immer wieder wegen Essstörungen in der Klinik behandelt werden musste. Georgie mache Probleme, hatte Karim gewarnt.
Ibrahim zog es vor, sich seine eigene Meinung zu bilden. Und überhaupt … Probleme reizten ihn. „Felicity sorgt sich um dich.“
„Dazu besteht kein Grund.“ Mit brennenden Wangen fragte sie sich, wie viel er wusste.
„Für eine Weile bestand wohl Grund. Du warst sehr krank. Felicitys Sorgen sind verständlich.“ So direkt er auch war, er verurteilte sie nicht.
So etwas war selten. „Jetzt geht es mir besser. Nur kann ich ihr das nicht verständlich machen. Wenn man einmal Probleme gehabt hat, wartet jeder nur darauf, dass sie wieder hochkommen. So wie diese Suppe … Sie war kalt.“
Er musste lachen, weil er ihre Grimasse gesehen hatte, als sie den ersten Löffel genommen hatte. „Jalik – Gurkensuppe. Sie muss kalt serviert werden.“
„Ich bin sicher, sie schmeckt sehr gut – wenn man daran gewöhnt ist. Ich hab’s versucht, aber ich konnte nicht alles aufessen. Und selbst an ihrem Hochzeitstag hat Felicity jeden Bissen mitgezählt, den ich gegessen habe. Mum auch. Dabei hatte das gar nichts mit Essstörungen zu tun – ich mag einfach keine kalte Suppe. Und sosehr ich mich darauf freue, Tante zu werden – ich will nicht das Kindermädchen spielen! Das würden sie nämlich von mir erwarten, wenn ich bliebe.“ Georgie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie hier so frei sprach, gleichzeitig aber war es auch eine Erleichterung.
„Das ist anzunehmen. Es wäre in Ordnung, wenn dein Berufswunsch Kindermädchen ist. Aber ist er das?“
„Nein.“
„Sondern?“
„Ich habe mich auf Physio- und Aromatherapie festgelegt. Die Ausbildung werde ich bald abschließen, dann möchte ich meine eigene Praxis eröffnen. Und mich weiter spezialisieren.“
Es fiel so leicht, ihm alles zu erzählen. Wie sie anderen Frauen helfen wollte mit den Massagen und Ölen, die ihr geholfen hatten, als nichts mehr Wirkung zeigte. Und anders als die meisten machte er sich nicht über sie lustig, wahrscheinlich, weil er, auch wenn er sie nicht mochte, aus der Wüste stammte und die Menschen hier mehr von alternativen Heilmitteln verstanden.
So wie er ihr Dinge erzählte, von denen er gedacht hatte, dass er sie anderen gegenüber niemals zugeben würde. Zum Beispiel der Grund, warum er die Wüste nicht mochte.
„Sie hat mir den Bruder genommen.“ Seinen Bruder Ahmed hatte die Vorstellung, König zu werden, derart überfordert, dass er eine Antwort auf seine Ängste in der Wüste gesucht hatte. Aber er war nie wieder zurückgekehrt.
„Felicity hat mir davon erzählt.“ Georgie schluckte. „Es tut mir leid um den schmerzhaften Verlust.“
Ja, es war ein enormer Verlust. Ibrahim schloss die Augen, doch die Wüste war noch immer da, und der Wind fegte noch immer den Sand über die Dünen. „Sie hat auch meine Mutter genommen.“
„Ich dachte, deine Mutter sei nach London gegangen.“
Ibrahim schüttelte den Kopf. „Aber sie befolgte die Wüstenregeln.“ Er schaute auf das karge Land hinaus, das er so verabscheute, und konnte kaum fassen, was er hier preisgab. Diese Gedanken hätten niemals ausgesprochen werden sollen.
Er nahm sich zusammen, wollte sich förmlich verabschieden, doch ihre blauen Augen schauten ihn erwartungsvoll an, und Ibrahim stellte fest, dass er weiterreden wollte.
„An dem einen Tag war sie noch hier, und wir waren eine Familie, am nächsten war sie weg und durfte nie mehr zurückkommen. Ihr Sohn heiratet heute, aber sie sitzt in London.“
„Es muss schrecklich für sie sein.“
„Noch schlimmer war es für sie, nicht an Ahmeds Beerdigung teilnehmen zu können. Zumindest sagte sie mir das, als ich sie am Nachmittag anrief.“ Es war ein anstrengendes Telefonat gewesen, aber Ibrahim hatte durchgehalten und zugehört. Hatte sich alles angehört.
„Das tut mir ehrlich leid.“
Georgie hätte sagen sollen, dass sie verstand und wusste, wie er sich fühlte. Dann hätte er sie ironisch abkanzeln können. Womit er nicht gerechnet hatte, war die sanfte Hand, die sich flüchtig an seine Wange legte. So verblüfft er war, er hätte diese Hand am liebsten dort festgehalten und seine Wange für eine Weile hineingeschmiegt.
Nur ihr Psychiater konnte wissen, welch immense Bedeutung diese Geste für Georgie hatte. Zum ersten Mal hatte sie bei einem Mann impulsiv gehandelt. Die leichte Brise trug die Wärme der Wüste heran, hüllte sie ein, und sie wollte ewig hier stehen bleiben.
„Du solltest jetzt gehen“, sagte Ibrahim, denn Karim hatte ihn vor dieser Frau gewarnt. Hatte ihn ermahnt, sich an Zaraqs Gebräuche zu halten, solange er hier war.
Und Georgie tat, was er verlangte. Sie drehte sich um und ging, während er weiter auf die Wüste hinausstarrte. Ihre Fingerspitzen brannten noch immer, ihre Gedanken wirbelten von der flüchtigen Berührung, die sie gewagt hatte …
„Sagtest du nicht, sie wären alle so steif?“ Abbys Stimme holte Georgie aus den Erinnerungen zurück, die sie so unbedingt vergessen wollte. „Danach sah er mir aber nicht aus.“
„Hier gelten andere Regeln“, antwortete Georgie. Sie hatte keine Lust auf Champagner und hatte auch keine Lust, mit dem Mann zu tanzen, der sie jetzt aufforderte. Aber es war Abbys Abend, und Georgie würde die Freundin nicht merken lassen, dass sie mit den Gedanken meilenweit weg war.
Nur schien es, dass Abby mehr an Ibrahim interessiert war als an dem Treiben im Nachtklub, denn wenig später brachte sie das Thema schon wieder auf.
„Du fliegst nächste Woche hin, oder? Ist er dann auch da?“
Georgie schüttelte den Kopf. „Er kommt nur selten. Er war zur Hochzeit da und zu Azizahs Geburt. Und er ist gerade erst zurückgekommen. In ein paar Wochen wird er zur Geburt des künftigen Thronfolgers hinfliegen. Das reicht ihm dann wohl. Bis dahin bin ich längst wieder abgereist.“ Sie nahm einen Schluck Champagner. „Komm, lass uns tanzen.“
Sie tanzten und feierten bis vier Uhr in der Früh. Auch wenn Georgie lieber allein zu Hause gewesen wäre.
Um an den Kuss denken zu können. Um an ihn denken zu können.
Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass es Ibrahim ähnlich ergehen könnte.
Georgie hatte ihn auf dem Balkon allein zurückgelassen, wie er es von ihr verlangt hatte.
Er hätte sich nicht umdrehen sollen, denn er war wütend. Wütend auf die Wüste. Doch er drehte sich um, sah, wie Georgie über die Schulter zurück zu ihm blickte … und erahnte die Möglichkeit zur altbekannten Flucht.
Er hätte auch nicht zu ihr gehen sollen, hätte stattdessen oben in seiner Suite das Telefon aufnehmen und eine von den Frauen kommen lassen sollen, die bereitstanden, um einem Prinzen oder König Zerstreuung und Vergnügen zu bieten. Diese Frauen, so hatte sein Vater ihn vor langer Zeit gewarnt, waren die einzige Option in Zaraq.
Es waren schöne Frauen mit mehr als ausreichend Erfahrung, doch heute Abend kratzte der Sand der Wüste in seinem Hals und über seine Seele. Noch immer spürte er Georgies kühle Finger an seiner Wange, und er war nie jemand gewesen, der sich an Regeln hielt.
Ibrahim ging auf sie zu.
Georgie hätte jede Möglichkeit gehabt, ihm auszuweichen, hätte nur in ihr Zimmer zu gehen brauchen. Sie stand ja direkt vor der Tür. Doch sie schaute zu ihm hin und wartete. Zu erklären war es nicht, höchstens mit Wahnsinn. Sie wartete, bis er sie in seine Arme zog und diesen wunderschönen Mund auf ihre Lippen presste.
Ein Mund, der nicht nach Whiskey und Zigaretten schmeckte, sondern nach purem Mann.
Bisher hatte ihr das Küssen nie viel Spaß gemacht, auch nicht der Sex. Doch hier, in der Umarmung eines Meisters, unter den meisterhaften Liebkosungen dieser Lippen, änderte sie ihre Meinung.
Seine Hände waren ebenso geschickt wie seine Lippen, denn sie merkte erst, dass er ihren Zopf gelöst hatte, als ihr das Haar über die Schultern fiel. Er streichelte darüber, so als müsse er sich überzeugen, dass es sich so anfühlte, wie er es sich vorgestellt hatte. Als er mit den Händen dann über ihre Seiten strich, schob sie die Finger in sein Haar, das sie vorhin bewundert hatte. Er roch noch immer so gut, wie schon auf der Tanzfläche … als hätte er gerade erst geduscht, und sie wollte ihn ewig weiterküssen.
Er zog sie so ruckartig an sich, dass sie zu fallen meinte, doch er hielt sie fest, und sie fühlte seine Erregung an ihrem Schoß, fühlte das Versprechen seines muskulösen schlanken Körpers und erhaschte einen Blick auf den Pfad, den er sie entlangführen wollte. Bis jetzt hatte sie immer versucht, diesen Pfad zu meiden, doch heute wollte sie losstürmen und immer weiter gehen. Es war gleich, wo sie waren, sie hätten überall sein können, denn sie war völlig verloren in dem einen Moment.
Ibrahim jedoch behielt die Kontrolle. Er hob den Kopf und schaute ihr in die Augen, und sie verlor sich in den Tiefen seiner Augen.
„Komm …“ Er nahm ihre Hand, um sie in sein Bett zu führen, jetzt, sofort.
Das Verlangen erlaubte es Georgie nicht, noch länger zu warten. Sie würde sich nicht dagegen wehren können. Sie hatte die Kontrolle verloren, und zum ersten Mal in ihrem Leben gefiel ihr das Gefühl, denn mit Ibrahim schien es ihr dennoch sicher zu sein.
„Hier.“ Ihr Zimmer lag direkt hinter der Tür, viel dichter als seins. Mit einem Bett. Und sie wollte sich zumindest sicher hinter verschlossenen Türen wissen.
Doch Ibrahim war ein Prinz, und die eingebläuten Regeln saßen tief. Er zögerte. „Wir brauchen …“ In seinem Zimmer gab es Schubladen, die regelmäßig diskret mit dem Nötigen nachgefüllt wurden – für die Gelegenheiten, wenn junge Frauen kamen, um den Prinzen zu unterhalten. In den Gästezimmern gab es so etwas nicht.
Er hatte recht. Georgie war froh, dass er noch immer genügend Verstand und Verantwortungsbewusstsein besaß. Noch glücklicher war sie, als ihr einfiel, dass sie eine schnelle Lösung bieten konnte.
„Ich habe welche.“ Sie dankte dem Himmel für den Automaten am Londoner Flughafen, der für die eingeworfenen Münzen nicht etwa das gewählte Zahnputzset ausgespuckt hatte, sondern ein Päckchen Kondome.
Für Ibrahim brachen in diesem Moment Welten zusammen. Dass sie vorbereitet war, müsste eigentlich Bewunderung hervorrufen. In London hätte es das wahrscheinlich auch, aber hier …
Er rief sich in Erinnerung, dass er nicht hierher gehörte. Wieso hielt er dann inne? Die Regeln hier galten nicht für ihn.
Also unwichtig, sagte er sich und schob sie in das Zimmer. Als er den Mund wieder auf ihre Lippen presste, wurde auch alles andere unwichtig.
Oder?
Für Georgie war etwas anderes wichtig. Sie schloss die Augen und bemühte sich, nicht daran zu denken. Sie wollte nur an diesen Kuss denken.
Ibrahim kostete ihren Mund bis zur Neige aus und drückte sie gleichzeitig auf das Bett nieder. Er schob ihr das Kleid von den Schultern und widmete sich versunken ihren Brüsten. Eine Hand griff an den Saum dieses furchtbaren Kleides, wollte es an ihren Schenkeln hinaufschieben, doch Georgie presste sich so gierig an ihn, dass es unmöglich war. Dabei drängte das Verlangen, heiß und verzweifelt und absolut köstlich. Georgie reagierte, als hätte sie ihr Leben lang auf ihn gewartet.
Sie zerrte an seinem Jackett, an seinem Hemd, die Finger in seinem Haar, die Zunge an seinem Ohr, die Hände rastlos auf seinem Rücken. Die Absätze ihrer Sandaletten zerrissen seine Hose, als sie die Beine um ihn schlang. Sie wünschte, die Hitze ihrer Körper würde den störenden Stoff schmelzen lassen, damit sie endlich Haut auf Haut spüren konnte.
Doch etwas ließ sie innehalten. Etwas, das plötzlich wichtig geworden war.
Sie konnte es nicht ignorieren. Als sie auf dem Bett kniete und an den Saum ihres Kleides fasste, um es sich über den Kopf zu ziehen, hielt sie jäh inne und fragte sich, ob es ihm an ihrer Stelle ebenfalls wichtig wäre.
„Wir können nicht …“
Ihr Spiel gefiel ihm, ihre plötzliche Unsicherheit. „Doch, wir können.“
„Ich kann nicht.“
„Du kannst“, flüsterte er rau und fasste nach dem Saum ihres Slips.
Sie hielt seine Hände fest. „Ibrahim, bitte …“
Da wurde ihm klar, dass es kein Spiel war. Oder eher – ein sehr gefährliches Spiel. Denn viel hätte nicht gefehlt, und er hätte sich nicht mehr kontrollieren können. Die Wut war wieder zurück, und für einen Moment hasste er sich selbst für seine Gedanken. Doch dann rollte er sich vom Bett, stand auf und besah sich sein zerrissenes Hemd, seine zerrissene Hose. Die Kratzer von ihren Nägeln brannten auf seinem Rücken … Mit den Augen schleuderte er Dolche auf Georgie ab.
„Es tut mir leid …“ Sie schluckte und fragte sich, wie sie erklären sollte, dass es etwas gab, dass sie nicht einfach ignorieren konnte. „So bin ich nicht …“
„Jetzt noch die Schamhafte zu spielen ist unsinnig. Das Image hat sich schon auf dem Korridor erledigt.“
„Ich habe nicht …“
„Behaupte jetzt nicht, du wärst noch Jungfrau.“ Er lachte abfällig. „Eine Jungfrau, die Kondome bei sich hat.“
„Nein, das bin ich nicht.“ In dieser Stimmung würde sie ihm den Fehlkauf am Flughafen nicht erklären können. „Ich wollte dich nicht verführen …“
„Doch, genau das wolltest du.“ Die Erregung war verschwunden, aber die Wut nicht. Man hatte ihn gewarnt, dass sie Probleme machte. Und er hätte darauf hören sollen. „Was ist, Georgie? Bist du eifersüchtig auf die große Schwester? Willst du dir auch einen reichen Ehemann angeln?“ Beißender Spott lag in seinem schmalen Lächeln. „Ich gebe dir einen Tipp für die Zukunft: Männer mögen es entweder ganz oder gar nicht.“
Auch sie war wütend – auf sich selbst und auf ihn, weil er sie nicht erklären ließ. Keine gute Kombination, denn jetzt schoss sie mit beißenden Worten zurück. „Ach, und bei ‚ganz‘ hättest du mich morgen früh also mehr gemocht? Das bezweifle ich ernsthaft.“ Er war ein Mistkerl, ein Playboy, und sie hatte von Anfang an mit dem Feuer gespielt, auch wenn es ihr nicht gleich klar gewesen war.
Dennoch hatte es da den Bruchteil einer Sekunde gegeben … einen kurzen Blick auf das, was hätte sein können. Und das jetzt verloren war.
Die Vorstellung fachte seine Wut noch an. „Ich würde dich nicht anrühren, wenn du drum betteln würdest! Ich sage dir, was du bist. Du bist …“ Und er fügte eine Beleidigung an, die nicht übersetzt werden musste, bevor er mit ausholenden Schritten aus ihrem Zimmer marschierte.
Georgie zog die Knie an und presste die zitternden Hände vor den Mund. Wie hätte sie ihm auch sagen sollen, was plötzlich wichtig geworden war?
Sie suchte nicht nach einem Ehemann.
Sie hatte bereits einen.
Es ließ nicht nach.
Ibrahim ritt in halsbrecherischem Galopp über die Felder, lenkte seinen Hengst dann wieder zurück auf die Wege. Sein Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Morgenluft, und trotz der weiten Landschaft, die sich vor seinem Blick ausbreitete, fühlte er sich heute Morgen eingeschlossen. Nicht zum ersten Mal.
Dabei war London der Ort, an dem er sich frei fühlte. An den er geflohen war. Und obwohl er die Zügel angezogen hatte und dem Tier beruhigend den Hals tätschelte, wollte er es antreiben, wollte die gepflegten Pfade verlassen und immer weiter und schneller reiten.
Hier, mitten im grünen Gürtel der britischen Metropole, rief ihn die Wüste – genau, wie sein Vater es vorausgesagt hatte.
Obwohl Ibrahim sich dagegen wehrte, spürte er es – den magnetischen Sog des Landes, zu dem er angeblich gehörte.
Nur für einen Moment erlaubte er es sich, sich diesem Gefühl zu überlassen.
„Dir würde es gefallen.“ Er stieg vom Pferd und sprach in Arabisch auf das Tier ein – auf den Hengst, der in seinem luxuriösen Stall gegen die einengenden Wände der Pferdebox trat und jeden Fremden biss, der unachtsam oder auch dumm genug war, das Warnschild zu missachten und der Box zu nahe kam. „Da draußen“, sagte er zu dem Tier, strich über dessen Muskeln und konnte in seinem Kopf das Donnern der Hufe hören, „würdest du endlich kennenlernen, was Erschöpfung bedeutet.“ Nur in der Wüste.
Und Ibrahim meinte sie vor sich zu sehen – die sich endlos erstreckende Weite mit den sich stetig bewegenden Dünen, meinte fühlen zu können, wie der Wind den Sand auf seine Wangen trieb, meinte das Muskelspiel des gestreckten Hengstes unter sich zu spüren.
Doch … sein Leben war in London. Ein Leben, das er sich selbst aufgebaut hatte. Sein Unternehmen und sein Reichtum, ohne Regeln, ohne Einschränkungen. Er selbst hatte es erreicht, es gehörte allein ihm. Seine Mutter lebte ebenfalls hier – gezwungenermaßen. Es war ihr verboten, nach Zaraq zurückzukehren, weil sie vor vielen Jahren die Regeln gebrochen hatte.
„Ich nehme ihn, Ibrahim.“ Eine junge Stallhelferin, die er manchmal in sein Bett holte, kam zu ihm, und er reichte ihr die Zügel. Er erkannte die Einladung in ihren Augen, als sie den Sattelgurt aufschnallte. Ibrahim hob den Sattel vom Rücken des Tieres und beobachtete, wie die junge Frau das Fell des Hengstes streichelte, erhaschte einen Blick auf ihre bloße Taille, als sie die Decke über das Tier legte, und wartete darauf, dass er etwas fühlte. Es war so viel angenehmer, das Brennen in seinem Körper und den Tumult in seinem Kopf mit seiner sonst allzeit bevorzugten Lösung zu beruhigen.
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ Einladend, schön, willig, drehte sie sich zu ihm um.
An jedem anderen Tag hätte die Antwort ja gelautet. Heute jedoch nicht.
An jenem anderen Abend auch nicht.
An dem Abend, an dem er Georgie wiedergetroffen hatte. Er hatte seinen Fahrer instruiert, zur Adresse seiner Begleiterin zu fahren anstatt zu seinem Haus, und er hatte die Einladung, mit hineinzukommen, abgelehnt.
„Lass uns zu Bett gehen, Ibrahim.“ Mit Lippen und Händen hatte sie ihn zu überreden versucht, doch Ibrahim hatte sie von sich geschoben. Als auch Tränen nicht die gewünschte Wirkung erzielten, war sie wütend geworden. „Es ist dieses Flittchen aus dem Klub, das alles verdorben hat, nicht wahr?“
„Nein“, hatte er kühl geantwortet, „das hast du ganz allein geschafft.“
„Ibrahim?“ Die Stallhelferin riss ihn aus den Gedanken. Sie lächelte ihn an, und er sah auf ihre festen Brüste, schätzte ab, wie lang ihr Haar wohl sein mochte … dann drehte er sich wortlos um und ging. Erstens war sie zu schlank und ihr Haar dunkel, und zweitens hätte er nur an sie denken müssen.
An Georgie.
Er wollte nicht an sie denken, also stellte er sich stattdessen wieder die Wüste vor und beschleunigte seine Schritte. Das Echo von den Absätzen seiner Reiterstiefel hallte an den Mauern wider. Er würde aufs Land rausfahren. Wenn er in London blieb, würde er Georgie anrufen, das wusste er.
Er mochte keine offenen Enden. Er mochte es auch nicht, wenn man ihm etwas abschlug. Sie wiederzusehen hatte neues Öl in das Feuer gegossen. Im Moment konnte er allerdings keine zusätzlichen Probleme mit seiner Familie gebrauchen. Auf dem Land hätte er die nötige Ablenkung.
Doch als er in seinen Sportwagen stieg und auf den Navi-Bildschirm starrte, sah er die Landkarte aus der Vogelperspektive – Felder, Häuser, Hecken, Bäume …
Sein Vater hatte recht gehabt. Er hatte immer gesagt, dass die Wüste ihn eines Tages rufen würde. Der König hatte den Sohn mit erstaunlicher Ruhe für das Ingenieurstudium ziehen lassen – in der festen Überzeugung, dass Ibrahim zurückkehren würde.
„Natürlich komme ich zurück“, hatte der junge Ibrahim damals voller Arroganz gesagt. Er war bereit für die Metropole, für London. „Zu Besuch.“
„Du wirst zurückkommen als Prinz und das erworbene Wissen für dein Land einsetzen.“
Ibrahim hatte den Kopf geschüttelt. „An den Staatsanlässen werde ich teilnehmen, und natürlich besuche ich meine Familie.“ Sein Vater schien nicht zu verstehen, also musste er deutlicher werden. „Ich werde mir in London ein neues Leben aufbauen.“
Der König hatte nur gelächelt. „Ibrahim, du wirst Ingenieurwissenschaften studieren. Erinnerst du dich nicht, dass du als Kind alle möglichen Pläne für dein Land hattest?“
„Als Kind.“
„Und jetzt bist du ein Mann. Jetzt kannst du deine Träume realisieren. Wenn die Zeit reif ist, wirst du dahin zurückkehren, wohin du gehörst. Es liegt in deinem Blut. Auf deinen Vater willst du vielleicht nicht hören, doch die Wüste wird dich rufen. Du wirst ihren Ruf nicht ignorieren können.“
Ibrahim wollte ihn ignorieren. Und jahrelang war ihm das auch gelungen. Doch seit der Hochzeit hatte sich alles geändert.
Er trat das Gaspedal durch und raste durch den grauen Sonntagmorgen, ließ die Stadt hinter sich und fuhr raus aufs Land. Er nahm die Kurven mit waghalsiger Geschwindigkeit und beschleunigte noch mehr.
Seines Vaters Geduld mit ihm erschöpfte sich. Die Zukunft wartete.
Er fuhr, bis der Tank fast leer war, fuhr, bis die gesetzten Regeln ihn wieder einholten.
„Blasen Sie da rein. Kräftig“, ordnete der Verkehrspolizist an, und Ibrahim blies. Er leerte seine Taschen, als er dazu aufgefordert wurde, öffnete sogar den Kofferraum. Und sah das Misstrauen im Blick des Polizisten, als nichts Verdächtiges zutage kam.
„Warum hatten Sie es so eilig?“ Missmutig studierte der Polizist Ibrahims Führerschein. Er hatte die Nase voll von den Reichen und Adeligen, die sich einbildeten, Gesetze würden nur für andere gelten. Dieser Mann hier war sowohl reich als auch adelig.
„Ich weiß es nicht.“
Normalerweise hätte eine solche Antwort ihn nur noch mehr geärgert. Dann wäre er zu seinem Streifenwagen gegangen, hätte die Papiere noch einmal genauestens überprüft, nur um den Prinzen warten zu lassen. Doch etwas in der Stimme dieses Verkehrsrowdys ließ den Polizisten stutzen – etwas wie … Verzweiflung.
„Ich entschuldige mich, dass ich Ihre Gesetze missachtet habe.“
Der Gesetzeshüter runzelte die Stirn. „Sie sind zu Ihrem eigenen Schutz gemacht worden.“
Ibrahim schloss die Augen. Dieselben Worte hatte er während seiner gesamten Kindheit und Jugend gehört – auch wenn sie in diesem Moment in Englisch gesagt worden waren. „Das weiß ich.“ Er hob die Lider. „Ich möchte mich nochmals entschuldigen.“
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?“
„Ja, sicher.“
„Dieses Mal lasse ich Sie mit einer Verwarnung davonkommen.“
Ibrahim stieg wieder hinters Steuer. Eine Anzeige wäre ihm lieber. Er hätte seine Strafe bezahlt. Nicht, weil er es sich leisten konnte, sondern weil er keine Gefälligkeiten annehmen wollte.
Auf dem Rückweg nach London hielt er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Er bog in die Straße in dem gepflegten Wohngebiet und blieb vor der eleganten dreistöckigen Stadtvilla stehen, die ihm gehörte. Sah auf die perfekt geschnittenen Hecken, die schmiedeeisernen Zäune, auf die Häuser rechts und links von seinem eigenen, die alle gleich aussahen … und konnte sich nicht dazu durchringen, hineinzugehen.
Wäre der Polizist ihm gefolgt, würde er ihn jetzt wieder an den Straßenrand winken, denn Ibrahim vollzog mit quietschenden Reifen eine rasante Kehrtwende.
Er würde es aus seinem Kopf herausbekommen, ein für alle Mal.
Der zukünftige König würde in ein paar Wochen zur Welt kommen. In diese Zeremonie würde er sich mit Sicherheit nicht hineinziehen lassen. Aber er würde für ein paar Tage seine Pferde reiten, bis ans Meer und in die Wüste, würde sich anhören, was sein Vater zu sagen hatte, und dann würde er wieder nach London zurückkommen.
Nach Hause, korrigierte er sich in Gedanken.
Denn trotz allem, was sein Vater behauptete … London war sein Zuhause.
Er musste sich dessen nur sicher sein.
Ibrahims Gedanken schwenkten zu Georgie, zu den losen Enden, zu der Frau, die schon viel zu lange in seinem Kopf spukte. Und er traf noch eine Entscheidung.
Er würde der Wüste einen Besuch abstatten … und wenn er danach wieder hier war, würde er Georgie vielleicht anrufen.
Eine neue Unbeschwertheit erfüllte Georgie, als sie sich das Haar kämmte und Lipgloss auftrug. Nicht einmal der bevorstehende lange Flug konnte Schatten auf eine Welt werfen, die mit einem Mal irgendwie viel heller schien.
Seit heute Morgen war die Scheidung amtlich. Eine Ehe, die ein großer Fehler gewesen war und nur ein paar Wochen gedauert hatte, war sicherlich nichts, für das man dankbar sein konnte, aber es hatte sie vieles gelehrt. Zwar lebte Georgie schon seit Jahren nicht mit ihrem Ehemann zusammen, doch die Tatsache, dass das nun offiziell vorbei war, brachte ihr unermessliche Erleichterung.
Endlich war sie frei.
Sie bedauerte nur, dass es nicht schneller gegangen war. Dass ihr Moralkodex es ihr nicht erlaubt hatte, trotz der laufenden Scheidung mit einem anderen Mann zu schlafen. Mit Ibrahim zu schlafen.
Sie schloss die Augen und sagte sich, dass sie nicht wieder daran rühren wollte. Sie hatte diesen Weg gewählt. Ihre Krankheit, der gewalttätige Vater, eine Ehe, die ihr als Ausweg erschienen war … Es wäre leicht, mit Groll zurückzublicken. Doch sie hatte vieles daraus gelernt. Es hatte sie zu einer starken Frau gemacht. Zu einer selbstbewussten Frau, die sich genau kannte. Sie hatte aus den Fehlern gelernt. Schuld und Bedauern führten zu nichts. Sie wollte sich mit ihrer Schwester aussprechen, wollte sich endlich für deren Hilfe und Unterstützung während all der schwierigen Jahre bedanken. Sie würde ihr auch von Mike erzählen, obwohl ihr bei dem Gedanken nicht recht wohl war. Aber sie wollte die Vergangenheit endlich hinter sich lassen, um einer glorreichen Zukunft den Weg frei zu machen.
Ibrahims Entschuldigung hatte ihr geholfen.
Das Wiedersehen mit ihm war peinlich gewesen, aber mit seiner Entschuldigung war nun auch dieses Kapitel abgeschlossen. Es wurde Zeit, nach vorn zu schauen.
Keine Reue mehr.
Das Flugticket, das Felicity geschickt hatte, sorgte dafür, dass Georgie die endlosen Schlangen am Heathrow Airport umgehen konnte. Sie saß in der Lounge der ersten Klasse, nippte Champagner und knabberte an den Leckereien, die die Wartezeit bis zum Abflug verkürzen sollten.
Sie lächelte vor sich hin, als ihr klar wurde, welchen langen Weg sie zurückgelegt hatte. Sie zählte keine Kalorien mehr, es folgte keine Strafe mehr auf das Vergnügen. Sie konnte entspannt den süßen Geschmack der köstlichen Pistazien-Makrone genießen, die auf der Zunge zerging. Die düsteren Tage waren endlich vorbei – die kritische Selbstbeschau, die quälenden Selbstzweifel, der mühsame Weg der Gesundung … das alles lag hinter ihr. Als der Aufruf kam, an Bord zu gehen, tat Georgie das in Hochstimmung. Sie war bereit für den nächsten Schritt.
Das Flugzeug jedoch offensichtlich nicht.
Um die Flugangst zu mildern, massierte Georgie sich einen Tropfen Melissenöl in die Schläfen. Die Stewardess kam und bot ihr etwas zu trinken an, doch Georgie lehnte dankend ab.
„Wann starten wir denn endlich?“
Gewöhnt an Flüge in der Economyklasse, rechnete Georgie nicht wirklich mit einer Antwort, denn dort wäre die Stewardess längst weitergegangen. Sie hatte vergessen, dass sie in der ersten Klasse saß.
„Wir müssen uns für die Verspätung entschuldigen, da ist noch ein Passagier in letzter Minute hinzugekommen. Er müsste gleich hier sein …“
Selbst in der ersten Klasse gab es wohl eine Rangordnung, denn die lächelnde Stewardess wandte sich ab und eilte den Gang entlang. Neugierig, wer der Verantwortliche für die Verspätung sein mochte, folgte Georgie ihr mit dem Blick, und ihr Herzschlag setzte aus.
„Euer Hoheit.“ Die junge Frau sank in einen Hofknicks, doch der Mann schob sich wortlos an ihr vorbei. Selbst der beherrschten Flugbegleiterin gelang es nicht ganz, das Stirnrunzeln zurückzuhalten.
Er trug eine schlammbespritzte Reithose und einen dunklen Pullover. Rastlose Energie ging von ihm aus und füllte die gesamte Flugkabine. Er reagierte weder auf die Stewardess noch sah er in Georgies Richtung. Es schien, als steuere er direkt auf das Cockpit zu. Nur wenige Meter davor wandte Ibrahim sich um und verschwand in einer Privatsuite.
Einen Moment später eilte ein Steward den Gang entlang, ein Tablett mit Cognacflasche und – schwenker in der Hand, und klopfte an die Tür.
Georgie wollte aufspringen, wollte das Flugzeug, das jetzt über die Startbahn rollte, aufhalten, um wieder auszusteigen. Sie würde es nicht ertragen, gleichzeitig mit ihm im Palast zu sein.
Sie merkte nicht einmal, dass das Dinner serviert wurde, ihre Gedanken drehten sich allein um den hinzugekommenen Passagier.