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©Paul Riedel, München 2021

Printed in Germany

Erste Auflage 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Paul Riedel

Umschlag: © Paul Riedel, München 2016 Lektorat: Michael von Sehlen

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7534-5045-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Selten sieht man die Konsequenzen einer Auswahl voraus. Hätte man diese im Vorhinein gesehen, wäre die Geschichte der Menschheit nicht so brutal und voller Fehlentscheidungen abgelaufen.

Die Entscheidung, ob wir unser Leben nach dem Pfad der Wissenschaft oder nur nach Konfessionen ausrichten, wird aber meistens zu früh im Lebenszeit getroffen.

Ist dieser Entschluss einmal erreicht, sind alle weiteren Schritte im Leben von einer freien Wahl ausgeschlossen.

Gerne meidet man die Verantwortung für die Folgen der eigenen Handlung, insbesondere wenn man selbst darin einen Fehler erkennt.

So ergeht es vielen, die ihr Schaffen in den Dienst der Heilungsdienste stellen. Sei dies für die körperliche oder seelische Gesundheit. Die Medizin hat zwar in den letzten sechzig Jahren viele Fortschritte erreicht, doch angesichts der Ohnmacht dieser Branche bei Epidemien, Geburten und anderen Herausforderungen, muss man erkennen, dass wir umso mehr Fortentwicklung benötigen.

Während wir auf Lösungen der Wissenschaft warten, bleibt für einige von uns nur die Hoffnung auf das Unbekannte.

Diese Erwartung wird durch Befolgen von Religionen oder der Flucht in Optimismus befriedigt, sogar wenn unsere Ratio dieser Sicht auf eine Erlösung widerspricht.

Viele kritisieren diejenigen, die sich an Religionen orientieren, aber bieten den Leidenden keinen Trost.

Wenn wir uns bewusst sind, dass die Wissenschaft Zeit braucht, leidende Menschen Unterstützung benötigen, was hindert, uns dann Erbarmen zu zeigen?

Wir sollten uns fragen, ob mit der Orientierung unserer Gesellschaft Geld, Gier und Wucher ein Fehler begangen wurde.

Diese ist eine Geschichte über Verzweifelte und jene, die meinen, für das Rationale zu kämpfen.

Wer diesen Krieg gewinnen wird, wissen wir nicht, aber eins ist unvermeidlich: Auf beiden Seiten wird es Opfern geben.

Durch mich

gelangt man in die

Stadt der Schmerzen,

Die leeren Räume eines Studiosenders in Schwabing wirkten im Licht des grauen Tages bedrückend und kalt. Das Jugendstilgebäude beherbergte viele Fernsehagenturen, das Studio und andere kleine Büros in Räumen, die einstmals von noblen Figuren der Stadt bewohnt wurden. Das Fehlen der Menschen, die hier im Semper-TV ständig in den letzten Jahren die Nachrichten schrieben und vorbereiteten, war beunruhigend. Das Studio strahlte täglich lokale Meldungen aus, was das Überleben in Krisenzeiten garantierte.

Nur zwei Männer saßen zusammen im Besprechungsraum des Senders, der durch die Abwesenheiten von Catering und Assistenten größer wirkte als sonst.

Das moderne Mobiliar war bis Januar immer mit Säften, Knabbereien und ausreichend Büromaterial für die Kreative Meetings belegt. Seit März war wegen der Corona-Pandemie nichts mehr davon zu sehen.

„Wir müssen weiter senden. Die Produzenten haben zu viel investiert, und sie überwachen deren Investitionen sehr genau.“ Sagte ein hoch gewachsener Mann, der Anzeichen von Stress aufzeigte. Großen Statur wies er ebenso markante Breite auf. Durchtrainierte Schultern füllten ein Designer Hemd, eine dunkellila Hose betonte seinen langen Beinen. Seine blauen Augen glänzten unbekümmert.

„Kjell, was sollen wir weiter senden? Wir haben keine Reporter mehr im Büro. Alle wurden in Kurzarbeit geschickt. Die Kosten sind immer noch hoch, und unsere Werbeeinnahmen können irgendwann zusammenbrechen. Unsere Sponsoren werden diese Pandemie ebenso wenig überleben wie wir, wenn wir weitere Einschränkungen bekommen. Alle möglichen Mitarbeiter sind in Kurzarbeit.“ Sagte sein Kollege, der ihm gegenübersaß. Ein kleiner, aber markanter Mann indischer Herkunft mit bemerkenswert gutaussehender Haut und wohlproportionierten Formen. Er sah wie ein Bollywood-Star aus und genoss nicht nur die Bewunderung aller Kollegen.

„Die Geschichte, die wir reinbekommen haben, mit dieser Frau im Park scheint interessant zu sein, und endlich haben wir etwas anderes zu berichten als über Corona. Wir haben über Corona und die amerikanischen Wahlen bereits so oft berichtet, dass ich nicht mehr weiß, wer überhaupt noch Interesse an steigenden Zahlen von Infizierten und Toten haben soll.“ Kjell prüfte sein Aussehen in der Verspiegelung an der Wand des Besprechungsraums. Vardan schaute mit leicht verächtlich auf dem Chef und hätte beinah über die Vorstellung gelacht, dass der Spiegel diesen wie auf dem Jahrmarkt verformte. Kjells Besessenheit mit dem perfekten Körper war für Vardans pragmatischen Charakter ein kaum akzeptabler Makel.

„Ja, das habe ich gelesen. Wir müssen Agnes oder Gerold damit beschäftigen. Sie sind die Ältesten im Sender und wir dürfen sie weder kündigen sie in Kurzarbeit schicken. Befehl von oben.“ Vardan las die Details über die Frauenleiche, die am Leopoldpark gefunden wurde.

„Du übersiehst, dass sowohl Agnes als auch Gerold Risikogruppen angehören. Wenn sie an Corona erkranken, werden wir bestimmt eine Menge Kosten übernehmen müssen. Berufsrisiko, Versicherung und klar, Gerold ist gesund unerträglich, krank wäre er mehr als ein Albtraum“, warnte Kjell, während er seinen Haaransatz überprüfte.

„Was interessiert uns das? Das ist deren Problem. Ich habe beide gebeten in Frührente zu gehen und jüngeren Mitarbeitern eine Chance zu geben, aber beide sind absolut stur und unkooperativ“, monierte Vardan. Kjells Balzverhalten vor dem Spiegel steigerte sich, als er seinen Schritt prüfte und nach Seitenwechsel die Auswirkung im Spiegelbild des Fensters begutachtete.

„Schick beide auf diese Story und lass sie beide sich richtig fetzen. Danach schmeißen wir beide raus. Sie können sich gegenseitig nicht ausstehen, habe ich von der Leiterin des Produktionsgremiums gehört.“ Kjell setzte sich breitbeinig vor seinen Kollegen, der sich etwas unwohl diskret zur Seite drehte.

„Aber sie arbeiten lange hier im Sender zusammen. Warum können sie sich nicht ausstehen?“, fragte Vardan.

„So wie sie mir zugetragen hat, hat Gerold Agnes mit der Moderatorin der Nachmittag-News betrogen. Ich weiß nicht wer diese sein sollte. Aber in deren Alter sollte Eifersucht kein Thema mehr sein, oder? Wer hat mit einer sechszigjährigen Frau noch Sex?“ Kjell war alles ander als feinfühlig und seine Kommentare selten wert angehört zu werden. Vardan kämpfte immer mit seinem Gewissen, um nichts zu sagen und die Hierarchie zu respektieren.

„Das weiß ich nicht, aber es ist auch kein Thema, oder? Wenn sie sich streiten, wird dies auch auf die Qualität der Reportage Auswirkung haben“, sagte Vardan sachlich.

„Beide sind zu teuer und hätten unsere Vorgänger sich von beiden damals getrennt, als noch eine Chance dazu bestand, wären wir heute nicht in dieser Situation. Das alte Management ist mit einem Haufen Geld abgezogen und hat uns diese beiden vererbt. Gerold ist in vier Jahren endlich Rentner, aber Agnes bleibt uns weitere acht Jahren erhalten“, sagte Kjell nachdenklich. Für ein Moment wollte er erneut aufstehen, um sein Aussehen nochmals zu betrachten, aber Vardans Seitenblick verunsicherte ihn.

„Trotzdem, wir haben niemand mehr und ich bin der Ansicht, dass Agnes das allein hinbekommt“, insistierte Vardan.

„Gut mach das. Aber wenn sie das nicht hinbekommt, wird meine Freundin die Reportage übernehmen“, informierte Kjell.

Vardan stand Beziehungen im Büro ablehnend gegenüber. Er war der Ansicht, dass Privates und Berufliches nahezu völlig getrennt sein sollten. Er verstand ebenfalls, dass Kjell keine Freundin, aber eine Anbeterin brauchte.

„Ah! Ist das jetzt offiziell?“, fragte Vardan.

„Ich hoffe, du verstehst, dass wir auch an die Zukunft des Senders denken müssen, und nur mit alten Menschen zu arbeiten, ist eine sehr zeitbegrenzte Zukunftsaussicht. Wenn Du verstehst, was ich meine.“ Kjell versuchte, witzig zu klingen, was ihm misslang.

„Gut. Ich sage ihr Bescheid.“

„Mach dir keine Gedanken. Die Produzenten brauchen uns, und die Entscheidung, uns zu ersetzen, wenn wir nichts Neues bringen, ist nur ein Wutausbruch eines diesen alten Menschen. Es kann nicht so eintreffen, wie sie geschrieben haben.“ Kjell klang überzeugend, aber seine Augen lieferten eine andere Botschaft.

Vardan bewegte sich durch die grauen unterbelichteten Räume. Dabei betrachtete er die verödet Arbeitstische mit einem Gefühl des Verlusts.

„Wird mein Tisch der nächste leere Platz hier sein?“

In seinen Händen hielt er ein Foto von einer Frau im Leopoldpark, die einige Menschen umgaben. Alle schauten zu ihr zu Boden. Entsetzen, Machtlosigkeit und Verzweiflung stand jedem der Anwesenden im Gesicht. Nur eine der Personen, eine Frau im gleichen Alter wie das Opfer, unterschied sich von allen. Eine lächelnde Dame, die zur Zeit des Geschehens zur Gruppe sprach. Doch der Grund ihres Lächelns schien für sie der Vergangenheit anzugehören, wie auch der leeren Blick im Augen des Opfers, welche am Boden lag.

„Was soll ich denn tun?“, überlegte Vardan leicht betrübt.

Tränen stiegen dem grauhaarigen Mann in die Augen, als er zum Spiegel schaute.

In seiner linken Hand hielt er einen Brief an Herrn Heinrich Bergstrom, wie er selbst hieß. Sein Magen schmerzte, und er bekam das Gefühl, er würde erneut erbrechen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, und er holte den Brief wieder hervor.

Das Blatt hatte er bereits ein paarmal zusammengedrückt, und einige Teile des Berichts waren sogar nicht mehr lesbar.

Es war klar, dass seine Blutwerte und die Zusammenfassung seines Onkologen bestens begründet waren.

Weniger als ein Jahr“, sagte er in Gedanken zu sich selbst.

Zu schwach für eine Therapie, zu arm, um gerettet zu werden“, verstand er.

Er lief wieder zum Wohnzimmer seins Appartements und schlug die Badezimmertür heftig hinter sich zu.

Auf einer alten Kommode standen Kerzen, goldene Teller und andere Objekte vor einer Hindufigur aus unbestimmter Herkunft. Für diejenigen, die sich damit nicht auskannten, war es nur Dekor. Für alle anderen ein Altar.

Dort nahm er einen blauen Flakon und hielt diesen mit beiden Hände fest. Er entfernte den Verschluss der Flasche und roch die billigen, mit Ethanol vermengten Essenzen.

Er erkannte, dass keine Wissenschaft oder Logik seinen Altar erklären könnten, aber der Zweifel am System und seine Ratlosigkeit brachten ihn in diese Situation.

Er sprühte vom Inhalt des schamanischen Pomanders dem Wolfsblut um sich in die Luft, wie auf dem Aufkleber des Flakons zu lesen war.

Das Aroma stieg ihm in die Nase, und er überlegte kurz, dass dies eher dem Urin des Wolfs ähnelte als anderen Säften des Tieres.

Sie meinte, dass ich überleben kann, wenn ich fest daran glaube.

„Home-Office, bäh.“ Fluchte laut eine, über fünfzig Jahre alte Frau. Dynamisch bis zum Übermut, und widerspenstig wie seit ihre Jugend. Sie lief hin und her in ihrem Arbeitszimmer, wo sie für den Sender Semper-TV zur Verfügung stand.

„Wenn ich wieder einen Haufen Zeitungsbeiträge zum Lesen und Klassifizieren bekomme, gebe ich auf“, monierte Sie.

Sie prüfte ihren Rock und stellte fest, dass sie wieder zugenommen hatte. Ohne Bewegung und den ganzen Tag in der Erwartung einer Aufgabe fühlte sie sich immer wieder zum Kühlschrank hingezogen. Sie mied Zucker und Fett, aber sie empfand, als sei sie zu einem Magnet für alle andere Kalorien geworden.

„Oh! Etwas Neues. Steigende Zahlen von Infizierten, Toten und Arbeitslosen“, macht sie sich über ihre Situation lustig.

Sie hielt ihren Arbeitstisch penibel sauber für den Fall, dass sie wieder einen Video-Call, oder ein Interview sendete. Seit zwei Tagen wiederholte sie nur Nachrichten aus den Vereinigten Staaten, und das war für sie ausgesprochen langweilig. Mitten in diesen Gedanken wurde sie aus ihrer Unruhe, durch das Schrillen des Telefons herausgeholt.

„Um Himmels willen.“ Sie fasste sich vor Schreck auf der Brust und bewegte sich in Richtung des unheimlichen Apparats.

Ich muss diesen Ton mal ändern“, nahm sie sich auf dem Weg dorthin vor.

„Agnes Mohr am Telefon.“ Sprach sie mit klangvoller und einnehmender Stimme. Diese Selbstvorstellung trug sie gerne ungeheuer dramatisch vor. Sie hoffte auf einen Bewunderer, jemand, der sich ein Autogramm wünscht oder einen Hinweis zu einer tatsächlichen Reportage.

„Hallo Agnes, hier ist Vardan“, sagte sich fast entschuldigend ihr Manager.

„Ach ja. Wie lange werde ich in diesem Kerker festgehalten? Ich muss raus. Gib mir etwas zu tun“, flehte sie.

„Ja. Ich war bei Kjell.“ Vardans Stimme klang etwas deprimiert. Er kam als Baby mit seiner Familie aus Indien und wuchs in Deutschland aus. Ihm fehlte das Selbstbewusstsein, das bei Kjell zu ausgeprägt war, überlegte Agnes, dabei nahm sie auf dem Sofa Platz. Sie mimte Vardans Gesichtsausdruck in Zeichen des Protests und der Missbilligung seiner Haltung.

„Was für ein Wurm“ bewertete sie.

„Denkt er wieder, mich mit einer Intrige aus dem Sender rauszuwerfen?“, konfrontierte Agnes ihn und setzte eine Pause, damit er seine Worte genauer überlegte.

Vardan kannte ihre Wutausbrüche und war immer vorsichtig, wenn er sich mit ihr unterhielt.

„Er wird dich niemals rauswerfen. Er ist mindestens schlau genug, sich mit den Investoren nicht anzulegen, und er ist sich deines Einflusses bewusst.“

Gut gekontert, jetzt raus mit der Sprache, du mieser Kriecher.“ Agnes hätte ihn gerne ausgeschimpft, aber sie hielt es für besser, ihn nicht wieder zu erschrecken.

„Es ist diese Frau im Park, die tot umgefallen ist. Die Presse munkelte, dass sie Corona hatte und viele infiziert hat. Traust du dich, das zu untersuchen? Kjell will, dass wir dies möglichst bald im Programm haben. Und wenn sie nicht Corona hatte, werden wir uns als saubere Presse bezeichnen. Es geht darum unsere Zuschauer weiter mit abweichenden Nachrichten zu unterhalten. Alle sitzen zu Hause und können nicht mehr jeden Tag das Gleiche hören.“ Vardan fuchtelte mit seinen Händen, vermutete sie, weil seine Stimme unterschiedliche Entfernungen zum Apparat erkennen ließ.

„Klar, mache ich gerne. Ich muss aus dem Haus, und ich hätte alles gegeben, um etwas zu arbeiten. Ich hätte es dir auch per E-Mail beantworten können. Schickst du mir die Daten?“, bat sie.

„Habe ich bereits getan. Sie hieß Katharina Gorny. Ich hätte gern, dass Tinu während der Recherche deine Sendung übernimmt. Sie ist neu, aber auch sie muss irgendwann mit den Größten lernen.“ Die Schmeichelei besänftigte Agnes. Kjells Versuch die neue Mitarbeiterin an ihrer Stelle in die Nachrichten einzuschleusen misslang mehrmals.

„Vardan, lass es bitte sein. Dieses billige Flittchen hat Kjell in einer Absteige kennengelernt, und was sie im Vorstellungsgespräch geleistet hat, damit er sie einstellt, wollen die Götter nicht wissen. Sie ist nicht ehrlich, und das hat mich bereits gewarnt. Ich habe noch nicht alles über sie herausgefunden, aber es dauert nicht mehr lange. Ich kann es nicht fassen. Nur weil sie jünger ist und mit dem Hintern mehr als jede Hure in der Piazza Pascale in Rom wackelt, macht sie dies nicht zu einer Reporterin.“ Agnes sprach in Wut, und Speichel bildete sich im Überfluss, wodurch sie klang, als würde sie bald ersticken.

„Beruhige dich. Sie ist keine Reporterin, sie ist nur Moderatorin. Du hast eventuell ein falsches Bild von ihr. Lassen wir das Thema, aber ich will nicht, dass du zu den Aufnahmen zu spät kommst. Wir haben kein Geld für Verspätungen.“ Vardan versuchte, sich vor einem weiterer ihrer Ausbrüche zu retten, und war dabei sich zu verabschieden, aber Agnes unterbrach ihn.

„Dass du sie noch verteidigst und mit solchen billigen Tricks ...“

„Schatz, tut mir leid. Das Auto fährt in einen Tunnel.“ Er legte auf und ließ sie weiterfluchen.

Arschloch. Er hat kein Auto.

Agnes öffnete ihr Laptop und sah ihr Gesicht auf dem ausgeschalteten Bildschirm widerspiegeln. Trotz Make-up und die vielen dermatologischen Behandlungen, war ihr schlimmster Feind die Zeit, die ihr jeden Tag näher kam und ihr eine neue Falte hinzufügte oder vorhandene vertiefte. Ihre grauen Strähnen wandelten sich von einer eleganten Verzierung in ihrer Frisur zu einer Last.

Hoffnung war das Letzte, was sie zurzeit besaß.

Ein Flakon traf den Spiegel an der Wand, gefolgt von einem Schrei. Heinrich Bergstrom sank auf seine Knie und er verlor seine Stimme. Fast erstickte er an seinem Schluchzen. Ein Stöhnen versuchte, sich durch seine eingedrückte Kehle zu drängen, aber mehr als alles litt seine Seele am Schmerz der Wahrheit, die er bisher er verleugnet hat.

Der März war kalt in München, und die Menschen waren weg. Dieser Zustand in der Stadt setzte ihm zu, und seine Depression übernahm das Zentrum seines restlichen Lebens.

Vor seinen Augen liefen die letzten Monate ab. Es begann alles harmlos mit einem Gefühl von einem Brotkrümel am Hals, und die Ärzte haben nur eins von ihm gewollt, seiner Versichertenkarte.

Keiner außer meine Heilerin interessiert sich ein Dreck über meine Genesung. Nur meine Asuma1“, monierte er resigniert.

Der Raum um ihn schien zu glimmern. Die Lichter waren nicht gelblich wie sonst. Sie übernahmen einen Lilaton in der Umgebung.

Seinen Magen war wie leer, aber Hunger hatte er nicht, und er empfand den Aufwand für Essen als vergeudete Zeit. Er hievte sich hoch und versuchte, Kontrolle über seinen Ausbruch zu bekommen. Aber seine Enttäuschung mit Ärzten, Hilfsgruppen und seine Familie kam blitzartig in seine Erinnerungen und erlaubte ihm nicht, sich abzuregen.

„Ich habe selbst die Vibrationen zu deinem Pomander vorgenommen“, hörte er, wie die Heilerin Fenja einmal zu ihm sagte. Vor seinen Augen waren nur ihre rosa bemalten Lippen zu sehen.

Ein Mensch produziert keine Vibrationen“, sagte sein rationales System. Er war mal ein hochqualifizierter Ingenieur. Wenige könnten dies besser wissen als er selbst.

Er schaute auf die Kommode und nahm den zweiten Flakon. Diese waren in Reihe angeordnet, sie sahen wie Zinnsoldaten aus. Der Aufschrift ‚Cannabis-Extrakt‘ wurde durch pseudo-pharmakologische Abkürzungen aufgewertet, die etwas Nichtssagendes geheimnisumwoben erscheinen ließ.

Er tropfte sechs Tröpfen unter die Zunge und lief mühsam zum Sofa. Er nahm Schreibblock und Kugelschreiber. Er wischte eine Träne ab und schaute sich in der Wohnung um.

Keiner hat mich je geliebt“, stellte er fest.

Er erkannte, dass seine erfolgreiche Karriere ihm jede Chance für eine Liebe genommen hatte, und letztendlich die gleiche wird ihn das Leben nehmen. Sein Krebs war vermutlich eine Folge von ständigen Mikroverletzungen an seiner Kehle, die er sich in verschiedenen Minen, wo er immer wieder war, geholt hatte.

In seinen Bücherregalen standen zahlreiche Bücher über Depression und Methoden, diese zu bekämpfen. Dort waren ebenfalls Prospekte von Ärzten und Hilfszentren. Das positive Denken machte die Annahme von Hilfe unmöglich. Dies war seine Therapie, die ihn übermütig und weniger empfänglich für sein eigenes Selbsterhaltungssystem machte.

Er listete seine Aufgaben, die er noch zu erledigen hatte, bevor das Unvermeidliche seines Leidens kommen würde.

„Für jeden kommt ein Ende“, drängte sich der Gedanke in sein Gehirn.

Er trank den halben Flakon des Cannabis Extrakts, da er keine Wirkung spürte.

Eine Stunde lang schrieb er auf dem Block, ohne genau auf die Worte zu achten. Es war so, als strebte er nur an, die letzten Tage seines Lebens sinnvoll zu verbringen.

Der Raum verdunkelte sich, als die Wirkung des Cannabis Extrakts einsetzte. Er stand auf, holte sich die Flasche und ließ die Flüssigkeit in seinen Mund rinnen.

„Was kommt als Nächstes?“, hörte er die Heilerin Fenja sagen. Nur ihre Lippen bewegten sich vor seinen Augen.

Zurzeit der Corona-Pandemie entdeckte man die Net-Meetings. Wie zu erwarten war, sind sämtliche Experten zu diesem Thema aus allen Ecken erschienen und berichteten über Erfahrungen, die bis zum Mittelalter reichten. Ungeachtet, dass die wiedergegebene Erkenntnisse kaum wahr sein könnten und die technischen Voraussetzungen absolut unreif waren, befürchtete das gesamte Management, den Job los zu sein, wenn sie die Wahrheit ausgesprochen hätten.

„Agnes ist, wie sie ist, Kjell“, sagte eine blondierte Frau vor einer der Kameras in dem Net-Meeting. Ihr Oberteil war viel zu freizügig für diese Jahreszeit, und goldener Schmuck präsentierte sich um ihr Hals und am Ohr. Sogar bei Sticheleien lächelte sie zauberhaft, und bei den passenden Zuschauern, wie Kjell einer war, wirkte sie betörend, wie er unüberhörbar meinte.

„Tut mir leid Tinu, aber sie ist hier seit vielen Jahren unser Star. Sie hat etwas mehr Respekt verdient.“ Vardan hielt viel von Agnes Arbeit, und die frecher Art des Mädchens fand er inakzeptabel. Tinus wahrer Name war Christina, aber sie verlangte, dass alle sie mit einem erfundenen Pseudonym ansprechen. Angeblich hätten Brasilianer sie so während eines Urlaubs genannt.

„Ich wäre gerne dabei gewesen. Da seht ihr, dass sie, wie ich immer sage, eine Furie ist. Sie ist arrogant, unkooperativ und gefährlich.“ Ein glatzköpfiger Mann Ende Fünfzig lachte und jubelte vor der Kamera und täuschte gutherzig Laune vor.

„Gerold, du übertreibst. Wir haben uns nicht für solche Tratschen verabredet, sondern um zu überlegen, wie wir mit reduziertem Personal die Sendung belegen. Wenn wir weitere Ausfälle, Verspätungen oder Wiederholungen spielen, kürzt uns die Produktion das Geld.“ Kjell klang sachlich, derweil Tinu versuchte, die Kamera anders zu positionieren, damit man nicht erkennen konnte, dass sie eigentlich in Kjells Wohnung saß.

„Ich kann gerne die Sendung moderieren. Es ist so wieso nur den Teleprompter ablesen, und das kann ich.“ Tinu gab sich selbstsicher und rechnete mit Kjells Zustimmung. Semper-TV hatte nur die täglichen lokalen Nachrichten und einzelne Projekte, daher war die Konkurrenz zum Nachrichtensprecher auch nicht neu im Sender, aber keiner der Manager war in der Lage dies je abzustellen.

„Schätzchen, die Aufgabe besteht aus mehr als dem, was nur ablesen benötigt, um unsere Arbeit professionell durchzuführen. Wenn unsere Arbeit zu machen so einfach wäre, hätten wir einen Papagei engagiert“, warf Gerold leicht irritiert ein.

„Oh, oh. Agnes ist eine Furie, so, so. Wen wundert es“, kommentierte Tinu parallel zu Vardan gerichtet. Sie schien nicht sonderlich begriffen zu haben, dass alle sie gleichermaßen hören konnten.

„Tinu geht zum Studio um bei Bedarf einzuspringen. Ich weiß nicht wie lange Agnes mit der Recherche unterwegs sein wird. Es scheint interessant zu sein, was wir hereinbekamen. Eine Frau ist mitten in einem Vortrag der Corona Skeptiker zusammengebrochen. Viele vermuten, dass sie selbst krank war, und andere sagten, dass sie zu alt war und dies normal sei. Egal wie, wenn wir daraus eine Sensation in der Presse bringen könnten, würden wir unseren Zuschauern etwas Neues bieten, und die Produzenten würden uns nicht mehr unter Druck setzen.“ Kjell versuchte, allen die Lage zu erklären, aber insbesondere befürchtete er, seinen Job zu verlieren. Im derzeitigen Arbeitsmarkt wäre er verdammt, als arbeitslos zu vegetieren, da ihm bewusst war, dass in seinem Lebenslauf die Hälfte der Angaben aus wohlformuliertem Eigenlob bestand.

Gerold schaute auf die Details im Hintergrund der Kollegen im Net-Meeting. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte er ein Poster an der Wand hinter Tinu. Es war ein Plakat zum Relaunch seiner Sendung vor zwei Jahren, das er Kjell schenkte, als dieser zu Semper-TV kam. Dies war klar seine Wohnung. Seine Ohren folgten zwar weiter der Diskussion, aber seine grauen Zellen begannen heftig zu arbeiten und die Konstellation im Sender zu kombinieren.

„Darf ich bereits über die Untersuchung des Vorfalls im Leopoldpark berichten?“, versuchte Tinu sich in Agnes Projekt einzumischen.

„Wenn du das machst, werde ich auf deinem Begräbnis nur sagen, dass ich dich gewarnt habe“, intrigierte Gerold.

„Was soll das? Sie ist eine Mitarbeiterin des Senders wie jeder von uns“, sagte Tinu in einem Anfall dramatischen Jähzorns.

„Liebes, rede nicht über etwas, das du nicht kennst“, kontert Gerold.

„Danke Tinu. Wir sehen uns später im Studio, und du musst nichts anderes tun, als den Teleprompter abzulesen, falls Agnes nicht kommt. Und wenn sie kommt, verschwindest du durch die hintere Tür.“ Vardan schaltete Tinus Verbindung ab.

„Ich glaube, sie wollte noch etwas sagen“, monierte Kjell.

„Du kannst sie fragen, wenn du zum Wohnzimmer gehst“, gab Gerold seine Erkenntnis preis und schaltete seine Verbindung ab.

Der verfallende Mann zog seine beste Kleidung an. Er hatte keine große Auswahl mehr, aber er prüfte im Spiegel und war mit dem Ergebnis zufrieden. Der Cannabis-Extrakt hatte ihn etwas benebelt und seinen Magen mehr verdorben als die Arzneien, die er von seinem Arzt verschrieben bekam.

Mit verhaltener Eleganz bewegte er sich zur Küche und holte alle Heilmittel in einer Plastiktüte.

„Medikamente sind Gifte für die Umwelt“, beschwor eine Stimme in seinem Bewusstsein.

Seine Beine wurden wackelig. So entschied er sich, langsamer, aber gefahrlos zu flanieren.

An der Treppe des Altbaus schaute er zur Sicherheit, dass seiner Wohnungstür hinter sich abgeschlossen wurde.