Revolte in Chile
Aufbruch im Musterland des Neoliberalismus
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Sophia Boddenberg
Revolte in Chile
1. Auflage, Oktober 2020
eBook UNRAST Verlag, Februar 2021
ISBN 978-3-95405-076-5
© UNRAST Verlag, Münster
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Umschlag: Felix Hetscher
unter Verwendung einer Illustration von Loreto Góngora
Satz: Andreas Hollender, Köln
Zur Einführung
»Evade!«
Das neoliberale Experiment
30 Pesos, 30 Jahre
Ein mächtiger Feind
Chile ist aufgewacht
Der Kampf um Land und Wasser
Von der Nachbarschaftsversammlung zur verfassungsgebenden Versammlung
Ein Ausblick
Anmerkungen
Mi especial agradecimiento a quienes me dieron su apoyo y aportes para
este libro, sin ustedes no hubiese sido posible.
En memoria de aquellas y aquellos que dieron sus ojos y sus vidas
luchando por una sociedad justa.
Sophia Boddenberg lebt seit 2014 in Chile und arbeitet dort als freie Journalistin für verschiedene deutschsprachige Print- und Onlinemedien sowie für den Hörfunk. Sie hat in den letzten Jahren über die sozialen, ökologischen und politischen Konflikte berichtet, die das neoliberale Wirtschaftsmodell in Chile verursacht hat. Den Aufstand, der am 18. Oktober 2019 begann, hat sie von Anfang an begleitet – als Journalistin und als Teilnehmerin.
»Chile ist eine Oase im unruhigen Lateinamerika«, sagt Präsident Sebastián Piñera Anfang Oktober 2019. Zwei internationale Großveranstaltungen will er zum Ende des Jahres in der Hauptstadt Santiago ausrichten: Das Gipfeltreffen des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums APEC im November und die UN-Klimakonferenz COP25 im Dezember.
Chile gilt als Musterland Lateinamerikas: Konstantes Wirtschaftswachstum, niedrige Kriminalitätsraten und moderne Infrastruktur haben zu dem guten Ruf des schmalen Landes an der Pazifikküste beigetragen. 2010 wurde es als erstes südamerikanisches Land Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen sind die Chilen*innen die Reichsten des Kontinents. Niedrige Steuern und laxe Umweltgesetze machen das Land zum Paradies für internationale Investoren und transnationale Unternehmen, denen der Staat bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen freie Hand lässt.
Aber die schillernden Zahlen verstecken die Schattenseite des chilenischen Wirtschaftsmodells. Chile ist eines der OECD-Länder mit der höchsten Kinderarmutsrate[1] und dem höchsten Anstieg von Suiziden unter Jugendlichen.[2] Im Jahr 2018 sind knapp 26.000 Menschen gestorben, während sie auf der Warteliste der öffentlichen Krankenhäuser auf eine Behandlung gewartet haben.[3] Die Lebenserwartung einer Frau, die in einem Armenviertel in Santiago de Chile aufwächst, ist 18 Jahre geringer als die einer Frau, die in einem wohlhabenden Viertel lebt.[4]
Chile gehört zu den zehn Ländern der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit. Einer Studie der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) zufolge konzentriert ein Prozent der Bevölkerung knapp ein Drittel des Reichtums, zehn Prozent sogar zwei Drittel.[5] Der Gini-Index, der den Grad der Ungleichheit der Einkommensverteilung misst, liegt Zahlen der Weltbank zufolge in Chile bei 44,3 und ist damit sogar höher als jener der USA.[6] Eine Studie der gewerkschaftsnahen Fundación Sol zeigt, dass die Hälfte der chilenischen Arbeiter*innen weniger als 400.000 Pesos (ca. 450 Euro) im Monat verdient (etwa 6.000 US-Dollar im Jahr).[7] Nur knapp sechs Prozent verdienen mehr als 1.500.000 Pesos (ca. 1.650 Euro) im Monat (etwa 23.000 US-Dollar im Jahr). Das jährliche Pro-Kopf-Haushaltsnettoeinkommen von 24.600 US-Dollar spiegelt also nicht die Realität des Großteils der Bevölkerung wider. »Die Reichen in Chile verdienen so viel wie die Reichen in Deutschland und die Armen so viel wie die Armen in der Mongolei«, sagte der Ökonom der Weltbank Branko Milanovic im Juni 2020 in einem Interview mit der BBC.[8]
Die Löhne sind nicht nur niedrig in Chile, sondern die Lebenshaltungskosten sind auch sehr hoch. Die Privatisierung der sozialen Grundversorgung hat dazu geführt, dass viele sich verschulden müssen, um Arztbesuche, Schul- und Studiengebühren sowie teure Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen. Mehr als 80 Prozent der über 18-Jährigen sind verschuldet.[9]
Auch mit der Zahlungsunfähigkeit wird ein Geschäft gemacht: In fast jedem Supermarkt und Kaufhaus wird eine Kreditkarte angeboten. Ende 2018 sind mehr als 9,5 Millionen Kreditkarten im Einzelhandel mit Schulden registriert.[10] Dazu gibt es hohe Zinsen und Gebühren, sodass viele nicht in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen. Über 4,6 Millionen der 18,7 Millionen Einwohner*innen sind im Zahlungsverzug.[11] Der enorme Stress, den die Schulden verursachen, spiegelt sich in den hohen Depressions- und Selbstmordraten wider. Fast jede*r fünfte Chilen*in leidet unter Depressionen, das sind mehr als in allen anderen Ländern Lateinamerikas.[12] Chile ist das Land mit der zweithöchsten Selbstmordrate unter Jugendlichen in der OECD.[13]
Im Oktober 2019 erreicht die Verschuldung der Chilen*innen ein historisches Niveau: Die Haushalte sind mit 74,3 Prozent ihres verfügbaren jährlichen Einkommens verschuldet.[14] Gleichzeitig steigen die Strom- und Wasserpreise an, genauso wie Benzinpreise, Mautgebühren und die Fahrpreise der Metro, der U-Bahn in Santiago. Am 18. Oktober 2019 explodiert die Situation.
Die Wut über die Demütigung und Entwürdigung durch die Unternehmer*innen und Politiker*innen schlägt sich auf den Straßen nieder. Die rebellierenden Chilen*innen reißen Ampeln aus dem Asphalt und werfen sie in Barrikaden, die sich in Lagerfeuer verwandeln, um die getanzt wird. Es ist eine politische Wut, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse und gegen das neoliberale Wirtschafsmodell richtet, das während der Pinochet-Diktatur mit Gewalt eingeführt und anschließend von den demokratischen Regierungen verwaltet wurde. Es ist ein Modell, von dem eine kleine Elite profitiert hat, unter dem aber der Großteil der Bevölkerung leidet. Die wichtigsten Aufstände in der Geschichte entstanden nicht aufgrund politischer Ideen, sondern resultierten aus der Wut der Bevölkerung, schreibt Éric Hazan in seinem Essay Die Dynamik der Revolte.[15]
Wenn man den spanischen Begriff indignación (Empörung) betrachtet, fällt auf, dass darin das Wort dignidad (Würde) steckt und das lateinische Präfix »in« (ohne). Die indignación, die Empörung, beschreibt also auch die Entwürdigung. Und genau das fordern die Menschen auf den Straßen Chiles im Oktober: Würde. Denn der Neoliberalismus hat ihnen ihre Würde genommen. Hasta que la dignidad se haga costumbre, »bis die Würde zur Gewohnheit wird«, wird zu einer der Parolen. Die Plaza Baquedano, auch Plaza Italia genannt, die zum Treffpunkt der Proteste in der Hauptstadt Santiago wird, nennen die Demonstrant*innen Plaza de la Dignidad, Platz der Würde. Von dort aus breiten sich die Proteste im ganzen Land aus.
Schnell wird von der »Oktoberrevolution« gesprochen. Die chilenischen Fernsehsender und die Regierung etablieren schließlich den Begriff estallido social, soziale Explosion. Andere sprechen von der revuelta, der Revolte. In deutschen Medien wird häufig nur von Protesten gesprochen. Was im Oktober in Chile passiert, ist mehr als ein Protest, es ist ein Aufstand gegen die bestehenden Verhältnisse, aber noch keine Revolution, denn es ist noch nicht zum Umsturz gekommen. Ich habe mich deshalb für den Begriff Revolte als Titel dieses Buchs entschieden.
Die chilenische Revolte hat keine Anführer*innen und keine Avantgarde. Was für manche ihren Schwachpunkt darstellt, könnte auch ihre Stärke sein: Dank ihrer horizontalen und kollektiven Struktur hat die Bewegung es geschafft, so lange zu bestehen. Und sie hat einen revolutionären Horizont: die verfassungsgebende Versammlung. Darin zeigt sich der Wunsch, die bestehende Ordnung nicht nur zu stürzen, sondern gemeinsam eine neue aufzubauen, die die Rechte der Bevölkerung repräsentiert und nicht die Interessen der politischen und wirtschaftlichen Elite.
Dieser Horizont wird vernebelt von dem Acuerdo por la Paz y una Nueva Constitución (Abkommen für den Frieden und eine neue Verfassung), das eine Gruppe von Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen am 15. November 2019 abschließt und damit Präsident Piñera und seine Regierung vor dem Untergang rettet. Das Abkommen verspricht dem rebellierenden Volk auf den Straßen, bei einem Referendum im April 2020 über eine neue Verfassung abstimmen zu dürfen. Es ist ein Sieg und gleichzeitig eine Niederlage. Denn die beiden Möglichkeiten, die das Referendum für die Erarbeitung der Verfassung zur Wahl stellt, sind die Convención Constitucional und die Convención Mixta Constitucional: ein Verfassungskonvent aus 100 Prozent gewählten Bürger*innen und ein gemischter Konvent aus 50 Prozent gewählten Bürger*innen und 50 Prozent Parlamentsabgeordneten. Nicht zur Wahl steht hingegen die Asamblea Constituyente, die verfassungsgebende Versammlung, deren Regeln das Volk selbst bestimmt. Asamblea Constituyente ist es aber, was die Demonstrant*innen rufen und auf ihre Plakate schreiben. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen hat einen historischen Tiefpunkt erreicht. Dass dieselben Politiker*innen, wegen denen Millionen auf den Straßen protestieren, den verfassungsgebenden Prozess leiten wollen, wollen viele nicht einfach so hinnehmen. Der Prozess wird sich vermutlich über mehrere Jahre hinziehen und die Demonstrant*innen fordern neben der neuen Verfassung auch schnelle Lösungen für die dringenden sozialen Probleme.
Der 15. November 2019 läutet deshalb die zweite Phase der Revolte ein. Die internationale Aufmerksamkeit sinkt drastisch, Auslandskorrespondent*innen reisen ab, die Berichterstattung nimmt ab. Wer nicht vor Ort ist, versteht nicht so richtig, warum weiterhin jeden Tag Tausende Menschen auf den Straßen protestieren. Viele wissen gar nichts von den Asambleas, den Nachbarschaftsversammlungen, in denen sich die Chilen*innen treffen, um über die neue Verfassung zu diskutieren. Der 18. Oktober 2019 hat einen Prozess eingeleitet, der durch eine institutionelle Lösung nicht aufzuhalten ist. Die Chilen*innen wollen einen Wandel und sie wollen ihn selbst gestalten.
Dieser Prozess wird im März 2020 von der Coronavirus-Pandemie unterbrochen. Das Referendum wird vom 26. April 2020 auf den 25. Oktober 2020 verschoben. Die militärische Repression nimmt zu. Rechtsgerichtete und unternehmernahe Gruppen versuchen, den verfassungsgebenden Prozess im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.
Der Ausgang der chilenischen Revolte ist noch ungewiss. Aber eines ist klar: Chile wird nie wieder dasselbe Land sein, das es vor dem 18. Oktober 2019 war. Denn auch gescheiterte Revolutionen schärfen das Bewusstsein, wie Rosa Luxemburg 1919 in der Roten Fahne geschrieben hat: »Wo wären wir heute ohne jene Niederlagen, aus denen wir historische Erfahrung, Erkenntnis, Macht, Idealismus geschöpft haben!«[16]
Chile ist in vieler Hinsicht ein einzigartiges Land. Es war das erste Land der Welt, in dem 1970 ein sozialistischer Präsident auf demokratischem Weg gewählt wurde. Und es war das erste Land der Welt, in dem radikale neoliberale Reformen in einer Militärdiktatur mit Folter und Mord durchgesetzt wurden. Trotzdem haben die Chilen*innen nie die Hoffnung auf eine gerechte Gesellschaft verloren.
Es ist diese Hoffnung, die mich so fasziniert an diesem Land und mich dazu gebracht hat, die letzten sechs Jahre hier zu verbringen. Dieses Buch ist eine Ansammlung von Erfahrungen, Reflexionen, Gesprächen und Recherchen, die ich durch meine Arbeit als Journalistin und auch als Bürgerin, als Freundin und Nachbarin in Chile gemacht habe. Teilweise habe ich Texte aus vergangenen Recherchen übernommen, andere Teile habe ich neu verfasst. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Universalität oder Vollständigkeit, sondern soll eine Brücke bauen zwischen dem rebellierenden Volk in Chile und den Leser*innen in Deutschland. Es soll eine Quelle der Inspiration sein.
Die chilenische Revolte erinnert uns daran, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist, wie Fukuyama einst prophezeit hat. Die Demokratie ist nicht untrennbar von Kapitalismus und Marktwirtschaft. Chile, das als ›Labor des Neoliberalismus‹ in die Geschichte eingegangen ist, zeigt uns das genaue Gegenteil: Der neoliberale Kapitalismus untergräbt die Demokratie. Chile zeigt uns auch, was die Länder Europas noch erwartet. Denn die Maßnahmen, die Pinochet unter US-amerikanischem Einfluss ergriff, um den Markt ›von den Fesseln des Staates zu befreien‹, ähneln stark denen, die heute den europäischen Staaten aufgezwungen werden: Privatisierung staatlicher Betriebe und der sozialen Grundversorgung, Reduzierung von Staats- und Sozialausgaben, die Beschneidung der Macht von Gewerkschaften und Beschäftigten. Das neoliberale Modell, das in Chile ausprobiert wurde, wurde anschließend in die ganze Welt exportiert. Durch neoliberale Handels- und Entwicklungspolitik unterstützen internationale Institutionen und Organisationen, darunter die Europäische Union, die wirtschaftlichen Eliten im Globalen Süden und fördern die Ausbeutung von Menschen und Umwelt. So wird die globale Machtasymmetrie vertieft.
Ich lade deshalb die kritischen Leser*innen dieses Buches ein, nach Chile zu schauen. Denn vielleicht wird aus dem Labor des Neoliberalismus das Labor seines Umsturzes.
»Das hier ist vielleicht der Beginn von etwas viel Größerem«, sagt Pablo, ein befreundeter Fotograf, als wir über die achtspurige Hauptstraße Alameda in Chiles Hauptstadt Santiago laufen. Die Metro de Santiago, die U-Bahn der chilenischen Hauptstadt, hat mehrere Stationen wegen Protesten geschlossen. Deshalb sind wir zu Fuß unterwegs. Wir laufen an den Stationen República und Los Héroes vorbei, an deren Ein- und Ausgängen sich Menschentrauben gebildet haben. »Evadir, no pagar, otra forma de luchar«, hören wir die Leute aus der unterirdischen Station rufen, »Schwarzfahren, nicht bezahlen, eine andere Art zu kämpfen«. Die Menschen auf der Straße stimmen ein.
Immer wieder rufen sie auch »pacos culiados«, »Scheißbullen«. Die Polizei versucht, in den unterirdischen Metro-Stationen die Proteste aufzulösen und die Menschen davon abzuhalten, in Massen über die Drehkreuze zu springen. Aber die Proteste finden schon längst nicht mehr nur unter der Erde statt, sondern auch an der Oberfläche auf der Straße. Da immer mehr Stationen geschlossen werden, strömen die Menschen in Massen aus dem Untergrund auf die Straßen. Manche laufen zu Fuß nach Hause. Andere bleiben, um zu protestieren. Der beißende Geruch von Tränengas liegt in der Luft und brennt auf meiner Haut. Ein Guanaco – so werden in Chile die Wasserwerfer umgangssprachlich genannt, vielleicht, weil sie ähnlich wie die Tiere spucken – nähert sich. Ich muss rennen.
Es ist der 18. Oktober 2019, der Tag, an dem die Proteste aus den unterirdischen Metro-Stationen an die Oberfläche kommen und sich auf den Straßen der Hauptstadt und dann im ganzen Land ausbreiten. Aus Protesten gegen eine Fahrpreiserhöhung der Metro wird eine Revolte. Um diese Tage im Oktober, die »das Fass zum Überlaufen brachten«, wie später viele später sagen, soll es in diesem Kapitel gehen.
Am 4. Oktober 2019 wird angekündigt, dass der Preis der Metro um 30 Pesos auf 830 Pesos (etwas weniger als ein Euro) zu Stoßzeiten und auf 750 Pesos zu weniger viel befahrenen Uhrzeiten erhöht wird. Die Preise des öffentlichen Nahverkehrs unterliegen wie eigentlich alles in Chile den ›Regeln des freien Marktes‹, Angebot und Nachfrage. Wenn es mehr Fahrgäste gibt, ist der Preis höher. Das heißt, die Arbeiter*innen, die gezwungenermaßen zu den Stoßzeiten (7:00 Uhr – 8:59 Uhr und 18:00 – 19:59 Uhr) fahren müssen, bezahlen den höchsten Preis. Betreiber der Metro ist die Empresa de Transporte de Pasajeros Metro S.A, eine Aktiengesellschaft, deren Kapital sich in staatlicher Hand befindet. Der Fahrpreis der Metro wurde seit dem Regierungsantritt von Präsident Sebastián Piñera im März 2018 drei Mal erhöht, in den letzten zwölf Jahren ist er um 80 Prozent angestiegen.[17]
An Werktagen transportiert die Metro täglich 2,6 Millionen Menschen. Zahlen der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol zufolge verdient die Hälfte der Chilen*innen weniger als 400.000 Pesos im Monat (etwas mehr als 400 Euro), zahlt also allein für den Weg zur Arbeit und zurück nach Hause knapp ein Zehntel ihres Monatslohns. Obwohl die Metro häufig als das größte und am besten ausgebaute U-Bahn-Netz Südamerikas bezeichnet wird, ist der Weg zur Arbeit alles andere als angenehm.
Um sich zu Stoßzeiten überhaupt den Türen der Bahn anzunähern, muss man sich mit Ellbogen durchkämpfen, anschließend mehrere überfüllte Züge vorbeifahren lassen, um dann mit viel Glück von hinten und allen Seiten geschubst und geschoben einzusteigen und mit dem Gesicht an die Tür gequetscht loszufahren. Meistens muss man dann noch in eine Micro, einen Linienbus, umsteigen. Zwei Stunden braucht ein*e Santiaguino*a im Durchschnitt, um zur Arbeit zu fahren, wie eine Studie des Rats für Stadtentwicklung ergeben hat.[18] Am längsten brauchen Reinigungskräfte und Angestellte im Baugewerbe, da sie meistens in poblaciones, Armen- und Arbeiter*innenvierteln, am südwestlichen Stadtrand wie La Pintana oder Quilicura wohnen und im Nordosten der Stadt im barrio alto, in den wohlhabenden Vierteln, arbeiten. Am schnellsten zur Arbeit kommen Manager*innen, die nur etwa eine halbe Stunde benötigen.
»Wer früh genug aufsteht, dem wird mit einem geringeren Fahrpreis geholfen«, sagt Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaine in einem Fernsehinterview am Montag, dem 7. Oktober 2019, dem Tag, an dem die neue Fahrpreiserhöhung der Metro zu gelten beginnt.[19] Es ist eine von vielen Aussagen der Regierungsmitglieder in diesen Tagen, die die riesige Kluft zwischen ihrer Lebensrealität und der der arbeitenden Bevölkerung verdeutlichen. Um den erniedrigten Fahrpreis zu bezahlen, muss jemand, der am Stadtrand, wie zum Beispiel in Quilicura, wohnt, um 5 Uhr aufstehen und nach 23 Uhr von der Arbeit nach Hause fahren – für viele auch schon vor der Fahrpreiserhöhung Alltag. Es hagelt Kritik auf sozialen Netzwerken und von Oppositionspolitiker*innen. »Schämt er sich nicht?«, twittert die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Beatriz Sánchez. Einen »brutalen Mangel an Empathie« schreibt Maya Fernández, Abgeordnete der Sozialistischen Partei, dem Minister zu.
Am selben Tag findet die erste evasión masiva in der Station Universidad de Chile statt, die erste Protestaktion des kollektiven Schwarzfahrens. Schüler und Schülerinnen der öffentlichen Schulen wie dem Instituto Nacional oder dem Liceo Nº1 Javiera Carrera haben auf sozialen Netzwerken dazu aufgerufen. Um 14 Uhr treffen sie sich vor der Station. Um 14:10 Uhr rennen sie zu Dutzenden die Treppen hinunter, um gemeinsam über die Drehkreuze zu springen. Und das, obwohl sie selbst gar nicht von der Fahrpreiserhöhung betroffen sind. Denn Schüler*innen fahren zu einem ermäßigten Preis Metro.
»Wir Schüler waren zwar selbst nicht betroffen, aber unsere Eltern und unsere Familien. Menschen, die vom Mindestlohn leben, alleinerziehende Mütter, Migranten und Rentner können uns nicht egal sein«, sagt Isabel Galindo, eine 17-jährige Schülerin des Liceo Nº1 Javiera Carrera später zu mir.
Rodrigo Pérez, Präsident des Schülerzentrums des Instituto Nacional, sagt am 15. Oktober in einem Fernseh-Interview bei CNN Chile: »Die soziale Ungleichheit in Chile ist besorgniserregend. Die Erhöhung der Fahrpreise vergrößert die Schere zwischen Arm und Reich noch mehr, weil sie diejenigen betrifft, die den öffentlichen Nahverkehr nutzen müssen.«[20]
Das Instituto Nacional und das Liceo Nº1 Javiera Carrera gehören zu den sogenannten colegios emblemáticos in Chile. Dabei handelt es sich um die angesehensten öffentlichen Schulen, an denen leistungsstarke Schüler*innen aus verschiedenen sozialen Schichten gemeinsam lernen. Das ist nicht der Normalfall in Chile, weil das Schulsystem zu großen Teilen privatisiert ist und der Zugang zu qualitativer Bildung stark vom Einkommen abhängt. Die öffentlichen Schulen haben eine wichtige Rolle bei der Revolución Pingüina (Revolution der Pinguine, in Anlehnung an die blau-weißen Schuluniformen), der Schüler*innenbewegung 2006 gespielt, die durch eine Erhöhung der Kosten für die Zulassungsprüfung zur Universität PSU und die Einschränkung der Nutzung des Schülerausweises in öffentlichen Transportmitteln ausgelöst wurde und sich zu einem landesweiten Protest für ein gerechteres Bildungssystem entwickelte. Bildung sollte keine Ware sein, war damals die Parole.
In den folgenden Tagen im Oktober organisieren die Schüler*innen evasiones in immer mehr Metro-Stationen in Santiago. Zwischen dem 7. und dem 15. Oktober 2019 werden über 52 Aktionen des kollektiven Schwarzfahrens registriert.[21] Nicht mehr nur die Schüler*innen protestieren so gegen die Fahrpreiserhöhung und die soziale Ungleichheit, sondern auch Arbeiter*innen und Rentner*innen haben sich dem Protest angeschlossen.
Anstatt zu schlichten und auf die Forderungen der Menschen einzugehen, reagieren Politiker*innen der Regierung und Vertreter*innen der Metro mit Unverständnis und Spott. Die Protestierenden seien violentistas (Gewalttätige), vándalos (Randalierer) und delincuentes (Kriminelle). Der Vorstandsvorsitzende der Metro, Clemente Pérez, bezeichnet die Proteste als »dumm« und »sinnlos«[22], der Präsident der Expert*innengruppe für öffentlichen Transport der Regierung sagt: »Wenn der Preis der Tomaten oder des Brots erhöht wird, protestiert ja auch niemand.«[23] Präsident Piñera verurteilt die Proteste, weil sie »nicht das Gesetz respektieren« und fügt hinzu: »Ich als Präsident muss dafür sorgen, dass die Metro normal funktioniert. Deshalb werden wir nicht erlauben, dass die Freiheit und die Rechte der großen Mehrheit der Chilen*innen verletzt werden.«[24]
Die Gleichgültigkeit und das Unverständnis der Regierung macht die Menschen noch wütender. Über soziale Netzwerke und Nachrichtendienste wird unter dem Hasthag #EvasionTodoElDia täglich zum gemeinsamen Schwarzfahren aufgerufen. Mehrere Stationen werden geschlossen, die Polizei schickt fast alle ihre Einsatzkräfte los, um Ein- und Ausgänge zu bewachen und die Proteste mit Gewalt zu unterdrücken – jedoch ohne Erfolg. Aus Hunderten werden Tausende, die gemeinsam in die Metro-Stationen stürmen, auf Drehkreuze und Kartenlesegeräte einschlagen und verschlossene Türen an den Stationen niederreißen.
»Evade como Piñera«, steht auf den Graffitis und Mauern in Santiago
(Foto: Sophia Boddenberg)
Evade como Piñera, steht als Graffiti auf den Wänden in der Hauptstadt, in Anlehnung an die Korruption und Steuerhinterziehung (›evasión tributaria‹) des Präsidenten sowie der wirtschaftlichen und politischen Elite. Präsident Sebastián Piñera ist Unternehmer und Milliardär; mit 2,7 Milliarden Dollar Vermögen ist er einer der reichsten Chilen*innen und einer der reichsten aktiven Politiker*innen der Welt.[25] Bis heute verfolgt ihn der Vorwurf des Bankbetrugs aus seiner Zeit als Geschäftsführer der Banco de Talca, weshalb 1982 ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde und er für zwei Wochen untertauchte. Nach seinem Freispruch wurde er Geschäftsführer der Bank Citicorp und wurde anschließend mit dem Unternehmen Bancard S.A. und der Vermarktung von Kreditkarten reich. Bis heute ist nicht ganz klar, wie er in das Kreditkartengeschäft einstieg. Aber es liegt nahe zu vermuten, dass Steuerhinterziehung und Betrug zum Vermögen von Piñera beigetragen haben, wie der chilenische Journalist Sergio Jara in seinem Buch Piñera und die Löwen von Sanhattan schreibt.[26][27]