Nesthäkchen Band 3
Es war Frühstückspause. Ein ohrenbetäubendes Geschwirr von hellen durcheinanderrufenden Kinderstimmen schallte durch die achte Klasse.
"Annemarie, wieviel ist neun mal siebzehn" – "ist sieben mal vierzehn achtundachtzig oder achtundneunzig" – "ach Gott, ich habe ja so dolle Angst vor der Klassenarbeit" – die zarte braunhaarige Margot Thielen seufzte schwer und machte furchtsame Augen wie ein Häschen.
"Ich habe gar keine Bange, nicht für'n Sechser! Mein Bruder Hans hat gesagt, ich kann jetzt das große Einmaleins vorwärts und rückwärts, sogar im Schlafe!" Annemarie Braun, die Erste der achten Klasse, rief es und lachte dabei über das ganze runde Kindergesicht.
"Ja, du – du brauchst auch keine Angst zu haben, Annemie. Du schreibst sicher wieder null Fehler und bekommst ›sehr gut‹ im Rechnen," Margot sah voll Bewunderung auf ihre Freundin.
"Wenn's nur nicht grade die Probearbeit für die Osterzensur wäre!" Ilse Hermann hob den Kopf mit den blonden Haarschnecken von dem Rechenbuch, aus dem sie ganz schnell noch sämtliche Zahlenweisheit in den letzten Minuten vor der gefürchteten Arbeit zu erhaschen suchte.
"Annemarie, könntest du nicht jetzt in der Pause flink noch ein bißchen mit uns üben – ach ja, bitte, bitte, tue es doch!" so bettelte und rief es durcheinander.
Die Erste ließ sich nicht lange bitten. Das Rechenbuch unter den Arm geklemmt, den Kopf mit der lustigen Stubsnase und den abstehenden goldblonden Rattenschwänzchen steif in die Luft gebohrt, so schritt sie würdevoll zum Katheder.
Die Klasse jubelte. Denn Annemarie ahmte Fräulein Neudorf, die Rechenlehrerin, in Gang und Haltung treffend nach. Und als sie jetzt gar noch in der Hannoveraner Mundart der Lehrerin zu sprechen anhob: "Aber Kinder, macht nicht solchen S–pektakel, Ihr s–tört die anderen Klassen," da stieg die Ausgelassenheit und der Jubel aufs höchste.
"Ruhe – seid s–till, Kinder, wieviel ist neun mal dreizehn. Marlene Ulrich," mit durchdringend heller Stimme übertönte Annemarie den Radau.
"Hundertsieben," die dunkelblauen Augen der schwarzzöpfigen Marlene, die noch eben vor Übermut gesprüht, sahen plötzlich ganz ernst drein. Die drohende Rechenstunde begann die Ausgelassenheit wieder zu dämpfen.
"Fünf mal neunzehn, Hilde Rabe – falsch, Marianne Davis – sieben mal sechzehn – acht mal vierzehn" – Schlag auf Schlag, mit rasender Schnelligkeit fielen die Fragen aus dem Munde der gestrengen kleinen Lehrerin. In lachender Aufregung tönten die Antworten zurück, eine überschrie die andere.
Da war es kein Wunder, daß niemand in diesem Tumult auf die Glocke des Schuldieners Piefke achtete, welche die beginnende Stunde anzeigte. Annemarie Braun, die als Erste das Amt hatte, nach dem Leuten für Ruhe in der Klasse zu sorgen, machte den größten Lärm.
"Viermal siebzehn – sei s–till, Marianne – Hilde, s–pringe in der S–tunde nicht vom S–tuhl – Margot, s-teh' auf, wenn ich mit dir s–preche – –"
"Ruhe – was soll denn der S–pektakel eigentlich bedeuten – S–tille bitte ich mir sofort aus!" mittenhinein in das Lachen und Rufen erklang es plötzlich streng von der Tür her.
Im Augenblick verwandelte sich das Jubeln und Schreien in atemlose herzbeklemmende Stille. Die Mädchen schnellten von ihren Sitzen in die Höhe, mit entsetzten Augen blickten sie auf die im Türrahmen stehende Lehrerin.
Die Entsetzteste von allen aber war Annemarie Braun. Ihre Blauaugen starrten Fräulein Neudorf gradezu entgeistert an – Himmel, hatte die Lehrerin etwa gehört, daß sie ihr nachgemacht hatte? Wie angewurzelt blieb Annemarie droben auf dem Katheder, sie dachte nicht daran, ihren Platz aufzusuchen.
Kopfschüttelnd trat die Lehrerin näher.
"Ja, möchtet ihr mir vielleicht erklären, was euer lautes Benehmen bedeuten soll? Wo ist die Erste?"
Annemarie trat, das Stupsnäschen gar nicht mehr lustig emporgehoben, sondern schuldbewußt zur Erde gesenkt, näher.
"Du sorgst ja recht nett für S–tille vor der S–tunde. Ans–tatt den andern mit gutem Beis–piel voranzugehen, s–tichst du noch alle anderen beim S–pektakelmachen aus. Du wirst schwerlich als Erste zur Osterversetzung bes–tehen können!"
Keinem der Kinder fiel es ein, die Sprache der Lehrerin, die man noch eben bei Annemarie bejubelt, noch lächerlich zu finden. Am wenigsten Annemarie selbst. Aus deren noch vor kurzem lachenden Augen begann es zu tropfen, währen sie sich langsam zu ihrem Platz zurückschob.
"Lieber Gott, mache doch bloß, daß Fräulein Neudorf nicht gehört hat, was ich gesagt habe – ich muß mich ja sonst zu Tode schämen!" Während sich dieses stumme Gebet aus Annemaries Seele zum blauen Frühlingshimmel emporrang, klang das gefürchtete "Rechenhefte heraus zur Klassenarbeit!" vom Katheder.
Poch – poch – schneller schlugen fünfzig Kinderherzen. Mit gezückter Feder saß eine jede vor ihrem Heft.
Und nun ging's los – Exempel auf Exempel. Die Wangen der Mädel begannen vor Eifer zu glühen, die Augen zu blitzen. Jede gab sich Mühe, ihr Bestes für das Osterzeugnis zu leisten.
Nur eine, sonst die eifrigste und begabteste im Rechnen, war heute nicht recht bei der Sache. Das war die Erste der Klasse. Annemarie vermochte ihre Gedanken nicht fest auf die Aufgaben zu richten. Immer wieder entwischten sie ihr zu den Begebenheiten vor der Stunde.
Grade bei Fräulein Neudorf, der strengsten Lehrerin der Schule! Wenn es noch bei Fräulein Hering, ihrer Lieblingslehrerin gewesen wäre, die hätte wohl eher ein Auge zugedrückt.
Sah Fräulein Neudorf sie nicht strafend an, oder kam ihr das bloß so vor? Nein, ganz bestimmt, die Lehrerin machte ein furchtbar ernstes Gesicht. Wenn man nur genau wüßte, woran man wäre! Dann könnte man sich doch wenigstens nach der Stunde entschuldigen – aber diese gräßliche Ungewißheit – Herrgott, da hatte Annemarie vor lauter Überlegen und Grübeln gar nicht gehört, wie die letzte Aufgabe hieß.
War es fünf mal dreizehn oder fünf mal siebzehn gewesen? Annemarie hatte nur noch den Klang im Ohr, ihr Bewußtsein hatte die Zahl nicht aufgefaßt. Hilflos blickte sie um sich.
"Du – Margot, siebzehn oder dreizehn?" hinter dem vorgehaltenen Löschblatt ward es aufgeregt geflüstert.
Aber ehe die Freundin noch antworten konnte, stand schon Fräulein Neudorf neben der kleinen Unaufmerksamen.
"Annemarie Braun, schließe dein Heft. Wer bei der Probearbeit mit der Nachbarin in Verbindung s–teht, hat die Absicht zu täuschen. Ans–tatt dir Mühe zu geben, deinen Fehler von vorhin durch Eifer und Fleiß gut zu machen, muß ich dich jetzt noch unter Tadel schreiben. Die Erste der Klasse – ein beis–pielloser S–kandal!" Jetzt irrte sich Annemarie nicht, die Lehrerin sah sie so strafend an wie noch nie.
"Fräulein Neudorf, ich wollte Sie wirklich nicht täuschen – ich – hatte bloß die Aufgabe vergessen – wirklich!" Die blauen Kinderaugen, die sich vergeblich mühten, die Tränen zurückzuhalten, blickten voll überzeugungsvoller Ehrlichkeit zu der Zürnenden auf.
Es war etwas Merkwürdiges um Annemaries Augen. Wenn sie bettelten und flehten, dann konnte man ihr nicht mehr so richtig böse sein – diese Erfahrung hatten Mutti und Fräulein zu Hause oft gemacht.
Auch heute bewährte sich die Kraft der leuchtenden Sterne. Diese Kinderaugen vermochten nicht zu lügen, das fühlte Fräulein Neudorf. Ihre strenge Miene ward um ein weniges freundlicher.
"So magst du dich weiter an der Arbeit beteiligen. Die Aufgabe, die du durch Unaufmerksamkeit verfehlt hast, läßt du natürlich aus."
"Und der Tadel?" Annemaries Lippen war das entschlüpft, was ihre Hauptsorge bildete. Solange sie in die Schule ging, hatte sie noch nie einen Tadel bekommen. Der erste Tadel – nein, die Schmach war zu groß! Wie würde Bruder Klaus sie damit aufziehen und foppen, und Mutti würde traurige Augen machen – ganz bestimmt.
"Der hängt natürlich von deinem künftigen Benehmen ab" – Fräulein Neudorf fuhr weiter in der Klassenarbeit fort.
Annemarie hätte sich jetzt sicherlich die allergrößte Mühe gegeben, wenn nur nicht die eine Aufgabe in ihrer Arbeit gefehlt hätte. Nun konnte sie doch auf keinen Fall mehr "sehr gut" im Rechnen bekommen. Und dann der noch immer drohende Tadel. Huschte er nicht als kleines schwarzes Teufelchen da vorn auf dem Klassenbuch herum, und schnitt ihr eine Fratze zu? Ach wo, das war doch bloß der Schatten von Fräulein Neudorfs Hand.
Aber solche Gedanken gehören nun mal nicht zu einer Probearbeit. So kam es, daß Annemarie Braun, die das große Einmaleins vor- und rückwärts, ja selbst im Schlafe nach dem Urteil von Bruder Hans konnte, diesmal drei Fehler in der Klassenarbeit hatte.
Und das Schlimmste war, daß ihre Freundinnen Margot, Ilse, Marianne und Marlene sämtlichst null Fehler geschrieben hatten. Da ist der Schmerz umso größer.
Fräulein Neudorf, welche die Arbeiten gleich in der Stunde durchsah, blickte die Erste mißbilligend an, als sie ihr das Heft zurückgab. Kein Wort sagte sie dazu. Aber dieses stumme Urteil traf die ehrgeizige Annemarie mehr als viele Worte.
Als die Schulglocke Piefkes endlich die böse Stunde beendigt hatte, sah man ein kleines Mädchen mit goldenem Haargelock, das überall aus den kurzen Zöpfchen entsprang, vorn am Katheder stehen.
Annemarie Braun bat Fräulein Neudorf um Entschuldigung. Ja, das mußte sie. Annemarie konnte es nicht ertragen, wenn jemand auf sie böse war. Und heute ganz besonders, wo das Schuldbewußtsein ihr deutlich sagte, daß es sehr ungezogen von ihr gewesen war, ihrer Lehrerin nachzuahmen. Daran hatte aber bloß Klaus schuld. Der machte auch immer seinen Lehrer nach, und das Schwesterchen nahm sich nun mal im Guten wie im Bösen ein Beispiel an den größeren Brüdern.
Ach, Gott sei Dank – Fräulein Neudorf hatte bestimmt nichts gehört. Sie sprach nur von dem unerhörten Radau und von Annemaries Unaufmerksamkeit, die bei der Ersten der Klasse doppelt tadelnswert sei. Aber als die Kleine zerknirscht Besserung gelobte, war Fräulein Neudorf gar nicht mehr streng, sondern ganz freundlich. Um ein gutes Teil erleichtert, lief Annemarie hinter ihren Freundinnen her in den Hof. Nein, nie wieder wollte sie jemand nachmachen – ganz bestimmt nicht!
Unten im Hof sprangen die Frühlingssonnenstrahlen um die Wette mit den Schulkindern umher. Annemarie, stets eine der wildesten, ging heute merkwürdig gesittet, mit Margot und Ilse untergeärmelt, unter den blattknospenden Bäumen auf und nieder. Fräulein Neudorfs Strafpredigt wirkte noch nach.
"Glaubt ihr, daß sie mir das ›lobenswert‹ in Betragen verderben wird?" Annemaries sonst so lustiges Kindergesicht sah höchst sorgenvoll in das goldene Lenzgeflimmer. "Au weh, dann ist Mutti aber böse, wer weiß, ob ich euch dann zu meinem Geburtstag am 9. April einladen darf. Und wir wollten diesmal mit Knallbonbonmützen tanzen, weil es doch mein zehnter Geburtstag ist. Hans sagt, alle Geburtstage, wo 'ne Null dranhängt, muß man besonders begehen – Großmama feiert nächstens schon ihren siebzigsten."
"Du, das ist eklig, wenn man grade nach den Versetzungszensuren Geburtstag hat," ließ sich Freundin Ilse ebenfalls seufzend vernehmen. Kindergesellschaft mit Knallbonbonmützen – nein, es war nicht auszudenken, wenn daraus nichts werden sollte!
"Ich finde es fein, daß Annemarie immer in den Ferien Geburtstag hat. Wir andern haben ja bloß einen halben Tag Geburtstag, weil wir vormittags in die Schule müssen." Margot war stets eine eifrige Bewunderin von Annemarie. Sie fand alles schön, was diese hatte oder tat.
Aber ob Fräulein Neudorf nach den heutigen Erfahrungen Annemaries Betragen noch als ein lobenswertes beurteilen würde, das erschien selbst Margot bei all ihrer Bewunderung für die Freundin recht zweifelhaft.
Die nächste Stunde war Handarbeitsunterricht bei Fräulein Hering. Die Häkeltücher, die man in der achten Klasse fabrizierte, wurden zum Schluß mit roten Rändchen versehen. Nun waren sie fertig, noch ehe das Klassenjahr um war. Eine jede hatte die Arbeit fein säuberlich vor sich ausgebreitet. Aber fein säuberlich war dieselbe nicht überall ausgefallen. Fräulein Hering, die von Bank zu Bank schritt, mußte oftmals den Kopf schütteln.
"Hilde, dein Tuch sieht ja wie ein Scheuerlappen aus – ei, Elli, hast du Kohlen darin eingewickelt, daß deine Arbeit so schwarze Flecke hat? Und hier Ilses sogar mit einem Tintenfleck garniert – da waren gewiß die Hände nicht vor der Stunde gewaschen." Ilschen Hermann wurde so rot wie die beiden Haarschleifen, die an jeder Seite über ihren Ohren baumelten. Sie war ein kleiner Schmierhammel und wurde auch zu Hause öfters deswegen gescholten.
Zuletzt kam Fräulein zu den beiden Ersten. Blütenweiß lag Margot Thielens Häkelei, in ein sauberes Tuch geschlagen, vor ihr auf dem Tisch. Margot war in allem ein peinlich ordentliches und gewissenhaftes Kind. Dies konnte man von ihrer Freundin Annemarie nun grade nicht sagen. Die ließ ihre Sachen öfters mal herumliegen. Das war auch die Ursache, daß ihre Arbeit in der Mitte ein großes Loch aufwies.
"Aber Annemarie, was hast du denn mit deinem Häkeltuch angestellt?" Fräulein Hering, die das hübsche, ausgelassene Dingelchen besonders gern hatte, machte ganz erschreckte Augen.
"Waren da etwa die Motten drin?"
"Nee – bloß Puck!"
"Puck?"
"Na ja, unser kleines weißes Hündchen. Sie haben ihn mal kennen gelernt, Fräulein Hering, damals, als er mir heimlich in die Klasse nachgelaufen ist, und die Kinder noch alle solche mächtige Angst vor ihm hatten."
Fräulein Hering mußte in Erinnerung an jenen tollen Vormittag, an dem ein Hund zu ihren Schülern gehört hatte, lachen. Und da hatte Annemarie mal wieder gewonnenes Spiel bei ihr.
"Euer Puck hat doch aber das Tuch nicht zu häkeln, sondern du," sagte das nette Fräulein schon wieder scherzhaft.
"Ich hatte es rumliegen lassen, und da hat er ein Loch reingebissen," gestand Annemarie errötend mit der ihr eigenen Ehrlichkeit zu.
War Fräulein Hering ärgerlich? Die Kleine blinzelte durch die langen Wimpern unsicher zu ihr hin. Nein, Fräulein Hering drohte ihr bloß lächelnd – da war es doch nicht solch arger Unglückstag heute, wie sie schon gefürchtet. Wenigstens ihre Lieblingslehrerin war ihr nicht allzu böse.
Als Fräulein Hering den Kindern nun noch eröffnete, daß jedes in der nächsten Handarbeitsstunde seine Puppe mitbringen dürfe, für die sie ein Kleidchen oder eine Schürze nähen wollten, da es nicht mehr lohne, vor den Ferien eine neue Arbeit zu beginnen, war wieder eitel Sonnenschein bei Annemarie.
Auf dem Heimweg von der Schule, den sie stets mit Freundin Margot, die in demselben Hause mit ihr wohnte, zurücklegte, wurde eifrig beraten, welche Puppe der Ehre teilhaftig werden sollte, mit in die Schule zu kommen.
"Ich bringe mein Baby mit, das muß neue Windelhöschen kriegen," überlegte Margot.
Annemarie war noch nicht ganz im reinen mit sich, welche von ihren sieben Puppen die Glückliche sein sollte. Ihr Liebling war Puppe Gerda. Aber der waren neulich die Schlafaugen in den Kopf hineingerutscht. Als zwei schwarze Löcher gähnten die Augenhöhlen sie an, Annemarie graulte sich heimlich davor. Unmöglich konnte sie die blinde Gerda Fräulein Hering vorführen. Und auch die anderen Puppen erfreuten sich nicht einer uneingeschränkten Gesundheit. Ja, sie waren sogar ziemlich verwahrlost, denn eigentlich beschäftigte sich Annemarie nur noch sehr wenig mit ihnen. Ihre Märchen- und Geschichtenbücher waren ihr viel wichtiger als die Puppen. Nur wenn Margot, die ein eifriges Puppenmütterchen war, zu Besuch herüberkam, wurden die armen Vernachlässigten aus ihrem Winkel hervorgeholt.
Die beiden kleinen Freundinnen überschritten, rechts und links nach Wagen und Automobilen Ausschau haltend, den großen Platz mit der schönen Kirche. Erst seit ganz kurzer Zeit holte Fräulein die Annemarie nicht mehr von der Schule ab. Denn die Kleine behauptete, kein "Baby" mehr zu sein und genau so gut wie die andern Kinder den Schulweg allein zurücklegen zu können. Aber Frau Doktor Braun war sehr ängstlich, sie in dem großen Berlin ohne Begleitung gehen zu lassen. Denn sie kannte ihr Töchterchen, das immer andere Gedanken im Kopf hatte. Nur der steten Gesellschaft der zuverlässigen Margot war es zuzuschreiben, daß sich Mutti endlich damit einverstanden erklärt hatte.
Aber die Mutter atmete doch jedesmal auf, wenn mittags das doppelte Klingelzeichen ihres Nesthäkchens ertönte. Auch heute erstrahlte ihr Gesicht, als Annemaries helle Stimme schon draußen vom Treppenflur durch die Wohnung schallte.
"Mutti zu Haus?" keins der Braunschen Kinder erschien des Mittags ohne diese Frage. Sie war ihnen wichtiger als das Gutentagsagen. Selbst der große Hans, der schon nach Untersekunda kam, mußte seine Schulerlebnisse gleich bei Mutti auskramen.
"Hanne, was gibt's denn heute zum Mittagbrot – ich muß noch 'ne große Stulle essen, sonst verhungere ich." Vorbei ging's an der Küche und wie ein Wirbelwind ins Wohnzimmer.
"Tag, Mutti, wir sollen das nächstemal eine Puppe in Handarbeit mitbringen, wir dürfen für sie nähen. Und Fräulein Hering war gar nicht doll böse auf Puck, daß er das Loch in meine Häkelarbeit gebissen und – – –"
"Langsam – langsam, Kind," unterbrach die Mutter das sich überstürzende Töchterchen. Ihr Blick umfaßte liebevoll ihr blühendes Nesthäkchen mit der schiefen Matrosenmütze und den verwehten Locken. "So, meine Lotte" – "Lotte" war von jeher der von den Eltern gebrauchte Kosename für die Kleine – "nun erzähle mal der Reihe nach. Was ist in der Schule vorgefallen. Also zuerst im Rechnen?"
Rechnen – eine höchst fatale Frage! Annemarie begann mit ihren Zöpfchen zu spielen, sie zuckte die Schultern und machte möglichst gleichmütig "Och". Dann aber behielt die Aufrichtigkeit die Oberhand über die unangenehmen Empfindungen, welche Mutters Frage in Annemarie auslöste. Denn welches ehrliche Kind vermag etwas zu verschweigen, wenn das Mutterauge so klar in seiner Seele liest?
"Wir haben Klassenarbeit geschrieben – drei Fehler habe ich – aber Hilde Rabe hat neun, und Ruth sechs, und Erna Ruft hat nicht eine Aufgabe richtig," zählte sie ein wenig befangen auf.
"Und wer hat null Fehler?"
O weh, das waren eine ganze Menge, die Annemarie da nennen mußte.
"Da hast du doch bestimmt deine Gedanken wiedermal nicht beisammen gehabt, Annemie. Die Aufgaben kannst du, das weiß ich. Nun wirst du dich sicher zu Ostern von deinem ersten Platz trennen müssen."
"Och, das schadet nichts," meinte Annemarie, obgleich es ihr sehr nahe ging, daß sie nicht mehr die Erste sein sollte. "Klaus sagt, Erster sein ist nicht schön, da kann man nicht mehr rauf kommen, bloß immer runter – – –"
"Ich wurde mir lieber an Hans ein Beispiel nehmen, anstatt an Klaus. Der hat doch sein Lebtag noch nicht Erster gesessen – und was ist sonst noch passiert?"
"Eigentlich gar nichts" – Annemarie überlegte angestrengt. Nein, passiert war doch wirklich weiter nichts, denn den Tadel hatte sie doch noch nicht bekommen. Aber – ach was, wenn man so recht von Herzen vergnügt sein will, muß man alles von der Seele herunter haben – also!
"Fräulein Neudorf hätte mir beinah einen Tadel gegeben – aber nur beinah', Muttichen," bekräftigte Annemarie schnell noch einmal, da sie sah, daß Mutters stets so freundliches Gesicht sehr ernst wurde.
"Was soll denn das heißen, Annemarie?"
"Na ja, erst wollte sie, weil sie glaubte, ich hätte Margot gefragt, was bei der einen Aufgabe rauskommt. Und nachher hat sie sich zum Glück noch besonnen, und ganz nachher war sie überhaupt nicht mehr böse," sprudelte Annemarie ziemlich unklar heraus.
"Geh' in dein Zimmer und ziehe dich aus, Annemarie. Du hast mir heute wenig Freude gemacht." Mutti schaute traurig aus.
Das Töchterchen sah unbehaglich zu ihr hin.
"Wenn Fräulein Neudorf nicht mehr böse war, brauchst du es doch auch nicht zu sein, Mutti – und – und – das nächstemal passe ich gewiß wieder besser auf!" Die Matrosenmütze rutschte noch schiefer, denn die Kleine hatte den Blondkopf in jäher Aufwallung an Muttis Wange gepreßt.
Konnte Frau Doktor Braun da ihrem Nesthäkchen noch zürnen? Sie machte sich aus der sie zerquetschenden Umarmung los, gab der kleinen Sünderin einen liebevollen Klaps und sagte: "Na lauf, Lotte, und bessere dich!"
Hurra – Mutti hatte wieder "Lotte" gesagt! Mit einem Freudengeheul, dem sich sofort ein Jammergeheul des zu Muttis Füßen liegenden Puck anschloß, den sie in glückseliger Unachtsamkeit aufs Pfötchen getreten, verschwand Annemarie im Kinderzimmer.
Die Mütze flog aufs Bett, der Mantel auf den Tisch, die Mappe in den Puppenwagen und die Handschuhe auf die Erde.
"Tag, geliebtes Fräulein," mitten hinein in den großen Berg Ausbesserwäsche, in dem Fräulein wie zwischen weißen Wolken thronte, wirbelte Annemarie.
"Aber Annemarie, du kleiner Liederjahn – jeden Tag muß ich dich erst daran erinnern, daß man seine Sachen ordentlich forträumt –"
"Geliebtes, goldenes Fräulein, bloß keine Strafpredigt mehr, ich habe mein reichliches Teil heute schon weg." Ehe Fräulein noch des näheren auf den heiklen Punkt eingehen konnte, war das quecksilbrige Ding schon wieder davon. Draußen in der Küche biß es mit Riesenappetit in das leckere Brot, das Hanne inzwischen für "ihr Kind" bereitet. Denn Annemarie war, obgleich sie nun schon zehn Jahre alt wurde, als Nesthäkchen noch immer der Verzug vom ganzen Haus.
Nanu – und der, welcher sein Herzblatt am meisten vergötterte, der Vater, wollte heute gar nichts von ihr wissen?
"Drei Schritte vom Leibe, Lotte – potztausend, ich sage dir doch, du sollst nicht an mich herankommen!" so rief er ihr aufgebracht zu.
Annemarie, die dem aus der Praxis heimkehrenden Vater wie immer an den Hals geflogen war, machte ein höchst bestürztes Gesicht. Warum war denn Vater so ärgerlich auf sie? Hatte sie seinen Anzug mit ihren Butterbrothänden fettig gemacht? Das Töchterchen schob beleidigt die Unterlippe vor, das tat sie noch immer, trotzdem sie schon ein großes Mädchen war. Vater aber ging in sein Zimmer und kleidete sich um.
Bei Tisch war das Plappermäulchen so einsilbig, daß es den Brüdern auffiel.
"Was ausgefressen, Annemie?" fragte Hans, der ältere, mitleidig.
"Ih wo!" Annemarie sah unsicher zum Vater hin. Sie wußte wirklich nicht, was sie verbrochen.
"Du hast gewiß 'nen Tadel bekommen," rief Klaus, denn darin hatte er reiche Erfahrung.
"Ih wo!" machte die jüngere Schwester wieder, aber das klang nicht ganz so bestimmt wie vorher. Diesmal ging ihr Blick unsicher zur Mutter hin.
Nach der Mahlzeit packte Vater sein beleidigtes Nesthäkchen bei den winzigen Rattenschwänzchen.
"Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen, meine Lotte, daß ich dich vorhin angefahren habe. Ich kam von Scharlachkindern, da hatte ich Angst, daß du dich anstecken könntest, wenn du so dicht an mich herankommst."
Seine Lotte lachte bereits wieder über das ganze Gesicht. Wenn Vater nicht ärgerlich auf sie war, ach, dann war ja alles gut! Dann ließ sie sich sogar gern ein bißchen von ihm anfahren.
"Und weißt du, Vatchen," beruhigte sie ihn zärtlich, "du brauchst gar keine Angst zu haben. Ich bekomme bestimmt nicht Scharlach, denn ich habe ja erst die Masern gehabt."
Ja, nun ging es vorwärts. Langsam zwar, so langsam, daß die ungeduldige Annemarie glaubte, sie würde überhaupt nicht mehr aus ihrem "Käfig" herausgelassen. Die Freude, in Vaters Klinik zu sein, legte sich bald. Denn mit den allmählich wiederkehrenden Kräften kam die alte Lebhaftigkeit zurück, und damit die Qual des Stilliegenmüssens für den Wildfang.
So lieb Schwester Elfriede auch zu ihr war, die Sehnsucht nach der Mutter machte sich doch bald bemerkbar. Gerade ein krankes Kind bangt sich nach einem zärtlichen Mutterwort. Zwar schrieb Mutti täglich ein Briefchen voll Sehnsucht und Liebe an ihre kranke Lotte. Aber diese war allmählich dahintergekommen, daß tausend Briefe eine persönliche Liebkosung von Mutti nicht zu ersetzen vermochten. Und daß Mutti sie überhaupt nicht besuchen durfte, war eine arge Enttäuschung. Schwester Elfriede hatte es nicht immer leicht mit ihrer kleinen Patientin. Dabei hatte Annemarie die sanfte, stets freundliche Schwester mit dem sauberen Häubchen auf dem braunen Scheitel, die so geräuschlos im Zimmer waltete, von Herzen lieb gewonnen. Aber ein krankes Kind wird leicht eigenwillig. Und Doktors Nesthäkchen hatte schon vorher davon ein ganzes Teil in seinem hübschen Köpfchen.
Mutti durfte sie nicht besuchen, aber ein anderer weniger erwünschter Gast stellte sich ein – die Langeweile. Mit den Kleinkinderspielen, die sich in der Klinik vorfanden, wußte Annemarie nichts anzufangen, dazu war sie schon zu groß. Lesen sollte sie noch nicht, und immer konnte Schwester Elfriede doch auch nicht Geschichten erzählen. Der Mund tat ihr ja schon weh davon.
Draußen schlug der Aprilregen klatschend gegen die Fensterscheiben. Aber in Annemaries Krankenstübchen war es gemütlich. Bei der grünverhangenen Lampe saß Schwester Elfriede mit ihrer Stickarbeit. Annemarie ruhte in ihren weißen Kissen und – langweilte sich.
"Ha – uh – ah – uh –" sie gähnte aus Leibeskräften.
"Bist du schon müde, Herzchen, es ist noch nicht mal sechs Uhr. Vater war ja noch gar nicht zum Abendbesuch in der Klinik", meinte die Schwester Elfriede verwundert.
"Nee, müde bin ich gar nicht, aber ich mopse mich so doll. Was soll ich denn bloß anfangen?"
"Wollen wir uns Rätsel aufgeben?" schlug die Schwester vor.
"Ach nee – ach nee, die Rätsel kenne ich ja schon alle."
"So wollen wir Städtenamen oder Sprichwörter raten", die gute Schwester verlor die Geduld nicht.
Aber auch dazu hatte das junge Fräulein keine Lust. Eigentlich hatte sie zu nichts Lust, sie wollte bloß ein bißchen quälen.
"Was haben wir denn heute für einen Tag?" begann es, nachdem es noch verschiedene Male gegähnt hatte, von neuem.
"Dienstag, Annemarie."
"Ich meine, was für ein Datum."
"Heute ist der fünfte April, Kind."
"Was – schon der fünfte" – das sich langweilende kleine Mädchen wurde plötzlich ganz lebhaft. "Dann ist es ja die höchste Zeit, daß ich die Einladungen für meine Kindergesellschaft schreibe."
"Aber Annemarie," Schwester Elfriede lachte herzlich, "willst du etwa hier in der Klinik eine Kindergesellschaft geben?"
"Nee, hier natürlich nicht. Aber es sind ja noch vier ganze Tage bis zu meinem Geburtstag. Bis dahin bin ich bestimmt wieder gesund und zu Hause bei Mutti."
"Nein, mein Herzchen, die Hoffnung muß ich dir leider nehmen. So schnell geht das doch nicht mit dem Gesundwerden. Sechs Wochen mußt du schon hier bei uns bleiben."
"Wa–as?" Annemarie vergaß vor Schreck den Mund zuzumachen.
Als Vater kam, fand er seine Lotte wieder in Tränen. Nicht einmal die Osterzensur, die er ihr mitbrachte, durch welche sie zur Schülerin der siebenten Klasse aufrückte, vermochte sie zu trösten. Ja, selbst das "Lobenswert", um das sie so gebangt, machte ihr keine Freude. Was nützte ihr denn das, wenn sie doch keine Kindergesellschaft geben konnte!
"Und auf meinen Geburtstag freue ich mich jetzt kein bißchen mehr, wenn ich dann noch in der ollen Klinik im Bette liegen muß. Wer soll mir denn hier was schenken?"
Vater lächelte geheimnisvoll und gab Annemarie den Rat, für alle Fälle Schwester Elfriede einen Wunschzettel zu diktieren, da sie selbst nicht schreiben durfte. Nun hatte die Kleine mehr als genug zu überlegen – für heute war die Langeweile aus dem Krankenzimmer gescheucht.
Der zehnte Geburtstag von Doktors Nesthäkchen war herangenaht. Goldene Frühlingssonne lachte zum Fenster hinein und küßte die kleine Schläferin als erste Gratulantin wach.
Doch Annemarie wollte gar nicht aufwachen. Sonst rumorte sie an ihrem Geburtstag zu Fräuleins Ärger schon vor Tau und Tag und konnte die Zeit gar nicht erwarten. Aber heute – worauf sollte sie sich wohl heute freuen? Krank, fern von Mutter und Vater, ohne Geburtstagstisch und ohne Gratulanten, ohne Nachmittagsschokolade und ohne Kindergesellschaft – und noch dazu an ihrem zehnten Geburtstag, der eine Null hatte und darum besonders festlich begangen werden mußte! Nein, sie wollte heute überhaupt nicht aufwachen.
Aber die übermütige Frühlingssonne, die nichts von Annemaries trübseligen Gedanken ahnte, ließ nicht nach, sie mit ihren goldenen Lichtern zu blenden. Jetzt nahm sie gar einen ganz feinen, spitzen Strahl und fuhr dem faulen Geburtstagskinde damit unter dem Stupsnäschen herum – au, wie das krabbelte.
"Hatschi" – und nochmals "hatschi" machte Annemarie, und nun schlug sie doch die Blauaugen auf.
Erstaunt rieb sie sich dieselben. Ja, träumte sie noch oder wachte sie? Da stand ja ein richtiger weißgedeckter Geburtstagstisch vor ihrem Bette mit zehn brennenden bunten Lichtchen und einem langen Lebenslicht. Ganz wie zu Hause. Blumen über Blumen waren auf den Tisch gestreut, Blauveilchen, Schneeglöckchen und gelbe Mimosen. Und dazwischen lagen viele Geschenke – mit einem Jubellaut griff das Geburtstagskind danach.
Handfertigkeitskasten, Würfel- und Gesellschaftsspiele, eine Puppenschneiderei, bunte Bleie und Postkarten zum Auskuschen dazu, Kopfzerbrecher und – hurra – auch ein neues Geschichtenbuch. Im Umsehen waren alle trüben Gedanken Annemaries wie fortgeblasen.
Aber wo steckte denn bloß Schwester Elfriede, die das alles so liebevoll für sie hergerichtet? Annemarie wandte suchend den Kopf, um ihr zu danken. Da war keine Schwester Elfriede, aber einer, bei dessen Anblick die Kleine aufs neue in Jubel ausbrach. Hinter ihr stand der Vater. Lächelnd schaute er das Glück seiner Lotte.
In aller Herrgottsfrühe war der gute Vater schon in die Klinik gekommen, um seinem kranken Töchterchen eigenhändig den Geburtstagstisch aufzubauen. Wie hätte er es seiner Frau gegönnt, die Freude ihres jetzt zehnjährigen Nesthäkchens mitanzusehen. Nur über eines jammerte Annemarie noch, daß sie dem Vater nicht mal heute an ihrem Geburtstage einen Kuß geben durfte.
Nun zog der Vater sämtliche Gratulationsbriefe hervor. In jeder Tasche hatte er einen. Alle, alle hatten sie an die Annemarie geschrieben. Zuerst kam natürlich Muttis Brief heran. Da rann allerdings ein blinkender Tropfen Annemaries Stupsnäschen herunter, als sie die zärtlichen Worte und Wünsche, welche die Mutter zum erstenmal im Leben ihrem Kinde schreiben mußte, las. Aber der übermütige Brief von Klaus, der ihr "mit einer Träne im Knopfloch und mit einem Veilchenstrauß im Auge" Glück wünschte, stimmte sie gleich wieder heiter. Fräulein und Hans, ja selbst Hanne hatte an "ihr Kind" geschrieben.
"Vatchen, die Hanne hat sicherlich statt einer Feder den Schrubber zum Schreiben genommen. Sieh bloß mal", Annemarie konnte sich gar nicht vor Lachen über die ungelenken Schriftzüge beruhigen.
Schwester Elfriede brachte das Frühstück und beglückwünschte ihre kleine Pflegebefohlene mit einem neuen Rätselbuch, da Annemarie ja von ihren alten Rätseln nichts mehr wissen wollte. Sie mußte sogleich Hannes Brief mit anhören. Ausgelassen las ihn das Geburtstagskind vor:
Mein lihbes Annemiehchen!
Ich gradulihre Dich auch zu Deinen Zähnten Gebuhrzdag und Wünsche Dich Gottes Sägen und immer Hübsch Gesunt. Und der Kuhchen Backe Ich Dich nach, wenn Du Man ärst Wieder Nachhause derfst. Du fählst mich Sehr und Ich Grieße Dir vielmals von Deine alte Hanne.
Und immer neue Briefe und Blumen kamen. Bunte Ansichtskarten von Margot und allen anderen Schulfreundinnen. Nein, war das aber nett, selbst ihr liebes Fräulein Hering hatte ihr eine Glückwunschkarte geschrieben. Die gute Großmama, die sich fast noch mehr Sorgen um ihr krankes Enkelchen machte, als selbst Mutti, schenkte ihr einen Phonographen. Die drolligsten Walzen hatte sie dazu ausgesucht, um ihrem Herzblatt die Zeit zu vertreiben.
Tante Albertinchen aber mit den grauen Ringellöckchen, deren Liebling sie war, sandte ihr ein Glückskleetöpfchen. Süß war das, Annemarie nahm sich vor, es ganz besonders gut zu pflegen.
Noch eine Überraschung brachte der festliche Tag.
Am Abend, als Vater noch einmal nach seinem Töchterchen sah, sagte er geheimnisvoll: "Ach, beinahe hätte ich es vergessen, ich habe dir ja noch einen Geburtstagsgast mitgebracht, Lotte."
"Mutti?!" halb jauchzend, halb zaghaft fragend klang es, als ob Annemarie das große Glück gar nicht zu fassen vermochte.
"Nein, du Dummchen, Mutti darf doch nicht herkommen. Das weißt du ja. Es ist ein anderer – rate mal!"
Annemarie zerbrach sich den Kopf. Es gab keinen ihrer Verwandten und Bekannten, den sie nicht nannte. Aber jedesmal schüttelte der Vater den Kopf.
"Jemand, der sich nicht anstecken kann", kam ihr der Vater zu Hilfe.
"Am Ende Puck?" sehr erfreut klang das gerade nicht.
"Nein, der würde hier doch etwas zu lebhaft sein", lachte Doktor Braun. "Da, du schlechte Puppenmutter, diese junge Dame möchte dir gern gratulieren."
"Gerda" – jubelnd rief es Nesthäkchen. Wie lange war es her, daß sie nicht solche Freude mit ihrer Puppe gehabt hatte! Doch wenigstens eine, der sie heute einen Kuß geben durfte. Denn Gerdas Gesicht war aus Zelluloid und konnte mit Lysol abgewaschen werden. Ordentlich gerührt war Annemarie, daß ihre alte Puppe, die sie im letzten Jahr so arg vernachlässigt, jetzt zu ihr kam, wo sie krank und allein war. Das kleine Mädchen hatte das Gefühl, als ob sie nun ihre allerbeste Freundin bei sich habe.
Wie hübsch Puppe Gerda wieder aussah! Neue glänzend braune Augen hatte sie bekommen. Die blonden Zöpfchen, die sich Annemarie vor Jahren mal selbst abgeschnitten hatte, damit ihr Puppenkind nicht als Kahlkopf herumlaufen sollte, waren zu niedlichen Schnecken über jedem Ohr aufgesteckt. Genau wie Ilse Hermann in ihrer Klasse! Ein wunderhübsches weißes Matrosenkleid hatte Fräulein ihr genäht, und die grüne Sportjacke hatte sicherlich Mutti ihr gehäkelt. Und wieviel Kleider und Hüte konnte Annemarie ihrer Gerda aus der neuen Puppenschneiderei noch selbst anfertigen. Schwester Elfriede versprach, ihr beim Zuschneiden behilflich zu sein. Annemarie wurde nicht müde, die Zusammenstellung der Farben zu überlegen und hübsche Macharten ausfindig zu machen.
Als Schwester Elfriede endlich Nacht machen konnte, da schlief die große, jetzt zehnjährige Annemarie ein wie früher das kleine Annemariechen – ihre Puppe Gerda fest im Arme. Noch im Einschlummern dachte sie dankbar: "Eigentlich war mein Geburtstag auch ohne Kindergesellschaft sehr schön – nur zu Hause bei Mutti möchte ich ihn im nächsten Jahr wieder feiern."