Aus dem Schatten

Kerstin Rachfahl

Für Martina, meine Queen of Office 365, ein Titel, den ich von Andy geklaut habe, der aber perfekt auf dich passt.

Inhalt

1. Abendessen

2. Workshop

3. Auftrag

4. Early Adopter

5. Dynamik

6. Arbeitsalltag

7. It

8. Team

9. David

10. Wochenende

11. Misstrauen

12. Geburtstagsfeier

13. Zweiter Anlauf

14. England

15. Reise

16. Versuchung

17. Rückreise

18. Unter Verdacht

19. Schuldig

20. Anna

21. Aphrodite

22. Schattensprung

Epilog

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

1

Abendessen

Auf dem Stehpult lag der Zettel mit Tischreservierungen, aber einen Kellner konnte sie dort nicht entdecken. Kein Wunder bei der Belegung. Sie schaute sich im Raum um, der von vielen kleinen Ecken und Nischen, die in sanftes Licht getaucht waren, geprägt war. Alte hölzerne Deckenstützpfosten unterteilten den Raum zusätzlich. Trotz der vielen besetzten Tische hörte man nur gedämpfte Geräusche. Als ihr Blick weiter suchend durch den Raum schweifte, sah sie eine der Kellnerinnen in typischer marinefarbener Hose, gestärktem, hellblauem Hemd, roter Krawatte und farblich passender Schürze. Die junge Frau gab ihr ein Zeichen, dass sie sofort für sie da sein würde.

Keine Minute später war sie bei ihr. »Ja, bitte?«

»Stefanie Mansfield. Ich bin mit Herrn Martin Lindemann um 19:30 Uhr zum Abendessen verabredet.«

Mit dem Kugelschreiber fuhr die Kellnerin die Liste entlang. Als sie auf den Namen stieß, hellte sich ihr Gesicht auf.

Stefanie war erleichtert. Unwillkürlich hatte sie die Luft angehalten. So gern sie sich von Martin auch zum Essen einladen ließ, so sehr fühlte sie sich oft durch die Exklusivität der von ihm ausgewählten Restaurants verunsichert.

Die Kellnerin fing eine vorbeikommende Kollegin ab. »Vanessa! Bitte bring Frau Mansfield zu Tisch 12. Herr Lindemann erwartet sie.«

Durch die raffinierte Beleuchtung strahlten die Räumlichkeiten eine warme Atmosphäre aus. Der burgunderrote Teppich dämpfte die Schritte, die Ausstattung in Eiche rustikal passte zu dem Gebäude der umgebauten historischen Mühle. Sie passierten das alte, mit grünblauen Lichtern beleuchtete Mühlrad, das sich, vom Gastraum durch schalldichtes Plexiglas getrennt, träge drehte.

Da saß er.

Ein Kellner hatte ihm eben einen winzigen Schluck Rotwein ins Glas geschenkt, und Martin Lindemann ließ die rubinrote Flüssigkeit einige Runden im Glas kreisen, bevor er daran nippte. Dabei entdeckte er seinen Gast.

»Stefanie! Pünktlich wie immer.« Zum Kellner gewandt sagte er: »Ein vorzüglicher Merlot. Den nehmen wir.«

»Sehr wohl, der Herr.«

Die Angestellte, die Stefanie an den Platz geführt hatte, zog sich zurück und Martin stand auf. Stefanie umarmte ihn innig und küsste ihn rechts und links auf die Wangen. Trotz seiner 69 Jahre war er eine interessante Erscheinung, ein Mann mit tiefschwarzem Haar, das nur an den Schläfen ein wenig grau meliert war.

Manche Männer zogen im Alter mehr Blicke auf sich als in jungen Jahren, ging es Stefanie wieder einmal durch den Kopf, denn für sie gehörte Martin Lindemann in die vorderste Reihe dieser Kategorie. Sein Gesicht schien mit jeder Falte nur noch markanter zu werden, und den Kontrast zwischen seiner Adlernase und dem fülligen Mund fand sie geradezu faszinierend. Dann noch dieses Gesicht mit dem finsteren Touch durch die buschigen Augenbrauen – und wie die hellblauen Augen darunter hervorleuchteten! Seine Figur konnte man zwar nicht direkt als schlank bezeichnen, aber Martin war alles andere als füllig. Die Gegensätze machten ihn einfach unwiderstehlich.

Er hielt sie an beiden Händen und betrachtete sie wohlwollend. »Du siehst fabelhaft aus. Das Kleid steht dir ausgezeichnet.«

Immer, wenn er ihr Komplimente machte, merkte Stefanie, wie ihre Wangen erröteten. Er ist und bleibt ein Charmeur, dachte sie. Tatsächlich liebte sie es, vor dem Kleiderschrank zu stehen und etwas Passendes auszusuchen, wenn er sie einlud. Diesmal hatte sie ein dunkelgrünes Etuikleid gewählt, das durch einen raffinierten Schnitt ihre weibliche Linie betonte. Die Haare hatte sie in einer Hochsteckfrisur zusammengefasst und für die Gelegenheit mit goldenen Spangen festgesteckt. Sogar ihr gefiel der Effekt zu ihrem üppigen, rotblonden Haar, auch wenn sie sonst immer nur Holzstäbchen dafür benutzte. Zur glänzenden, hautfarbenen Feinstrumpfhose hatte sie klassische schwarze Pumps mit vier Zentimeter hohem Absatz an – mehr schaffte sie beim besten Willen nicht – und ihre bloßen Schultern wurden nur von einem mintfarbenen Grobstrickbolero bedeckt. Das Kleid war wirklich ein Traum. Die Perlenohrringe, die sie trug, hatte sie von Martin geschenkt bekommen. Er liebte es, ihr Schmuck zu schenken, doch es gab eine Regel, die er immerhin unter Protest akzeptierte. Sie trug die Perlen nur, wenn sie mit ihm ausging. Der Gedanke, was für ein Vermögen an ihr hing, machte sie sonst zu nervös.

Sie wartete kurz, bis der Kellner die Weinflasche auf einem Beistelltisch abgesetzt hatte und den Stuhl für sie hervorzog. Wie albern für eine emanzipierte Frau, und doch genoss sie an Abenden mit ihm diese kleinen, netten Aufmerksamkeiten.

»Möchte die Dame sich der Getränkewahl des Herrn anschließen?«, fragte der Kellner, als sie sich gesetzt hatte.

»Ja, das möchte sie«, erwiderte Stefanie, »denn er ist der weitaus bessere Weinkenner von uns beiden.« Charmant lächelte sie dem Kellner zu. Als er ihr Lächeln erwiderte, sah sie in seinen Augen ganz kurz etwas aufblitzen. Sie kannte das, denn es begegnete ihr häufig, wenn sie und Martin zum Essen ausgingen – ein verhaltenes Urteil.

Dann reichte er ihr die Karte und wartete einen Moment, um ihr die Empfehlung des heutigen Abends vorzutragen.

Statt Austern wählte Stefanie einen Salat mit Walnüssen, entschied sich ansonsten jedoch für das vorgeschlagene Menü. Milde Bärlauchsuppe und gebratene Entenleber mit Röstzwiebeln, dann Filet, Rippe und Tatar vom Weideochsen sowie einen jungen Altensteiger Ziegenkäse. Zum Nachtisch sollte es karamellisierter Passionsfruchtschaum sein. Auf Kalorien würde sie morgen wieder achten.

Martin schüttelte amüsiert den Kopf, als der Kellner sie verließ. »Du brichst ihm das Herz.«

Stefanie stutzte. »Ich? Wieso das?«

»Wenn du ihn so anlächelst und ganz und gar seinem Rat folgst – aber doch mit mir altem Knacker hier sitzt.«

Sie lachte hell auf. »Ich bezweifle, dass ich ihm damit das Herz breche. Erstens wimmelt es in diesem Restaurant von attraktiven Frauen, und zweitens denkt er vielmehr, dass ich nur hinter deinem Geld her bin und deshalb einen höchst fragwürdigen Charakter besitze.«

»Schade nur, dass du dir nichts aus Geld machst.«

»Wann habe ich das behauptet?«

»Du interessierst dich dafür?«

»Selbstverständlich.« Sie machte eine kurze Pause und versuchte ihn dabei todernst anzusehen, was ihr aber misslang. »Wenn ich es selbst verdiene.«

»Ich wusste, es gibt einen Haken.«

Sie trank einen Schluck von dem Wein. Ein feiner, aromatischer Geschmack mit einem Hauch Cassis und einer Nuance von Zedernholz breitete sich auf ihrer Zunge aus. Er war einen Ticken zu trocken für sie, doch passte der Wein hervorragend zu dem Menü, das sie gewählt hatte. »Also?«

»Also was?« Martin bedachte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, hielt kurz ihren Blick fest und sah dann zum Mühlrad. »Sieht mit dem blauen Licht ein wenig gespenstisch aus, findest du nicht?«

»Huh, das lässt ja hoffen. Spuck es am besten sofort aus, dann können wir den Abend genießen.«

»Lass uns lieber erst essen. Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich etwas auf dem Herzen habe?«

»Na ja, es ist weder mein Geburtstag noch der Jahrestag unserer ersten Begegnung oder sonst einer der üblichen Anlässe, zu denen du mich einlädst.«

»Kann ich nicht einfach mal so mit einer hübschen Frau zu Abend essen?«

»Nein.«

»Du bist immer so hart zu mir!«

»Nein, ich bin ehrlich, und genau das liebst du an mir.«

Der Kellner brachte den ersten Gang.

Stefanie wusste, dass Martin sich nie von ihr würde erweichen lassen, ihr vorher zu verraten, was ihm auf der Seele brannte, darum versuchte sie einfach, das vorzügliche Essen zu genießen. Sie sprachen über Wirtschaft und Finanzmärkte und über Stefanies sechswöchige Reise nach Neuseeland im vergangenen Februar.

Eine wehmütige Fahrt in die Vergangenheit war das gewesen, denn dort hatten ihre Mutter und sie zuletzt gelebt und ihre Mutter war dort gestorben, hatte einfach einen Herzinfarkt bekommen. Ein Erbdefekt, wie die Ärzte bei der Autopsie feststellten. Zum Glück waren die entsprechenden Untersuchungen bei Stefanie ohne Befund geblieben. Damals, mit 13 Jahren, war sie zu den Großeltern gezogen, die in Deutschland lebten. Zum ersten Mal hatte sie ein richtiges Zuhause gehabt, wie sie es bis dahin nie kennengelernt hatte, und eine öffentliche Schule besucht. Für ein Mädchen am Anfang der Pubertät bedeutete das eine große Umstellung, und sie war ihr schwergefallen.

Bei dem Gedanken strich sie sanft über Martins Hand. Dass sie diese Zeit des Verlustes und der Veränderung heil überstanden hatte, verdankte sie ihm. Sie berührte einen der Perlenohrringe, als sie daran dachte, wie sie damals ihr Abitur bestanden und sie von Martin geschenkt bekommen hatte. Die passende Perlenkette war sein Geschenk zum Diplom gewesen.

Sie konzentrierte sich wieder aufs Essen. Der Ziegenkäse bot mit den eingemachten Feigen zusammen einen besonderen geschmacklichen Hochgenuss. Sie war pappsatt und fragte sich, wie sie den Nachtisch noch bewältigen sollte.

Martin ließ nachdenklich den Wein im Glas kreisen, während Stefanie amüsiert seine Körpersprache beobachtete. Wieder mied er den direkten Blickkontakt. Seine Stirn war in tiefe Falten gezogen, die Augenbrauen trafen sich, und immer wieder zog er die Nase kraus und presste dabei die Lippen zusammen. Grimmig und gefährlich. Sie überlegte, ob sie irgendetwas gemacht hatte, das ihn verärgert hatte – außer den üblichen Dingen.

Noch knapp vier Monate, dann stand sein siebzigster Geburtstag an. Siebzig! Konnte es damit zusammenhängen? Innerlich wappnete sie sich gegen seine Bitte. Sie wusste, dass er sie gern auf seiner Feier haben wollte, aber allein der Gedanke daran erzeugte ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Beherzt griff sie zur Weinflasche und füllte ihr Glas wieder auf.

Er sah sie an, legte den Kopf schief und seufzte abgrundtief auf. »Du weißt, es ist mein einziger Wunsch an dich. Es werden so viele Menschen da sein, dass die Familie dich sicher übersieht.«

»Was hältst du von einer Tour mit der Aphrodite durch den Ärmelkanal im kommenden Frühjahr? Die französische Küste hinunter bis nach Bordeaux?«

Er liebte seine Segeljacht, eine schnittige Delphia 47, die mit einer kleinen Mannschaft auskam und aufgrund ihrer Bauweise und Ausstattung in der Lage war, die Ozeane zu überqueren. Das war ein lang gehegter Traum von Martin. Nur hatte er es nie geschafft, sich aus der Verantwortung zu stehlen, die das Führen eines Familienunternehmens mit sich brachte.

Ein feines Lächeln erschien auf seinen Lippen, doch es erreichte seine Augen nicht. Stattdessen sah Stefanie etwas in ihnen, das unwillkürlich ihren Plusschlag beschleunigte.

»Weißt du, was ich an dir liebe?«, fragte er ernst.

»Ja, nämlich, dass ich deine Träume kenne und dir immer wieder sage, dass du sie in die Realität umsetzen sollst, weil man nur ein Leben leben kann. Du liebst es auch, dass ich ehrlich zu dir bin und nichts von dir erwarte, außer ein bisschen von deiner kostbaren Zeit.«

»Ich sterbe.«

Sie starrte ihn an, war sich nicht sicher, ob er das ernst meinte oder einen makabren Scherz machte, damit sie zu seiner Geburtstagsfeier käme.

»Eine weitere Eigenschaft von dir ist, dass du mit Krisen fertigwirst, Stefanie, genauso wie mit dem Tod, ohne daran zu zerbrechen. Es ist bewundernswert, wie du die Verantwortung für deine Oma übernommen hast, als dein Opa starb. Und du hast sie begleitet, als ihre Zeit ablief.«

Stefanie schluckte, spürte einen Kloß im Hals, der jede Antwort im Keim erstickte.

»Keine Sorge, das verlange ich nicht von dir. Ich denke, wenn es so weit ist, werde ich zu feige sein und den leichteren Weg wählen. Geld eröffnet mir andere Möglichkeiten, um zu sterben.«

Immer noch unfähig zu sprechen, schüttelte sie den Kopf, stand auf und legte konzentriert die Serviette auf den Tisch, nahm die Handtasche.

Der Kellner, dem sie in den Weg lief, sah sie fragend an.

»Die Toiletten?«, presste sie hervor.

»Alles in Ordnung? Ist ihnen schlecht? Sie sind ganz blass.«

Tränen schossen ihr in die Augen, und sie brachte kein weiteres Wort heraus.

Er zeigte hinter sich. »An der Bar vorbei, danach direkt links. Dort geht eine Treppe runter.«

Hastig folgte sie der Beschreibung.


Ihre Hände zitterten. Den Kopf in den Nacken gelegt, als könnte das verhindern, dass die Tränen weiter liefen, rang sie um Fassung.

Es musste die Wahrheit sein. Martin würde sie doch niemals belügen, wenn es um seinen eigenen Tod ging. Ja, er hatte recht, sie war weder am Tod ihrer geliebten Mama noch an dem der Großeltern zerbrochen. Doch ihn zu verlieren? Erneut kämpfte sie gegen die aufwallenden Emotionen an. Sie ahnte, dass es Etliches gab, was er mit ihr besprechen wollte, und dass er auf ihre Stärke baute, sie mehr brauchte als je zuvor im Leben. Für einen Moment empfand sie Wut auf ihn – wie er das Restaurant bewusst gewählt hatte, weil er sie genau kannte! Sie hasste emotionale Ausbrüche in der Öffentlichkeit. Entschlossen atmete sie tief durch. Sie straffte die Schultern, putzte sich die Nase, betrachtete kritisch ihr Gesicht im Spiegel. Scheiß Make-up! Wenn man sich ein Mal die Augen schminkte! Den Schaden reparieren oder abschminken? Sie holte Abschminkpads aus der Handtasche, wischte die Wimperntusche von der Augenpartie ab. Kajal und Lidschatten. Eine kühle Creme würde die gereizte Haut an den Stellen beruhigen, der Concealer für Notfälle deckte zuverlässig die roten Stellen ab. Zuletzt puderte sie ihr Gesicht, vor allem die Nase. Heulen konnte sie später noch zu Hause.

Bevor sie die Treppe ganz hochgegangen war, hörte sie die gedämpfte Stimme des Kellners und verharrte.

»... ist immer dasselbe mit diesen reichen Knackern. Kaum ist die Geliebte zu alt, wird sie durch was Jüngeres ersetzt. Und damit es keine Szene gibt, serviert er sie bei einem Abendessen ab.«

»Du hast ’ne Fantasie! Und selbst wenn, ist das besser, als den Freund mit ’ner anderen im Bett zu erwischen.«

»Freund? – Finanzier! Oder Sugardaddy. Die ist garantiert nur halb so alt wie der Typ!«

»Also, ich find sogar, der hat was. Vielleicht steht sie ja einfach auf ältere Männer.«

Genug gehört. Die beiden zuckten erschrocken zusammen, als Stefanie neben ihnen auftauchte.

»Um genau zu sein – mein Vater ist fast exakt 30 Jahre älter als ich. Allerdings sollten Sie, wenn Sie schon über die Gäste reden, darauf achten, wo Sie das tun.«


Als der Kellner den Nachtisch und einen Espresso für sie brachte, würdigte sie ihn keines Blickes. Weil Martin sie aufmerksam ansah, zwang sie sich ein Lächeln auf die Lippen. »Wie lange?«

»Ein Jahr, vielleicht zwei. Ärzte sind nie präzise.«

»Und was ...?«

»Krebs, und bevor du weiterfragst – ja, ich war bei mehreren Ärzten. Die Antwort ist immer dieselbe.«

»Okay, und was möchtest du von mir?«

Er schob ihr die Karte einer Praxis zu. »Die Untersuchung dauert nicht lange. Sie nehmen dir Blut ab, machen einen Ultraschall und du kannst wieder gehen.«

»Wieso?«

»Ich möchte sicher sein, dass bei dir alles in Ordnung ist.«

»Ich bin fit!«

»Bitte, Stefanie, nur für meinen Seelenfrieden. Damals sagten sie, dass der Fehler am Herzen sich erst später zeigen kann, und du ziehst die Untersuchung doch nur um ein Jahr vor.«

Sie nahm die Karte und steckte sie in die Handtasche.

»Das Nächste wird dir nicht gefallen, aber du selbst hast vorhin den Vorschlag gemacht. Ich möchte meinen Traum verwirklichen und mit der Aphrodite die Welt umsegeln.«

»Sag mir wann, und ich sage alles ab, was ich an Projekten auf der Platte habe.«

Er lachte. »Das ist typisch für dich. Kein ‚Bist du wahnsinnig, wie soll das mit der Krankheit funktionieren?‘. Stattdessen bietest du an, mich zu begleiten.«

»Du bist derjenige, der ständig an alles denkt. Ich weiß, dass du es sorgfältig planst. Und dass ich mitkomme – hey, wer ist der Abenteurer von uns beiden?«

»Deine Mama. In dir steckt ein Teil von mir.«

»Stimmt, dieses lästige Verantwortungsgefühl.«

»Genau. Und deshalb brauche ich dich hier. Du würdest nach ein paar Tagen auf einem Boot mitten im Meer doch durchdrehen.«

Er kannte sie. Selbst auf einer Insel neigte sie dazu, einen Koller zu bekommen, sobald der Durchmesser ein gewisses Minimum unterschritt.

»Wofür brauchst du mich hier?«

»Luke und Mathilda. Dem einen fehlen Charakter und Kompetenz, um das Unternehmen zu führen, die andere verfügt über die Kreativität, jedoch fehlen ihr Führungsqualitäten und der Wille, Verantwortung zu übernehmen.«

Bevor Stefanie protestieren konnte, hob er die Hand. »Ich weiß. Ich kenne deine Meinung dazu und ich respektiere sie. Es geht auch gar nicht darum, dass du in meine Fußstapfen trittst. Aber ich brauche jemanden, dem ich vertraue und der die notwendige Fachkompetenz hat, damit ich den Kurs des Unternehmens für die Zukunft setzen kann, jemanden, der nicht eigene Interessen verfolgt, sondern nur meine, und der loyal und absolut ehrlich zu mir ist.«

»Jetzt weiß ich, woher dein Erfolg kommt. Du schaffst es, die Schwachstellen deines Gesprächspartners so geschickt auszunutzen, dass er dir gegen seinen eigenen Willen zustimmt.«

»Ich denke, es ist für dich ein spannendes Projekt, mit all den Herausforderungen, die du so magst. Außerdem wäre es eine Referenz für den Mittelstand in Deutschland.«

»Du möchtest Office 365 bei Aegir einführen?«

»Jeder, der an eine Weltumsegelung denkt, glaubt, das Boot wäre ständig auf Fahrt. In Wahrheit wird es viel in den Häfen der Welt liegen, die meistens mit WLAN ausgestattet sind. Es gibt auch eine Satellitenanlage an Bord. Das bietet Luke und Mathilda die Sicherheit, dass sie jederzeit auf meinen Rat zurückgreifen können, und ich kann lernen loszulassen, ohne sofort die gesamte Kontrolle abzugeben.«

Nachdenklich fing Stefanie an, den Nachtisch zu löffeln. Sie brauchte Zucker. Er ließ ihr Zeit und drängte sie nicht zu einer Entscheidung.

»Wissen die beiden, dass du das Projekt planst?«

»Nein. Die Diagnose kennen sie auch nicht. Selbst Olivia weiß bisher nichts davon. Du bist die Erste, der ich es erzähle.«

»Wie willst du ihnen das Projekt verkaufen?«

»Das ist dein Job. Tilda wird begeistert sein. Sie war es schließlich, die mit der Idee ankam. Luke hingegen ...« Er seufzte abgrundtief. »Ich weiß, dass ihr zwei nie miteinander zurechtgekommen seid. In der Position als kaufmännischer Geschäftsführer ist er ein wenig gereift, aber es wird nicht leicht für dich werden, ihn zu überzeugen. Du musst es wohl auf dich zukommen lassen. Dafür, dass du unseren Chief Information Officer auf deine Seite ziehen kannst, stehen die Chancen fifty-fifty. Ressourcen freizubekommen für die Produktion, die IT-Kosten bei der anstehenden Ablösung der Software zu konsolidieren – das spricht für Office 365. Die Bedenken bezüglich Sicherheit und Datenschutz, die Kontrolle über die Daten abzugeben, das wird Widerstand auslösen, und nicht nur bei ihm. Der CIO wird es dir keinesfalls leicht machen.«

»Wie hieß er noch gleich?«

»David Anderson, 42 Jahre, kein Studium, nur eine Ausbildung zum Fachinformatiker. Den kannst du mit nichts beeindrucken, außer mit Leistung.«

»Warum hast du ihn auf so eine einflussreiche Position gesetzt?«

»Weil er Visionen hat, Projekte umsetzt, statt zu reden, und die Mitarbeiter begeistern kann. Unseren Erfolg der letzten Jahre verdanken wir zum größten Teil ihm.«

»Also brauche ich ihn auf meiner Seite?«

»Ja.«

»Was ist mit dir?«

»Das ist der Deal: Ich starte das Projekt und gebe die Bedingungen vor, entscheiden müssen die anderen. Schaffst du ein Go, kann ich mir den Traum erfüllen.«

»Na toll, das setzt mich noch weiter unter Druck.«

»Du schwärmst mir ständig von Office 365 vor.«

»Ich bin ja auch davon begeistert. Ein Unternehmen muss aber so weit sein, diesen Schritt zu gehen. Das ist ein Veränderungsprozess.«

»Weshalb ich jemanden mit dem Projekt beauftrage, der das technische Know-how mitbringt. Und das Fingerspitzengefühl für die Herausforderungen, die vor uns als Firmenleitung und den Mitarbeitern liegen.«

»Du kennst meine Tagessätze?«

»Ich bin dein Vater.«

»Oh nein. Keine Sonderbehandlung.«

»Ja, ich weiß, was du nimmst. Zuerst musst du die Geschäftsleitung überzeugen. Dann sprechen wir über die beste Vorgehensweise, und danach möchte ich von dir eine Abschätzung des Aufwands.«

»Deal.«


Er wartete auf sie, solange der Kellner ihr in den Mantel half. Das Trinkgeld war großzügig bemessen wie immer bei Martin. Sie hatte den Mund gehalten über die Bemerkungen des Personals und seine Betitelung als Knacker. Vielleicht lernte der Kellner etwas aus dem Abend.

Draußen fing es an zu nieseln. Martin spannte einen Regenschirm auf und Stefanie hakte sich bei ihm unter.

»Wo steht dein Auto?«

»In der nächsten Seitenstraße«, antwortete sie.

»Dass du da noch Platz gefunden hast ...«

»Ich sag dir immer, leg dir einen Kleinen zu.«

Sie erreichten den grasgrünen Corsa.

»Komm her. Lass dich umarmen.«

Die Arme um seinen Oberkörper geschlungen drückte sie ihn an sich, zog tief den Geruch seines Aftershaves ein und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Du schickst mir eine E-Mail mit den Terminen?«, hakte er nach.

»Ja klar. Ein urdeutsches Familienunternehmen in die Zukunft zu bringen, das lasse ich mir doch nicht entgehen.« Tapfer lächelte sie ihm zu und stieg hastig ins Auto, bevor die Emotionen sie übermannten.

Im Rückspiegel sah sie seine Gestalt im Regen stehen, bis sie an der Ecke abbiegen musste.