Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich über Lebensformen sagen, sie seien gut, geglückt oder gar rational? Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats versteht sich als Versuch, das gesellschaftliche Zusammenleben auf eine Weise zu gestalten, die sich zu den unterschiedlichen Lebensformen neutral bzw. »ethisch enthaltsam« verhält. Dadurch werden Fragen nach der Art und Weise, in der wir individuell oder kollektiv unser Leben führen, in den Bereich nicht weiter hinterfragbarer Präferenzen oder als unhintergehbar gedachter Identitätsfragen ausgelagert. Wie über Geschmack lässt sich über Lebensformen dann nicht mehr streiten. Rahel Jaeggi hingegen behauptet: Über Lebensformen lässt sich mit Gründen streiten. Lebensformen sind als Ensembles sozialer Praktiken auf die Lösung von Problemen gerichtet. Sie finden ihren Maßstab »in der Sache« des Problems.
Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Was ist Kritik? (stw 1885, hg. zusammen mit Tilo Wesche), Sozialphilosophie und Kritik (stw 1960, hg. zusammen mit Rainer Forst, Martin Hartmann und Martin Saar) und Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis (stw 2066, hg. zusammen mit Daniel Loick).
Kritik von Lebensformen
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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© Rahel Jaeggi 2014
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eISBN 978-3-518-73577-0
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Vorwort
Einleitung: Wider die »ethische Enthaltsamkeit«
Erster Teil
Ein Ensemble von Praktiken:
Lebensformen als soziale Gebilde
1. Was ist eine Lebensform?
1.1 Lebensform: Begriff und Phänomen
1.2 Dauer, Tiefe, Umfang
1.3 Ein modulares Konzept von Lebensformen
2. Lebensformen als träger Zusammenhang von Praktiken
2.1 Was sind (soziale) Praktiken?
2.2 Der Zusammenhangscharakter
2.3 Das Trägheitsmoment
2.4 Praxis, Kritik, Reflexion
Zweiter Teil
Problemlösungen:
Lebensformen als normativ verfasste Gebilde
3. Die Normativität von Lebensformen
3.1 Normen und Normativität
3.2 Modi der Normativität
3.3 Drei Arten von Normbegründung
3.4 »Seinem Begriff nicht entsprechen«
4. Lebensformen als Problemlösungsinstanzen
4.1 Was sind Probleme?
4.2 Gegeben oder gemacht? Das Problem mit den Problemen
4.3 Problemlösungsversuche: Hegels Theorie der Familie
4.4 Krisen der Problemlösung
4.5 Probleme zweiter Ordnung
6Dritter Teil
Formen der Kritik
5. Was ist interne Kritik?
5.1 Externe und interne Kritik
5.2 Die Strategie interner Kritik
5.3 Vorteile und Grenzen interner Kritik
6. »Aus der Kritik der alten Welt die neue finden«: Immanente Kritik
6.1 Eine Kritik neuen Typs
6.2 Die Strategie immanenter Kritik
6.3 Potentiale und Schwierigkeiten
Vierter Teil
Die Dynamik der Krise und die Rationalität sozialen Wandels
7. Gelingende und scheiternde Lernprozesse
7.1 Veränderung, Lernen, Entwicklung, Fortschritt
7.2 Können Lebensformen lernen?
7.3 Defizitäre Lernprozesse
7.4 Why does history matter?
8. Kriseninduzierte Transformationen: Dewey, MacIntyre, Hegel
8.1 Sozialer Wandel als experimentelle Problemlösung
8.2 Die Dynamik von Traditionen
8.3 Geschichte als dialektischer Lernprozess
9. Problem oder Widerspruch?
9.1 Probleme als Unbestimmtheit
9.2 Krise als Kontinuitätsbruch
9.3 Krise als dialektischer Widerspruch
9.4 Das Problem mit dem Widerspruch
10. Die Dynamik von Lernprozessen
10.1 Problemlösung als experimenteller Lernprozess
10.2 Die Dynamik von Traditionen
10.3 7»Die Quelle des Fortschritts wie des Verderbens«
10.4 Ein dialektisch-pragmatistisch verstandener Lernprozess
Schluss: Eine kritische Theorie der Kritik von Lebensformen
8Für Andreas und Jakob
Die Kritische Theorie der Gesellschaft hat […] dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. […] Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag.
Max Horkheimer
Bundestagswahlen, Feierstunden der Olympiade, Aktionen eines Scharfschützenkommandos, eine Uraufführung im Großen Schauspielhaus gelten als öffentlich. Ereignisse von überragender öffentlicher Bedeutung wie Kindererziehung, Arbeit im Betrieb, Fernsehen in den eigenen vier Wänden gelten als privat. Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kollektiven gesellschaftlichen Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen.
Oskar Negt und Alexander Kluge
Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich von Lebensformen sagen, ob sie als Lebensformen gut, geglückt oder gar rational sind? Seit Kant gilt als ausgemacht, dass sich Glück oder das gute Leben im Gegensatz zum moralisch Richtigen philosophisch nicht bestimmen lassen. Und mit John Rawls und Jürgen Habermas schlagen die zurzeit wohl einflussreichsten Positionen der politischen Philosophie unter Verweis auf den irreduziblen ethischen Pluralismus moderner Gesellschaften vor, sich der philosophischen Diskussion des ethischen Gehalts von Lebensformen zu enthalten. Die Philosophie zieht sich damit von der sokratischen Frage, »wie zu leben sei«, zurück und beschränkt sich auf das Problem, wie angesichts der Vielzahl miteinander inkommensurabler Vorstellungen des guten Lebens ein gerechtes Zusammenleben als Nebeneinander verschiedener Lebensformen gesichert werden kann. Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats stellt sich entsprechend als der Versuch einer lebensformneutralen Organisation dieses Zusammenlebens dar. Sofern es dann aber nicht mehr um die richtige gemeinsame Lebensform geht, sondern um das möglichst konfliktfreie Miteinander verschiedener Lebensformen, werden damit 10Fragen nach der Art und Weise, in der wir unser Leben führen, in den Bereich privater Präferenzen verschoben. Wie über Geschmack lässt sich über Lebensformen dann nicht mehr streiten. Sie werden zu einer unzugänglichen black box; mit Gründen kritisieren lassen sich allenfalls ihre Effekte.
Nun gibt es für eine solche Position naheliegende Gründe. Nicht nur ist der Zweifel berechtigt, ob sich angesichts der fundamentalen Unterschiede in Bezug auf Weltauffassungen und ethische Überzeugungen so leicht eine Übereinstimmung zwischen den Beteiligten herstellen ließe. Auch gehört der Wunsch, sich hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens nicht von (philosophischen) Sittenrichtern »hereinreden lassen« zu wollen, zu den unhintergehbaren Komponenten unseres modernen Selbstverständnisses. Deshalb mag es so aussehen, als ob die liberale black box zu den Bedingungen der Möglichkeit moderner Selbstbestimmung gehört und erst den Freiraum schafft, in dem sich eine Vielfalt von Lebensweisen ungestört entwickeln (oder erhalten) kann.
Die vorliegende Untersuchung ist von der Vermutung geleitet, dass an dieser These etwas nicht stimmt, ja, dass es sich in mancher Hinsicht geradezu umgekehrt verhält. Wenn wir die innere Verfasstheit unserer sozialen Praktiken und Lebensformen der »außerphilosophischen Dunkelheit« überlassen, wie der kanadische Philosoph Charles Taylor es ausgedrückt hat, geraten wir in Gefahr, sie auf unangemessene Weise als gegeben hinzunehmen. Wir erklären damit etwas, das »öffentliche Bedeutung« hat, vorschnell zur unhintergehbaren Identitätsfrage und entziehen damit Themenbereiche der rationalen Argumentation, die man aus dem Einzugsbereich demokratisch-kollektiver Selbstbestimmung nicht herauslösen sollte. Vielleicht sollte man die Beweislast umkehren: Die ethische Frage, »wie zu leben sei«, lässt sich aus den Prozessen individueller, aber auch kollektiver Willensbildung gar nicht so leicht ausklammern. Sie ist in jeder gesellschaftlichen Formation implizit oder explizit immer schon beantwortet. Das gilt auch noch für diejenige gesellschaftliche Organisationsform, die sich dem Pluralismus von Lebensformen verschrieben hat. Dann aber ist die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen in gewisser Weise gar nicht richtig gestellt. Nicht trotz, sondern gerade angesichts der Situation moderner Gesellschaften – als der »ungeheuren Macht, die alles an sich reißt« (Hegel) – lässt sich die 11Bewertung von Lebensformen nicht ins Reservat partikularer Vorlieben und unhintergehbarer Bindungen abdrängen.
Das wird insbesondere in gesellschaftlichen Konflikt- und Umbruchsituationen deutlich. So gibt es Situationen, in denen durch neue Technologien – man denke an die Gentechnologie – bislang unhinterfragte ethische Grundsätze plötzlich zur Debatte stehen. Aber auch die Konfrontation mit anderen Lebensformen kann zu Konflikten, Krisen und Selbstverständigungskrisen führen, in denen der Gehalt und die Grundorientierungen der eigenen wie der fremden Lebensform selbst ins Blickfeld geraten und eingelebte soziale Praktiken fraglich werden. Man muss hier nicht gleich an die vielerorts fälschlicherweise zum »Kampf der Kulturen« hypostasierten Konflikte oder an Grundlagenkrisen unserer moralischen Bezugssysteme denken. Auch ganz alltägliche Kontroversen um die Gestaltung des städtischen Raums[1] oder der öffentlichen Kinderbetreuung,[2] um die Vermarktlichung von Gütern wie Gesundheit, Bildung oder Wohnraum oder um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft lassen sich als Auseinandersetzung um die Integrität und den Zuschnitt von Lebensformen verstehen.
Einer Kritik von Lebensformen geht es also nicht etwa (im Sinne einer luxurierten Philosophie der Lebenskunst) um »Sahnehäubchenfragen« des guten Lebens, die zu stellen sich erst lohnte, wenn die Basisfragen gesellschaftlicher Organisation gelöst wären. Es geht um die innere Gestalt jener Institutionen und überindividuellen Zusammenhänge, die unser Leben formen und innerhalb 12derer sich unsere Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erst ergeben. Wenn nun aber das Projekt der Moderne, der Anspruch der Individuen darauf, »ihr eigenes Leben zu leben«, sich nicht nur in der einfachen Freiheit gegenüber der Einmischung anderer realisiert, dann ist – so die hier verfolgte These – die öffentliche und auch philosophische Reflexion über Lebensformen weniger eine problematische Intervention in nicht zu hinterfragende Residuen individueller oder kollektiver Identität als vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer Transformation und Aneignung der eigenen Lebensbedingungen. Die Kritik an Lebensformen, oder besser: eine kritische Theorie der Kritik von Lebensformen, so wie ich sie hier konzipieren will, soll dann nicht etwa einem Rückfall in vormodernen Paternalismus das Wort reden, sondern die Bedingungen dessen untersuchen, was sich in der Traditionslinie der Kritischen Theorie als Ferment individueller wie kollektiver Emanzipationsprozesse auffassen lässt.
Von der gefürchteten »Sittendiktatur« unterscheidet sich eine solche Perspektive auch dadurch, dass sie Teil einer Suchbewegung ist, deren Ausgangspunkt nicht das Beharren auf der einen, richtigen Lebensform, sondern die Einsicht in die vielfältigen Defizite der eigenen wie der fremden Lebensformen ist. Wie Hilary Putnam es formuliert: »Unser Problem besteht nicht darin, dass wir zwischen einer gegebenen Anzahl von ›besten Lebensweisen‹ wählen müssten; unser Problem besteht darin, dass wir nicht einmal eine einzige solcher ›besten Lebensweisen‹ kennen.«[3] Wenn wir aber keine einzige »gute Lebensform« kennen, so hätten wir diese erst in Prozessen zu entwickeln, in denen schon die Vorstellung von unhintergehbaren »Identitäten« und der damit verbundenen »Konzeptionen des Guten« sich auflöst. Die Grenze zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« einer Lebensform, auf der die Vorstellungen von deren Unhintergehbarkeit in einiger Hinsicht beruhen, wird damit, ebenso wie das hier in Anspruch genommene kollektive »Wir«, durchlässig. Auch der Unterschied zwischen inter- und intrakulturellen Konflikten fällt dann nicht mehr groß ins Gewicht. Ob wir uns – interkulturell – über arrangierte Ehen oder – intrakulturell – über gay marriage streiten, ist, wenn 13man die Trennung zwischen Innen und Außen in der hier eingeschlagenen Perspektive zu obstruieren versucht, keine kategoriale Differenz, sondern allenfalls eine Frage der kontextspezifischen Sensibilität. Lebensformen sind, diesem Verständnis nach, nicht nur Gegenstand, sondern immer auch auch Resultat von Auseinandersetzungen.
Der Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Annahme, dass wir Lebensformen nicht nur kritisieren können, sondern dass wir sie (und damit uns in unseren Lebensvollzügen) auch kritisieren sollten und dies, implizit oder explizit, auch immer schon tun. Zu bewerten und zu kritisieren – und das gilt besonders für die sogenannten »posttraditionalen Gesellschaften« – ist Teil dessen, was es bedeutet, eine Lebensform zu teilen und (dabei) mit anderen Lebensformen konfrontiert zu sein. Die Behauptung, der ich in der folgenden Untersuchung nachgehen werde, lautet also: Über Lebensformen lässt sich streiten, und zwar mit Gründen streiten. Mit Lebensformen sind Geltungsansprüche impliziert, die sich nicht folgenlos »einklammern« lassen, selbst wenn es sich hier nicht um letztbegründbare (und in diesem Sinne zwingende) Gründe handelt. Vermittelt über die Frage ihrer Kritisierbarkeit geht es somit auch um die spezifische Rationalität von Lebensformen.
Gegenstand meines Buches ist damit die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen, sein Ziel die Ausarbeitung und argumentative Verteidigung einer bestimmten Konzeption von Kritik – geleistet wird hier nicht die sozialkritische Diagnose einer spezifischen Lebensform selbst.
Dass ich die Frage nach dem Gelingen von Lebensformen dabei aus der Perspektive der Kritik stelle, ist kein Zufall. Es soll nämlich nicht darum gehen, die Generalkonzeption einer richtigen Lebensform am grünen Tisch zu entwerfen – solche ethischen Gesamtentwürfe scheinen mir weder wünschenswert noch aussichtsreich. Vielmehr richtet sich mein Blick negativistisch auf das spezifische Nichtgelingen von Lebensformen, auf die Krisen, in die sie geraten, und die Probleme, die an ihnen auftreten können – die Hinsichten also, in denen mit Lebensformen »etwas nicht stimmt« und in denen sie sich deshalb der Kritik aussetzen.
Auch der Umstand, dass ich mich hier mit der Struktur und der Dynamik von Lebensformen beschäftige (und entsprechend den in der Debatte verwendeten Begriff der Lebensform selbst ernst 14nehme), statt das Problem von der Seite der Begründbarkeit ethischer Werte her anzugehen, hat seinen Grund nicht lediglich im Sprachgebrauch einer speziellen philosophischen Diskussion.[4] Die Perspektive des Gelingens von Lebensformen – wenn man diese, wie ich vorschlagen werde, als Zusammenhang von sozialen Praktiken auffasst – ermöglicht es nämlich, Bewertungskriterien zu entwickeln, die sich an den normativen Bedingungen des Gelingens dieser Praktiken ausrichten.
Das Moment der Funktionsstörung oder Krise wird sich dabei als ein wichtiges Movens dessen erweisen, was in meinem Entwurf »Kritik« heißen soll. Setzt die Kritik von Lebensformen, wie ich sie hier konzipieren möchte, dort ein, wo es Probleme, Krisen oder Konflikte gibt, so wird sie nicht aus einer extern-autoritären Perspektive betrieben, sondern ist, wie man sagen könnte, das Ferment eines Prozesses, in dem Kritik und Selbstkritik miteinander verschränkt sind. Die angestrebte Kritik soll also, um die jeweils gegenläufigen Momente zu skizzieren, nicht »ethisch enthaltsam«, aber auch nicht paternalistisch sein; sie verhält sich nicht relativistisch zu den Geltungsansprüchen von Lebensformen, soll aber trotzdem keine antipluralistischen Konsequenzen haben. Und am Ende wird sich zeigen, dass es gerade der Umstand ist, dass sich Lebensformen als historisch sich entwickelnde und mit normativem Anspruchsniveau versehene Lernprozesse verstehen lassen, der uns den Schlüssel zu ihrer Beurteilung in die Hand gibt.
Der Aufbau meiner Untersuchung ist einfach: In der Einleitung werden die Fragestellung und mein Ansatz anhand der Auseinandersetzung mit der Gegenposition – das heißt mit den verschiedenen Varianten einer »ethischen Enthaltsamkeit« – entwickelt. Der erste Teil stellt dann die Frage, was eine Lebensform – verstanden als Zusammenhang sozialer Praktiken – ausmacht. Der zweite Teil arbeitet die spezifische Normativität von Lebensformen aus und stellt ein Konzept von Lebensformen als Problemlösungsstrategien vor. Der dritte Teil beschäftigt sich mit Formen der Kritik und ent15wickelt das Konzept einer ideologiekritisch inspirierten »starken« Version immanenter Kritik. Im vierten Teil schließlich wird die Idee eines normativ gerichteten sozialen Lernprozesses ausgearbeitet. Damit transformiert sich die Frage danach, wann eine Lebensform defizitär ist oder gelingt, in die Frage nach den Kriterien für das Gelingen oder Nichtgelingen eines solchen Prozesses als rationalen Lernprozesses.
Dieses Buch ist die substantiell überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, mit der ich im Frühjahr 2009 am Philosophischen Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main habilitiert worden bin.
Auch diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung durch Axel Honneth nicht denkbar gewesen. Der nunmehr fast fünfzehnjährigen Zusammenarbeit verdanke ich philosophische Inspiration, Ermutigung, aber auch das Vorbild einer Haltung zum Philosophieren, die sich »große Fragen« zutraut, dabei aber bei aller Ernsthaftigkeit den Pathologien der Selbstüberschätzung zu entkommen vermag. Kaum überbewerten lässt sich auch die Rolle, die die philosophische Auseinandersetzung und die Freundschaft mit Fred Neuhouser für mein Arbeiten bedeutet hat. Dieses Buch verdankt ihm an Anregung mehr, als vielleicht auf den ersten Blick kenntlich wird.
Dem Druck in den zeitlich sehr gedrängten Monaten vor der Fertigstellung der Habilitation hätte ich nicht standhalten können, wenn nicht ein ganzes Team von Freunden und Kollegen das Projekt fortlaufend mit mir diskutiert und den im Entstehen begriffenen Text engmaschig kommentiert hätte. Für diese Kooperation im allerbesten Sinne möchte ich Robin Celikates, Gustav Falke, Martin Saar und Titus Stahl herzlich danken. Sie alle wissen, wie folgenreich und wichtig die Unterstützung in dieser für mich entscheidenden Phase war und wie sehr mich die langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft, die vielfältigen Interessen, Erfahrungen und Projekte, die wir teilen, gelehrt haben, die Philosophie auch als gemeinsame Lebensform begreifen zu können. Rainer Forst und Stefan Gosepath möchte ich für die langjährige Kollegialität, Freundschaft und philosophische Inspiration – »bei 16aller vernünftigen Nichtübereinstimmung« – danken; Martin Seel und Karl-Heinz Kohl für die Bereitschaft, als Gutachter am Habilitationsverfahren teilzunehmen. Regina Kreide danke ich für die stetige Ermutigung und die wöchentlichen spätnächtlichen Diskussionen in Frankfurt. Daniel Loick, der wie kein anderer den politischen und lebensweltlichen Subtext der hier verhandelten Themen versteht, hat die Arbeit auf hilfreiche Weise kommentiert und mich auf jede erdenkliche Weise angespornt, das Projekt voranzutreiben.
Wie so häufig liegt zwischen der Abgabefassung der akademischen Qualifikationsarbeit und dem fertigen Buchmanuskript auch in diesem Fall ein weiter Weg. Den wichtigsten Einfluss auf das Endprodukt hat sicherlich Lukas Kübler genommen. Mit großem hermeneutischem Gespür hat er mein Projekt manchmal besser verstanden als ich selbst, den Text mit erstaunlichem Problembewusstsein und großer Unbestechlichkeit redigiert und ihn mit unzähligen Anregungen bereichert. In entscheidenden Momenten hat Eva von Redecker nicht nur einen letzten »sanity check«, sondern auch die nötige Bekräftigung beigesteuert. Am Endlektorat waren zudem zu verschiedenen Zeiten Georg Brunner, Margarete Stokowski und Dana Sindermann – und, ganz zum Schluss und sehr entscheidend, Frank Lachmann, Lea Prix und Selana Tzschiesche beteiligt. Ihnen allen schulde ich großen Dank. Eva Gilmer hat mir mit ihren engagierten und umsichtigen Bemerkungen erst klargemacht, was wissenschaftliches Lektorat eigentlich sein kann. Dafür und für die nicht enden wollende Nachsicht mit einer säumigen Autorin sei ihr herzlich gedankt.
Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Wie bereits bei (eigentlich allen) vorangegangenen Publikationen war dies der Ort, der mir ungestörtes Arbeiten in einem anregenden öffentlichen Raum ermöglicht hat.
Die gesamte Zeit der Arbeit an diesem Projekt fällt zusammen mit den ersten Lebensjahren meines Sohnes Jakob, meines kleinen größten Glücks. Dass der erste Satz dieser Untersuchung am ersten Tag des Erziehungsurlaubes meines Mannes, Andreas Fischer, geschrieben wurde, ist kein Zufall. Ohne seine unendliche Geduld, sein Vertrauen und seine Unterstützung wäre die Realisierung dieses nicht enden wollenden Projekts nicht möglich gewesen. Ihnen 17beiden möchte ich das Buch widmen – auch wenn es »gar kein richtiges Buch« ist!
We cannot escape value judgements […]
nor do we treat them as a matter of taste.
Hilary Putnam
Was ist und wozu betreiben wir die Kritik von Lebensformen? Ich möchte die Fragestellung dieses Buches in der folgenden Einleitung in drei Hinsichten ausformulieren: Was bedeutet es, Lebensformen als Lebensformen zu kritisieren? Was steht mit der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen auf dem Spiel und warum sollte sich die Philosophie in einem solchen Projekt engagieren?
Um mich diesen Fragen zu nähern, soll zunächst der spezifische Charakter einer kritischen Thematisierung von Lebensformen herausgearbeitet werden (1). Anschließend verteidige ich meine Fragestellung gegen Positionen, die aus verschiedenen Gründen eine »Enthaltsamkeit« in Bezug auf die Bewertung von Lebensformen empfehlen (2). Schließlich werde ich meinen Ansatz in Grundzügen skizzieren (3) und einen Überblick über den weiteren Verlauf der Argumentation geben (4).
Über jemanden, der sich ernsthaft darüber empört, dass sein Gegenüber Bananen isst oder rote Cowboystiefel trägt, wird man lachen. Selbst wenn man bei der Vorstellung von Bananen Abscheu empfindet oder angesichts roter Cowboystiefel von spöttischer Belustigung gepackt wird: Man kann sich schwerlich eine sinnvolle Debatte darüber vorstellen, ob es richtig oder falsch ist, Bananen zu essen oder rote Cowboystiefel zu tragen. Das ist, so sagt man, jedermanns eigene Angelegenheit und, ganz buchstäblich, eine Geschmacksfrage. Anders steht die Sache, wenn wir jemanden dabei beobachten, wie er sein Kind schlägt. Hier empören wir uns, wie wir glauben, mit guten Gründen. Das ist, davon sind wir überzeugt, weder eine Geschmacksfrage noch eine »persönliche Angelegenheit«, hier einzugreifen ist unsere moralische Pflicht.
19Wie aber liegen die Dinge, wenn es darum geht, ob jemand in einer Mehrfachbeziehung oder in einer Kleinfamilie lebt, ob Intimbeziehungen im chatroom stattfinden oder in Tantraworkshops gepflegt werden? Wie beurteilen wir die Sitte, mit der neugegründeten Familie bei den Eltern eines der beiden Ehepartner zu leben – oder umgekehrt den (schon in Hegels Darstellung der bürgerlichen Familie hervorgehobenen) Umstand, dass die für die moderne bürgerliche Gesellschaft entscheidende Kernfamilie sich typischerweise in räumlicher und ökonomischer Ablösung von der Herkunftsfamilie konstituiert? Und wie verhalten wir uns, wenn es nicht um das Verprügeln von Kindern geht, sondern um die verbreitete Praxis, den Fernseher als Babysitter einzusetzen? Auf welcher Grundlage nehmen wir zur Ausbreitung von shopping malls im öffentlichen Raum, zur Verkehrsplanung oder zur Förderung des Eigenheimbaus Stellung? Warum verbringen wir unsere Freizeit lieber im Theater, im Kino oder in der Kneipe statt vor dem Fernseher, und warum bevorzugen wir das Leben in der Stadt gegenüber dem auf dem Land (oder umgekehrt)? Wie schließlich unterscheiden wir zwischen guter oder sinnvoller und stumpfsinnig-entfremdeter Arbeit – und nach welchen Kriterien bewerten wir das in unseren Gesellschaften verbreitete Arbeitsethos?
Auch zu solchen Fragen beziehen wir häufig – manchmal sogar ganz entschieden – Position. Wir kritisieren die Passivität und Zurückgezogenheit des Fernsehkonsumenten. Wir fühlen uns von der Biederkeit der ehelichen Lebensgemeinschaft abgestoßen oder halten Mehrfachbeziehungen für illusorisch. Wir finden das Leben in einer Kleinfamilie zu isoliert oder betrachten umgekehrt ein Leben im größeren Familienverband als unzumutbare Einschränkung. Wir schwärmen für das pulsierende städtische Leben oder für die Behaglichkeit der Provinz. Wir treten für das »Recht auf Faulheit« ein oder sehen in der Arbeit den primären Lebenssinn. Und wo der Kapitalismus allzu aufdringlich wird, etwa wenn »kulturelle Werte« dem Kommerz untergeordnet werden, mögen wir die Verflachung, Verarmung oder sogar Entwirklichung unseres Lebens befürchten.
Die hier angedeuteten Positionen betreffen das, was ich in meiner Untersuchung mit dem Stichwort »Lebensformen« thematisieren werde. Unterschiede in Bezug auf Lebensformen können sowohl in Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen oder Gesellschaften virulent werden als auch innerhalb einer Gesellschaft. 20So ist die Debatte um die juristische Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen in den USA und in Westeuropa mit einem intrakulturellen Wertekonflikt unterfüttert; im Umgang mit arrangierten Ehen dagegen kommen interkulturelle Differenzen ins Spiel – auch wenn diese Grenze nicht immer so leicht zu ziehen ist, wie es auf den ersten Blick scheint.
So entschieden allerdings in manchen Fällen unsere Ansichten sind und so erbittert der öffentliche Streit,[1] so unklar bleibt, welchen argumentativen Status diese Positionen eigentlich haben. Machen wir uns, ähnlich wie bei der Frage der roten Cowboystiefel, lächerlich, wenn wir hier Gründe suchen, jemanden von unserer Meinung überzeugen zu wollen, oder uns dabei gar ereifern? Muss hier nicht jede und jeder für sich entscheiden, wie sie oder er sich verhält? Gibt es in solchen Fällen überhaupt bessere oder schlechtere Optionen und Positionen, die sich intersubjektiv vermitteln und begründen lassen, also Anspruch auf übergreifende Gültigkeit erheben können? Lassen sich also unsere Lebensformen (rational) begründen – jenseits davon, dass es eben faktisch unsere Lebensformen sind? Und lässt sich über das Gelingen oder Scheitern von Lebensformen mehr sagen, als dass dies eben manchmal passiert (das Gelingen und das Scheitern)? Um diese Fragen soll es in meinem Buch gehen.
Die Rede von Lebensformen bezieht sich, so wie ich sie verstehe, auf kulturell geprägte Formen menschlichen Zusammenlebens, »Ordnungen menschlicher Koexistenz«,[2] die ein »Ensemble von 21Praktiken und Orientierungen«,[3] aber auch deren institutionelle Manifestationen und Materialisierungen umfassen. Unterschiede in Lebensformen drücken sich also nicht nur in unterschiedlichen Überzeugungen, Wertorientierungen und Einstellungen aus; sie manifestieren und materialisieren sich in Mode, Architektur, Rechtssystemen und Weisen der Familienorganisation, in jenem von Musil so genannten »dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen«,[4] der unser Leben ausmacht.
Als Formen, in denen gelebt wird, gehören sie (hegelsch verstanden) zur Sphäre des »objektiven Geistes« oder auch, mit Hannah Arendt gesagt, zu der spezifisch menschlichen Welt, in der sich das menschliche im Gegensatz zu anderem biologischen Leben abspielt.[5] Lebensformen, so wie hier von ihnen die Rede sein wird, betreffen also die kulturelle und soziale Reproduktion menschlichen Lebens – eine definitorische Entscheidung, die darin begründet ist, dass es mir naheliegend scheint, von Lebensform nur da zu sprechen, wo etwas gestaltet (oder geformt) ist und demnach auch umgestaltet werden könnte, also nicht schon da, wo etwas sich auf typische Weise immer wiederholt oder einen durch Instinkte geleiteten notwendigen Verlauf hat. Anders gesagt: Ich frage nach Lebensformen im Plural, also den verschiedenen kulturellen Formen, die das menschliche Leben annehmen kann, nicht (in ethisch naturalistischer Perspektive) nach der Lebensform des Menschen – im Gegensatz etwa zu der des Löwen.[6]
Dabei darf man sich von der scheinbaren Privatheit der oben 22angeführten Beispiele für die Diskussion um Lebensformen nicht täuschen lassen. Die Durchsetzung oder Ablehnung der genannten Positionen beruht auf kulturellen Leitbildern und geteilten Werten. Sie betreffen überindividuelle Fragen der Lebensführung, die sich in eingespielten sozialen Praktiken und Institutionen artikulieren. Lebensformen sind also keine individuellen Optionen, sondern überpersönlich geprägte Ausdrucksformen mit öffentlicher Relevanz. Einer geschlechtsspezifischen Verhaltensordnung beispielsweise zu folgen oder sie zu verweigern ist eine Disposition, die individuell gar nicht verfügbar ist, sofern diese auf sozial verfassten Verhaltensmustern und Bedeutungen beruht. Und zwangsläufig betrifft das eigene Verhalten in solchen Fällen nicht nur diejenigen, die einem solchen Muster folgen (oder eben nicht), es prägt auch den Möglichkeitsraum des Verhaltens aller anderen.[7] Zudem haben Lebensformen politisch-ökonomische Rahmenbedingungen. Schon die Existenz von Einfamilienhäusern hängt ab von institutionellen (und politisch verfassten) Bestimmungen, wie Bebauungsplänen oder der staatlichen Eigenheimförderung;[8] das familiäre Leben mit Kindern ist geprägt von der Existenz oder Nichtexistenz öffentlicher Betreuungseinrichtungen, und die Verfügbarkeit von Theateraufführungen einer bestimmten Qualität ist nicht zuletzt abhängig von öffentlicher Kulturförderung.
Dort nun, wo die in Frage stehenden Optionen zu trivial erscheinen mögen, um überhaupt Gegenstand von Debatten zu sein, sei darauf hingewiesen, dass sich unter der Perspektive einer Lebensformanalyse auch die alltäglichsten Verrichtungen des Alltagslebens im Zweifelsfall als (besondere) Manifestationen des Allgemeinen einer Lebensform lesen lassen.[9] Diese alltäglichen Haltungen und 23Lebensweisen sind also – und das beträfe noch die roten Cowboystiefel, die ja klischeehaft für eine bestimmte Vorstellung von Männlichkeit und Unabhängigkeit stehen – bedeutungstragend.
Was soll es nun bedeuten, dass in den oben angeführten Fällen Lebensformen als Lebensformen thematisiert werden? Was genau ist der Gegenstandsbereich und der Modus einer Kritik von Lebensformen, sofern sie Lebensformen als solche bewertet?
Einer solchen Kritik geht es um die spezifische Beschaffenheit, das heißt um eine qualitative Dimension der Einstellungen und Praktiken einer Lebensform – im Gegensatz beispielsweise zu ihren Folgen, etwa ihrer moralischen Qualität im Sinne der Schädigung oder der ungerechtfertigten Behandlung anderer. Es geht also, an eine Unterscheidung von Charles Larmore angelehnt, um den intrinsischen Gehalt der Lebensformen, nicht um ihre externe Wirkung.[10] In die Gegenüberstellung von »gutem Leben« und »Gerechtigkeit« eingetragen: Etwas in diesem Sinne als Lebensform zu kritisieren bedeutet zu fragen, ob eine Lebensform als solche gelungen, geglückt – oder auch rational – ist, und nicht nur zu fragen, ob sich in ihr eine im engeren Sinne[11] gerechte gesellschaftliche Ordnung manifestiert. Nun ist die Unterscheidung zwischen »gutem« und »richtigem« Leben selbst umkämpft und ihr Nutzen umstritten. Deutlich werden sollte durch diese erste Abgrenzung aber, dass sich bei der Bewertung von Lebensformen ein breites und inklusives Feld praktischer Fragen eröffnet, das im engeren Bereich moral- oder gerechtigkeitsrelevanter Fragen nicht aufgeht.
Das Spezifische einer Kritik, die in diesem Sinne auf den intrinsischen Gehalt einer Lebensform zielt, lässt sich vielleicht am besten anhand einer der im Vorwort bereits erwähnten aktuellen Diskussionen erläutern. Die Vermarktlichung von immer mehr Lebensbereichen, wie sie für kapitalistisch organisierte Gesellschaften mitunter diagnostiziert wird, ist ein Fall, bei dem sich mehrere Dimensionen vermischen: Das Problem der Ausdehnung der Sphäre des Marktes auf vorher nicht marktförmige Lebensbereiche – wie zum Beispiel auf die Sphäre der menschlichen Reproduktion, aber auch auf die von Bildung und Gesundheit – ist nämlich einerseits ein Gerechtigkeitsproblem. Typischerweise sind es ärmere Frauen, die sich als Leihmutter verdingen, eine vermarktlichte Medizin ist in den meisten Fällen eine Zwei- oder Mehr-Klassen-Medizin, und das nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisierte Bildungssystem steht im Verdacht, vor allem die Selbstreproduktion der Eliten zu fördern.
Die Kommodifizierungsproblematik wirft andererseits aber auch die Frage nach dem »Gelingen« oder »Glücken« einer sozialen Ordnung in einem umfassenderen Sinn auf. Ließe sich das Gerechtigkeitsdefizit vermarktlichter Institutionen rein hypothetisch durch eine gerechte Verteilung auf basaler Ebene lösen, so wäre damit die Frage, ob es Güter gibt, die – egal unter welchen Verteilungsbedingungen – nicht vermarktlicht werden sollten, noch gar nicht berührt, geschweige denn beantwortet. Hier geht es darum, welche Auswirkungen es auf unser Selbstverständnis als Individuen und als Gesellschaft, auf die Gestalt und Funktionsweise unserer sozialen Praktiken hat, wenn wir bestimmte Güter als Waren verstehen und sie nach Maßgabe ökonomischer Effizienz behandeln. Von denjenigen, die das Problem so auffassen, wird auf die eine oder andere Weise auf die Unangemessenheit ökonomischer Kriterien für manche Bereiche hingewiesen und die Verkennung des spezifischen Charakters bestimmter Güter behauptet, sobald diese »Gegenstand des Schachers« (Karl Marx) werden. Angesprochen ist also der intrinsische Sinn derjenigen Praktiken, in denen unser (gemeinsames) Leben Gestalt annimmt; zur Debatte stehen die qualitativ unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit uns und den Dingen, die wir schätzen. Das Problem betrifft damit die Beschaf25fenheit unserer Lebensform als solcher, die Güter selbst und nicht ihre Verteilung innerhalb der gesetzten Grenzen einer derartigen »Wertschätzungsordnung«.[12]
Man kann jetzt sehen: Wo Lebensformen als Lebensformen in Frage stehen, debattiert und kritisiert werden, geht es nicht nur darum, wie man innerhalb eines gegebenen Rahmens von Zwecksetzungen am besten im Sinne des Erreichens dieser Zwecke agiert oder wie innerhalb eines gegebenen Rahmens von Wertorientierungen die angemessenste Einlösung dieser Orientierungen vorzustellen ist.[13] Es geht vielmehr um die Thematisierung solcher Zwecke selbst, also nicht nur um die Verteilung von Gütern oder Einflusschancen, sondern um die Gestalt der Güter und der mit diesen verbundenen sozialen Praktiken selbst. Wenn also nicht nur die ungerechten Effekte der Vermarktlichung thematisiert wurden, sondern die Frage, was es bedeutet, Güter als käuflich oder nichtkäuflich zu behandeln, nicht nur die Verteilung oder die angemessene Bezahlung von Arbeit, sondern deren Sinn, dann werden hier – mit einer hilfreichen Formulierung von Georg Lohmann – die »Proto-Werte« einer Lebensform selbst strittig.[14] Eine solche De26batte eröffnet aber überhaupt erst die Sichtweise darauf, wie wenig selbstverständlich manche selbstverständlich scheinenden Weisen der Etablierung solcher »Proto-Werte« eigentlich sind und in welchem Ausmaß sie ein Produkt bestimmter historischer und sozialer Konstellationen (und Interessen) darstellen. Lebensformen werden dann in ihrer inneren Beschaffenheit zum Gegenstand der Diskussion gemacht, die black box geöffnet.
Die Kritik von Lebensformen zielt damit nicht etwa nur auf einen anderen Gegenstandsbereich als beispielsweise die Gerechtigkeitstheorie, sondern nimmt zugleich eine bestimmte Perspektive ein; sie nimmt nicht nur andere Dinge, sondern die Dinge anders in den Blick. Die produktivste Weise, zu erläutern, was es bedeutet, Lebensformen als Lebensformen zu kritisieren, ist dann vielleicht die Folgende: Die Kritik von Lebensformen thematisiert nicht nur unser Handeln, also das, was wir tun (sollen), sondern den Bezugsrahmen, in dem wir handeln und uns orientieren. Damit werden unsere normativen Orientierungen, die Begriffe, in denen wir uns verstehen, und das gesamte Arsenal sozialer Praktiken, aus denen sich unsere Handlungsoptionen ergeben, in ihrer inneren Gestalt und Qualität zum Thema gemacht.
An Hilary Putnams Beispiel des Begriffs »Unkeuschheit« (als Exempel für einen jener »dichten« ethischen Begriffe, um die es in Bezug auf normative Fragen gehen kann) lässt sich das hier Gemeinte gut erläutern.[15] Wenn uns ein Satz wie »Wir sollten Unkeuschheit vermeiden«, aber auch Sätze wie »Die Ehre ist das wichtigste Gut der Frau« oder »Das ist aber ein braves Kind« (und die damit einhergehende Betonung von Disziplin in der Erziehung) merkwürdig und unangemessen anmuten, so bedeutet das weniger, dass wir für das unkeusche statt für das keusche, das unehrenhafte im Gegensatz zum ehrenhaften Leben oder für undiszipliniertes im Gegensatz zu diszipliniertem Verhalten eintreten. Es ist der mit 27diesen Begriffen gesetzte Rahmen, mit dem wir nichts anfangen können. Wir haben dann bereits abweichende Positionen darüber, ob »Keuschheit«, »Ehre« oder »Disziplin« überhaupt einen Platz in unserem ethischen Vokabular haben sollte. Es ist das Bezugssystem sozialer Praktiken und Interpretationen selbst, das Weltverständnis, in dem diese Begriffe wichtig sind, das wir falsch oder seltsam finden. Lebensformen als Lebensformen zu kritisieren bedeutet also nicht zuletzt, den Sinn und den Zuschnitt, aber auch die Interpretation der Begriffe zu thematisieren, in denen wir uns über das, was wir tun und tun sollen, verständigen. Nicht nur praktisch-evaluative Fragen – also Fragen des richtigen Handelns –, sondern bereits Unterschiede in Bezug auf die Angemessenheit von kollektiven Deutungsmustern und damit die richtige Auffassung von der Welt stehen hier zur Debatte.[16]
Natürlich sind die so beschriebenen Rahmenbedingungen nicht immer vollständig verfügbar, und nicht immer lassen sie sich problemlos auffinden. Kein geringes praktisches Problem einer Kritik von Lebensformen besteht deshalb darin, diese Rahmenbedingungen überhaupt als solche zu thematisieren und damit auffällig oder sichtbar werden zu lassen. Ein Beispiel dafür, wie produktiv solch eine Offenlegung sein kann, sind klassische soziale Emanzipationsbewegungen wie die Frauenbewegung.[17] Diese lassen sich geradezu 28darüber definieren, dass sie die Nichtselbstverständlichkeit solcher Rahmenbedingungen in entnaturalisierender Manier nachweisen und den Einspruch gegen sie auf vielfältige Weise in Szene setzen. Wir müssen nämlich, um eine Lebensform kritisieren zu können, überhaupt erst sehen, dass Begriffe wie Keuschheit, Ehre und Disziplin (und das mit ihnen einhergehende Repertoire an Praktiken und Vorstellungen) keineswegs selbstverständlich oder gar naturwüchsig gegeben sind, sondern Teil einer bestimmten althergebrachten Lebensform. Der Streit um Lebensformen hat also einen denaturalisierenden Effekt: Er entzieht dem scheinbar Selbstverständlichen die Legitimation.
Wenn ich nun eingangs unterschieden habe zwischen Geschmacksfragen (die roten Cowboystiefel) und Problemen, die auf moralisch begründete Gebote und Verbote zielen (das Verprügeln von Kindern), so bewegen sich die Fragen, um die es der Kritik von Lebensformen geht, offenbar in einem unklar definierten Zwischenbereich. Die hier gestellten Probleme scheinen eine »mittlere Ebene« zwischen moralischen Geboten und Verboten einerseits und Geschmacksfragen (beziehungsweise der Überantwortung an rein individuelle und beliebige Entscheidungsfindung) andererseits zu betreffen. Eine Lebensform, in deren Zentrum das Fernsehen oder shopping malls stehen, mag öde sein, die bürgerliche Ehe bieder, die Provinz langweilig, das Interesse an Esoterik regressiv, die mit Porzellankatzen dekorierten Fenster des Reihenhauses kitschig und das mit Mitteln der Schönheitschirurgie angestrebte Schönheitsideal steril. Aber weder richten diese Dinge direkten Schaden an, noch verletzen sie das Prinzip der universellen Achtung vor der Autonomie des Anderen.[18] Allerdings weist der Umstand, dass sich 29eine solche Fragen adressierende Kritik eines Vokabulars bedient, das »reicher« ist als das von »richtig oder falsch« und »gut oder schlecht«, auf etwas Wichtiges hin. Das Vokabular, mit dem wir Lebensformen qualifizieren und kritisieren, besteht, um es mit einem Ausdruck von Bernard Williams zu sagen, aus »dichten ethischen Begriffen« (thick ethical concepts).[19] Lebensformen können erfolgreich sein oder scheitern, florieren oder »verarmen«; sie sind steril, unlebendig, kitschig, öde, regressiv – oder umgekehrt: cool, originell, mitreißend, faszinierend, progressiv. Das muss aber gerade nicht bedeuten, dass es sich hier um »weiche« Kriterien handelt oder dass sich mit einer Kritik, die sich solcher Kriterien bedient, nur reduzierte Geltungsansprüche verbinden. Aber wie genau sind solche Geltungsansprüche dann beschaffen?
Man könnte das Ziel der Konzeptualisierung einer Kritik von Lebensformen folgendermaßen beschreiben: Es geht um das systematische Ausbuchstabieren jener »mittleren Ebene« zwischen Verbot und individueller Beliebigkeit, die angesichts der dominanten Strömungen in politischem Liberalismus und kantianischer Moralphilosophie gewissermaßen argumentativ »ausgetrocknet« zu sein scheint. Oder anders: Mein Ziel ist es, Licht in die »außerphilosophische Dunkelheit«[20] zu bringen, in die die ethischen Fragen in der beschriebenen philosophischen Konstellation abgeschoben worden sind. Dabei mag sich zeigen, dass die Dunkelheit, die in diesem Bereich herrscht, oder gar das »Schweigegebot«,[21] mit dem er belegt ist, der möglicherweise nur vermeintlichen Helligkeit einer Lichtquelle geschuldet ist, die den Raum praktischer Gründe stets vom Vorrang des Rechten gegenüber dem Guten her ausleuchtet.
Soll man aber Lebensformen kritisieren? Führt eine solche Kritik, wo sie auf Verbindlichkeit zielt, nicht unausweichlich zu Paternalismus und Sittendiktatur? Ernst Tugendhat sieht in seinem Aufsatz »Antike und moderne Ethik« die »emanzipatorische politische Stoßrichtung« der modernen Moralkonzeption gerade in der »für die liberale Rechtskonzeption grundlegende[n] Überzeugung, daß es jedem selbst überlassen bleiben soll, wie er sein eigenes Leben gestaltet«. Und obwohl er einräumt, dass dieses »Verbot, in die Autonomie des einzelnen einzugreifen«, nicht direkt voraussetze, dass es »keine objektiv begründbaren Prinzipien der Lebensgestaltung« geben kann, merkt er an, dass dort, »wo man an solche Prinzipien glaubt, […] der Schritt zu einer Sittendiktatur doch sehr naheliegend«[22] sei.
Aber nicht nur die Möglichkeiten der individuellen Selbstverwirklichung jenseits kollektiver Rechtfertigungszwänge und Beschränkungen durch Sittlichkeit und Tradition stehen auf dem Spiel. Das gelingende Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft scheint auf die Anerkennung von Differenz und Pluralität und damit auf eine Haltung der »liberalen Selbstbeschränkung« und der »Einklammerung« der eigenen Tradition und Lebensweise gegenüber der Vielfalt miteinander konkurrierender Lebensformen angewiesen zu sein. In diesem Zusammenhang ist Kontextsensitivität eine wichtige Tugend und die Einsicht in die Schwierigkeiten der Interpretation angesichts der Konfrontation mit »fremden« Gesellschaften eine wichtige Erkenntnis. Die faktische Entwicklung der Moderne – Individualisierung, Pluralisierung, Reflexivität –, aber auch ihr normativer Gehalt, die Ideen von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, scheint untrennbar mit der Vorstellung verbunden zu sein, dass es keine allgemeinverbindliche »Sittlichkeit« mehr geben kann – und entsprechend auch keinen Standpunkt, von dem aus sich Lebensformen kritisieren ließen.
In unterschiedlichen Strömungen formuliert die gegenwärtige politische Philosophie deshalb Konzeptionen, die gegen die Ein31mischung in Fragen der Gestaltung von Lebensformen eine Position ethisch-epistemischer Abstinenz proklamieren und damit (auch) die Thematisierung von Lebensformen umgehen, »einhegen« oder unnötig machen sollen. (Es ist diese Haltung, die ich im Vorwort eine »black box-Mentalität« genannt habe.) Die beiden einflussreichsten Ausprägungen dieser Position sind dabei wohl der politische Liberalismus und seine pragmatische Begründung einer notwendigen Neutralität gegenüber Lebensformen auf der einen Seite und die unter anderem von Jürgen Habermas vertretene Behauptung einer kategorialen Differenz zwischen Moral und Ethik auf der anderen Seite. Beide Positionen möchte ich im Folgenden kurz untersuchen, um vor dem Hintergrund ihrer Defizite die Notwendigkeit einer Wiederaufnahme der Frage nach der rationalen Bewertung und Kritik von Lebensformen zu motivieren.
Die Idee liberaler Neutralität gegenüber Lebensformen hat ihre Wurzeln in einer praktischen Problemlösungsstrategie. Sind die europäischen Religionskriege die historische Geburtsstunde des Liberalismus, so lässt sich die einschlägige Reaktion auf jene Kriege, nämlich das Konzept einer Einhegung der blutigen Konflikthaftigkeit weltanschaulich-religiöser Differenzen qua Privatisierung und Individualisierung ihres Gehalts, bis in den heutigen politischen Liberalismus hinein verfolgen.[23] So argumentiert der politische Liberalismus (in seinen verschiedenen Facetten[24]), dass angesichts des »Faktums des Pluralismus« (John Rawls) die entscheidenden Ins32titutionen des staatlich geregelten Zusammenlebens »ethisch neutral« sein müssen, um der unhintergehbaren Vielfalt von Lebensformen gerecht werden zu können: »Politische Entscheidungen müssen, soweit dies möglich ist, unabhängig von jeder partikularen Vorstellung des guten Lebens oder davon, was das Leben wertvoll macht, sein.«[25] Entsprechend formuliert Charles Larmore: »Der politische Liberalismus ist die Lehre vom neutralen Staat. Der Staat sollte keine partikulare Vorstellung des guten Lebens aufgrund der Annahme fördern, es handle sich dabei um eine überlegene, das heißt ›wahrere‹ Vorstellung.«[26] Liberale Gerechtigkeitskonzeptionen auf Grundlage des Neutralitätsideals enthalten sich also der inhaltlichen Bewertung der jeweiligen (von Personen oder Gruppen getragenen) Konzeptionen des Guten. Als explizit politische Konzeption von »Gerechtigkeit als Fairneß«,[27]overlapping consensus