1. Kapitel

Blut! Daran gab’s keinen Zweifel!

Er starrte durch das Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut. Was sollte denn auch sonst kommen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte?

Dieser Fleck da hätte der endgültige Beweis dafür sein sollen, dass Sir Henry seine Frau durch den abscheulichsten Mord beiseitegebracht hatte, den ein Detektiv jemals aufklären musste. Aber leider – es war anders! Das Messer war ausgerutscht, als er seinen Bleistift anspitzen wollte – das war die traurige Wahrheit. Und das war wahrhaftig nicht Sir Henrys Schuld. Vor allen Dingen deswegen, weil Sir Henry, das Rindvieh, nicht einmal existierte. Traurig – das war es! Warum hatten so viele Menschen das Glück, in den Slumbezirken Londons oder in den Verbrechervierteln von Chicago geboren zu werden, wo Mord und Schießerei zur Tagesordnung gehörten? Während er selbst … Er hob seinen Blick widerwillig von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster.

Die Hauptstraße lag im tiefsten Frieden und träumte in der Sommersonne. Die Kastanien blühten. Es war kein lebendes Wesen zu sehen außer der grauen Katze vom Bäcker, die auf der Bordsteinkante saß und sich die Pfoten leckte. Nicht einmal das allergeübteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, dass ein Verbrechen begangen worden war. Es war wirklich ein hoffnungsloses Unternehmen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er groß war, würde er, sobald sich eine Möglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht lieber nach Chicago?

Vater wollte, dass er im Geschäft anfangen sollte. Im Geschäft! Er! Ja, das könnte denen so passen, allen Mördern und Banditen in London und Chicago! Da konnten sie drauflosmorden, ohne dass ihnen jemand auf die Finger sah, während er im Geschäft stand und Tüten drehte und grüne Seife oder Hefe abwog. Nein, wahrhaftig, er hatte nicht die Absicht, Rosineneinpacker zu werden! Detektiv oder gar nichts! Vater konnte wählen! Sherlock Holmes, Asbjörn Krag, Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey, Karl Blomquist! Er schnalzte mit der Zunge. Und er, Kalle Blomquist, hatte die Absicht, der Beste von allen zu werden.

»Blut! Daran gibt’s keinen Zweifel«, sagte er zufrieden.

Draußen auf der Treppe polterte es, und eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen, und Anders kam schwitzend und keuchend herein. Kalle betrachtete ihn kritisch und machte seine Beobachtungen.

»Du bist gerannt«, sagte er schließlich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Klar bin ich gerannt«, sagte Anders gereizt. »Hast du gedacht, ich komme in der Sänfte?«

Kalle versteckte seine Pfeife. Keineswegs deswegen, weil es ihm etwas ausmachte, dass Anders ihn beim heimlichen Rauchen überraschte. Es war nur so, dass er keinen Tabak in der Pfeife hatte. Aber ein Detektiv braucht seine Pfeife, wenn er sich mit Problemen herumschlägt. Auch wenn der Tabak im Augenblick alle war.

»Kommst du ein bisschen mit raus?«, fragte Anders und warf sich auf Kalles Bett.

Kalle nickte zustimmend. Natürlich wollte er mit raus. Er musste ja unbedingt noch einmal vor dem Abend durch die Straßen patrouillieren und sehen, ob etwas Verdächtiges aufgetaucht war. Natürlich gab es Polizisten, aber so viel hatte man ja gelesen, dass man wusste, was von ihnen zu halten war. Sie erkannten keinen Mörder, selbst wenn sie über ihn stolperten.

Kalle legte das Vergrößerungsglas in seine Schreibtischschublade. Dann stürmten sie beide die Treppe hinunter, sodass das Haus in seinen Grundfesten erzitterte.

»Kalle, vergiss nicht, dass du heute Abend das Erdbeerbeet gießen sollst!«

Das war die Mutter, die ihren Kopf zur Küchentür heraussteckte. Kalle winkte beruhigend. Klar, dass er die Erdbeeren gießen würde. Später.

Wenn er sich davon überzeugt hatte, dass keine dunklen Gestalten, die Böses im Sinn hatten, in der Stadt herumschlichen. Die Aussicht dafür war nicht groß, leider, aber man muss immer auf dem Posten sein. Das hatte man im »Fall Buxton« erlebt, was passieren kann. Da ging man friedlich durch die Gegend, und – peng – fällt ein Schuss in der Nacht, und ehe man mit den Augen zwinkern konnte, waren vier Morde geschehen. Damit rechneten die Halunken, dass niemand in so einer kleinen Stadt an einem so schönen Sommertag Verdacht schöpfen würde. Aber da kannten sie Kalle Blomquist nicht!

Im Erdgeschoss lag das Geschäft. »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« stand auf dem Schild.

»Bitte deinen Vater um ein paar Bonbons«, schlug Anders vor.

Kalle hatte selbst schon dieselbe gute Idee gehabt. Er steckte den Kopf durch die Tür. Hinter dem Ladentisch stand »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« in höchsteigener Person – das war der Vater.

»Papa, ich nehm ein paar von den Gestreiften!«

»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« warf einen liebevollen Blick auf seinen blonden Sprössling und grunzte gutmütig. Kalle steckte die Hand in die Bonbonbüchse. Das Grunzen bedeutete, dass man nehmen durfte. Dann zog er sich schnell zu Anders zurück, der auf der Schaukel unterm Birnbaum saß und wartete.

Aber Anders hatte im Augenblick kein Interesse für die »Gestreiften«. Er starrte mit einem einfältigen Ausdruck in den Augen auf etwas in Bäckermeisters Garten. Das Etwas war Bäckermeisters Eva-Lotta. Sie saß auf ihrer Schaukel in einem rot karierten Baumwollkleid. Sie schaukelte und aß eine Zimtwecke. Außerdem sang sie, denn sie war eine Dame, die viele Künste beherrschte.

»Es war einmal ein Mädchen, und das hieß Josefin, Josefin-fin-fin, Jose-Jose-Josefin.«

Sie hatte eine klare und liebliche Stimme, die man sehr gut bis zu Anders und Kalle hören konnte. Kalle starrte sehnsüchtig zu Eva-Lotta, während er Anders abwesend einen Bonbon anbot. Anders nahm einen ebenso abwesend und starrte ebenso sehnsüchtig Eva-Lotta an.

Kalle seufzte. Er liebte Eva-Lotta ganz abgöttisch. Das tat Anders auch. Kalle hatte sich in den Kopf gesetzt, Eva-Lotta als seine Braut heimzuführen, sobald es ihm gelungen war, genug Geld zu beschaffen, um einen Hausstand zu gründen. Das hatte Anders auch. Aber Kalle zweifelte nicht daran, dass sie ihn, Kalle, vorziehen würde! Ein Detektiv mit vielleicht so ungefähr vierzehn aufgeklärten Morden – das würde wohl etwas mehr ziehen als ein Lokomotivführer! Lokomotivführer! Das wollte Anders nämlich werden.

Eva-Lotta schaukelte und sang und sah aus, als ob sie überhaupt nicht wüsste, dass sie beobachtet wurde.

»Eva-Lotta!«, rief Kalle.

»Das Einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nähmaschin, Nähmaschin-schin-schin, Nähma-Nähma-Nähmaschin«, sang Eva-Lotta unbekümmert weiter.

»Eva-Lotta!«, schrien Kalle und Anders gleichzeitig.

»Ach, ihr seid’s!«, sagte Eva-Lotta sehr erstaunt. Sie sprang von der Schaukel und kam gnädig zum Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. Ein Brett fehlte – Kalle hatte es selbst herausgenommen. Eine ausgezeichnete Idee, die es möglich machte, sich ungehindert durch die Öffnung zu unterhalten und auch in Bäckermeisters Garten zu schlüpfen, ohne einen Umweg machen zu müssen.

Es war Anders’ heimlicher Kummer, dass Kalle so nahe bei Eva-Lotta wohnte. Das war irgendwie ungerecht. Er selbst wohnte weit weg in einer anderen Straße in einem Zimmer mit Küche über Vaters Schuhmacherwerkstatt, zusammengedrängt mit seinen Eltern und kleinen Geschwistern.

»Eva-Lotta, willst du ein bisschen mit uns in die Stadt gehen?«, fragte Kalle.

Eva-Lotta schluckte mit Genuss den letzten Bissen von ihrer Zimtwecke hinunter.

»Kann ich machen«, sagte sie. Sie wischte einen Krümel von ihrem Kleid. Und dann gingen sie los.

Es war Samstag. Fredrik mit dem Fuß war bereits betrunken und stand wie gewöhnlich vor der Gerberei in einem Kreis von Zuhörern. Kalle und Anders und Eva-Lotta stellten sich dazu, um zu hören, wie Fredrik von seinen Heldentaten erzählte, die er vollbracht hatte, als er als Bahnarbeiter in Nordschweden gewesen war.

Während Kalle zuhörte, schweiften seine Augen herum. Er hatte nicht einen Augenblick lang seine Pflicht vergessen. Nichts Verdächtiges? Nein, musste er zugeben, nichts Verdächtiges! Doch wie oft hatte man gelesen, dass vieles, was unschuldig aussah, genau das Gegenteil davon war. Auf alle Fälle muss man auf der Hut sein! Da kam zum Beispiel ein Mann mit einem Sack auf dem Rücken die Straße heraufgestiefelt.

»Nimm mal an«, sagte Kalle und stieß Anders in die Seite, »nimm mal an, dass der Sack voll mit gestohlenem Silber ist!«

»Nimm mal an, dass es nicht so ist«, sagte Anders ungeduldig, denn er wollte Fredrik mit dem Fuß zuhören. »Nimm mal an, dass du eines schönen Tages überschnappst mit all deinen Detektivideen.«

Eva-Lotta lachte. Und Kalle schwieg. Er war daran gewöhnt, nicht verstanden zu werden.

Schließlich kam die Polizei, auf die man schon gewartet hatte, um Fredrik mit dem Fuß zu holen. Es war üblich, dass er die Samstagnächte im Gefängnis zubrachte.

»Isses denn nich längst Zeit?«, sagte Fredrik vorwurfsvoll, als Wachtmeister Björk ihn freundlich am Arm nahm. »Da steht man hier eine Stunde und wartet! Haltet ihr keine Ordnung in dieser Stadt mit euren Strolchen?«

Wachtmeister Björk lachte und zeigte seine schönen weißen Zähne.

»Na, komm, jetzt gehen wir«, sagte er.

Die Zuhörerschar verlief sich. Kalle und Anders und Eva-Lotta gingen mit zögernden Schritten davon. Sie hätten gern etwas mehr von Fredriks Geschichten gehört.

»Wie schön die Kastanien sind«, sagte Eva-Lotta und betrachtete die lange Reihe Kastanienbäume, die die Hauptstraße säumten.

»Ja, sie sind hübsch, wenn sie blühen«, sagte Anders. »Sie sehen aus wie Kerzen.«

Alles war ruhig und still. Man konnte beinah fühlen, dass es Sonntag werden wollte. Hier und da sah man Leute in den Gärten sitzen und Abendbrot essen. Sie hatten sich schon den Arbeitsstaub abgewaschen und sonntäglich gekleidet. Sie redeten und lachten und sahen aus, als ob sie sich in ihren Gärtchen, wo die Obstbäume gerade in voller Blüte standen, sehr wohlfühlten.

Anders und Kalle und Eva-Lotta warfen begehrliche Blicke über jeden Gartenzaun, an dem sie vorbeigingen. Es hätte ja sein können, dass irgendeine freundliche Seele sie zu einem Butterbrot oder zu etwas anderem Guten einladen würde. Aber es sah nicht so aus.

»Wir müssen uns was einfallen lassen, was wir jetzt machen«, sagte Eva-Lotta.

In dem Augenblick hörte man irgendwo in der Ferne das schrille Pfeifen einer Lokomotive.

»Jetzt kommt der Sechsuhrzug«, sagte Anders.

»Ich weiß, was wir machen«, sagte Kalle. »Wir setzen uns hinter die Fliederhecke in Eva-Lottas Garten und legen ein Paket mit einer Schnur dran auf die Straße. Wenn jemand kommt und das Paket sieht und es nehmen will, dann ziehen wir an der Schnur. Die werden vielleicht Gesichter machen!«

»Ja, das scheint die richtige Beschäftigung für einen Samstagabend zu sein«, sagte Anders.

Eva-Lotta sagte nichts. Aber sie nickte zustimmend.

Ein Paket war schnell zurechtgemacht. Alles, was man brauchte, gab es ja in Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft.

»Es sieht aus, als ob was Interessantes drin wäre«, sagte Eva-Lotta zufrieden.

»Ja, nun wollen wir mal sehen, wer nach dem Bissen schnappt«, sagte Anders.

Das Paket lag auf dem Pflaster und sah sehr inhaltsreich und verlockend aus. Dass eine Schnur daran festgebunden war und dass die Schnur hinter der Fliederhecke des Bäckermeisters verschwand, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Ein aufmerksamer Fußgänger hätte natürlich Kichern und Tuscheln hinter der Hecke hören können. Frau Petronella Apelgren, die Inhaberin des größten Fleischerladens der Stadt, die gerade die Straße heraufkam, war aber nicht so aufmerksam, dass sie etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hätte. Doch das Paket sah sie. Sie bückte sich mit großer Mühe und streckte die Hand danach aus.

»Zieh!«, flüsterte Anders Kalle zu, der die Schnur hielt.

Und Kalle zog. Blitzschnell verschwand das Paket hinter der Fliederhecke. Und jetzt konnte Frau Apelgren das unterdrückte Gekicher nicht mehr überhören. Sie brach in einen Wortschwall aus. Die Kinder konnten nicht alles verstehen, was sie sagte, aber sie hörten, dass sie mehrere Male das Wort »Erziehungsanstalt« nannte als einen passenden Aufenthalt für missratene Kinder.

Hinter der Hecke war es nun ganz still. Nach einer letzten Schimpfkanonade ging Frau Apelgren brummend davon.

»Das war prima«, sagte Eva-Lotta. »Ich bin gespannt, wer jetzt kommt. Hoffentlich jemand, der sich genauso ärgert.«

Aber es schien, als ob die Stadt plötzlich ausgestorben wäre. Niemand kam, und die drei hinter der Hecke waren nahe daran, das ganze Unternehmen aufzugeben.

»Nein, wartet, da kommt wieder jemand«, flüsterte Anders schnell.

Und da kam jemand. Er bog gerade um die Straßenecke und ging mit raschen Schritten direkt auf Bäckermeisters Gartenzaun zu, eine lange Gestalt in grauem Anzug, ohne Hut und mit einem großen Reisekoffer in der einen Hand.

»Achtung!«, flüsterte Anders, als der Mann vor dem Paket stehen blieb.

Und Kalle passte auf. Aber es half nichts. Man hörte den Mann einen leisen Pfiff ausstoßen, und im nächsten Augenblick hatte er den Fuß auf das Paket gesetzt.

2. Kapitel

»Und wie heißt du, meine schöne junge Dame?«, fragte der Mann eine Weile später Eva-Lotta, die mit ihren beiden Begleitern hinter der Hecke hervorgekrochen war.

»Eva-Lotta Lisander«, sagte Eva-Lotta furchtlos.

»Das hab ich mir doch gedacht«, sagte der Mann. »Wir sind alte Bekannte, musst du wissen. Ich hab dich gesehen, als du so klein warst, dass du noch in der Wiege gelegen und gespuckt und den ganzen Tag geschrien hast.«

Eva-Lotta warf den Kopf zurück. Sie konnte nicht glauben, dass sie jemals so klein gewesen war.

»Wie alt bist du jetzt?«, fragte der Mann.

»Dreizehn Jahre«, sagte Eva-Lotta.

»Dreizehn Jahre! Und zwei Kavaliere hast du schon! Einen hellen und einen dunklen. Du scheinst die Abwechslung zu lieben«, sagte der Mann mit einem kleinen spöttischen Lachen.

Eva-Lotta warf noch einmal den Kopf zurück. Sie hatte es nicht nötig, sich Gemeinheiten von jemand anzuhören, den sie nicht kannte.

»Wer sind Sie denn?«, fragte sie.

»Wer ich bin? Ich bin Onkel Einar, ein Cousin von deiner Mutter, meine schöne junge Dame!« Er zog Eva-Lotta an ihren blonden Locken. »Und wie heißen deine Kavaliere?«

Eva-Lotta stellte Anders und Kalle vor, und ein dunkler und ein blonder Schopf neigten sich in einer tadellosen Verbeugung.

»Nette Jungen«, sagte Onkel Einar anerkennend. »Aber heirate sie nicht! Heirate lieber mich«, fuhr er fort und stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Ich werde ein Schloss für dich bauen, wo du den ganzen Tag herumlaufen und spielen kannst.«

»Sie sind ja viel zu alt für mich«, sagte Eva-Lotta schnippisch.

Anders und Kalle fühlten sich etwas überflüssig. Was war das eigentlich für eine klapprige Bohnenstange, die hier plötzlich einfach so auftauchte?

Personenbeschreibung – wollen mal sehen, dachte Kalle. Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm über den Weg liefen. Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich anständige Menschen waren! Personenbeschreibung: braunes, hochgekämmtes Haar, braune Augen, zusammengewachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zähne, kräftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein – er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten. Und spöttisch wie kaum ein anderer, fügte er für sich selbst hinzu.

»Ist deine Mutter zu Hause, du kleiner Naseweis?«, fragte Onkel Einar.

»Ja, da kommt sie.«

Eva-Lotta zeigte auf eine Frau, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotta.

»Habe ich das Vergnügen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich.

»Was in aller Welt – bist du es, Einar? Es ist wahrhaftig eine Weile her, seit man dich zuletzt gesehen hat. Wo kommst du her?« Frau Lisanders Augen waren ganz groß vor Überraschung.

»Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Nest etwas aufzuheitern.«

»Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotta ärgerlich. »Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.«

»Der gleiche alte Spaßmacher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, dass du kommst?«

»Nein, kleine Cousine, schreibe niemals etwas, was du persönlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du weißt, ich bin einer, der tut, was ihm gerade einfällt. Und jetzt fand ich, dass es schön wäre, eine Zeit lang Urlaub zu machen, und da erinnerte ich mich plötzlich, dass ich eine ungewöhnlich nette Cousine habe, die in einer ungewöhnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?«

Frau Lisander überlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fußes Gäste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben.

»Und eine ungewöhnlich nette kleine Tochter hast du«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotta in die Wange.

»Aua, lass das«, sagte Eva-Lotta, »das tut ja weh!«

»Das sollte es auch«, sagte Onkel Einar.

»Ja, natürlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander. »Wie lange hast du Urlaub?«

»Nja, das ist noch nicht entschieden. Offen gesagt, ich habe die Absicht, bei meiner Firma aufzuhören. Ich überlege, ob ich ins Ausland gehe. In diesem Land hat man keine Zukunft. Hier treten alle auf der Stelle.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Eva-Lotta aufgebracht. »Dieses Land ist das beste Land.«

Onkel Einar legte den Kopf auf die Seite und schaute Eva-Lotta an.

»Wie du gewachsen bist, kleine Eva-Lotta«, sagte er und ließ gleich darauf wieder sein wieherndes Gelächter hören. Eva-Lotta merkte schon, dass sie es herzlich verabscheute.

»Die Jungen können dir helfen«, sagte Frau Lisander mit einem Nicken zum Reisekoffer hin.

»Nee, nee, den trage ich lieber selbst«, sagte Onkel Einar.

 

In dieser Nacht wurde Kalle durch eine Mücke geweckt, die ihn in die Stirn gestochen hatte. Und da er nun sowieso wach war, hielt er es für klug, nachzusehen, ob vielleicht einige Schurken und Banditen ihr verbrecherisches Spiel in der Nähe trieben. Zuerst sah er durchs Fenster auf die Hauptstraße hinaus. Da war alles öde und leer. Dann ging er ans andere Fenster und guckte durch die Gardine in Bäckermeisters Garten. Das Haus lag dunkel und schlafend zwischen blühenden Apfelbäumen. Nur im Giebelzimmer war Licht. Und gegen das Rollo zeichnete sich der dunkle Schatten eines Mannes ab.

»Onkel Einar, ph, wie blöd der ist«, sagte Kalle zu sich selbst.

Der dunkle Schatten wanderte hin und her, hin und her ohne Unterbrechung. Er war sicher eine unruhige Natur, der Onkel Einar!

Warum trabt er bloß so herum?, dachte Kalle, und im nächsten Augenblick sprang er mit einem Satz in sein eigenes schönes Bett.

Schon um acht Uhr am Sonntagmorgen hörte er Anders’ Pfeifen vor dem Fenster. Sie hatten ein gemeinsames Signal, Anders und er und Eva-Lotta. Kalle schlüpfte schnell in seine Sachen. Ein neuer, herrlicher Ferientag lag vor ihm, ohne Sorgen, ohne Schule und ohne andere Pflichten, als die Erdbeeren zu gießen und ein Auge auf eventuelle Mörder in der Umgebung zu haben. Nichts davon war besonders anstrengend.

Das Wetter war strahlend. Kalle trank ein Glas Milch und aß ein Butterbrot und stürzte zur Tür, bevor seine Mutter dazu kam, auch nur die Hälfte der Ermahnungen vorzubringen, die sie ihm gleichzeitig mit dem Frühstück servieren wollte.

Jetzt kam es nur darauf an, Eva-Lotta herauszuholen. Aus irgendeinem Grund fanden Kalle und Anders es nicht ganz passend, hineinzugehen und direkt nach ihr zu fragen. Streng genommen war es ja nicht einmal passend, dass sie mit einem Mädchen spielten. Aber da war nichts zu machen. Alles war viel lustiger, wenn Eva-Lotta dabei war. Sie war übrigens nicht diejenige, die vor einem Spaß zurückscheute. Sie ging genauso drauflos und war genauso schnell wie irgendein Junge. Als der Wasserturm umgebaut wurde, war sie wie Anders und Kalle genauso hoch auf das Holzgerüst geklettert, und als Wachtmeister Björk sie bei ihrem Unternehmen entdeckte und ihnen zurief, dass es wohl am sichersten wäre, augenblicklich herunterzukommen, setzte sie sich ganz ruhig vorn auf ein Brett, wo jedem anderen schwindlig geworden wäre, und sagte lachend:

»Kommen Sie rauf, und holen Sie uns!«

Sie hatte wohl nicht gedacht, dass Wachtmeister Björk sie beim Wort nehmen würde. Aber Wachtmeister Björk war der Beste im Sportklub, und er brauchte nicht viele Sekunden, um zu Eva-Lotta heraufzukommen.

»Bitte deinen Vater, dass er dir ein Trapez kauft, an dem du rumklettern kannst«, sagte er. »Denn wenn du von dem runterfällst, hast du wenigstens eine kleine Chance, dir nicht den Hals zu brechen.«

Dann packte er sie und kletterte mit ihr hinunter. Anders und Kalle hatten sich schon mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinunterbegeben. Seitdem mochten sie Wachtmeister Björk gern. Und – wie gesagt – sie mochten Eva-Lotta auch gern, ganz abgesehen davon, dass beide sie heiraten wollten.

»Denn das war ja wirklich mutig von ihr«, sagte Anders, »so etwas zu einem Polizisten zu sagen. Das hätten nicht viele Mädchen getan. Viele Jungen übrigens auch nicht!«

Und an dem dunklen Herbstabend, als sie vor dem Haus des giftigen Bürochefs, der immer so böse zu seinem Hund war, auf der Harzgeige spielten, da war Eva-Lotta vor seinem Fenster stehen geblieben und hatte mit ihrem Harzstück auf dem Draht herumgerieben, bis der Bürochef herausgelaufen kam und sie beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Aber Eva-Lotta war schnell über den Zaun geschossen und in die Bootsmannsgasse verschwunden, wo Anders und Kalle auf sie warteten. Nein, an Eva-Lotta war nichts auszusetzen, darüber waren sich Anders und Kalle einig.