Asia With Suit And Tie
Asien Mit Anzug Und Krawatte
Kopf Hoch Herbert Wenn Der Hals Auch Dreckig Ist
Golf With The Devil
MordFriesland Serie:
Mord Hieve
Mord Gülle
Mord Asyl
Am 18. April 2012 prophezeite und warnte der syrische Präsident Baschar al-Assad, sehr vorausschauend, in einem Fernsehinterview, dass sich die Unterstützung der Rebellen durch den Westen letztendlich, wie in Afghanistan, gegen den Westen richten würde und die Rebellen zukünftig Terroranschläge im Herzen Europas und den USA verüben würden.
Wie recht er mit seiner Prophezeiung behalten sollte, beweisen die Opfer von London, Paris, Brüssel, Nizza und Berlin.
Die Handlung und die Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2018 Rolf Zeiler
Titelbild-Foto: Tobias Bruns, Emden
Bild urheberrechtlich geschützt
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH
ISBN 978-3-7528-2756-9
Wie in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens kam es auch in Syrien zu Protesten im Zuge des Arabischen Frühlings. Als der Arabische Frühling wird eine im Dezember 2010 beginnende Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt bezeichnet. Diese richteten sich, beginnend mit der Revolution in Tunesien, in etlichen Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika gegen die dort autoritär herrschenden Regime und die politischen sowie sozialen Strukturen dieser Länder. Zu Beginn war es als eine Verbesserung der Menschenrechtslage in den betroffenen Ländern gedacht, doch hat sich dies Bild mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Seit 2011 herrscht die Gewalt in Syrien. Aus anfangs einfachen, friedlichen Demonstrationen ist ein komplexer Bürgerkrieg geworden, mit unzähligen Milizen und Fronten.
Der Islamische Staat, der sogenannte IS, hat das Chaos in Syrien genutzt und will den alten syrischen Staat ganz und gar abschaffen. Er will in dem zerfallenden Land ein transnationales Kalifat errichten. Die Dschihadisten berufen sich auf eine islamische Endzeiterzählung, in der mehrere syrische Städte erwähnt werden. Der IS behauptet von sich selbst, der Erfüller dieser vermeintlich göttlichen Prophezeiung zu sein. Im Zuge seines Machtanspruchs hat der IS die syrische Stadt Rakka zu seiner Hauptstadt erklärt.
Doch nicht allein der Islamische Staat hat Interessen in Syrien, die restliche Welt hat ihren Anteil an der Zerstörung des Landes und ist an dem großen Leid der Bevölkerung nicht unschuldig. Es ist ein Stellvertreterkrieg um Macht, Einfluss, Öl und staatliche Anerkennung, der auf dem Rücken der syrischen Zivilbevölkerung ausgetragen wird.
Den Iran und die libanesische Hisbollah verbindet eine lange Partnerschaft mit dem syrischen Regime. Sie bilden zusammen die „schiitische Achse“, die mit dem alawitischen Assad-Regime dem sunnitischen Einfluss Paroli bietet. Im Syrienkrieg unterstützt Teheran die syrische Armee mit großen Mengen Waffen und Ausrüstung. Zudem kämpfen die sogenannten Revolutionsgarden an der Seite der assadschen Armee. Mit Hisbollah-Kämpfern aus dem Libanon bevölkern weitere iranisch unterstützte Milizionäre die Schlachtfelder Syriens. Ohne diese Hilfe wäre das Assad-Regime längst untergegangen.
Die Großmacht Russland unterstützt aktiv das im Land verhasste Baschar-al-Assad-Regime mit Waffeneinsätzen und Soldaten. Der Kampf gegen den IS ist zwar erklärtes Ziel der Russen, sie bombardieren jedoch in weitaus größerer Zahl die Stellungen von Rebellengruppen, die den IS oder das syrische Regime bekämpfen. Putin möchte aber in Wirklichkeit auch seinen Einfluss im Mittleren Osten erweitern und Russland wieder als eine militärische Weltmacht etablieren.
Saudi-Arabien und die kleinen arabischen Golfstaaten dagegen wollen das Regime stürzen. Saudi-Arabien geht es um den Wettstreit mit dem Iran, der auf syrischem Boden mitentschieden wird. Um die schiitische Achse zu schwächen, muss das Assad-Regime stürzen. Sie haben gemeinsam diverse Rebellengruppen, wie die islamistische Rebellenallianz Dschaisch al-Fatah oder die Rebellenformation Ahrar asch-Scham, aufgerüstet.
Die USA und Europa möchten, wie immer, eine neue Regierung, Humanität im Krieg, wenn es denn so etwas überhaupt gibt, und, wenn möglich, natürlich einen sanften Übergang zur Demokratie. Dabei unterstützen sie, ohne aus den fatalen Konsequenzen des sowjetischen Afghanistankrieges gelernt zu haben, wieder einmal mit unkontrollierten Lieferungen modernen Kriegsgeräts die unterschiedlichen, Hauptsache regimefeindlichen Rebellengruppen. Auch wissen sie am Ende meist gar nicht mehr, an wen sie die vielen Waffen geliefert haben. Das ist ihnen, wie sich in der Vergangenheit des Öfteren gezeigt hat, auch ziemlich egal. Die vorrangigen Interessen der wirtschaftlich gesteuerten Regierungen sind ihre eigenen Rüstungsexportgeschäfte und die laufen bei einem Krieg immer gut.
Die einzig wirklichen heimischen Regimegegner sind die Freie Syrische Armee oder der Jabhat Thawar Suria. Zu dieser wichtigsten, nicht islamistischen Allianz gehören vierzehn weitere Rebellengruppen. Diese Gruppen, die sich aus lokalen Militärbrigaden wie dem Idlib Militärrat und Kampfeinheiten wie der Brigade der Freien Männer von Zawya oder der Brigade der Freien Männer des Nordens zusammensetzen, kämpfen sowohl gegen den Islamischen Staat wie auch gegen Assads syrische Regierungstruppen.
Der gute Nachbar, die Türkei, verteidigt einzig seine eigenen Interessen. Der türkische Präsident Erdogan will nicht, dass die kurdische PKK, Partiya Karkeren Kurdistane, in ihrem Grenzgebiet zu stark wird und einen eigenen Staat gründet. Er bekämpft die PKK, wo es nur geht. Der traurige Witz dabei ist, die PKK ist die einzige starke Macht in Syrien, die bisher erfolgreich gegen den IS kämpft.
Die verschiedenen Glaubensbekenntnisse der gegeneinander kämpfenden Kriegsparteien sind neben den unterschiedlichsten Machtansprüchen ein weiterer unüberbrückbarer Konfliktgrund für die Kriegführenden. Es kämpfen auf engstem Raum Alawiten gegen Sunniten, Sunniten gegen Schiiten, Islamisten gegen Christen, Wahhabiten, Salafisten gegen den reinen Glauben, Drusen gegen alle und ganz offiziell bekämpfen sie gemeinsam den mörderischen Islamischen Staat. Es ist total verworren und verlogen.
Wie Syrien jemals wieder friedlich, in welcher Staatsform und unter welcher Führung, vereint werden könnte, weiß bis heute niemand.
Nur eins ist ziemlich sicher, der Heilungsprozess des vom Krieg völlig zerstörten Landes wird sehr lange brauchen!
15. August 2013, Rakka, Syrien
An diesem unheilvollen Tag veränderte der Konflikt in Syrien auch das Leben von Mohammed Bari. Mohammed war gerade achtzehn Jahre alt geworden, als der IS in Rakka Einzug hielt. Er lebte mit seiner Familie auf dem Land, in einem Dorf, das zur Stadt Rakka gehört. Es liegt am Ufer des Euphrats. Die Menschen lebten ohne Angst, ohne Gefahr glücklich bis zu dem Tag, als der IS ihr Leben dramatisch verändern sollte. Mohammed Bari war ein junger Student an der Universität in der Stadt Latakia im Nordwesten des Landes am Mittelmeer gewesen. Seine Familie hatte ihn zum Studium nach Latakia geschickt, er sollte es später einmal besser haben. Als er an diesem Tag im Jahr 2013 zu den Ferien in seine Heimat zurückkehrte, fragte er sich, mit einem entsetzten, ungläubigen Blick, was mit seiner Heimatstadt geschehen war. Überall, wohin er blickte, sah er zerstörte Häuser und verwüstete Plätze seiner früher einst so schönen Stadt.
Mohammed beschlich eine unangenehme Unruhe und er rannte von der Busstation sofort, so schnell er konnte, zu der Straße, wo sich seit Generationen das Haus seiner Familie befand. Was ihn dort erwartete, brach ihm fast das Herz, ein großer Krater, mit einer hässlichen Ruine aus Steinen und Geröll hatte sich gnadenlos an den Platz seiner schönen Kindheitstage gedrängt. Er erinnerte sich mit Wehmut an den idyllischen, kühlen Innenhof mit den Orangenbäumen, den Brunnen, die dicken Mauern, an das schöne alte Damaszener Haus mit seinen vielen kostbaren, alten Mosaiken. Doch das Haus seiner Familie gab es nicht mehr, es war gänzlich verschwunden. In der Ruine stand einzig und allein noch eins der kleinen Seitengebäude, das früher der Familie als Vorratsraum diente. Als Mohammed den ersten Schock überwunden hatte und verzweifelt nach seiner Familie rief, kamen aus dem kleinen Anbau seine Mutter Salima und sein jüngster Bruder Yasim zu ihm gelaufen. Sie umarmten ihn wortlos mit ihren von unendlichem Kummer gezeichneten Gesichtern. Nach ihrer von Trauer erfüllten Begrüßung zogen sie ihn in das kleine Häuschen, speisten ihn mit ein wenig Brot und frischem Quellwasser. Dann erzählten sie ihm von den Kämpfen zwischen den verschiedenen Kriegsparteien in der Stadt. Davon, dass Artillerie und Luftangriffe keine Gnade oder Menschlichkeit gezeigt hatten. Dass sein Vater, seine kleine Schwester Asifa und seine anderen beiden Brüder Yusuf und Ali in dem unmenschlichen Bombardement den Tod gefunden hatten. Sie trauerten den Abend gemeinsam, beklagten die Toten und weinten viele Tränen. Mohammed machte sich am nächsten Tag auf in die Stadt, um sich von der Kriegslage selber ein Bild zu machen. Durch seine Mutter zur Vorsicht geraten, band er sich einen schwarzen Turban um den Kopf und trug dazu ein traditionelles arabisches Gewand. Sie hatte ihn eindringlich davor gewarnt, dass die Träger westlicher Kleidung oft verhaftet wurden. Seine Mutter schien mit ihrer Warnung recht zu behalten, denn in den Straßen sah er überall nur furchteinflößende bärtige Männer mit Waffen in traditioneller Kleidung, keiner von ihnen trug westliche Mode. Sie patrouillierten durch die Straßen und nahmen jeden, der ihnen nicht gefiel, einfach fest oder erschossen ihn auf der Stelle. Mohammed realisierte sehr schnell, dass in Rakka Chaos herrschte, nur noch das Gesetz der Rücksichtslosigkeit galt. Die Stärkeren töteten erbarmungslos die Schwachen.
Der Kampf der Terroristen oder Mudschaheddin im Namen Allahs, wie sie sich nannten, gegen die syrische Opposition dauerte nur wenige Tage. Jeder, der sich in diesen blutigen Tagen auf die Straßen traute, wurde entweder von Scharfschützen oder Bomben getötet. Die Stadt hatte sich in ein einziges, brutales Schlachtfeld verwandelt. Es war ein Massaker an der friedlichen Bevölkerung, ein Blutrausch im Namen Allahs. Die in schwarze Gewänder gehüllten Mudschaheddin mit ihren hinter gleichfarbenen Balaklavas unkenntlichen Gesichtern verbreiteten überall, wo sie auftauchten, Angst und Schrecken. Jetzt begann die Welle des grausamen, willkürlichen Tötens unglaublichen Ausmaßes erst richtig. Manche Einwohner wurden einfach nur erschossen, aber vielen schnitt man, ohne Erbarmen zu zeigen, mit langen Messern die Kehlen durch. Überall lagen tote Körper und ihre abgetrennten Köpfe in den Straßen herum. Christen mussten eine Kopfsteuer zahlen, um am Leben zu bleiben, und jeder, der in ihren Augen kein Moslem oder Christ war, wurde von den schwarzen Schergen des Todes ausnahmslos getötet. Dann, so plötzlich, wie der Blutrausch begonnen hatte, beruhigte sich die ganze Situation wieder und die Mudschaheddin begannen mit der Organisation des alltäglichen Lebens in der Stadt. Sie bekamen erstaunlicherweise alles sehr schnell fest in den Griff. Ihr Gesetz des Terrors und der brutalen Unterdrückung beherrschte die Stadt und ihre Einwohner hervorragend. Es galt einzig das Gesetz des Korans, die Scharia. Dieben wurde die Hand abgehackt, fast alles andere sofort mit dem Tod bestraft, es gab kein normales Leben mehr. Männer durften sich nicht mehr die Bärte rasieren, Frauen mussten Nikab, den vollen Gesichtsschleier, tragen, alle Schulen wurden ausnahmslos geschlossen, Alkohol und Zigaretten waren verboten, täglich kamen neue Verbote hinzu.
Mohammed, seine Mutter sowie sein kleiner Bruder Yasim lebten, wie so viele ihrer Nachbarn in der Zeit, tagtäglich mit der Angst, ermordet zu werden. Einer nach dem anderen ihrer noch wenigen verbliebenen Freunde wurden Opfer der blutrünstigen Islamisten in der Stadt und getötet, Gründe gab es oft keine, oder viele. Wen störte es noch, wenn einer ins Zentrum gezerrt und öffentlich enthauptet wurde, wer traute sich, nach dem Grund zu fragen? Bei öffentlichen Steinigungen musste sogar ein jeder mitmachen oder er riskierte selbst, gesteinigt zu werden. Bei den häufigen, meist öffentlichen Auspeitschungen starben nicht selten die armen Delinquenten noch am Handlungsort.
Das war der neue Alltag in Rakka. Alle Einwohner konnten jederzeit mit dem Tod bedroht werden, es gab keine Ausnahmen. In den Anfangswochen war es sogar ganz normal, Kindern beim Spielen mit abgeschlagenen Köpfen zuzusehen. Der Teufel hatte die Hölle nach Rakka verlegt und der IS war zu seinem willigen Gehilfen geworden. Sie waren erbarmungslose Ankläger und Vollstrecker, die Exekutionen nahmen kein Ende mehr. Ihre Doktrin war einfach, wenn du ihrem Kampf nicht beitreten wolltest, warst du der Feind und der Feind hatte sein Leben verwirkt, er wird getötet. Es gab keinen Ausweg, Mohammed wusste, wenn er dem IS nicht folgt, würde er über kurz oder lang sterben. Sein Glück war, dass er lesen und schreiben konnte, sie zwangen ihn, Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Eine seiner Aufgaben war es, die vielen Todesurteile zu schreiben, und er schrieb diese todbringenden Schriftstücke zu Hunderten. Mohammed hatte keine Wahl, er musste seine Mutter und seinen kleinen Bruder schützen, was konnte er allein auch schon gegen die Mörder ausrichten? Sie hatten die Waffen, sie waren die Herrscher, das Gesetz, er war nur ein Opfer, wie alle anderen.
Eines frühen Morgens wurde Mohammed durch lauten Tumult an seiner Zimmertür geweckt. Fünf maskierte, schwarz gekleidete Männer rissen ihn unsanft aus dem Bett und fragten ihn nach seinem Namen. Als er ihnen versicherte, er sei Mohammed Bari, Sohn von Abdul Bari und ein guter Moslem, begannen sie auf ihn einzuschlagen. Sie schrien ihn an, er sei ein elender Verräter und Ungläubiger, stülpten ihm einen schwarzen Sack über den Kopf und nahmen ihn mit in ihr Hauptquartier. Mohammed versuchte erst gar nicht, mit ihnen zu sprechen oder nach einer Erklärung zu fragen. Er war sich sicher, sein Leben war verwirkt. Er dachte nur noch an seine öffentliche Enthauptung auf dem Platz in der Stadt, die seiner Meinung unweigerlich auf ihn wartete. Die Schergen des IS brachten ihn aber nicht zum Marktplatz, sondern, zu seiner Verwunderung, ins Gefängnis. Dort steckten sie ihn kurzerhand in eine schmutzige, nach Schweiß, Urin und Fäkalien riechende Zelle. Bevor sie den dunklen Sack von seinem Kopf zogen, die Handschellen lösten und ihn wortlos auf dem Zellenboden liegen ließen, verprügelten sie ihn. Den ganzen folgenden Tag blieb er allein in dem dunklen vergitterten Raum, bis sie dann in der Nacht endlich kamen, ihn fesselten und zum Verhör brachten. Zwei Männer nahmen ihn in die Mitte und schleiften ihn einen langen Flur entlang zu einem großen Raum. Mohammed wurde in der Mitte auf einen Stuhl gesetzt. Er hielt seinen Kopf gesenkt und entdeckte, zu seinem Entsetzen, viele getrocknete Blutflecken und sogar ein paar ausgebrochene Zähne auf dem Zementboden. Ein stämmiger pockennarbiger Mann mit grausamen Augen befragte Mohammed die ganze Nacht unaufhörlich. Immer wieder stellte er Mohammed die Frage über seine Verbindung zu einem syrischen Armeeangehörigen aus Rakka. Er warf ihm unaufhörlich vor, er wäre ein Verräter und er müsste wissen, wo der Armeeoffizier sich versteckt halten würde. Während des endlosen Verhörs schlugen er und ein weiterer Mann erbarmungslos wieder und wieder auf Mohammed ein. Wenn er durch die Schläge besinnungslos wurde, schütteten sie einen Eimer Wasser über ihn aus. Da er der Wahrheit entsprechend niemanden in der Armee kannte, bestritt er vehement die Anschuldigungen. Die Folterungen dauerten viele Tage und Nächte. Sie banden ihm die Hände auf den Rücken und zogen ihn daran hoch, bis die Gelenke in den Schultern krachten. So baumelte er oft stundenlang, die meiste Zeit unbeachtet, bei seinen Peinigern, bis hin und wieder einer einen Stock nahm und auf ihn einschlug. Dabei fragte er immer wieder nach dem Offizier der syrischen Armee. Meistens ließen sie ihn erst am nächsten Morgen wieder herunter und brachten ihn in seine Zelle zurück. Den folgenden Tag ließen sie ihn dann in Ruhe und er erholte sich körperlich ein wenig, aber mental war eine Erholung unmöglich. Tag und Nacht hörte er die Schreie von Mitgefangenen, anderen Gefolterten, von Männern sowie Frauen.
Dann kamen seine Peiniger wieder und holten ihn zur erneuten Befragung. Unaufhörlich stellten sie dieselbe Frage nach seiner Beziehung zur syrischen Armee. Mohammed beteuerte stur, unablässig zu niemand in der Armee Kontakte zu haben, aber sie glaubten ihm nicht oder sie wollten ihm nicht glauben. Abermals hingen sie ihn an den Händen auf und ließen ihn die ganze Nacht über hängen. Manchmal, wenn Bewusstlosigkeit ihm die Qualen der Tortur nahm, spritzten sie ihm Wasser ins Gesicht und zogen an seinen Beinen, um die Schmerzen zu erhöhen. Sie drückten auch immer wieder Zigaretten auf seiner Haut aus, seine Arme und Beine waren von Brandwunden übersät. Er war fast dreißig Tage in Haft gewesen, bis Mohammed endlich wieder freikam. Am Tag seiner Freilassung führte man ihn in einen Raum mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen. An der Wand hing die schwarze Flagge des IS-Kalifats. Dort wurde ihm von einem älteren, ganz in schwarz gekleideten Mann formlos erklärt, dass er unschuldig sei. Des Weiteren sagte er ihm, dass er frei sei und jetzt zu seiner Familie zurückkehren könnte. Seine IS-Folterknechte verschwiegen ihm aber bewusst, dass seine Mutter Salima und sein Bruder Yasim in der Zwischenzeit auch verhört worden waren. Im Gegensatz zu ihm hatten sie die Folter jedoch nicht überlebt. Als Mohammed zurück zu dem kleinen Gebäude seiner Familie kam, waren sie nicht mehr dort und niemand wollte ihm etwas über den Verbleib seiner Angehörigen sagen. Tagelang suchte er vergeblich nach ihnen, bis ihm ein alter Mann aus der Nachbarschaft aus Mitleid erzählte, dass sie zwei Tage später, nachdem man ihn abgeholt hatte, auch von den Schergen des IS verschleppt worden waren. Sie waren, im Gegensatz zu ihm, aber nicht zurückgekommen und niemand konnte ihm über ihren Verbleib Auskunft geben. Nach erfolgloser, wochenlanger Suche emotional total abgestumpft dachte Mohammed nur noch an die Flucht aus Rakka. Er wollte sich am IS rächen, doch dafür musste er heimlich aus der Stadt verschwinden. Er floh aus der Stadt und machte sich auf den Weg nach Nordwesten. Er wollte erst mal nur eins, weit fort vom IS sein. Er beschloss, sich den oppositionellen Rebellen der Al-Kaida in der syrischen Provinz Idlib anzuschließen. Er wollte es sich zu seiner Aufgabe machen, den IS zu bekämpfen und bis zum letzten Mann auszurotten. Sein Leben hatte keinen anderen Sinn mehr für ihn, er lebte nur noch für die Rache. Es dauerte mehrere Tage der gefahrvollen Flucht durch IS-kontrolliertes Gebiet, bevor er endlich erschöpft die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens erreichte. Ein paar Tage später meldete sich Mohammed Bari dann beim örtlichen Kommandeur der Hayat-Tahrir-al-Sham-Rebellen-Gruppe und bewarb sich als freiwilliger Kämpfer.
Dass die Hayat-Tahrir-al-Sham-Rebellen nur eine Neuauflage der alten Al-Kaida waren, wusste Mohammed nicht, es interessierte ihn auch nicht weiter. Er wusste nur, die Rebellen waren genauso eine Kämpferorganisation wie der IS, nur verfolgten sie andere Ziele als der IS. Politik interessierte Mohammed dabei relativ wenig. Alles, was für ihn zählte, war, dass sie Krieger und, wie er, der geschworene Todfeind des Islamischen Staates, waren.
Mohammed durchlief, nach Prüfung seiner eigenen Geschichte und Angaben über seine Herkunft und Familie, erst einmal eine komplette Ausbildung zum Kämpfer an der Waffe. Es stellte sich aber schon sehr früh heraus, dass er eine spezielle Begabung für den Bau von Bomben hatte. Sprengstoff und Mohammed waren eins. Er war dazu ein sehr gebildeter junger Mann, der an der Universität Elektrotechnik und Informatik studiert hatte. Das fiel auch seinem Ausbilder Hassan Abbas, einem altgedienten Terroristen der Al-Kaida, sehr schnell auf. Er erkannte das Potenzial von Mohammed Bari. Hassan Abbas schlug Mohammed seinen Vorgesetzten für ein spezielles ideologisches Training oder, besser gesagt, für eine totale Gehirnwäsche vor. Mohammeds Karriere in der Organisation sollte eine ganz andere Laufbahn nehmen, als er sich vorgestellt hatte. Sie klärten ihn darüber auf, dass nicht der muslimische Bruder der wirkliche Feind sei, sondern der Westen die Schuld am Krieg im Mittleren Osten trägt. Mohammed glaubte ihnen, sein unbändiger Hass transformierte sich auf den Westen, allen voran die USA. Sie waren der wahre Feind des Islams, schuld am Tod seiner Familie.
Der Infidel, der Ungläubige, musste, wo immer sich die Möglichkeit bietet, unerbittlich bekämpft und getötet werden.
Samstag, 14. Januar, nachts
Es war eine kalte Nacht mit Minusgraden in der Seehafenstadt Emden. Die Gruppe der drei jungen Männer um Sven Tjarksen feierte fröhlich im Mozo, der einzig verbliebenen Diskothek in der Stadt. Anlass zu der ausgelassenen Feier war der einundzwanzigste Geburtstag ihres Freundes Arne Janssen. Die Freunde Sven, Arne und Johannes gehörten dem gleichen Fußballverein an, sie waren alle in Emden geboren. Die Stimmung war beschwingt und der Alkohol floss in Strömen. Sven hielt sich dennoch mit dem Alkohol etwas zurück, da er seiner Mutter versprochen hatte, sie am nächsten Tag zu seiner Schwester, die in Oldenburg studierte, zu fahren. Außerdem hatte er ein Auge auf ein hübsches Mädchen geworfen, das ihm immer wieder von der Tanzfläche Blicke zuwarf und dabei unentwegt frech mit ihm flirtete. Sven Tjarksen war ein gut aussehender, sportlicher junger Mann von zwanzig Jahren, dem die Mädchen in Scharen nachliefen. Er war, trotz seiner natürlichen Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht, eigentlich mehr der schüchterne Typ ohne feste Freundin. Der Flirt des hübschen Mädchens verunsicherte ihn, machte ihn verlegen, doch er fühlte sich magisch von ihr angezogen. Kurz nach Mitternacht und der zum Anstoßen auf Arnes Geburtstag obligatorischen Flasche Schampus fasste Sven dann all seinen Mut zusammen. Nachdem er sich mit ein, zwei Gläsern Sekt etwas Mut angetrunken hatte, begab er sich auf die gut besetzte Tanzfläche und sprach das junge Mädchen an.
Kaum dass er ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte, bekam er plötzlich von hinten einen kräftigen Stoß in den Rücken, der ihn fast über die halbe Tanzfläche katapultierte. Als sich Sven, mit schmerzenden Rücken, mühsam aufgerappelt hatte, sah er sich auch schon spontan drei jungen, arabisch aussehenden Männern gegenüber, die ihn feindselig anstarrten. Was ihm sofort an ihnen auffiel, war ihr typischer Gangster-Rap-Look. Alle drei trugen sogenannte Street Fashion oder Urban Wear. Diese Art der Mode drückte sich aus durch weite hängende Hosen in Übergröße, sogenannte Baggy Pants, dazu trugen sie Hoodies, die üblichen Kapuzenpullis. Die obligatorischen Turnschuhe, Sneakers, durften natürlich nicht fehlen und einer von ihnen trug, auch typisch für den Look, eine Baseballmütze mit dem Schirm nach hinten.
Die anderen beiden trugen eine dieser modernen Frisuren, die an den Seiten mit einrasiertem Muster kurzgeschoren waren und oben auf dem Kopf die längeren Haare mit viel Gel zurechtgestylt hatten.
Der Typ, der Sven in den Rücken gestoßen hatte, musterte ihn verächtlich, machte ihn dann auch sofort unmissverständlich an. Mit einer für junge Ausländer typischen schnoddrigen Wortwahl und einem starken Akzent zischte er: „Eh, was willst du mieser Pisser von meiner Freundin? Willst du sie anmachen, vielleicht sogar ficken oder was? Sie gehört mir, du Penner. Weißt du nicht, wer ich bin, du Kaffer? Das ist hier meine Hood, mein Laden, mein Mädchen. Ich schlag dir alle deine Knochen kaputt, du kleiner Wichser.“
Ohne Svens Antwort abzuwarten, schlug und trat er auch schon auf ihn ein. Wie ein eingespieltes Team taten es ihm seine Freunde gleich. Der junge Mann hatte keine Chance. Auf die Situation aufmerksam geworden, kamen jetzt Svens Freunde zu Hilfe und auch die Bouncer der Diskothek griffen ein. Plötzlich mit einer gleich starken Macht konfrontiert, hielten sich die drei Angreifer zurück. Der Streit schien sich etwas zu beruhigen, doch die Situation war damit noch lange nicht entschärft. Es begann ein verbaler Schlagabtausch zwischen den Gruppen.
„Dich mach ich fertig, du scheiß Deutscher“, schrie der Rädelsführer unter dem johlenden Zuspruch der anderen. „Weißt du, was wir Araber mit Kaffern wie dir machen? Wir zerbrechen eure Knochen, anschließend pissen wir auf euch.“
Einer von Svens Freunden, die etwas Oberwasser bekommen hatten, erwiderte: „So was wie dich sollte man ausweisen und zum Kamelhüten in die Wüste zurückschicken.“
Es ging hin und her mit den verbalen Beleidigungen und Attacken.
In der Zwischenzeit eilte einer der drei Araber aus der Diskothek, kam nach wenigen Minuten in Begleitung von zehn weiteren jungen Ausländern wieder und jetzt wurde es richtig unangenehm.
Sofort flogen wieder die Fäuste, es wurde wild herumgetreten und geschoben, Flaschen zerbrachen, junge Mädchen schrien. Die Türsteher der Disco waren nicht mehr Herr der Lage. Alles, was sie noch tun konnten, war, unter lauter Androhung die Polizei zu rufen, die verfeindeten Gruppen aus dem Lokal vor die Diskothek zu bugsieren. Was ihnen auch nach einigem weiteren Gerangel endlich gelang. Dort ging die Schlägerei dann aber erst richtig los. Es wurde allen schnell klar, dass die drei Deutschen keine Chance gegen die Überzahl der Bande der Araber hatte. Es waren einfach zu viele von ihnen. Hemmungslos brutal, rücksichtslos traten sie auf ihre Opfer unablässig ein, auch als diese schon auf dem Boden lagen und keine Gegenwehr mehr boten. Am Ende lagen die drei Freunde in einer Fötusstellung am Boden und versuchten nur noch verzweifelt ihre Köpfe vor den Tritten zu schützen. Auf dem Marktplatz, vorm Mozo, hatte sich eine große Gruppe Schaulustiger gebildet, die meisten von ihnen waren Deutsche. Dennoch sahen sie alle traurigerweise tatenlos zu, wie ihre eigenen Landsleute von den Arabern fertiggemacht wurden. Als endlich zwei Einsatzwagen der Polizei eintrafen, war der Spuk auch schon lange vorbei. Einer der drei jungen Männer lag auf der Straße und rührte sich gar nicht mehr, die zwei anderen saßen, mit blutüberströmten Gesichtern, hilflos daneben. Es fiel den Beamten schwer, sich ein Bild der Lage zu machen sowie Zeugen nach dem Hergang der Schlägerei zu befragen. Keiner schien etwas wissen zu wollen. Die Mehrzahl der anwesenden Araber verhielt sich dazu noch mehr als respektlos gegenüber den Polizisten. Sie pöbelten die Beamten an, ja bespuckten diese sogar und drohten ihnen unverhohlen. Es fielen Sprüche wie, man würde sie kennen, man wüsste, wo sie wohnten. Unverständlich für die Polizisten, verhöhnte der verloren umherstehende aufgebrachte deutsche Mob, angestachelt sowie eingeschüchtert durch die Ausländer, sie noch zusätzlich. Es war aber wohl mehr als eine Reaktion ihrer eigenen peinlichen Feigheit zu bewerten, die sie zu solch beschämendem Verhalten verleitete. Kurz darauf traf auch endlich der erste Rettungswagen ein. Man brachte die drei Verletzten ins nahe gelegene Emder Krankenhaus. Alles, was den Polizisten dann noch zu tun blieb, war, die Personalien der Herumstehenden aufzunehmen, anschließend die Videoaufzeichnung der Diskothek zu beschlagnahmen. Die Vernehmungen der Beteiligten an der Schlägerei und Zeugen mussten zu einem späteren Zeitpunkt die Zusammenhänge der Tätlichkeiten klären. Das würde aber erst in den nächsten Tagen geschehen können.
Fazit: Für das Emder Nachtleben waren die brutalen Schlägereien traurigerweise zu einer ganz normalen Samstagnacht-Routine geworden, allenfalls am Montag eine kurze Nachricht in der Emder Zeitung wert.
Samstag, 6. Mai, Monate später in Borssum
Mohammed Bari hatte sich in der Seehafenstadt Emden sehr gut eingelebt. Er saß grübelnd in seinem eigenen Zimmer, in einer Wohnung, die er sich mit zwei anderen jungen Asylanten, Syrern wie er, teilte. Die Wohnung, die sie gemeinsam bewohnten, befand sich in einem der hässlichen Häuserblocks der von Borssumern ungeliebten Wilhelm-Leuschner-Straße. Die für Emder Asylanten zuständige Koordinierungsstelle für Migration hatte ihnen die Wohnung vor gut einem Jahr zugewiesen. Bezahlt wurde sie vom deutschen Staat, dem deutschen Steuerzahler. Nach Mohammed Baris Ankunft in der Hafenstadt hatte er die ersten drei Monate seines Aufenthalts in einer zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Larrelt verbracht. Dort wurden ihm für den notwendigen Bedarf Unterkunft, Kleidung und Gemeinschaftsverpflegung gestellt. Zusätzlich erhielt er ein monatliches Taschengeld von 143 Euro in bar ausgezahlt. Beim Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung erhöhte sich sein Anspruch auf Leistungen im Wert von insgesamt 287 bis 359 Euro. Die Höhe der cash ausgezahlten Leistung war abhängig davon, ob man ein alleinstehender Erwachsener war oder in einer Familie lebte. Mohammed, ohne Familienanhang, bekam 359 Euro und konnte davon sehr gut leben. Er leistete sich von dem Geld sogar einen Laptop und ein Fahrrad, die er ständig in Gebrauch hatte.
Mohammed Baris Zimmer war sehr einfach eingerichtet. Ein Bett, ein kleiner Kleiderschrank, dazu ein Schreibtisch mit einem einfachen Holzstuhl rundeten die karge Einrichtung ab. Das wenig Persönliche im Raum reduzierte sich auf ein paar Fotos und Bilder seiner syrischen Heimat. Die Bilder zeigten das schöne Euphrattal mit seiner Heimatstadt Rakka im Hintergrund. Die vergilbten, zerknitterten Fotos, mit Stecknadeln über seinem Bett angeheftet, waren die einzigen Erinnerungsstücke an seine Familie. Auf der Schreibtischoberfläche lagen ein funkelnagelneuer Samsung Laptop-Computer sowie mehrere Schulbücher. In der Ecke, neben dem Kleiderschrank, befand sich ein kleiner, grüner, aufgerollter Gebetsteppich, den Mohammed, als gläubiger Moslem, fünfmal am Tag ausrollte, um darauf seine Gebete zu verrichten.
Es war schon spät in der Nacht und wie so oft konnte er nicht so recht schlafen. Er lag schweißgebadet auf seinem Bett, obwohl es im Zimmer recht kühl war. Die Erinnerungen an Rakka quälten ihn heute immer noch. Seine eigenen durchlebten Qualen und die schrecklichen Schreie der Gefolterten in den Folterkellern ließen ihn einfach nicht los. Mohammed hatte seit den schrecklichen Tagen der Folterhaft immer wieder diese fürchterlichen Alpträume. Wenn er dann träumte, sah er seine erschlagene Familie, seinen geliebten Vater, die Mutter, die kleine Schwester und die Brüder. Sie alle standen in seinem Traum blutüberströmt über ihm und klagten ihn lautlos an. Er stand dann meistens auf und betete zu Allah um Stärke. So war es auch in dieser Nacht, anschließend legte er sich nach dem Beten wieder aufs Bett und dachte, um sich abzulenken, an die vergangenen Tage seiner langen Reise von Syrien bis nach Emden.
Es war Mitte 2015 gewesen, als er sich entschlossen hatte, seinen Dschihad nach Europa zu tragen. Über den Grenzübergang Bab al-Hawa kam er in die Türkei, zu einer Stadt namens Izmir. Die Stadt war überfüllt mit jungen Syrern, die alle so wie er auch nach Europa wollten. Hassan Abbas, sein Mentor und Ausbilder, hatte ihn gut auf die Reise vorbereitet, ihm genaustens erklärt, über welche Route er am besten nach Europa kommt. Vor Mohammeds Abreise aus Idlib hatte er ihm Namen von Gleichgesinnten genannt, die ihm auf seiner Reise sowie an seinem Zielort helfen konnten. Er musste sich Telefonnummern merken, die er anrufen sollte, wenn er in Deutschland, seinem Wunschland, angekommen war. Zum Abschied steckte ihm Hassan noch mehrere Tausend Dollar zu, die er in seine Wäsche einnähen musste. 1.000 Dollar war der übliche Preis, der ihm am Bahnhof, durch einen von Hassan genannten Mittelsmann, für eine Überfahrt nach Griechenland angeboten wurde. Mohammed zahlte die Summe und ein Taxi brachte ihn am späten Abend aus der Stadt zu einem wartenden Transporter. Mit fast vierzig Frauen, Kindern und Männern in dem stinkenden Laderaum des Transporters eingepfercht, fuhren sie circa fünf Stunden in Richtung Mittelmeer. Dort wurden sie an einem einsamen, abgelegenen Strand abgesetzt. In Strandnähe, im Wasser, wartete schon ein mit zwei Männern besetztes, brandneues graues Schlauchboot auf die Gruppe. Es dauerte eine Zeit lang, bis sich alle Flüchtlinge in das riesige Boot gezwängt hatten. Es war trotz seiner Größe dennoch total überfüllt und es gab kaum genug Platz für all die verängstigten Heimatvertriebenen. Die beiden enorm großen, 150 PS starken Außenbordmotoren wurden gestartet, das mächtige Schlauchboot entfernte sich mit langsamer Fahrt vom Ufer aufs Meer hinaus. Neben ihnen tauchte plötzlich ein kleineres Motorboot aus der Dunkelheit auf, es lief in paralleler Fahrt zum größeren Boot. Zu ihrer Verwunderung wurde den Flüchtlingen dann erklärt, wie sie selber das Boot zu bedienen hatten. Nach der Beendigung der Einweisung wurde ihnen noch die Richtung, die sie anzusteuern hatten, mithilfe eines kleinen Kompasses angegeben. Danach sprangen die ursprünglichen zwei Besatzungsmitglieder, nachdem sie die Flüchtlinge ihrer Meinung nach genügend instruiert hatten, über Bord. Mit kräftigen Zügen schwammen sie zum wenige Meter entfernt wartenden zweiten Motorboot. Deren Crew fischte die beiden Männer aus dem Wasser, bevor das Begleitboot dann mit schneller Fahrt zurück zum Ufer fuhr. Es verschwand, genauso wie es gekommen war, alsbald in der Dunkelheit der Nacht.
Das Meer roch nach Fisch und Salz, war aber, inshallah, ruhig in dieser Nacht und der leuchtende Sternenhimmel mit einem hellen Dreiviertelmond gab ihnen ausreichend Licht zum Navigieren. Männer, Frauen und Kinder an Bord des Schlauchbootes waren trotz des niedrigen Wellengangs zu Tode verängstigt. Keiner von den zusammengepferchten Passagieren war jemals auf dem Meer gewesen, doch alle hatten schon viele schreckliche Geschichten über gesunkene Boote gehört. Allah blieb ihnen aber gnädig in dieser nicht enden wollenden Nacht. Nach fast siebenstündiger Fahrt entdeckten sie endlich Land am Horizont. Alle Flüchtlinge an Bord des Gummibootes weinten vor lauter Freude. Bevor sie aber sehnsüchtig den Strand am Horizont erreichen konnten, wurden sie ihrerseits von einem Schiff der griechischen Marine entdeckt. Der erste Schreck, der allen beim Anblick des grauen, gewaltigen Küstenkreuzers durch die Knochen fuhr, verwandelte sich schnell in eine große Freude. Entgegen ihrer Befürchtung, versenkt zu werden, nahm das Schiff der Marine die Männer, Frauen und Kinder an Bord und versorgte sie mit Decken, etwas zu essen sowie mit warmen Getränken. Dann brachte der Kreuzer die Flüchtlinge unverzüglich auf das mittlerweile in nahe Sichtweite geratene Festland. Das erlösende Festland entpuppte sich als die griechische Insel Kos. Im Hafen angekommen wurden sie in einem Polizeirevier der Insel erkennungsdienstlich behandelt und registriert. Währenddessen brachten ihnen Einheimische sowie internationale Helfer von Hilfsorganisationen Wasser, Tee, warmes Essen, Zigaretten, sogar einige frische Kleidung. Die Helfer waren ausnahmslos zuvorkommend, freundlich, hilfsbereit, menschlich und stellten, zu Mohammeds großer Verwunderung, keinerlei Fragen. Nach einer kurzen Registrierung bekam er seine Papiere mit einem Zusatzpapier der griechischen Behörden zurück. Ihm wurde dann erklärt, er müsste in die Hauptstadt Athen reisen und Griechenland binnen drei Tage wieder verlassen. Wie viele andere Syrer auch kaufte er sich ein Ticket am Hafen und fuhr am nächsten Tag mit einem Fährschiff nach Athen. Das Schiff war, neben ein paar wenigen Urlaubern, voll mit Flüchtlingen, die genau wie er in die Freiheit wollten. Es war schon spätabends, als die Fähre endlich in Athen einlief. Am Hafen schloss sich Mohammed zwei jungen Syrern an, die er auf der Fähre kennengelernt hatte. Es waren die Brüder Aadil und Hajid Musa aus Aleppo. Zu dritt fanden sie schnell eine billige Bleibe. Für 20 Euro pro Person und Nacht bekamen sie ein gemeinsames Zimmer mit Dusche auf dem Gang. Total erschöpft von ihrer ganz persönlichen Odyssee, die einer modernen Version von Homers Epos gleichkam, fielen sie alsbald in einen tiefen Schlaf. Ohne die geschichtsträchtige griechische Metropole eines weiteren Blickes zu würdigen, fuhren sie am nächsten Tag mit der Bahn weiter, über Thessaloniki, in Richtung mazedonischer Grenze. Am Bahnhof nahmen Mohammed und seine zwei neuen Reisebegleiter ein Taxi nach Avazunoa, das direkt an der mazedonischen Grenze lag. Wie nicht anders zu erwarten, war das kleine Grenzstädtchen übersät mit Flüchtlingen, Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge. Von Avazumoa wanderten sie, gemeinsam mit tausend anderen, über die Grenze nach Mazedonien. Nach tagelanger Wanderung wurden ihnen, in Tabanovce an einem Bahnhof in Mazedonien, von den dortigen Grenzbeamten ihre griechischen Papiere wieder abgenommen und neue mazedonische Papiere ausgestellt. Sie wurden anschließend aufgefordert, mit dem Zug zur serbischen Grenze zu fahren. Es wurde ihnen direkt zu verstehen gegeben, in Mazedonien könnten sie nicht bleiben.
Nach mehrstündiger Zugfahrt wurden sie dort an der Grenze aber von unfreundlichen serbischen Beamten zurückgewiesen. In ihrer Not suchten sie nach einem abgelegenen Weg, einem illegalen Grenzübergang. Bisher war ihre Flucht aus Syrien fast als einfach zu bezeichnen, jetzt wurde es schwieriger für die Flüchtlinge, ihr nächstes Ziel zu erreichen. Die Grenzen wurden plötzlich stärker bewacht und mit vielen neuen Stacheldrahtzäunen abgeschottet. Zusätzlich patrouillierten bewaffnete Soldaten mit Hunden an den Grenzanlagen. Mohammed und die Musa-Brüder hatten aber Glück, Allah war ihnen auch weiterhin gewillt. Nach mehreren Stunden Fußmarsch gelangten sie schließlich zu einem der wenigen Hilfezentren für Flüchtlinge in Serbien. Dort bekamen sie ein weiteres Mal neue Papiere, diesmal serbische, die dritten auf ihrer im Verhältnis kurzen Reise. Mit diesen Papieren wurde es ihnen gestattet mit dem Bus nach Belgrad, der Hauptstadt Serbiens, zu fahren. In Belgrad, der ehemaligen Hauptstadt Jugoslawiens und aktuellen Hauptstadt Serbiens, angekommen mieteten sie sich wieder zu dritt ein kleines, billiges Zimmer und verbrachten in der schönen Stadt an der Donau zwei Tage zur Erholung. Dann ging es mit dem Bus weiter nach Cengiza an die ungarische Grenze. Hier erwartete sie eine weitere Hürde auf ihrem Weg zu ihrem endgültigen Ziel, Deutschland. Andere Asylsuchende hatten sie in Belgrad darüber informiert, dass sie,falls sie von den ungarischen Behörden aufgegriffen werden, ihren Asylantrag in Ungarn stellen müssen. Das wollte aber keiner von ihnen, sie hatten sich alle drei, seit ihrem ersten Treffen auf der Athen-Fähre, Deutschland auf die Fahne geschrieben. Sie waren bereit alles dafür zu tun, jegliches Hindernis zu überwinden. Mohammed wartete zusammen mit den Musa-Brüdern in der Nähe von Cenginza bis zum Sonnenuntergang. Von dort machten sie sich durch die Wälder auf nach Ungarn. Sie marschierten die ganze Nacht hindurch, bis sie zu einem Ort mit dem Namen Szeged kamen. In der kleinen Ortschaft hielt ihr Glück weiter an, sie konnten einen lokalen Taxifahrer überreden, sie nach Budapest weiterzufahren. Die Überredung hatte natürlich ihren Preis, erst für 250 Euro pro Nase war der Taxifahrer zu überzeugen, sie nach Budapest zu bringen. Mohammed zahlte für die drei, da die Musa-Brüder kein Geld mehr besaßen. Stunden später erreichten sie die ungarische Hauptstadt. Der geschäftige Taxifahrer musste solche Fahrten schon öfter gemacht haben, denn einschlägige Hotels, wo ihnen für ihre illegale Weiterreise geholfen werden konnte, waren ihm auch keineswegs fremd. Sie blieben für eine Nacht in Budapest und tauschten sich mit anderen Flüchtlingen, die überall in der Stadt herumlungerten, aus. Für weitere 500 Euro pro Person fanden sie schnell einen Mann, der bereit war, sie am nächsten Tag nach Deutschland zu schleusen. Mit sechs weiteren Personen stiegen Mohammed und die Musa-Brüder in einen Kleintransporter und ihnen wurde gesagt, in fünf Stunden seien sie in Deutschland. Die Fahrt dauerte am Ende knapp sechs Stunden. In der Nähe eines Waldwegs wurden sie am frühen Morgen aus dem Transporter gelassen und in Richtung eines kleinen Ortes namens Haidmühle geschickt. Das Dorf lag in Deutschland, sie waren endlich an ihrem Ziel angekommen. Im Ort selber begaben sie sich, wie ihnen von den Schleppern geraten worden war, auf direktem Wege zum Bürgermeisteramt. Im Amt befragte sie eine junge Amtsgehilfin nach ihren Namen, Herkunft, Alter und woher sie gekommen waren. Nach der ersten Aufnahme der Personalien wurden sie mit einem Bus weiter nach Deggendorf gebracht. Die Behörden der bayrischen Kleinstadt machten dort neue Passfotos, nahmen ihre Fingerabdrücke und teilten ihnen mit, dass sie am nächsten Tag woanders hingebracht würden. Es war Mohammed eigentlich total egal, Hauptsache, er war heil in Deutschland angekommen. Er hatte sein Ziel erreicht und ihm war nicht ganz so wichtig, wohin in Deutschland man ihn schicken würde. Am nächsten Morgen in der Flüchtlingsaufnahme erklärte man ihm und den Musa-Brüdern, dass der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen alle Kapazitäten in Süddeutschland erschöpft hatte. Der Dolmetscher sagte ihnen, sie würden deshalb unverzüglich in eine Stadt Norddeutschlands geschickt werden. Zwei Tage später erreichten Mohammed Bari, Aadil und Hajid Musa dann per Bus, zusammen mit 80 weiteren Flüchtlingen aus Syrien, die ruhige Seehafenstadt Emden.
Hier lebte Mohammed jetzt schon seit fast anderthalb Jahren mit den Musa-Brüdern unauffällig sein Dasein. Sie hatten nach einiger Zeit zusammen eine Wohnung zugewiesen bekommen und teilten sich die Küche sowie ein Badezimmer. Untereinander sprachen sie viel arabisch, am Abend lernten sie zusammen die deutsche Sprache. Sie teilten ihren Schmerz vom Verlust der Heimat, erzählten sich gegenseitig die Geschichten, wie sie ihre Familien im Syrienkrieg verloren hatten. Im Gegensatz zu Mohammed waren die Musa-Brüder harmlose junge Männer, eine verlorene Generation. Für ihn, den erfahrenen Dschihadisten, waren sie eine perfekte Tarnung für sein wirkliches Vorhaben. Mohammed hatte, wie es ihm von seinen Anführern aufgetragen worden war, ohne Zögern in Emden einen Asylantrag beantragt. Er studierte fleißig die deutsche Sprache und machte sich bei Ausfahrten mit seinem Fahrrad vertraut mit der Umgebung. Er war speziell viel mit dem neuen Fahrrad in den Hafenanlagen unterwegs. Er liebte es, durch den Hafen zu radeln, aber es gab noch einen anderen Grund für sein Interesse. Schiffsverladeanlagen, Schleusen und Fähren interessierten ihn dabei ganz besonders. Mit seinem Smartphone machte er viele Fotos, die er dann in seinem Zimmer auf seinen Laptop lud. Aufmerksam studierte er anschließend die Fotos, es formte sich langsam ein teuflischer Plan in seinem Kopf.
Mohammed dachte an seine Zeit in Idlib zurück. Er war an vielen Kampfeinsätzen gegen den IS beteiligt gewesen, hatte mehrfach Gegner getötet. Doch der Kampf mit der Waffe war nicht das Einzige, was er in den Trainingslagern gelernt hatte. In Idlib hatte er unter dem Einfluss seines Kommandeurs Abin al-Saad eine intensive politische Ausbildung erhalten. Ihm wurde dabei immer wieder sehr deutlich glauben gemacht, dass allein der Westen die Hauptschuld am Untergang seines Landes und dem Tod seiner Familie hatte. Die Kämpfer des IS, hatte man ihm gesagt, waren nur Werkzeuge, verlorene, manipulierte Söhne des wahren Islams, irregeführt durch korrupte Politik und falsche Propheten. Der Westen mit seiner unendlichen Dekadenz und Ungläubigkeit wäre der wahre Feind des Islams, hatte man ihm wieder und wieder eingehämmert. Die dschihadistische Doktrin, der zufolge es seine religiöse Pflicht sei, islamischen Boden gegen ausländische und Ungläubige zu verteidigen, wurde Mohammeds tägliches Gebet. Er studierte intensiv dazu alle Lehren des Al-Kaida-Führers Aiman az-Zawahiri. Es verfestigte sich für ihn die These, der Feind musste auch auf seinem eigenen Boden bekämpft werden. Damit hatte sich Mohammeds Weg für die Zukunft erleuchtet, er wollte unbedingt ins Ausland gehen, um Terror und Tod in die Länder des Westens zu bringen. Sie sollten ein wenig von ihrer eigenen Medizin des Grauens kosten.
Er hatte seiner toten Familie heilig geschworen für ihren Tod am ungläubigen Westen Rache zu nehmen, im Namen Allahs und seines Propheten Mohammed.
Montag, 8. Mai, frühmorgens
Er war an diesem regnerischen Morgen in seiner Wahlheimatstadt Emden sehr früh aufgestanden. Anschließend hatte er eine Runde gejoggt und auf dem Rückweg noch schnell ein paar frische Brötchen gekauft. Jetzt hing das unverkennbare Aroma frisch gebrauten Kaffeegenusses in der Luft. Durch eine kalte Dusche nach dem Jogging erfrischt, saß Peter nun gemütlich beim Frühstück in seinem Apartment am Schreyers Hoek in Emden und las die lokale Tageszeitung. Im Hintergrund spielte das neue Lied Shape of You von Ed Sheeran im Radio, ein leichter Regen trommelte dazu unablässig den Rhythmus des Songs an die Fenster seiner Wohnung. Er liebte diese Zeit am Morgen, wenn er gemütlich bei frischen Brötchen, Frühstücksei und Kaffee den Tag in aller Ruhe beginnen konnte.
Hauptkommissar Peter Streib war vierundvierzig Jahre alt, 1,90 Meter groß mit vollen, blonden, halblangen Haaren, Dreitagebart und stechend stahlblauen Augen. Er war augenscheinlich ein muskulöser Mann, schlank, durchtrainiert ohne ein einziges Gramm Fett zu viel am Körper. Überdies machte ihn sein harter maskuliner Gesichtszug mit den strahlend weißen Zähnen zum Typ Mann, der auch ohne Weiteres auf jedem Titelbild eines Modemagazins abgebildet werden konnte. Viele Frauen fanden Peter sehr attraktiv. Er war sich seiner positiven Ausstrahlung auf das weibliche Geschlecht bewusst, dennoch, Arroganz oder Überheblichkeit war ein Fremdwort für ihn. Im Inneren seines Wesens war er Frauen gegenüber meist eher etwas scheu und zurückhaltend.