Heinz G. Konsalik

Die Tochter des Teufels

Roman

Nachwort von Dagmar Konsalik

Als Teenager gehörte Die Tochter des Teufels zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. Der junge Gardeoffizier Nikolai war für mich der tollste Mann: mutig, elegant, unglaublich attraktiv. Seine Liebe zur Tochter Rasputins entsprach meinen romantischen Vorstellungen von der großen Liebe. Ich war sozusagen einem Roman meines Vaters verfallen. Ich habe ihn mehrfach gelesen und völlig verdrängt, dass es eine erfundene Konsalik-Geschichte war. Dieser Roman erschien 1967 zuerst als großer Fortsetzungsroman und dann in Buchform, wie viele Geschichten meines Vaters. Er war damals auch in diesem Genre, dem historischen Spannungsroman, einer der ganz großen Autoren. Die REVUE, die es heute nicht mehr gibt und die damals der erste Verleger meines Vaters, Helmut Kindler, herausbrachte, verdankte auch den Vorabdrucken meines Vaters ihre großen Auflagen. Dementsprechend aufwendig wurden die jeweiligen Folgen mit Originalzeichnungen in Schwarz-Weiß gestaltet, und sie entsprachen wunderbarerweise genau meiner Vorstellung des Geschehens. Vor allem Nikolai sah genauso aus wie der Mann meiner Träume. Einer der Zeichner war Arno Bierwisch. Ich besitze heute noch einige Originale, sie zieren mein Zuhause, und ich hüte sie wie einen Schatz.

Der Autor

Heinz. G. Konsalik wurde am 28. Mai 1921 in Köln geboren. Er studierte Theater- und Zeitungswissenschaften und Literaturgeschichte in Köln und München mit dem Ziel, Dramaturg zu werden. Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde er eingezogen; nach der Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft arbeitete Konsalik zunächst als freier Mitarbeiter im Feuilleton der Kölner Zeitung. Bald gehörte er zu jenen Autoren, die sich nach Kriegsende zum Ziel setzten, für die nachkommende Generation die Schrecken jedes Krieges eindringlich und realistisch zu schildern. Der Roman Der Arzt von Stalingrad, der heute als einer der Klassiker der Weltkrieg-II-Literatur gilt, machte Konsalik nahezu über Nacht berühmt. Seitdem schrieb er einen Bestseller nach dem anderen – insgesamt 155. Am 2. Oktober 1999 erlag er in seinem Salzburger Domizil einem Schlaganfall. Noch heute ist er unbestritten der national und international meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller der Nachkriegszeit; seine Werke erreichten bisher eine Gesamtauflage von rund 88 Millionen Exemplaren; sie wurden in 46 Sprachen übersetzt.

Erster Teil

9

Eine lange Zeit – oder schienen ihnen wenige Minuten nur so lange? – saßen sie sich schweigend gegenüber. Das Eis auf der Schilka, dem Fluss südlich Ust-Tschenaja, krachte; man hörte es bis zum Lager, und es war, als bebe die Erde mit in den Geburtsschmerzen für einen neuen Frühling. Noch ein paar Tage, und die Eisbarriere bewegte sich hinab zum Amur, türmte sich zu Bergen auf und donnerte dann als weiße, gezackte Mauer den großen Strom hinab.

Nadja Gurjewa wischte sich langsam über die Augen, als sei eine lange Nacht traumzerwühlten Schlafes hinter ihr. Sie sah General Ryschikow mit dem Birkenweinkrug in der Hand am Tisch, den eisgrauen, buschigen Schnurrbart feucht vom Wein, und sie begriff erst jetzt die trostlose Wahrheit. Frei! Aber welche Freiheit! Ein Stück Treibholz auf einem roten Meer, das von allen Seiten heranbrandete und Russland überspülte. Ein wiedergeschenktes Leben, das keine Chancen mehr hatte, durchlebt zu werden.

Nadja ballte die Fäuste im Schoß. Ihr Kopf flog trotzig in den Nacken. Ryschikow nickte mehrmals stumm. Die Tochter des alten Satans, dachte er. Sieh an, da ist sie plötzlich! Der gleiche Blick, der gleiche zusammengepresste Mund, das harte Kinn, mit dem man Stahlplatten einbeulen konnte. Aber was hat es jetzt für einen Sinn? Auch Rasputins Kraft nützt dir nichts, mein Töchterchen. Wir sitzen auf einer Insel, und rund um uns herum flattern die roten Fahnen der bolschewistischen Revolution.

»Können Sie mir Wagen und Pferde geben, Exzellenz?«, fragte Nadja hart. Ryschikow nickte und nahm noch einen Schluck Birkenwein.

»So viel Sie wollen, Nadja Grigorijewna! Vom Tarantas bis zur Kalesche … wir brauchen alles in absehbarer Zeit nicht mehr.«

»Geben Sie mir einen Panjewagen und zwei Pferde, auf denen man auch reiten kann.«

»Und dann? Mitten durch die Roten?«

»Ja. Mitten durch!«

»Nach Wladiwostok?«

»Wenn Gott uns hilft …«

»Gott ist aus Russland geflüchtet, Nadja Grigorijewna.« Ryschikow legte beide Hände über die Augen, es war, als ob er lautlos weinte. »Und die Menschen haben das Ebenbild Gottes verloren, als das sie geschaffen wurden. Ich gebe Ihnen Pferde und Wagen … aber den Mond werden Sie eher erreichen als Wladiwostok. Ich habe einen anderen Plan. In Ust-Tschenaja und Tschita liegen zwei Regimenter. Zusammen mit den Häftlingen, die wir bewaffnen könnten, ergäbe das eine kleine Stoßbrigade, die mit der Kraft des Todesmutes vielleicht den Riegel der roten Truppen durchbrechen und sich durchschlagen könnte. Es wird viel Tote geben – aber es winkt als Preis die Freiheit!«

»Ich möchte keinen Kampf.« Nadja stand auf und trat ans Fenster. Von hier aus konnte sie die äußere Holzpalisade des Straflagers sehen, das ständig offene Tor, die wenigen Posten, die Straße, vom Matsch tauenden Schnees knöcheltief versumpft. »Geben Sie mir Nikolai heraus, und lassen Sie uns ziehen.«

»In den Tod, Madame! Das ist fast eine Garantie.«

»Aber ein Tod mit Nikolai! Er wird nicht schwer sein.«

»Ich bewundere Sie, Madame.« General Ryschikow erhob sich. »Es ist mir eine tragische Freude, Ihren Wunsch zu erfüllen. Bitte, denken Sie ein wenig freundlich an mich.«

»Sie haben nur Ihre Pflicht getan, Exzellenz.«

Ryschikow nickte schwer. Dann ging er zur Tür. Die Uniform schlotterte ihm um den knochigen Körper wie das durchlöcherte Hemd um eine Vogelscheuche. Erschrocken erkannte Nadja, dass der zaristische General schon in ihm erstorben war … er war nur noch ein Denkmal einer längst begrabenen Zeit.

»Über die Pflicht sollte ein Philosoph einmal ein Buch schreiben«, sagte er an der Tür. »Aber er wird es nie zu Ende bringen … spätestens in der Mitte wird ihn der Wahnsinn befallen …«

Ryschikow grüßte, seufzte und verließ dann die Hütte der Gurjewa.

Am nächsten Morgen – die Sonne schien, ein wenig kälter war es geworden, und das Eis auf der Schilka stand wieder – ließ Hauptmann Birjukow das gesamte Straflager II auf dem Appellplatz antreten. »In Sonntagskleidung!« hieß der Befehl. »Gewaschen und rasiert! Die Nachtruhe wird um eine Stunde zurückverlegt, um die Kleidung auszubessern.«

»Heute ist Donnerstag«, sagte der junge Graf, spuckte auf seine Stiefel und rieb sie mit einem großen Wolllappen blank. »Ein normaler Tag. Kein Feiertag, kein Kirchgang, kein Gedenken. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder bekommen wir Besuch von Koltschak selbst oder man lässt uns in Gala sterben! Wie’s auch sei – Nikolai, mein Freund, an deiner linken Tasche fehlt ein Knopf. Näh ihn an …«

Der Morgen brachte neue Überraschungen. Die Arbeitskommandos rückten nicht aus, die Wachsoldaten trugen ihre Sonntagsuniform, die zum Lagerinnendienst Abkommandierten bekamen keine Ketten umgelegt, auch die anderen Sträflinge behielten nur ihre Eisenschellen an den Knöcheln und Handgelenken, während die Ketten neben den Betten liegen blieben. Unheimlich war es, plötzlich über den großen Appellplatz gehen zu können, ohne dass die Ketten gegen den Bauch schlugen, durch den Schnee schleiften und das schreckliche Klirren in die kalte Luft stieg.

»Besuch«, sagte der junge Graf neben Nikolai, als die Barackeninsassen in einem großen Karree aufgestellt waren und auf das warteten, was nun kommen sollte. »Es kann nur ein Besuch sein! Und er soll sehen, wie gut es uns geht, uns Ratten Russlands!«

Hauptmann Birjukow inspizierte seine Sträflinge. Er meckerte an einigen Leuten herum, die noch Lehmflecke auf den Steppjacken hatten, schickte vier zurück in die Baracke, die sich nicht rasiert hatten, und schrie seine Wachkompanie an, die – vom Exerzierdienst völlig entwöhnt – das Probepräsentieren sechsmal verpatzte.

»Wir wechseln aus!«, schrie Birjukow mit hochrotem Kopf. »Ich mache euch zu Sträflingen! Noch einmal! Stillgestanden! Das Gewehr über! Achtung – präsentiert das Gewehr …«

Er übte noch immer, als ein Reiter die Ankunft der Gäste meldete. Hauptmann Birjukow faltete gottergeben die Hände, zog dann seinen breiten Säbel, stellte sich in die Mitte des Karrees und hob die Klinge hoch in die Luft. Die Sonne glitzerte auf dem blanken Stahl, die erste Reihe vor Birjukow wurde geblendet.

»Das ganze Lager Achtung!«, brüllte er.

Die vierhundert Sträflinge standen stramm, die Wachkompanie krachte mit den Stiefelabsätzen. Erstaunlich, plötzlich klappte es vorzüglich.

Durch das breite Tor ritt eine Schwadron Husaren. Sie verteilten sich entlang der Palisadenwand … ein herrliches Bild von edlen Pferden und fast vergessenen Uniformen. Dann folgte eine Kalesche, aus der eine lange, dürre Gestalt in einem flatternden Mantel stieg. Ein Schlitten mit einer Holzkiste darauf wurde hinter ihm hergezogen.

»Der Alte!«, sagte der Graf leise. »Will uns der gute Ryschikow als Osterhase bescheren?«

Das Tor schloss sich. Das Schnauben der Pferde, das Klirren der Waffen und des Zaumzeugs waren die einzigen Laute im Lager. Gurjew durchflog ein Zittern. Er hatte in der Kalesche, aus der Ryschikow gestiegen war, eine schmale, in Pelze gehüllte Gestalt bemerkt. Sie drückte sich in den Sitz, als wolle sie nicht gesehen werden.

Nadja, durchfuhr es Gurjew. Es ist Nadja! Im Wagen des Generals. Was ist geschehen? Wie kommt sie zu dieser Ehre? Ein ekelhaftes Gefühl von Eifersucht und Misstrauen umklammerte sein Herz.

General Ryschikow nahm die Meldung Hauptmann Birjukows entgegen, grüßte die Soldaten und – man sollte es nicht glauben – auch die Sträflinge, stellte sich dann in die Mitte des Vierecks und winkte den Schlitten zu sich heran.

»Soldaten! Kameraden! Meine Herren!« Die Stimme des alten Ryschikow war hell und klar wie in seiner besten Zeit als Kommandeur des II. kaiserlichen Husarenregiments. Die Sträflinge sahen sich aus den Augenwinkeln an. Meine Herren, damit waren sie gemeint. Drehte sich die Erde anders herum?

»Ich habe eine Ehrenpflicht zu erfüllen, und deshalb sind wir heute zusammengekommen.« Er gab Hauptmann Birjukow einen Wink – der riss den Säbel wieder hoch.

»Stillgestanden!«, schrie Birjukow. »Achtung! Präsentiert das Gewehr!« Dabei flehten seine Augen: Jungs, blamiert mich nicht …

Es gelang vorzüglich. Auch die Husaren an der Holzwand hielten die Kandaren straff und präsentierten ihre breiten Säbel. Die Sträflinge atmeten kaum. Was geschah jetzt? Das alles war wie ein wundersamer Traum, den man nicht zu deuten vermochte.

General Ryschikow blickte über die Köpfe der Gefangenen hinweg. »Nikolai Georgijewitsch Gurjew«, rief er. »Vortreten.«

Nichts rührte sich. Der junge Graf stieß Gurjew, der starr und steif neben ihm stand, in die Seite.

»Du bist gemeint, Niki. Raustreten …«, flüsterte er.

Gurjew blieb stehen. »Das ist ein Irrtum«, flüsterte er zurück.

General Ryschikow räusperte sich laut. »Ich rufe Nikolai Georgijewitsch Gurjew …«

»Hier!«

Gurjew drängte sich nach vorn. Mit langsamen Schritten kam er näher, ging an Hauptmann Birjukow vorbei, der ihm rätselhaft zublinzelte, und blieb vor Ryschikow und dem Schlitten mit der Kiste stehen. Der General sah ihn streng an … mit der rechten Hand strich er sich über den grauen Schnurrbart. Eine Ordonnanz der Husaren öffnete den Kistendeckel. Noch konnte keiner sehen, was die Kiste enthielt. Mit einem Gefühl des Erstaunens nahm Gurjew militärische Haltung an.

»Nikolai Gurjew zur Stelle!«, sagte er laut.

Ryschikow nickte. »Im Namen der Regierung von Sibirien habe ich Folgendes zu erklären –«, rief er über den weiten Platz. Er sah über Gurjews Pelzmütze hinweg, denn er überragte ihn noch um Haupteslänge. »Die Verurteilung Nikolai Gurjews erfolgte durch einen Irrtum! Das Urteil wird hiermit aufgehoben.«

Ryschikow blickte zu Gurjew hinunter. In dessen Gesicht zeigte sich keinerlei Regung … es war erstarrt, wie versteinert in der Unbegreiflichkeit.

»Ich habe die Ehre, Nikolai Georgijewitsch«, sagte Ryschikow mit bewegter Stimme, »Sie wieder in die Armee aufzunehmen. Ich ernenne Sie erneut zum Gardehauptmann, gebe Ihnen alle Ehre zurück und freue mich, Sie mit eigener Hand vor allen Menschen zu rehabilitieren.« Ryschikow griff in die Kiste auf dem Schlitten. Er zog einen neuen Uniformrock hervor. Die breiten Schulterstücke glänzten in der Sonne. Wie ein Schneider bei der Anprobe hielt Ryschikow den offenen Rock Gurjew hin.

»Ziehen Sie sich bitte um, Nikolai Georgijewitsch …«

Wie eine mechanisch betriebene Puppe handelte Gurjew. Er knöpfte seine dicke Steppjacke auf, schob sie über die Schultern und ließ sie in den Schnee fallen. Dann drehte er sich um, und General Ryschikow half ihm in den Uniformrock, der auf dem Körper saß, als käme er gerade aus einem Maßatelier. Mit zitternden Fingern knöpfte Gurjew den Rock zu. Dabei sah er zu seinen Sträflingskameraden und bemerkte mit einem Würgen in der Kehle, dass viele von ihnen weinten.

Mit einem Ruf drehte er sich zu Ryschikow um. Der General hatte ein Koppel in der Hand. Pistole und Pistolentasche hingen an dem Ledergurt … in der anderen Hand hielt Ryschikow den symbolischen Offiziersdegen.

Wortlos trat der General vor und schnallte eigenhändig das Koppel um Gurjews Leib. Dann hob er den Degen und hielt ihn Gurjew hin.

»Hauptmann Gurjew …«, sagte Ryschikow ergriffen. »Für die Freiheit Russlands und die Wiedergeburt des Zaren – Hurra! Hurra! Hurra!«

Nikolai schwieg. Er presste den Degen gegen die Brust, sein Gesicht zuckte. Ein erschütterndes Bild war es … bis zu den Hüften ein Gardeoffizier … aber von da ab noch ein Sträfling, in geflickten, ausgelaugten Stepphosen und die plumpen Stiefeln, deren Absätze mit gezacktem Blech beschlagen waren, damit man sich in das Eis krallen konnte.

Ein zweigeteilter Mensch, mitten durchgeschnitten … Ein Symbol Russlands?

General Ryschikow sah in den zerstampften Schnee. Er ahnte, was jetzt in Gurjew vorging. Man brauchte ihm nicht zu sagen, wie ungeheuerlich diese Szene war, mit der man monatelange Leiden wegwischte und so tat, als sei nichts weiter geschehen als das Zurückbringen einer gesäuberten Uniform aus der Reinigung.

»Ihre Gattin wartet in meinem Wagen«, sagte er leise zu Gurjew. »Sie hat Ihnen ein Festmahl bereitet. Die Offiziere der Garnison Tschita werden die Ehre haben, Ihre Gäste zu sein.«

Nikolai Gurjew drehte sich um und ging. Den Degen noch immer gegen die Brust gepresst, mit unsicheren Schritten, als taste er sich über Glatteis, kam er an die Kalesche und sah auf das Häuflein Pelz. Das schmale Gesicht Nadjas starrte ihm aus einem Urwald von Fellhaaren entgegen.

»Mein Gott … Nadjuscha … was ist das alles?«, fragte Gurjew heiser. »Was machen sie mit mir …«

»Steig ein, Niki.« Nadja rückte etwas zur Seite. »Unsere Gäste kommen in einer Stunde …«

»Habe … habe ich das dir zu verdanken? Was hast du dafür gegeben?«, stammelte er.

»Du bist wie ein Kind, Niki.« Nadja versuchte ein mattes Lächeln. »Unser Russland ist nicht mehr. Die Rote Armee hat gesiegt. Man gibt dir den Glanz zurück, weil er wertlos geworden ist. Das ist alles! Steig ein, Hauptmann Gurjew!«

Mit steifen Beinen kletterte Gurjew in die Kalesche. Der Kutscher, ein Feldwebel der Husaren, schnalzte mit der Zunge, die beiden geschmückten Pferde zogen an, liefen einen Kreis und verließen das Straflager. Das große Tor öffnete sich … aber die Freiheit lag nicht mehr hinter ihm …

Die zurückgebliebenen Sträflinge standen schweigend und sahen der Kalesche nach. Wie eine Hochzeitskutsche sah sie aus … eine Hochzeitsreise in die Hölle!

Die Wachkompanie rührte sich, die Husarenschwadron stellte sich zum Abritt bereit. Für General Ryschikow wurde ein Pferd herangeführt.

»Und wir gehen vor die Hunde«, sagte der junge Graf leise. Die Lücke neben ihm, wo Gurjew gestanden hatte, wirkte wie ein Eisblock. Man hatte sich so aneinander gewöhnt, wie ein Zwilling war man gewesen … nun war die Welt leer. »Man hat ihn nicht umsonst hier herausgeholt … ganz in der Nähe stinkt es, Kameraden. Riecht ihr es nicht? Nach Pulver, Blei und Blut riecht es … und immer näher kommt’s …«

Die anderen schielten zu ihm hin und schwiegen. Sie verstanden ihn. Die Nachricht von dem Vorrücken der Roten war auch ins Lager geschlichen.

»Ein armer Mensch, unser Nikolai«, sagte jemand aus dem letzten Glied. »Jetzt werden ihm die Roten den Schädel einschlagen. Die schöne Uniform – verdammt, er wird sie teuer bezahlen müssen!«

Die Parade wurde aufgelöst.

Arbeitsfrei war dieser Tag. Die Küche lieferte köstlichen Kascha und eine Suppe aus Dorschfleisch. Ein Feiertag war’s, wahrhaftig.

Aber soviel man in sich hineinfraß – und man konnte heute essen, soviel man wollte –, das Gehirn aß nicht mit.

Die Roten kommen!

Russland, unser kaiserliches Russland, ist endgültig tot.

Jetzt regiert das Volk.

Wo ist das Volk? Was ist das Volk?

O Gott, erbarme dich über Russland!

Die Zukunft ist wie ein blutiger Nebel.

Was ist dahinter, wenn der Nebel zerreißt?

Der Abschied von seinen Kameraden fiel Nikolai Gurjew schwer.

Während Nadja den Panjewagen belud und alle Nachbarn ihr halfen mit dem, was sie abgeben konnten – und das waren Säckchen mit Grieß und Korn, Gläser mit eingeweckten Pilzen und Fischen, Salzfleisch und Stockfisch, Mehl und Zucker, Presstee und in Streifen geschnittener Tabak –, ging Gurjew ins Lager zurück und gab jedem die Hand. Die meisten drückten sie stumm, blickten zur Seite und beeilten sich weiterzugehen … nur einige atmeten tief auf und sagten: »Wenn du die Möglichkeit hast, nach Rostow zu schreiben … eine alte Mutter habe ich da … sag ihr, dass ich noch lebe …« – »In Irkutsk wohnt meine Frau, Brüderchen. Sag ihr, dass es mir gut geht …« – »Wirst du Petersburg wiedersehen? Meine Tochter lebt in Petersburg. Grüße sie, Nikolai …«

Bei dem jungen Grafen blieb Gurjew am längsten. Er hatte Stalldienst und mistete die Boxen der Militärpferde des Lagers aus. »Überleg es dir, Niki«, sagte der Graf und hob frisches Stroh mit der Gabel zu der Krippe. »Wirf dem alten Ryschikow die schöne Uniform an den Kopf. Bestehe darauf, dass du Sträfling bleibst. Sei doch vernünftig, überleg doch: Wenn die Roten Ust-Tschenaja erobern, sind wir die Märtyrer! Man wird uns pflegen wie die Zuchthengste, man wird unsere Fotos in alle Welt schicken … zuerst alle in Ketten, dann alle lachend nach der Befreiung durch die Rote Armee. Wir werden ein tolles Propagandamaterial abgeben! Aber du? Du kannst es dir aussuchen: Auf dem Feld der Ehre zu fallen … dann musst du dich fragen, wo ist Ehre und für wen lohnt es sich? Oder: Man wird dich in der grausamsten Weise abschlachten, und auch hier sollte man sich fragen: Lohnt sich Heldentum noch? Ich sage Nein! Gewöhnen wir uns daran, Proleten zu sein! Es mag sogar sein, dass es sich dann leichter leben lässt. Unbeschwert von Heiligen kann man die Hölle besser genießen!«

Gurjew versuchte nicht zu diskutieren. Er wollte Abschied nehmen, weiter nichts. Sein Weg war klar. Nach Wladiwostok. Noch war die Stadt eine Bastion gegen die Roten. Im Hafen lagen die Schiffe aller Nationen, sogar zwei amerikanische Zerstörer, deren Geschütze auch die Bolschewisten respektieren würden.

Wie konnte Gurjew wissen, dass die Regierung Lenins von Amerika anerkannt worden war? Wer hatte ihm gesagt, dass für die übrige Welt Russland schon rot war und man sich damit abgefunden hatte mit dem makabren Satz: »Lieber die als wir …« Woher kam ihm die Kunde, dass nur Träumer oder Idioten noch an ein anderes, an ein feudales Russland glaubten?

Der junge Graf umarmte Gurjew, man küsste sich auf beide Wangen und sah sich lange in die Augen.

»Leb wohl, Niki«, sagte der Graf. »Und wenn du wirklich Glück hast … schreib einmal meiner Schwester nach Paris. 1914, vor Beginn des Krieges, hat sie einen Diplomaten geheiratet. Raoul Brassière. Sie wohnt in irgendeiner Villenstraße am Bois de Boulogne. Ich habe den Namen vergessen. Aber sie steht im Telefonbuch. Brassière.«

Gurjew nickte. Der Abschied war für immer, er wusste es. Noch einmal umarmte er den jungen Grafen, dann drückte er ihm die Heugabel in die Hand, wandte sich ab und rannte aus dem Pferdestall.

Eine halbe Stunde später hatten Nadja und Nikolai mit ihrem Panjewagen und zwei kräftigen, struppigen sibirischen Pferdchen Ust-Tschenaja, das ihre Heimat bis zum Lebensende hatte sein sollen, verlassen. Sie fuhren nicht auf der Straße entlang der Schilka, sondern nahmen einen der schmalen Bauernwege, die quer durch die Wälder führten, an einem Holzeinschlag enden und vor der unberührten Wildnis des Urwalds kapitulieren.

Ungefähr sechs Werst von Ust-Tschenaja entfernt sahen sie am Wegrand einen einsamen Reiter stehen. Ein dicker Pelzmantel hüllte ihn völlig ein. Nikolai nahm seine Pistole aus dem Futteral und entsicherte sie. Er trug, wie Nadja, einfache, vielfach geflickte und schmutzige Bauernkleidung – die Uniform lag in einer Kiste, auf der Gurjew saß und die Pferde lenkte. Nur die Pistole hatte er mit dem Koppel um den Leib geschnürt, unter dem Hemd, damit man sie auch beim Öffnen des Mantels nicht sofort sah.

Langsam fuhren sie auf die einsame Gestalt zu. Erst kurz vorher erkannten sie den Reiter … an dem eisgrauen Schnurrbart, der unter der Pelzmütze herabhing. Gurjew hielt die Gäulchen an und steckte die Pistole weg.

»Exzellenz …« Auch Nadja hatte sich aus dem Stroh erhoben, in dem sie warm gesessen hatte, und stapfte nach vorn zu Nikolai. »Sofort nach dem Anruf hätte ich geschossen …«

General Ryschikow ritt an Gurjew heran. Wie ein uralter sibirischer Felljäger sah er aus, nein … wie der wilde Jäger der Taiga, von dem man erzählt, vom Eismeer bis zum Baikalsee.

»Ich wollte Ihnen nicht vor allen Leuten Adieu sagen, Nikolai Georgijewitsch.« Ryschikow beugte sich aus dem Sattel zu Gurjew. »Ich weiß, dass wir uns nie mehr wiedersehen. Und deshalb wollte ich Ihnen noch einmal die Hand drücken …«

»Kommen Sie mit uns, Exzellenz …«, sagte Gurjew mit belegter Stimme. »Ich desertiere nicht.«

»Sie retten sich! Was bindet Sie noch an Ihren Eid? Der Zar, dem Sie ihn geschworen haben, ist tot!«

»In unserem Herzen ist er nie gestorben! Wir sind eine andere Zeit als Sie, Gurjew! Wir müssen mit ihr sterben! Was sollte ich woanders … irgendwo im Ausland, weg von Russland? Es wäre undenkbar, sähe ich diesen sibirischen Himmel nicht mehr. Nein, Gurjew … Fossile wie ich soll man dort begraben, woher ihre Knochen einmal Kraft bekamen … in diese heilige russische Erde. Leben Sie wohl …«

Er klopfte Gurjew auf die Schulter, beugte sich weit vor zu Nadja, nahm ihre Hand und küsste sie mit der Galanterie des alten Kavaliers.

»Und wenn ich Sie bitte, mitzukommen, Exzellenz?«, sagte Nadja leise. Ryschikow schüttelte den Kopf und richtete sich im Sattel auf.

»Ich habe zwei Regimenter und vier Straflager mit fast tausend Mann zu befehligen. Soll ich den Rest meines Lebens vor mir selbst ausspucken? Gott sei mit Ihnen, Nadja Grigorijewna! Und Sie, Gurjew … schwören Sie mir, dass Sie Russland nie vergessen.«

»Ich schwöre es«, sagte Gurjew feierlich.

»Dann los!« Ryschikow holte aus seinem Mantel eine Peitsche und hieb damit den beiden sibirischen Pferdchen über den Rücken. Sie wieherten auf, stemmten sich in das Geschirr und rasten mit dem Panjewagen davon. »Dawai!«, rief ihnen der General nach. »Gott führe euch in die Freiheit! Dawai!«

»Exzellenz!«, schrie Gurjew und versuchte vergeblich, die gepeitschten Pferde anzuhalten. »Exzellenz, hören Sie doch!«

Ryschikow hatte sein Pferd herumgerissen und galoppierte zurück nach Ust-Tschenaja. Unter seinen Hufen wirbelte der Schnee auf, und sein weiter Pelzmantel flatterte um ihn und blähte sich wie ein Fledermausflügel. Nach wenigen Metern war er zwischen den Bäumen verschwunden. In die Spuren der Hufe sackte der aufgestobene Schnee zurück.

Das Zeltdorf der Burjäten lag in der Nähe von Sobolinskaja, an der einzigen Straße, die nach Taptugarv an der Bahnlinie führte. In ein Felstal gedrückt, standen im Kreis die Zelte, aus den runden Dachöffnungen der Jurten quoll der Rauch der offenen Feuer, die im Inneren zwischen aufgeschichteten Steinen flammten und um die die ganze Familie lag, Felle gerbte, Pfeile anspitzte, Lanzen wickelte, Filz presste oder einen Brei aus saurer Stutenmilch und Mais kochte.

Man war im Dorf erstaunt über den Besuch, der da auf einem struppigen, schwitzenden Pferdchen herangesprengt war. Der Häuptling des Stammes, ein uralter Mann mit geflochtenen weißen Haaren und schwarzen Zähnen, empfing ihn in seiner großen Ältestenjurte, bot ihm – er war ein höflicher, gastlicher Mensch – einen Holzbecher Ziegeltee an und betrachtete dann stumm das merkwürdige Wesen.

Ein menschliches Gesicht hat er ja, dachte der Alte. Aber diese Augen sind irr, und der wilde Bart ist seit Jahren nicht gepflegt, und was er auf dem langen, dürren Leib trägt, ist wie ein Kaftan, so wie ihn die Juden in Birobidschan tragen. Aber ein Jude ist er nicht … er kommt nicht mit einem Wagen voller Waren, sondern allein mit einem dreckigen, ausgemergelten Pferd! Ein seltenes Geschöpf.

»Ich heiße Genjka«, sagte der merkwürdige Mensch, nachdem er mit Widerwillen den Ziegeltee getrunken hatte, denn das war kein gewöhnlicher Tee, sondern ein Gesöff aus brauner Brühe, ranzigem Fett, Pfeffer, Salz und Milch, ein Getränk, dem die Burjäten ihre Lebenskraft zuschreiben und das hohe Alter ihrer Greise. »Kennt ihr Rasputin?«

Der Alte schüttelte den runden Kopf. Um seine Mongolenaugen wirbelten die weißen Haare. »Wer soll das sein?«, fragte er. »Seid ihr rot oder weiß?«, fragte Genjka, der Mönch.

»Gelb, Brüderchen, gelb, du siehst es doch!« Der alte Burjäte nahm einen tiefen Schluck seines Ziegeltees. Er sprach ein holpriges Russisch, durchsetzt mit mongolischen Sprachfetzen.

»Bist du Bolschewist?«, fragte Genjka. Seine Augen flimmerten.

»Was kümmert mich das?« Der Alte wischte sich die Hände an seiner Lederkleidung ab. Die letzten Monate waren unruhig, dachte er dabei. Kosaken sind durch das Dorf geritten, und wir mussten ihnen die Pferde tränken und putzen und bekamen Prügel dafür. Das waren die Weißen, wie wir nachher erfuhren. Dann rückte eine Kolonne mit Wagen an, wir mussten wieder die Pferde putzen, man fraß uns unser Salzfleisch weg, die geräucherten Störe, den Honig, und sechs unserer Mädchen schwängerten sie. Dann zogen sie weiter. Das waren die Bolschewisten, hieß es später. Eine unruhige Welt, die bis in unsere Jurten dringt. Aber was haben wir mit ihr zu schaffen? Wir ziehen von Weideplatz zu Weideplatz, und man soll uns unsere Ruhe lassen.

»Es gibt ganz in der Nähe zwei Menschen, auf deren Kopf die Bolschewisten tausend Rubel gesetzt haben.« Genjka, der Mönch, beugte sich vor. Seine Stimme bebte. »Mit einem Wagen und zwei Pferden ziehen sie in Kürze hier vorbei. Ihr braucht sie nur einzufangen und bei den Bolschewisten abzuliefern, und tausend Rubel bekommt ihr in die Hand.«

»Wer sind diese beiden Menschen?«, fragte der Alte ruhig.

»Feinde des Volkes! Ausbeuter! Blutsauger!«

»Und tausend Rubel?«

»Der Kommandant von Irkutsk zahlt sie euch sofort.«

»Irkutsk ist weit.«

Genjka zögerte. Dann griff er unter seine zerfetzte Soutane und zog ein Bündel Geldscheine hervor. Er legte sie einzeln, jeden Schein aufrollend, neben die steinerne Feuerstelle. Stumm betrachtete der Alte die knochigen Hände Genjkas, die das Geld abzählten.

»Dreihundert Rubel als Anzahlung«, sagte der irre Mönch. Dann legte er beide Hände über die Scheine und starrte den Burjäten Häuptling an. »Ich habe einen Auftrag, einen heiligen Auftrag, mein Alter. Ich kann nicht sterben, solange noch jemand von der Sippe Rasputins lebt! Es gibt für mich keine Zeiten mehr, keine Jahre, keine Grenzen, bis mein heiliger Auftrag erfüllt ist. Tausend Rubel … was bedeutet das für deinen Stamm!«

»Wir wären reich.« Der Alte holte eine Holzpfeife aus dem Lederwams, füllte sie mit einem groben goldgelben Tabak und entzündete sie am offenen Feuer. »Wo sind die beiden Menschen?«

»Im Wald. Auf dem Weg zur Bahnlinie.«

»Bewaffnet?«

»Sie haben Pistolen und ein Gewehr.«

»Und wenn wir sie töten müssen?«

Die Augen des irren Genjka flammten auf. »Schickt ihre Köpfe nach Irkutsk. Sie genügen. Wenn es sein muss, bringe ich ihren Kopf selbst in die Stadt.«

»Ihren Kopf?« Der Alte zog die Pfeife aus dem Mund. »Einer ist eine Frau?«

»Ja. Nikolai und Nadja Gurjewa.«

»Wir sollen eine Frau töten? Was verlangst du? Nimm dein Geld und geh!«

»Dann fangt sie ein und liefert sie ab!«, schrie Genjka. Er sprang auf, die Soutane flatterte um seinen dürren Körper. Gespenstisch sah sein knochiges bleiches Gesicht im Feuerschein aus. »Tausend Rubel! Wer hat euch jemals für zwei erbärmliche Menschenleben tausend Rubel geboten?«

»Niemand.« Auch der Alte erhob sich. Er reichte Genjka knapp bis unter die Achsel, aber er war fast doppelt so breit wie er. »Ich werde es mit dem Stammesrat besprechen. Das Geld lass neben dem Feuer liegen. Ich nehme es erst, wenn wir abreiten wollen! Wir sind ehrliche Menschen!«

Bis zum Abend wartete Genjka auf eine Nachricht. Man hatte ihm eine kleine Jurte gegeben … dort lag er auf einem Kamelfell, aß Rauchfleisch und trank kühles Quellwasser. Schließlich schlief er ein.

So hörte er nicht, wie ein Reitertrupp von zwanzig Burjaten das Zeltdorf verließ und hinaus in die Nacht galoppierte. Auf ihre Sättel hatten sie dicke Deckenrollen und lederne Taschen geschnürt; sie bereiteten sich auf einen langen Zug vor und nahmen Verpflegung und ein großes Zelt mit.

»Ihr bringt die Gefangenen selbst nach Irkutsk!«, hatte der Ältestenrat befohlen. »Und ihr kassiert auch die tausend Rubel!«

Und so ritten sie los, zwanzig Männer, verwachsen mit ihren schnellen Pferdchen … Geister aus der gelben Steppe und den roten Bergen.

Für Nadja und Nikolai gab es kein Entrinnen mehr.

Die roten Regimenter rückten schneller vor, als es General Ryschikow errechnet hatte. Überall, wohin die Bolschewisten kamen, empfing sie das einfache Volk wie Befreier, jubelte ihnen zu, brachte ihnen Essen und Trinken, verriet die sich versteckenden Großgrundbesitzer, die Mädchen schüttelten alle Scham ab wie Hunde Wassertropfen aus dem Fell – wahrhaftig, es war ein Siegeszug, den die roten Regimenter unternahmen, ein Triumphzug, wie keiner ihn geahnt hatte.

Verzweifelt kämpften die versprengten weißen Regimenter um ihr Leben, warfen sich Koltschak und Denikin der roten Flut entgegen, riefen das Land auf, sich zu besinnen. Aber auf was sollte man sich besinnen? Auf den Zaren? Er hatte abgeschlossen gelebt wie ein Heiliger. Auf die Fürsten? Sie hatten das Volk ausgebeutet und das Geld für Champagner und Frauen hinausgeworfen, das Geld, das von den Muschiks auf den Feldern im Schweiß ihres Angesichts verdient worden war. Besinnen auf die Großgrundbesitzer? Auf die reichen Bankiers? Auf die hochnäsigen Handelsherren? Auf die Beamten, die die Steuern mit Peitschenhieben eintrieben? Auf die Generäle, die nur Tote hinterließen und neue blitzende Orden an die eigene Brust hefteten? O Brüder – wo war denn Russland?

Von allen Seiten zogen die Roten auf Tschita zu. Flüchtlinge, die kopflos losgefahren waren, ohne zu wissen, wohin man noch flüchten sollte, berichteten von der Feuerwelle, die den Bolschewisten folgte. »Sie machen alles nieder, was sie Bourgeoisie nennen!«, sagte man. »Sie verbrennen die großen Herrenhäuser, sie sprengen die Schlösser, sie erschießen die Reichen. Das neue Russland wird ein leeres Russland sein!«

General Ryschikow sammelte seine Truppen und verließ Tschita. Er marschierte nach Ust-Tschenaja. Welchen Sinn hatte es, die Stadt zu verteidigen und nachher abbrennen zu lassen? Aber hier in den Urwäldern tat es keinem Unschuldigen weh, wenn die letzte Schlacht geschlagen wurde. Das gesamte Arsenal fuhr mit nach Ust-Tschenaja, die Kleiderkammer, die Munitionsvorräte, die Werkstätten, die Schreibstuben. Plötzlich war das kleine Dorf zu einem Heerlager geworden, Gräben wurden ausgehoben, künstliche Sümpfe angelegt, in denen die roten Kavallerieschwadronen versinken sollten, Forts aus dicken Rundstämmen gebaut, umgeben von Palisadenwänden mit zugespitzten Stämmen. Viertausend Männer, Soldaten und Sträflinge, gruben eine Woche lang und leiteten das Wasser der Schilka in einen künstlichen Wasserarm, der rund um das große befestigte Lager floss. Schnelle Reiterpatrouillen meldeten jeden Tag, wie weit die Roten waren.

Tschita war besetzt worden. Zwei bolschewistische Regimenter und eine Feldartillerieabteilung rückten auf Ust-Tschenaja … eine rote Kosakenspitze war schon auf die Reiter Ryschikows getroffen und in die Flucht geschlagen worden.

»In drei Tagen sind sie hier«, sagte der alte Ryschikow. Er hatte das Haus Nadjas bezogen, das im »Festungsbereich« lag – wie man das armselige Dorf jetzt nannte –, saß vor der Karte Südsibiriens und verfolgte mit roten Kreisen das Vorrücken der Bolschewisten. »Noch drei Tage, Kameraden …«

Dann schwieg er, sah jeden seiner Offiziere stumm an, und alle senkten den Kopf, denn sie wussten, was dieses Schweigen bedeutete.

Am nächsten Tag geschah etwas Ungeheuerliches: Die Sträflinge von Ust-Tschenaja wurden bewaffnet. Die Ketten wurden ihnen abgenommen; zum ersten Mal seit Monaten, bei einigen seit Jahren, schloss man ihnen die Stahlbänder um Fußknöchel und Handgelenke auf. Es gab einen kräftige Fleischsuppe und für jeden einen Krug voll Kwaß.

»So ist es immer«, sagte der junge Graf und hob seinen Becher. »Man wird menschenfreundlich, wenn es ans Sterben geht! Trinkt, Brüder! In ein paar Tagen läuft euch der Saft rot aus anderen Löchern! Wir waren verflucht und sind verflucht!«

General Ryschikow sprach es aus, als er am Abend die Straflager besuchte und die Sträflinge angetreten sah, in sauberen Anzügen, in der Hand Gewehre, an den Koppeln die schwarzen Handgranaten.

»Ihr kämpft nicht für den Zaren!«, sagte er mit seiner hellen Stimme. »Ihr kämpft nicht für die weiße Regierung. Das alles ist sinnlos! Ihr kämpft um euer eigenes Leben! Glaubt nicht, dass die Bolschewisten euch befreien! Wer von euch Adeliger ist, Grundbesitzer, hoher Beamter war oder studiert hat … er wird von den Roten sofort erschossen! Das ist die Wahrheit! Ihr verteidigt euch, nicht mich! Deshalb befehle ich euch auch nichts … schlagt euch durch, vernichtet die Roten, das ist alles, was ich euch sagen kann.«

Die Sträflinge standen stumm, ein dunkler Block entschlossener, vom Schicksal niedergetretener Kreaturen, bis zum heutigen Tag dazu verurteilt, in Sibiriens Urwäldern zu verfaulen. Nun waren sie frei, hatten sie Waffen … aber diese Freiheit bedeutete auch nur wieder Tod.

»Ich wünsche euch Glück!«, sagte General Ryschikow hell. Er grüßte, drehte sich abrupt um und verließ das Lager.

Den Befehl übernahm Hauptmann Birjukow. Zum ersten Mal ertönte ein neues Kommando. »Drittes sibirisches Bataillon … stillgestanden!«

Die Sträflinge standen stramm. Der junge Graf zog das Kinn an.

»Drittes sibirisches Bataillon …«, sagte er leise. »Ob es sich leichter stirbt, wenn man einen Namen hat … ?«

Es starb sich nicht leicht.

Erst fünf Tage später erreichten die roten Regimenter die Wälder von Ust-Tschenaja. Aber sie kamen wirklich wie eine rote Woge, wie ein Sturm aus den Weiten der Mongolei.

Zwei Tage betrommelte ihre Artillerie die befestigten Stellungen, die Palisaden flogen davon, als hebe ein Windstoß sie noch in die Lüfte, die Baumstamm-Forts zerbrachen, der Wald brannte an neun Stellen, zu allem Unglück schmolz das Eis und trieb in großen Schollen durch den künstlichen Wasserarm, die Schilka trat über die Ufer und überschwemmte die Magazine und das Lager II, ja, und darauf folgte der Angriff der Bolschewisten, Welle nach Welle, und er kam nicht weiter als bis zu dem künstlichen Sumpf und dem Wasserarm. Dort stauten sich die Leiber der Pferde und Menschen, lagen die Toten mit verrenkten Gliedern im trüben Wasser, krochen die Verwundeten wimmernd und schreiend umher und schossen die Verteidiger von Ust-Tschenaja auf alles, was sich bewegte. Vor allem das Feuer der Sträflinge war verheerend – sie kämpften mit dem kalten Mut der Verlorenen. Sie waren die Gladiatoren Sibiriens.

Nach diesem ersten Angriff änderten die Roten ihre Taktik. Sie griffen nicht mehr an – sie vernichteten die Festung durch Feuer. Nach alter Buijäten Art schossen sie mit Pech umwickelte Pfeile und ganze brennende Fackeln auf die Dächer und gegen die Holzwände, an einem Tag 4390 flammende Pfeile, die Ust-Tschenaja in ein Feuermeer verwandelten.

In einem Erdbunker – Nadjas Haus brannte lichterloh, wie alle Häuser und Baracken und Forts des Dorfes – saß General Ryschikow vor einer Kiste und schrieb. Die Hitze wurde unerträglich … in den Gräben, in denen die Soldaten und Sträflinge hockten, wälzten sich die Verteidiger im Schmelzwasser des Schnees und im Schlamm, nur um ein wenig Kühlung auf der Haut zu spüren. Beißender Rauch zog über alles hinweg und reizte zum Husten. Die Augen tränten. Es war, als brenne die Erde auch von innen her.

»Ich bin ein armer Mensch«, schrieb Ryschikow mit seiner großen, steilen Handschrift. »Ich habe keinen Erben, und ich habe auch nichts, was sich zu erben lohnte. Nur mein Herz habe ich … und ich vermache hiermit mein Herz meinem geliebten Russland, meinem ewigen Russland …« Dann nahm er den Lauf seiner Pistole zwischen die Zähne, legte den eisgrauen Schnurrbart sorgfältig über das kalte Metall und schoss sich durch den Mund.

Er sah schrecklich aus, als man ihn fand. Nur an der Uniform erkannte man ihn noch.

Von 5362 eingeschlossenen Männern in Ust-Tschenaja gelang es siebenundvierzig Soldaten und neunzehn Sträflingen, sich in der Nacht durchzuschlagen und in den riesigen Urwäldern zu verschwinden. Auch der junge Graf war unter ihnen … man musste ihn tragen, denn ein Granatsplitter hatte ihm die linke Ferse weggerissen.

Von den anderen 5296 Männern blieb nichts mehr übrig. Nicht einmal mehr eine Erinnerung oder die Erwähnung in einem Geschichtsbuch. Wer kennt schon Ust-Tschenaja? Und was bedeuten zwei Regimenter und 954 nach Sibirien Verbannte?

Die Geschichte rechnet mit anderen Zahlen. Von mehr als einer Armee an wird das Sterben heroisch.

Ein Sonntag war’s, als die Bolschewisten von Ust-Tschenaja Besitz ergriffen. Aus den verkohlten Trümmern züngelten noch die Flammen und quoll der Rauch. Der Wald- und Steppenboden war mit Leichen wie gepflastert.

Ein Trupp von dreiunddreißig Soldaten kam den Roten entgegen, an der Spitze Hauptmann Birjukow, aus sechs Wunden blutend. Sie marschierten heran wie zu einer Parade, ihre Stiefel stampften über die toten Leiber wie über Kopfsteinpflaster.

Und so, wie sie marschierten, wurden sie auch umgeweht … von zwei Maschinengewehren mit drei ratternden Salven.

Über Ust-Tschenaja leuchtete die Sonne. Ein blauer Himmel glänzte. Der Frühling nahte.

Und Sonntag war’s … der Tag des Herrn …

Acht Tage lang waren sie unterwegs. Völlige Einsamkeit umgab sie, aber keine Stille. Der Urwald lebte. Von den Riesenbäumen schmolz der Schnee unter dem Atem des warmen Windes, der aus dem Süden, vom Amur herauf, wehte; Moos begann zu blühen, als habe man nur eine Decke weggezogen, unter der immer und ewig die Blumen auf die erste Sonne warteten. Die Tiere krochen aus ihren Bauen, Biber huschten durch das sumpfige Unterholz, Hermeline und große Eichkätzchen jagten knisternd die Stämme hinauf in die wogenden Baumkronen, ein Wolfsrudel zog hechelnd nach Süden; einmal begegnete ihnen sogar ein riesiger braunschwarzer Bär, er saß auf einem Baumstamm, leckte schläfrig seine Tatzen, schien in seinem dicken Winterpelz zu schwitzen und blinzelte verdrossen in die Sonne. Der Winterschlaf war vorbei, der Kampf ums Leben begann wieder, aber die Müdigkeit des langen Winters lag noch in den Augen.

Das war eine gute Zeit für die Jäger. Bevor die Tiere den dicken Pelz wechselten, schossen sie die Müden fast mühelos ab … ein Torkeln und Rumoren war’s im Wald, ein Vogelzwitschern und Knistern in allen Zweigen, ein Erwachen und Töten – mit dem Frühling kam auch die Grausamkeit.

Nadja und Nikolai vermieden alle menschlichen Ansiedlungen. Sahen sie Rauchfahnen von fern – meistens waren es kleine Burjätenstämme in ihren Jurten –, schlugen sie einen weiten Bogen und verkrochen sich weiter in den Wald. Nadja kochte auf einem Petroleumkocher die Mahlzeiten, aber erst wenn Nikolai mit einem der ausgespannten Pferde kreuz und quer umhergeritten war und ausgespäht hatte, dass sie wirklich allein waren, nur beobachtet von den Tieren der Taiga. Dann saßen sie auf zwei Kisten, über die Nadja Decken gebreitet hatte, und aßen aus Blechschüsseln ihr Mahl … auf geweichten Trockenstör, gekochtes Salzfleisch, Kascha aus Grießbrei und Rosinen, Stücke einer geräucherten Hammelkeule. Nach dem Essen legten sie sich in den Wagen, krochen eng zusammen, zogen die Decken über sich, küssten sich und schliefen umschlungen ein. Die beiden struppigen Pferdchen standen umher, lehnten sich an einen Baum und schliefen im Stehen. Wer sie so sah, etwa gegen vier Uhr morgens in der Morgenkälte, dachte, sie seien erstarrt.

Einmal hörten sie von Weitem Schießen, aber sie dachten, es seien Jäger. Da sie keine Karte hatten und sich nur nach der Sonne richteten, glaubten sie, weitab von allen Straßen zu sein. Aber das war ein Irrtum. Noch nicht fünf Werst entfernt lief ein Fahrweg durch den Wald, und über ihn ritten in manchen Nächten die Reitergruppen der bolschewistischen Armee. Bei Jerofej-Pawlowitsch sammelte sich eine rote Armee, um hineinzuströmen in das südliche Amurbecken und Wladiwostok zu erobern. Wie die Reiter Dschingis-Khans fegten sie lautlos dahin, und ahnungslos zogen nur wenige Werst von ihnen Nadja und Nikolai durch den Urwald, voll des Glaubens, in grenzenloser Einsamkeit und Sicherheit zu sein.

Bevor sie sich aneinanderschmiegten in ihrem Panjewagen und einschliefen, jeder von der Wärme des anderen beglückt, sprachen sie oft über die Zukunft.

»Ich habe nichts gelernt, als Offizier zu sein«, sagte Gurjew dann. »Und du bist erzogen am Zarenhof, ein Luxusgeschöpf in Seiden und Spitzen … Was soll nur aus uns werden?«

»Ich hatte einen Vater, der ein sibirischer Muschik war«, erwiderte Nadja. »Er hatte die Kräfte eines Bären, den Mut des Tigers und das Herz eines Wolfes. In mir ist etwas davon zurückgeblieben. Hast du Angst, Niki?«

»Ich überlege, was ich tun könnte, um uns zu ernähren. Welche Fähigkeiten habe ich sonst noch außer dem Kommandieren, dem Reiten, dem Träumen und dem Tragen einer Uniform? Ich habe mich nie für Technik interessiert, die Mathematik war ein Gräuel für mich, die Arbeit in den Schreibstuben widerte mich an, in einem Beamten sah ich ein verstaubtes, nach Leim stinkendes und aufgewärmten Tee trinkendes Monstrum, zum Handel fehlt mir der Begriff des Geldes, zum Handwerker jedes Geschick … genau betrachtet bin ich eine Null, Nadjuscha. Ja, das bin ich! Ich werde eine riesige Null sein, wenn ich die Uniform ausziehe.«

»Du bist Niki, mein Mann!«, sagte Nadja zärtlich. »Du hast den Kopf eines Römers, den Körper eines Griechen, den Gang eines Spaniers und den Blick eines Deutschen. Und du kannst tanzen wie ein Wiener und reiten wie ein Kosak vom Don. Ist das nicht genug Kapital, Niki?«

Gurjew starrte in die Sterne, die durch die Baumwipfel flimmerten. Er zog die Decke fester um sich und Nadja, nahm ihre kalte Hand und legte sie auf seine Brust.

»Tanzen und reiten, das wäre ein Beruf, Nadjuscha. Man sollte es sich überlegen. Wenn wir Russland verlassen müssen … irgendwo auf der Welt könnte ein Platz frei sein für einen Tanzlehrer und für einen vom roten Wind weggewehten Hauptmann, der verwöhnten Töchtern beibringt, wie man im Sattel bleibt, durch sanftes Gelände trabt und nachher beim Ball erzählen kann, wie herrlich die Welt auf dem Rücken eines Pferdes ist … O Gott, Nadja, was wird aus uns werden …«

So schliefen sie oft ein, mit Gedanken, die ihnen vorauseilten und sich verloren in einer Wildnis, aus der auf ihre fragenden Stimmen keine Antwort hallte. Am Morgen war dann alles vorbei … Sie zogen weiter durch die Taiga, überquerten Bachläufe und rumpelten durch Felstäler, umfuhren Sümpfe und wichen menschlichem Geruch aus wie Tiger, in deren Fleisch noch die Wunden schwären, die Menschen ihnen geschlagen hatten.

Am neunten Tag hörten sie Pferdegetrappel. Sie hielten an, mitten im Wald, zögert Pferde und Wagen in eine Buschgruppe und holten zum ersten Mal ihre Waffen aus den Säcken. Nicht weit von ihnen, zwischen den Stämmen hindurchreitend in langer Reihe, sahen sie dann kleine, über die Pferdehälse gebückte Reiter, in lederner Kleidung und mit spitzen Mützen.

»Burjäten«, flüsterte Nikolai. Er stand hinter einem dicken Baum, das entsicherte Gewehr in den Händen, bereit, sofort zu schießen. Hinter ihm stand Nadja, in jeder Hand eine Pistole, die Zeigefinger um den Abzug gekrümmt. »Sie reiten vorbei … Aber wieso kommen hier Burjäten entlang? Was machen sie im Wald? Ihr Gebiet ist die Ebene an den Flüssen …«

Es gab eine schnelle Antwort.

Im Gebüsch wieherte eines der Pferdchen. Rossig war es, und bei der Kavalkade der Burjäten ritten auch Hengste. Wer kann es einem Gäulchen verübeln, wenn es vor Sehnsucht wiehert?

Als habe man sie beschossen, wirbelten die Burjäten umher. Aus dem Galopp heraus rissen sie ihre kleinen Pferde herum, sie stiegen hoch, stampften in den weichen Waldboden und stießen Laute aus, die eher einem hellen Stöhnen glichen als einem Wiehern. Aus dem Busch antworteten die Gäulchen Nikolais – eine Freude war’s, diese Begrüßung zu hören.

Gurjew legte sein Gewehr an die Wange. Aber bevor er schoss, zählte er die Reiter, und er kam nicht zurecht mit ihrer Zahl, so wimmelte es zwischen den Baumstämmen durcheinander.

Ein Burjäte löste sich aus der Gruppe und ritt langsam heran. An einem Speer trug er einen weißen Fetzen, blieb zehn Meter von Nikolai entfernt stehen und sah um sich. Dann legte er die Hand wie einen Trichter vor den Mund und rief in den Wald hinein.

»Komm heraus, Brüderchen!«, schrie er mit kindlich heller Stimme. »Wehr dich nicht. Was soll’s? Du kannst zehn von uns erschießen … zwanzig werden dich überwältigen! Und denk an deine Frau, Brüderchen. Lass sie nicht leiden, weil du mutig sein willst.«

Nikolai Gurjew ließ sein Gewehr sinken. Sein Gesicht wirkte eingefallen und blutleer.

»Sie suchen uns. Nicht zufällig sind sie hier … sie suchen uns. Nadjuscha …« Gurjew wandte sich um. Die Pistolen nahm er ihr aus den Händen, steckte die eine in seine Hosentasche und umklammerte die andere. »Wir werden nicht Tanzlehrer sein und keine feinen Damen das Reiten lehren. Wir sind am Ende unserer Reise.«

Nadja nickte. Sie lehnte sich an einen Baumstamm, hob den Kopf empor und schloss die Augen. Stolz und schön stand sie da, mit geöffneten Händen und langen, aufgelösten Haaren.

»Schieß, Niki …«, sagte sie ganz ruhig. »Ich liebe dich … das ist mein letztes Wort … ich liebe dich …«

Gurjew überflog ein Zittern. Er drückte das Kinn an, aber das hinderte ihn nicht, aufzuschluchzen.

Der kleine Burjäte wartete noch immer. Unruhig stampfte das Pferdchen den Moosboden.

»Ergib dich, Brüderchen«, rief er noch einmal. »Was soll das Zögern?«

»Ich kann es nicht«, stammelte Gurjew. Die Pistole fiel aus seiner Hand. »Nadja, wie könnte ich dich erschießen …« Er griff in die Tasche, holte die andere Pistole heraus und hielt sie Nadja hin. »Um mich geht es nur. Denk an das Kind. Eine Mutter ist wichtiger als der Vater. Ich flehe dich an, Nadjuscha … mach ein Ende mit mir! Ich bin zu nichts mehr nütze auf der Welt!«

Nadja Gurjewa nahm die Pistole, aber sie richtete sie nicht auf Nikolai, sondern warf sie in einem hohen Bogen in den Wald. Dann trat sie aus dem Versteck hervor und ging dem Burjäten drei Schritte entgegen.

»Was willst du?«, fragte sie hart.

Der kleine Reiter lachte breit. Die Augen verschwanden völlig in seinem faltigen Gesicht. Er winkte, und die anderen ritten heran, wie seit Jahrhunderten bewaffnet mit selbstgemachten Bogen und Pfeilen und langen Lanzen. Nur wenige trugen Gewehre, und die waren älter als ihre Häuptlinge. Einen Halbkreis bildeten sie und betrachteten vergnügt die Frau, die stolz vor ihnen stand und sie ohne Angst musterte.