Heinz G. Konsalik
Roman
Die richtige Mischung aus Realität und Fiktion hat wesentlich zum Erfolg meines Vaters beigetragen. Der Hintergrund, vor dem seine Geschichten spielten, wurde im Laufe der Jahre immer wichtiger. Teilweise recherchierte er für seine Stoffe bis zu drei Jahre. Er unternahm viele Reisen, eine führte ihn in die chinesische Stadt Kunming, wo er die Chinesin Ke Gao kennenlernte, die unser aller Leben verändern sollte. Sie war seine Fremdenführerin und Dolmetscherin bei einer seiner Recherchereisen durch China. Ke Gao wurde ihm damals vom Ministerium in Peking zugeteilt und führte ihn in Gegenden, in denen noch nie eine »Langnase« war. Sie wurde die Liebe seines Alters. Und sie inspirierte ihn zu dem Roman Der schwarze Mandarin – die Geschichte über eine Liebe zwischen zwei Kulturen vor dem Hintergrund des organisierten Verbrechens. Für mich war klar, dass dies einer der vier Stoffe sein würde, den ich im Rahmen der Konsalik-Collection für die ARD 1997 koproduzieren wollte, denn er trug sehr starke autobiografische Züge. Im Film wird der China bereisende Schriftsteller bzw. Kriegsberichterstatter – auch ein Beruf, den mein Vater während des Krieges ausübte –gespielt von einem der Superstars der internationalen Kinoszene, Jürgen Prochnow. Auch er Deutscher mit beachtlichen Auslandserfolgen. Ich sah Parallelen und war sehr stolz, ihn für diese Rolle gewinnen zu können. Die Filmversion vom Schwarzen Mandarin heißt übrigens Liebe im Schatten des Drachen.
Heinz. G. Konsalik wurde am 28. Mai 1921 in Köln geboren. Er studierte Theater- und Zeitungswissenschaften und Literaturgeschichte in Köln und München mit dem Ziel, Dramaturg zu werden. Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde er eingezogen; nach der Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft arbeitete Konsalik zunächst als freier Mitarbeiter im Feuilleton der Kölner Zeitung. Bald gehörte er zu jenen Autoren, die sich nach Kriegsende zum Ziel setzten, für die nachkommende Generation die Schrecken jedes Krieges eindringlich und realistisch zu schildern. Der Roman Der Arzt von Stalingrad, der heute als einer der Klassiker der Weltkrieg-II-Literatur gilt, machte Konsalik nahezu über Nacht berühmt. Seitdem schrieb er einen Bestseller nach dem anderen – insgesamt 155. Am 2. Oktober 1999 erlag er in seinem Salzburger Domizil einem Schlaganfall. Noch heute ist er unbestritten der national und international meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller der Nachkriegszeit; seine Werke erreichten bisher eine Gesamtauflage von rund 88 Millionen Exemplaren; sie wurden in 46 Sprachen übersetzt.
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Heinz G. Konsalik: Der schwarze Mandarin. Roman
Copyright © 2021 by Dagmar Konsalik
vertreten durch AVA international GmbH, Germany
Die Edition Konsalik erscheint im Konsalik Verlag, Starnberg.
Covergestaltung: Mathias Beeh
Bearbeitete Neuausgabe © 2021 by Konsalik Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
Die Originalausgabe ist 1994 bei Hestia Verlag KG, Rastatt erschienen.
ISBN: 9783947022397
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Für Ke,
der ich verdanke,
China zu lieben –
und nicht nur China
In jedem Jahr
sind die Blüten gleich,
nur die Menschen
ändern sich.
Liu T’ing-tschi
Er hieß Timothy Evans und war ein fröhlicher, freundlicher Mensch, der das Leben liebte. In seinem großen Bekanntenkreis gab es kaum jemanden, der ihm Unhöflichkeit oder Grobheit hätte nachsagen können. Probleme löste er auf seine eigene, elegante Weise, indem er mit einem Lächeln um die etwas weiblichen Lippen sagte: »Das sieht alles nur so verworren aus. Sehen wir einmal hinter die Dinge, denn oft ist die Kehrseite attraktiver als die Vorderseite … wie bei vielen Frauen!« Und dann gelang es ihm immer, eine verblüffende Lösung für das Problem zu finden. Es war einfach unmöglich, ihm böse zu sein oder seinen Charme zu übersehen.
Seine etwas rundliche Figur ließ eine gewisse Gemütlichkeit ahnen. Ein brauner Haarkranz, durchsetzt von einigen grauen Fäden, umzog seinen Kopf. Aber das Auffälligste an ihm waren seine Augen – groß und blau. Der Blick dieser Augen flößte Vertrauen ein; sie beherrschten sein Gesicht. Seine Frau Ethel – eine Schönheit im klassischen Sinne – riet ihm immer wieder, sich die Haare färben zu lassen, aber er antwortete darauf nur: »Ich bin 55 Jahre, und das soll man sehen! Jedes graue Haar ist eine neu gewonnene Erkenntnis.«
Zweimal im Jahr verließ er die Chefetage seiner Maschinenfabrik in Birmingham, um dem englischen Regen- und Nebelwetter zu entfliehen. »Ich bin ein Sonnenfanatiker«, sagte er von sich selbst, »und dass ich in England geboren bin, ist vielleicht das einzige Unglück in meinem Leben. Mein Traum war immer, in der Welt herumzufahren, an den schönsten Küsten im warmen Sand zu liegen, die Geheimnisse fremder Völker zu enträtseln, um am Ende meines Lebens sagen zu können: Ich kenne diesen Planeten, der Erde heißt! Stattdessen hat mir mein Vater eine Maschinenfabrik vererbt mit der Verpflichtung, sie auszubauen, und das tue ich jetzt seit dreißig Jahren.«
Es sollte resigniert klingen … aber immerhin beschäftigte Evans jetzt 3675 Menschen, bezahlte sie weit über Tarif und hatte für sie eine Wohnsiedlung gebaut. Von seinen Leuten wurde er intern »Papa Timi« genannt, und darauf war er stolz.
Doch zweimal im Jahr erfüllte er sich seinen Traum: eine Art gemäßigter Abenteurer in fernen Ländern zu werden. Aus dem Gentleman im mittelblauen Zweireiher wurde ein Mann, der sich von vielen Konventionen befreite und der sechs Wochen lang ein Leben führte, das seine Frau Ethel nicht mit ihm teilen wollte. Er schlief in den Baumhütten der Papuas, aß gebratene Würmer am Rio Xingu bei den Indianern oder Hammelinnereien bei den Nomaden in der arabischen Wüste und saß im Outback von Australien mit den Aborigines auf der roten Erde und bemalte mit ihnen Baumrinden.
Dieses Jahr im Mai war Evans nach China gekommen. In die Volksrepublik China, die gegenwärtig dabei war, sich zu einer großen Wirtschaftsmacht zu entwickeln. Er hatte diese Entwicklung schon in Peking gesehen, wo Hochhäuser, Supermärkte, Wohnkolonien, Luxushotels, Restaurants, Büropaläste und breite betonierte Straßen mit einer fanatischen Arbeitswut aus dem Boden gestampft wurden, als gelte es, nach Maos Tod und dessen Isolation vom Westen nun in kürzester Zeit die so hochnäsigen Kapitalisten mit dem Schwung des Sozialismus zu beeindrucken und als Wirtschaftspartner zu gewinnen.
Auch Evans mischte bei diesem Aufbau eines neuen China mit, wie so viele Firmen des ehemals verhassten Westens. Völlig unerwartet – Evans hatte sich nie darum bemüht, Kontakt mit China aufzunehmen – traf ein Schreiben des chinesischen Handelsministeriums bei ihm in Birmingham ein. In sehr höflichem Ton erlaubte man sich die Anfrage, ob eine Verhandlung über den Bau von Maschinen für nahtlos gezogene Stahlröhren möglich sei. Das war eine Spezialität der Firma Evans & Sons, wie die Firma immer noch hieß.
China. Dieses Land stand noch nicht auf Evans’ interner Reiseliste. Er kannte Indien, Birma, Thailand und Japan, aber um China hatte er immer einen großen Bogen gemacht. Warum, das konnte er selbst nicht erklären. Und jetzt dieses Angebot … Evans sagte sofort zu. Drei gewichtige Gründe machten ihm seine Zusage leicht: Erstens würde ein gemeinsames Projekt mit den Chinesen auch für seine Firma große finanzielle Vorteile bringen, zweitens konnte er die Reise als Geschäftsreise absetzen, und drittens hatten ihn das geheimnisvolle China und seine über 4000 Jahre alte Kultur seit seiner Kindheit fasziniert.
Auch bei dieser interessanten Reise hatte es Ethel abgelehnt, ihn zu begleiten. »China!«, hatte sie mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt. »O nein. Verschone mich mit China! Ich habe davon genug im Fernsehen gesehen! Diese Menschenmengen …«
»1,3 Milliarden –«
»Entsetzlich! Ich fahre in dieser Zeit lieber nach Ischia und lasse mein Rheuma behandeln. Aber du musst hin, Timothy, das sehe ich ein. Die Chinesen sollen Millionenaufträge vergeben. Papa« – das war Evans’ Vater – »wäre stolz auf dich.«
Der China-Trip erwies sich als erfolgreich. Drei Tage lang verhandelte Evans mit einer Gruppe sehr höflicher Beamter. Die Menge der gewünschten Lieferungen überstieg seine kühnsten Erwartungen, weil sie die bisherige Kapazität seiner Firma weit überschritt. Aber da er kein ängstlicher Mensch war, unterschrieb er einen Vorvertrag.
Am vierten Tag seines Peking-Aufenthaltes bat er seine Geschäftspartner:
»Ich möchte mehr von China sehen, Gentlemen. Etwas Besonderes. Ich habe vor der Reise einige Reiseführer über Ihr schönes Land gelesen. Da ist zum Beispiel der Steinwald bei Kunming. Ein Landschaftswunder …«
»Kein Problem, Sir.« Der Vorsitzende der Verhandlungsrunde machte sich einige Notizen. »Von Peking fliegt jeden Tag eine Maschine der West-South-Air Lines nach Kunming. Wir werden Ihre Ausflüge zusammen mit dem CITS, dem China International Travel Service, organisieren. Gestatten Sie uns die Ehre, Sie während Ihres China-Aufenthalts als unseren Gast zu betrachten?«
»Das kann ich kaum annehmen.« Evans zierte sich zunächst ein wenig, aber dann dachte er an die Informationen in den Reiseführern. Asiaten sind leicht zu beleidigen, hatte er dort gelesen. Ein gern gesehener Gast erhält alle Privilegien eines Oberhauptes der Familie. Schlägt er diese Ehre aus, ist es, als wenn man dem Gastgeber ins Gesicht spuckt.
»Es ist uns eine Ehre«, wiederholte der freundliche Beamte, und Evans war einverstanden.
Am fünften Tag seines China-Aufenthalts flog Evans in die Hauptstadt der Provinz Yunnan, nach Kunming. Am Flughafen Wu Jian Ba, einer ehemaligen Militärflugbasis, wurde er von einem Dolmetscher des Reisebüros empfangen und zum Hotel »Goldener Drache« gebracht. Es war ein sehr schönes Touristenhotel, das Zimmer wohnlich eingerichtet und sauber, sogar ein Farbfernsehgerät stand auf einer Kommode. Evans duschte sich, zog einen hellbeigen Anzug an und ging hinunter ins Restaurant. Dass ihn ein kleiner, unscheinbarer Mann nicht aus den Augen ließ und immer in seiner Nähe war, seit er in Kunming gelandet war, fiel ihm nicht auf. Auch jetzt saß dieser Mann zwei Tische von Evans entfernt und aß eine Nudelsuppe mit Hühnerfleisch. Nach jedem Löffel voll Suppe gab er einen Laut von sich, der wie ein rülpsendes Seufzen klang und höchste Wonne ausdrückte.
Ein paarmal sah Evans zu dem Genießer hinüber, aber der schmächtige Chinese schien völlig in seine Suppe versunken zu sein. Dass er während des Essens Evans mit halbgeschlossenen Lidern genau beobachtete, fiel diesem nicht auf. Auch achtete er nicht darauf, dass der Chinese sofort aufhörte zu essen, als Evans die Restaurantrechnung abzeichnete, sich erhob und hinüber in die Bar ging. Dort trank er zwei schottische Malzwhiskys. In Gedanken war er schon bei seinem morgigen Ausflug in den Steinwald. Er hatte sich über dieses einmalige Naturwunder genau informiert und freute sich auf die Fotos, die er später Ethel zeigen würde. Und da er an Ethel dachte, wehrte er auch die drei »Damen« ab, die nacheinander an seinen Tisch traten. Es waren wirklich schöne Mädchen, zierlich wie Porzellanpüppchen, in Seidenkleidern mit langen Schlitzen, die ihre schlanken Beine bei jedem Schritt freigaben.
Der kleine Chinese folgte Evans nicht in die Bar. Er ging zu einem Telefon in der großen Hotelhalle und sprach ein paar schnelle Sätze in den Hörer. Dabei nickte er wie eine Puppe mit einem Spiralhals und sagte am Schluss:
»Sie können kommen, Zweiter Herr … Mister Evans benimmt sich genauso, wie Sie es erwartet haben. Er lehnt sogar Sun Li, unsere Schönste ab.«
Der Gesprächspartner schien zufrieden. »Man kann dem Hohen Rat vertrauen«, sagte er mit deutlicher Ehrfurcht in der Stimme. »Du kannst nach Hause gehen, Sha Zhenxing. Dein Auftrag ist erledigt.«
»Mein Dank ist ewig, Zweiter Herr.« Sha verbeugte sich vor dem Telefonapparat, als blickte er dem großen Yu Haifeng direkt in die Augen. Zweihundert Yuan habe ich verdient, dachte er dabei. Ein normaler Monatslohn für einen Tag Beobachtung. Gelobt sei der Hohe Rat, dass er nicht verlangt hat, Mr. Evans zu töten. Aber auch dagegen hätte sich Sha Zhenxing nicht gewehrt. Für einen einfachen Mord mit einer dünnen Stahlschlinge oder einem beidseitig geschliffenen Messer bekam man – gesegnet sei der Hohe Rat – eintausend Yuan. Das war der Tarif. Wie lange konnte man davon leben? Auf dem Nachtmarkt hinter dem Hotel »Di Guo Fan Dian«, den Reisenden als das Luxushotel »Kings World Hotel« bekannt, kostete ein gutes Abendessen mit Hühnerflügelchen und Reis nur zwei Yuan. Mit tausend Yuan konnte man sich also fünfhundert Abende satt essen. Geliebte Brüder, das Leben war schön, wenn man den Mächtigen dienen durfte.
Yu Haifeng wandte sich an den Mann, der neben ihm in einem niedrigen Sessel saß und ihn fragend ansah. Er trank grün schimmernden Tee. Neben der Teeschale stand ein kleines Glas mit Pflaumenwein. Yu straffte sich im Sitzen, seine Stimme wurde so ehrfurchtsvoll wie vorher Shas am Telefon.
»Mister Evans hat Sun Li abgelehnt«, sagte er, »eines unserer schönsten Mädchen. Ein Mann mit Charakter. Es wird schwer werden, ihn für unser Geschäft zu gewinnen.«
»Er wird einen Freundschaftsdienst nicht verweigern, eben weil er Charakter besitzt.« Cheng Zhaoming nahm einen Schluck des würzigen Pflaumenweins, setzte darauf die hauchdünne, bemalte Teeschale an den Mund und kostete den Tee genüsslich, ehe er ihn hinunterschluckte. »Ich werde selbst mit ihm sprechen, in einer Stunde schon. Vertrauen wir auf Shen Jiafu, er hat sich noch nie geirrt. Und die Berichte aus Beijing klingen hoffnungsvoll.«
Yu Haifeng nickte zustimmend. Allein die Nennung des Namens Shen Jiafu flößte ihm unbedingten Gehorsam ein und ließ ihn auf jede Kritik und jeden Widerspruch verzichten. Was Shen sagte, war wie ein Gesetz. Wer die Ehre hatte, in seiner Umgebung zu leben, gab seinen eigenen Willen ab, als hänge man einen Mantel an einen Haken. Und jeder, der das durfte, zählte sich zu den Glücklichen, den Auserwählten und Erhobenen. Shen Jiafu zu dienen war eine unvergleichlich höhere Aufgabe, als etwa Sekretär des erhabenen Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung zu sein. Mao regierte China, aber Männer wie Shen scheffelten das Geld, ohne dass es jemand merkte. Und wer auch nur ein Wort darüber verlor, etwa beim Zusammensein mit einer nackten, glatthäutigen Frau, wo Männer so viel Unbedachtes sprechen, den fand man kurze Zeit danach erstochen, erwürgt oder mit abgetrenntem Kopf in einem verfallenen Schuppen in der Altstadt.
Cheng Zhaoming trank seinen Tee und den Pflaumenwein aus, blickte auf seine goldene Armbanduhr, ein Mitbringsel aus Hongkong, und erhob sich aus dem Sessel. Sofort sprang Yu Haifeng auf und machte eine leichte Verbeugung.
»Darf ich Ihnen Glück wünschen, Herr Cheng«, sagte er untertänig.
»Wünschen Sie Mr. Evans Glück.«
»Er wird auf Ihren Vorschlag eingehen.«
»Wenn er ein kluger Mann ist …«
»Nehmen wir es an.« Cheng verließ das Haus; es war im traditionellen Stil gebaut, mit einem Innenhof, den eine hohe Mauer von der Straße trennte. Ein massives, breites Holztor führte nach draußen. An der Außenmauer hingen rote und gelbe handgemalte Plakate oder Spruchbänder, die dem Besitzer des Hauses langes Leben, Glück und Schutz vor bösen Geistern wünschten. Auch das war Tradition. Ein Haus ohne Wunschsprüche war ein verfluchtes Haus.
Im Innenhof wartete ein schwarzes Auto auf Herrn Cheng. Ein bekanntes deutsches Fabrikat mit einem für den normalen Chinesen astronomischen Preis. Solche Wagen fuhren sonst nur die höheren Parteifunktionäre, und die Partei bezahlte auch einen Chauffeur.
Natürlich wurde der große schwarze Wagen von Cheng Zhaoming ebenfalls von einem Chauffeur gefahren. Es war ein junger Mann in hellbrauner Hose und weißem Hemd, der eine rote Baseballmütze trug, obwohl er nie einen Baseballschläger in der Hand gehabt hatte. Aber es gehörte jetzt zum Stil der jungen Generation in China, so westlich wie möglich zu wirken, von den Jeans über Joggingschuhe bis eben zur Baseballkappe.
Der Chauffeur, den Cheng nur mit dem Vornamen Shijie anredete, sprang sofort auf und stürzte auf den Wagen zu, riss die hintere Tür auf und verbeugte sich. Er hatte bisher im Schatten unter dem abgestützten Vordach des Waschhauses gesessen, Nüsse gekaut und in einem farbigen Magazin aus Hongkong gelesen, das wunderschöne nackte Mädchen in sehr intimen Positionen zeigte. So ein Magazin war zwar verboten, galt als dekadente Pornographie, und der Besitz wurde hart bestraft, aber einen Chauffeur des Herrn Cheng schleppte kein Polizist mit hartem Griff ab. Deshalb hatte Shijie auch keine Angst, denn die Magazine stammten aus dem Besitz des Herrn Cheng, der mit solchen Fotos ab und zu weibliche Gäste animierte. Zeitungsmeldungen, vor allem aus Guangzhou, die über auf frischer Tat ertappte Pornohändler berichteten, die öffentlich im Fußballstadion mit einem Genickschuss hingerichtet wurden, überflog Herr Cheng mit großem Desinteresse. Er kannte höchste Parteigenossen, deren Freizeitvergnügen es war, im trauten Kreis die neuesten Pornofilme aus Hongkong vorzuführen, oftmals vor geladenen jungen Mädchen. Ein solches Wissen macht immun gegenüber dem Gesetz und steigert den eigenen Wert bis zur Unverwundbarkeit.
Shijie gab sich deshalb auch keine Mühe, das bunte Magazin zu verstecken. Er faltete es in der Mitte zusammen und steckte es in das Handschuhfach des Autos.
Cheng Zhaoming ließ sich auf das Polster des Rücksitzes fallen und setzte eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern auf. Es war ein warmer Abend. Kunming, die Stadt des ewigen Frühlings, bereitete sich auf einen heißen Sommer vor, wenn der Mai schon so drückend war.
»Wohin, Herr Cheng?«, fragte Shijie und beobachtete Cheng im inneren Rückspiegel.
»Zum Jin Long Fan Dian.«
Der Chauffeur nickte, wartete, bis eine alte Frau, die sich um die Wäsche kümmerte, das große schwere Holztor aufgestoßen hatte, und fuhr dann hupend auf die Straße. Das Heer der Radfahrer wich dem schweren Auto in einem Bogen aus. Für einen Herrn Cheng galten keine allgemeinen Verkehrsregeln.
Als Shijie in die Auffahrt des Hotels »Goldener Drache« einbog und vor dem überdachten gläsernen Eingang bremste, hatte sich Timothy Evans gerade in das Abendcafé gesetzt. Er hörte einer schönen, langhaarigen, jungen Pianistin zu, die auf einem schwarzen Flügel ein Medley klassischer Klavierstücke spielte. Erstaunt blickte er auf, als plötzlich ein eleganter Chinese an seinen Tisch trat und in einwandfreiem Englisch fragte:
»Sir, darf ich auf dem freien Stuhl an Ihrem Tisch Platz nehmen …?«
Evans war so in das Klavierspiel versunken, dass er sich nicht einmal wunderte – es gab schließlich genug leere Tische im Lichthof des Cafes. Er sagte nur:
»Aber bitte, der Stuhl ist ja frei.«
»Ich danke Ihnen, Sir.« Cheng setzte sich Evans gegenüber. Unaufgefordert brachte ein Kellner im weißen Dinnerjackett ein großes Glas frisch gepressten Orangensaft. Im »Goldenen Drachen« kannte man den reichen Herrn Cheng, seine Vorliebe für Wodka-Orange und junge Mädchen, die gerade dem Kindesalter entwachsen waren.
»Eine hübsche Frau«, sagte Cheng und deutete zu der Pianistin. »Wenn sie nur so gut spielen würde, wie sie aussieht.«
»Mir gefällt es!« Evans sah sich seinen Tischnachbarn jetzt genauer an. Ein gepflegter Mann in einem Maßanzug, weißem Hemd und dezenter Krawatte. Trotz der feuchten Schwüle des Abends hatte er den Schlipsknoten nicht gelockert. Evans, im offenen Hemdkragen, wirkte dagegen geradezu proletarisch. »Auf jeden Fall gibt sie sich alle Mühe …«
So begann ein schicksalshaftes Gespräch, das Evans in nachhaltige Verwirrung stürzen sollte …
*
Kunming, die Hauptstadt der Provinz Yunnan mit 3,5 Millionen Einwohnern, ist auch für den, der meint, China zu kennen, eine Reise wert. Auch hier entwickelt sich das neue China mit Luxushotels, Bürohäusern, Supermärkten, breiten Straßen, aber in der Altstadt, in den engen Gassen, im Gewimmel der Menschen, bei den Hunderten von Garküchen und Verkaufsständen, auf dem Vogelmarkt und bei den auf der Straße sitzenden Schuhmachern, Fahrradreparateuren und Ohrputzern erlebt man noch das alte China, das sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat. Hier taucht der Europäer ein in eine Welt, die er kaum versteht. Das »Wunder Asien« wird greifbarer, dieses für ihn bisher so geheimnisvolle und verschlossene China. Hier kannte man die Buchdruckerkunst mit beweglichen Lettern schon lange bevor Gutenberg sie in Mainz »erfand«. Seit über 1000 Jahren schon brannte man die kunstvollsten bemalten Vasen aus edelstem Porzellan, als der Alchimist Böttger in Sachsen durch Zufall das Porzellan »erfand«. Hier wurden schon die schönsten Seidenstoffe gewebt, als die westliche Welt kratziges Leinen und dicke Wolle trug, und während die Germanen noch ihren süßen Met brauten, brannte man im Fernen Osten schon die wunderbarsten Obstschnäpse und Liköre.
Einen Hauch dieses jahrtausendealten, immer noch geheimnisvollen Chinas, das auch heute noch so viele Rätsel aufgibt und die Europäer das Staunen lehrt, spürt man, wenn man sich durch die engen Straßen der Altstadt von Kunming drängt, mitgerissen vom Strom der unendlichen Menschenmenge, umgaukelt von Stimmengewirr und miteinander verschmelzenden Gerüchen.
Genau das wollte Evans erleben. Darauf freute er sich. Wer einmal in Peking oder Shanghai übernachtet hat und sagt, er kenne China, der ist ein Narr. Noch weniger weiß er von diesem grandiosen Land, wenn er zum Shopping in Hongkong gewesen ist. China, das Land mit der 4000-jährigen Kultur, wird kein Westmensch jemals begreifen.
Pünktlich um neun Uhr kam, wie verabredet, der vom Reisebüro CITS mit der Betreuung des besonders empfohlenen Gastes Evans betraute Fremdenführer in das Hotel »Goldener Drache«. Aber Evans wartete nicht in der großen Eingangshalle, saß auch nicht unter der Lichtkuppel des Cafés oder im angrenzenden Frühstücksraum, doch an so etwas war der Fremdenführer gewöhnt. Eine »Langnase«, wie man einen Westler in China nennt, kommt entweder zu früh oder zu spät, da wundert sich keiner mehr. Noch weniger nimmt man es ihm übel – Höflichkeit ist ein Grundpfeiler der chinesischen Kultur. Aber als Evans nach einer halben Stunde immer noch nicht aufgetaucht war, ging der Mann vom Reisebüro hinüber zur Rezeption und fragte nach ihm.
Der Chefportier Guo Hongbin, der natürlich jeden Reiseleiter und Dolmetscher des staatlichen Reisebüros kannte, setzte eine geheimnisvolle Miene auf. Aha, dachte Shen Geping, der Fremdenführer. Er hat ein Hürchen auf dem Zimmer. Schweigen wir, seien wir großzügig, drücken wir die Augen zu wie Hongbin, der auch nichts gesehen hat. Ein biegsames, glatthäutiges Körperchen ist natürlich wichtiger als Long Men, das Drachentor, oder Qiong Zhu Si, der Bambustempel.
Aber überraschenderweise sagte Guo Hongbin: »Mr. Evans hat eine Besprechung. Ich kann ihn nicht stören. Ding Zhitong ist bei ihm …«
»Ding Zhitong?« Shen Geping starrte den Chefportier verwundert an. »Was hat Mr. Evans ihm zu erzählen?«
»Wie soll ich das wissen? Ding hat verlangt, dass ich ihn aus dem Frühstücksraum hole. Jetzt sitzen sie in der leeren Bar.«
»Etwas Amtliches?«
»Deine Fragen wehen gegen den Wind. Geh hin zu ihnen und sag: ›Ihr ehrenwerten Herren, ich verzehre mich in Neugier: Was habt ihr da zu flüstern?‹«
Shen verzog das Gesicht, als habe er Essig getrunken, bedankte sich höflich, ging zurück in die Halle und setzte sich auf eines der Sofas, die in den Nischen standen.
Was will Ding Zhitong von einem Engländer, der gestern nach Kunming gekommen ist und noch nie in China war? Shen kannte Ding seit Langem … Ding war Polizeikommissar, einer von der geheimen Sektion, die sich nur mit Sonderfällen befasste. Mit Mord, mit Rauschgifthandel, mit Bandenverbrechen … Was hatte Mr. Evans damit zu tun? War Evans gar kein Fabrikant aus Birmingham? War er in einer besonderen Mission nach China gekommen und tarnte sich als biederer Geschäftsmann?
Shen Geping spürte eine innere Unruhe in sich. Soll ich mein Büro anrufen, dachte er, und von dem geheimnisvollen Treffen erzählen? Wenn Ding Zhitong sich mit einem unserer Gäste beschäftigt, dann sollte man wachsam sein und möglichst zehn Ohren besitzen. Gerade weil es Ding ist, der erfolgreichste Verbrecherjäger von Kunming … Man kann kaum mehr zählen, wie viele Gauner er in den letzten Jahren zum Hinrichtungskommando geführt hat. Aber dann sagte Shen sich, dass es klüger sei, nichts zu sehen und nichts zu hören und nichts zu sprechen wie die drei berühmten Affen. Halte es mit der alten chinesischen Volksweisheit: Was das Auge nicht sieht, darüber ärgert sich das Herz nicht … Nicht mit mir spricht Ding, sondern mit Mr. Evans. Warten wir also, bis das Gespräch zu Ende ist. Geduld ist die Zierde des Weisen.
Dann verließ Polizeikommissar Ding das Hotel. Als er an Shen Geping vorbeiging, glaubte Shen, in Dings Gesicht große Nachdenklichkeit zu erkennen. Auch Evans, der wenig später aus der Bar in die Halle kam, schien ein wenig betroffen zu sein. Er blieb mitten im Foyer stehen und sah sich suchend nach seinem Reiseleiter um. Da stimmt etwas nicht, sagte sich Shen und sprang auf. So sieht kein Mann aus, der sich freut, die Schönheiten Kunmings zu besichtigen. Was kann es sein, das Evans mit dem gefürchteten Ding Zhitong zusammenführte?
Shen Geping trat mit höflichem Lächeln zu Evans. »Mr. Evans?«, fragte er.
»Ja, das bin ich.« Evans’ Miene hellte sich auf. »Sie kommen von CITS? Am Flughafen hat mich aber jemand anders abgeholt.«
»Wir haben eine große Englisch sprechende Abteilung, Sir. Ich bin Ihnen für die gesamte Reise durch Yunnan zugeteilt worden. Mein Name ist Shen Geping. Heute sehen wir uns Kunming an, morgen fahren wir nach Shi Lin, dem Steinwald.«
»Darauf freue ich mich besonders«, sagte Evans fröhlich, und seine innere Anspannung ließ deutlich nach.
»Morgen stelle ich Ihnen das Programm vor, das unser Büro speziell für Sie ausgearbeitet hat. Als Gast des Außenhandelsministeriums«, Shen machte eine ehrfurchtsvolle Pause, »ist es uns eine Ehre, Sie betreuen zu dürfen. Vor dem Hotel wartet ein Wagen.«
»Oh, ich bin gut zu Fuß!«, sagte Evans und lächelte. »Ich bin schon durch den Dschungel von Borneo gewandert.«
»Das ist etwas anderes, Sir. Kunming ist eine große Stadt, und die Sehenswürdigkeiten liegen weit auseinander.«
»Aber ich möchte einmal über den Vogelmarkt gehen. Und den Fleischmarkt möchte ich auch besuchen. Ich will sehen, ob dort tatsächlich geschlachtete Hunde verkauft werden.«
»In Kunming findet man die nur selten.«
»Es ist also nicht nur ein Gerücht?«, fragte Evans naiv. Er hatte in Illustrierten Bilder von an Haken hängenden Hunden gesehen und war entsetzt gewesen.
Daraus war eine heftige Diskussion entstanden. Er hatte damals zu Ethel, seiner Frau, gesagt: »Sieh dir das an! Ein so altes Kulturvolk … und isst Hunde.« Und Ethel antwortete – wie immer in etwas belehrendem Tonfall, schließlich hatte sie Pädagogik studiert: »Wir essen Kälber, Schafe, Rinder, Schweine, Ziegen, Hasen, Kaninchen, Gänse, Hühner und so weiter … wo ist da der Unterschied? Warum nicht Hund?«
»Der Hund ist der treueste Freund des Menschen. Ich fresse doch keinen Freund auf.«
»Ein Kaninchen kann auch ein Freund sein, und trotzdem töten wir es.«
An dieses Gespräch dachte Evans jetzt, als Shen ihm bestätigte, dass Hund zu den Delikatessen der chinesischen Küche gehörte.
»Hund schmeckt gut«, sagte Shen ungerührt. »Aber wir in Yunnan haben andere Vorlieben. Sie werden es sehen, wenn wir am Abend über den Markt gehen. Eine Spezialität sind Schweinefüßchen, und wer einen Gast ehren und verwöhnen will, der kocht oder brät Fischköpfe. Und dann haben wir noch die ›tausendjährigen Eier‹ …«
»Aufhören!«, rief Evans mit gespieltem Entsetzen. »Mir wird übel! Essen Sie auch so was?«
»Ich habe nur wenig Gelegenheit, mir Fischköpfe zu leisten. Sie sind sehr teuer.«
»Bei uns werden sie weggeworfen.«
»Ich weiß.« Shen lächelte wie verzeihend. »Bei uns heißt es: Wer einen Kopf isst, der wird die Klugheit des Kopfes bekommen. Und wer an seiner Leber leidet, soll die Leber eines Tigers essen. Oder das Herz des Tigers, um so mutig zu werden wie er.«
»Jetzt ist mir klar, warum es in China kaum noch Tiger gibt. Mr. Sheng … ihr Chinesen seid doch moderne, aufgeklärte Menschen!«
»Es gibt Traditionen, die man nicht ablegen sollte, oder die Seele wird krank.«
»Wir werden euch nie verstehen!«, sagte Evans und schüttelte den Kopf. »Ihr zeigt der staunenden Welt ein rasantes Wirtschaftswachstum … und esst Fischköpfe und Hunde. Mr. Shen, ich bin gespannt, welche Überraschungen China noch für mich bereithält …«
»Ich werde Sie nicht enttäuschen, Sir.« Shen Geping zeigte wieder sein höfliches Lächeln. »Wenn Sie wieder in England sind, werden Sie viel Interessantes erzählen können. Vielleicht –« sein Lächeln verstärkte sich – »werden Sie dann einiges Ihnen jetzt noch Fremde verstehen.«
»Vielleicht … aber es wird für uns immer eine andere Welt bleiben.«
»Natürlich«, sagte Shen und dachte daran, dass es ja auch ein Unglück wäre, wenn China sein Gesicht verlieren und dem Westen immer ähnlicher würde.
Sie verließen das Hotel »Goldener Drache«. Zwei Pagen in roter Uniform rissen die breite Glastür auf und verbeugten sich. Evans trat hinaus in die Wärme. Sie war doppelt spürbar, denn die Klimaanlagen des Hotels arbeiteten vorzüglich. Wer aus der Kühle der Halle in die Sonne trat, dem schlug die Hitze wie ein Gluthauch entgegen.
»Verdammt warm ist es hier!«, sagte Evans, der jetzt schon schwitzte.
»Für Kunming ist es ein normaler Tag. Ja, ein wenig kühl …«
»Soll das ein Witz sein?« Evans holte tief Luft. »Ist das der Wagen?«
»Ja, Sir.«
In der Auffahrt des Hotels wartete ein Toyota-Geländewagen. Der Fahrer lehnte an der offenen Tlir, kaute Sonnenblumenkerne und spuckte die Schalen auf die Straße. Keiner nahm daran Anstoß. Auch die Boys an den Glastüren nahmen keine Notiz davon, dass der Eingang des Hotels bespuckt wurde.
Als Shen Geping und Evans das Hotel verließen, stellte der Fahrer sein Kauen von Sonnenblumenkernen ein. Ein letztes Mal hustete er einen Batzen Schleim hoch und spuckte ihn auf den Rasen neben sich. Auch dies schien niemanden sonderlich aufzuregen, und Evans erinnerte sich daran, einmal gelesen zu haben, dass normalerweise überall in China Spucknäpfe herumstünden. Ihm war aufgefallen, dass das neue China diese alte Tradition wohl auch abgeschafft hatte. Die auf Steinsäulen überall herumstehenden bunt bemalten Gefäße erfüllten, wenn es denn so gewesen war, diesen Zweck schon lange nicht mehr. Sie quollen inzwischen über von leeren Coladosen, Zigarettenschachteln und anderem Müll. Doch das hinderte niemanden daran, den Müll einfach danebenzuwerfen; die Straßenarbeiter würden ihn schon irgendwann mit ihren Blechkarren abholen.
Evans trat an den Wagen heran.
Shen Geping wartete, bis Evans in den Toyota gestiegen war, und setzte sich dann neben den Fahrer. Er brauchte nicht anzugeben, wohin er fahren sollte; es war immer die gleiche Tour, hundertmal erprobt: Jing Dian, der Goldene Tempel, Dong Wu Yuan, der Zoo, Da Guan Lou, der See-Park, und als Krönung des Tages Xi shan, der Westberg, und Long Men, das Naturwunder des Drachentores.
Als Shen Geping Evans am Abend ins Hotel brachte, war dieser sehr müde. Shen verabschiedete sich mit einer höflichen Verbeugung. »Morgen um neun Uhr«, sagte er dabei. »Sie werden vom Steinwald begeistert sein, Sir. Er ist einmalig auf der Welt.«
»Das habe ich gehört.« Evans hatte es eilig, in die Bar zu kommen und ein Bier zu trinken. Sein Hals war trocken. »Bis morgen …«
»Bis morgen, Sir.«
Evans trank drei Bier. Das Gebräu schmeckte etwas süßlich, nicht so herb und säuerlich wie das Porterbier in England, denn das chinesische Bier wird nicht aus Hopfen gebraut, sondern aus Reis oder Mais. Aber es löschte seinen Durst und spülte den Staub weg, den er während des Ausflugs hatte schlucken müssen.
Die Nacht verbrachte er in bleiernem Schlaf. Als ihn der telefonische Weckdienst aufscheuchte, brauchte er einige Zeit, um sich zurechtzufinden. Ach ja … Kunming. Ich bin ja in Kunming. Gleich geht es los in den sagenhaften Steinwald.
Evans war gerade mit seiner Morgentoilette fertig geworden, als das Telefon klingelte. Die Rezeption.
»Sie werden erwartet, Sir«, sagte eine helle Männerstimme.
»Jetzt schon?« Evans blickte auf seine Armbanduhr. »Ich habe doch noch fast eine Stunde Zeit.«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nur den Auftrag, Sie zu unterrichten, dass Sie in der Halle erwartet werden.«
Klick. Der Mann an der Rezeption hatte aufgelegt. Evans zog eine leichte, weiße Leinenjacke an. Ein Blick aus dem Fenster ließ ahnen, dass es wieder ein sehr warmer Tag werden würde. Shen Geping muss warten, dachte er. Erst wird gefrühstückt! Ein gutes Frühstück lasse ich mir nicht nehmen.
Mit dem Lift fuhr Evans hinunter in die Hotelhalle. Er wollte abschwenken zum Frühstücksraum, als ihm zwei Herren, korrekt in graue Anzüge, Hemd und Krawatte gekleidet, entgegenkamen. Sie machten einen unauffälligen, aber eleganten Eindruck.
»Mr. Evans?«, fragte der Ältere von ihnen mit ehrfurchtsvoller Höflichkeit.
»Ja.« Evans sah sich um. »Ich dachte, Herr Shen Geping holt mich ab. Wir wollten zum Steinwald.«
»Daran hat sich nichts geändert. Es ist uns eine große Ehre, Sie in den Steinwald zu führen.«
»Sie kommen vom Reisebüro CITS?«
»Ja.« Der Ältere räusperte sich. Der andere Chinese, etwas kleiner, grinste verhalten.
»Ich war mit Herrn Shen um neun Uhr verabredet.« Evans blickte diesmal provozierend auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es erst kurz nach acht.«
»Ich dachte, damit wir uns nicht abhetzen müssen.« Der elegante Chinese nahm seine dunkle Sonnenbrille ab. Er hatte tiefbraune, kalte Augen und einen Blick, der Evans irgendwie unsympathisch war. »Mein Name ist Kewei Tuo.« Er zeigte auf den Kleineren. »Und das ist Sha Zhenxing … ein Spezialist. Wir können uns auf ihn verlassen.« Kewei Tuo zeigte auf die großen Glastüren der Halle. »Können wir fahren, Sir?«
»Ich habe noch nicht gefrühstückt, meine Herren«, antwortete Evans tadelnd. »Ich habe Hunger.«
»Wir werden unterwegs bei einem guten Restaurant anhalten. Es ist für Sie bestimmt von Interesse zu sehen, wie Chinesen frühstücken. Immer eine warme Suppe, Reis oder Nudeln. Ein Tag, der nicht mit einer heißen Suppe beginnt, ist für uns nur ein halber guter Tag. Gehen wir?«
Was er da redet, ist Quatsch, dachte Evans. Ob ich nun hier im Hotel frühstücke oder unterwegs … Aber er vermied es, darüber zu diskutieren. Du bist Gast in diesem Land, dachte er. Das 3. Ministerium für Maschinenbau ist dein Gastgeber. Auch darüber hatte Evans gestaunt … es gab sieben Ministerien für Maschinenbau in Beijing. Was tun sie nur den ganzen Tag, diese sieben Minister mit einem Heer von Beamten?, dachte Evans. In diesem Land ist wirklich alles anders. In England kommt man mit einem Wirtschaftsministerium aus.
»Wie lange fährt man zum Steinwald?«, fragte Evans.
»Drei Stunden, Sir.«
»Ich dachte, es wäre näher.«
Kewei Tuo lächelte, ohne dass sich der Ausdruck seiner Augen veränderte. Nur die Mundwinkel zogen sich ein wenig nach oben … ein kaltes Lächeln.
»Entfernungen sind in China kein Thema. Auch die Zeit nicht. Die meisten tragen eine Uhr nur als eine Art Schmuck … was die Zeiger sagen, ist nicht so wichtig. Wir sind keine Sklaven der Uhr.«
Sie verließen das Hotel »Goldener Drache«. Wieder rissen zwei Boys die großen Glastüren auf, wieder prallte, trotz des frühen Morgens, Evans gegen eine Wand aus Hitze. Erstaunt blieb er stehen; in der Auffahrt wartete ein schmucker, schwarzer VW Santana. Er war wahrscheinlich in Shanghai montiert worden, im ersten westlichen Autowerk des sich wandelnden Chinas.
»Ist das unser Wagen?«, fragte Evans.
»Ja, Sir.«
»Gestern hatten wir einen Toyota-Geländewagen.«
»Wir dachten, ein Santana ist bequemer.«
»Ohne Chauffeur?«
»Herr Sha Zhenxing wird uns fahren.«
Der kleinere Chinese nickte, und sein Gesicht strahlte, als habe man ihn mit einem Geschenk beglückt.
»Dann also los!« Evans trat an den Wagen heran. Er riss die Beifahrertür auf, aber Kewei öffnete die hintere Tür. »Sie sitzen hinten, Sir!«, sagte er. »Da haben Sie mehr Platz. Bitte …«
Evans nickte, stieg in den Wagen und legte seine Kamera in den Schoß. Es war eine teure Spiegelreflex-Kamera einer weltbekannten Firma, mit einem Zoomobjektiv 35–110 mm. Evans legte beide Hände wie schützend über den Apparat. Was hatte diese Kamera nicht schon alles gesehen: den Regenwald in Brasilien, den Ayers Rock in Australien, die Pipeline in Alaska, den Kilimandscharo in Afrika, den Fudschijama in Japan.
Sha Zhenxing klemmte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und drückte mit der anderen Hand auf einen Knopf. Die Hintertüren wurden lautlos verriegelt. Evans war eingeschlossen. Aber er hatte nichts bemerkt. Er lehnte sich in das Polster zurück, die Hände immer noch wie ein schützendes Dach über die Kamera haltend, und blickte hinaus auf das Verkehrschaos aus Fahrrädern, Karren, Lastwagen, Radtaxis, Autotaxen und Menschen.
Menschen. Menschen. Menschen. Ein Gewimmel von Beinen, Leibern, Armen und Köpfen, das an der großen Kreuzung von Beijing Lu, der breiten Prachtstraße zum Hauptbahnhof, und der Huan Cheng Lu, die man auch 1. Ring nannte, zu einem unentwirrbaren Knäuel wurde. Dazwischen, von allen Seiten, die hupenden Autos, die sich in der Mitte der Kreuzung ebenfalls zu einem – so schien es – verschlungenen Knäuel zusammenballten. Es gab zwar Ampeln und zwei Polizisten in einem Turmchen zur Überwachung des Chaos, aber es gab Stunden, da sie resignierten. Evans starrte aus dem Fenster.
»Wahnsinn«, sagte er.
»Der normale Verkehr in Kunming.« Kewei Tuo drehte sich zu ihm um. »Erstaunlich, dass trotzdem so wenig passiert. Wir reagieren schnell …«
Dabei lächelte er wieder geheimnisvoll. Evans erkannte den Doppelsinn der Worte nicht … er war fasziniert von dem Straßengewühl und den Menschenmassen.
»Können wir einen Augenblick anhalten?«, fragte er.
»Nein.«
»Ich möchte das alles fotografieren.«
»Später, wenn wir zurückkommen.«
Sha Zhenxing umfuhr mit lautem Hupen das Gewühl, ohne jemanden anzurempeln und zu verletzen. Evans, selbst kein ängstlicher Autofahrer, nickte ein paarmal beifällig.
»Bravo! Sie fahren hervorragend, Herr Sha.«
»Danke, Sir.«
Sie erreichten die Straße, die hinaus nach Shi Lin, dem Steinwald, führte, kamen in der Vorstadt von Kunming an einigen Lokalen vorbei, aber Shan hielt nicht an, sondern brauste daran vorbei. Evans legte Kewei die Hand auf die Schulter.
»Denken Sie an das Frühstück?«
»Wir haben umdisponiert. Wir werden im Hotel am Eingang zum Steinwald essen.«
Evans seufzte. »Bis dahin bin ich tot!«, sagte er mit gespielter Verzweiflung.
»Bis dahin nicht. Mit dem Sterben dauert es noch ein Weilchen.« Kewei Tuo drehte sich wieder zu Evans um. »Eines kann ich Ihnen, solange Sie leben, garantieren: Verhungern werden Sie nicht.«
Auch diesen Doppelsinn erkannte Evans nicht. Er dachte nur: Das ist eine eigenwillige Gastfreundschaft. Ein staatliches Reisebüro wie die CITS sollte sich bemühen, einem Gast jegliche Annehmlichkeiten zu bieten, zu denen auch ein gutes Frühstück gehört. Und außerdem bin ich vom 3. Maschinenbau-Ministerium eingeladen, das alles bezahlt! Sollte ich etwas energischer werden?
Nein! Du bist in einem fremden Land! Du hast mit Menschen zu tun, die eine andere Mentalität haben als du. Sie denken anders, sie handeln anders, sie sind immer für Überraschungen gut … also halt den Mund, Timothy! Im Restaurant des Hotels kannst du dann deinen Ärger hinunterspülen. Aber am Abend, beim Abschied, bekommen die beiden keinen Yuan Trinkgeld!
Sha war wirklich ein guter Fahrer; schon nach zweieinhalb Stunden erreichten sie den Eingang zum Steinwald, vorbei an einem See, der von bizarren Felssäulen umgeben war. Kewei Tuo und Evans stiegen aus. Auf der Straße vor der Einfahrt in den Naturpark standen in einer langen Reihe überdachte Verkaufsstände, in denen von aus Holz geschnitzten Schildkröten – als Symbol langen Lebens – bis zu handgewebten, prachtvollen Wandbehängen, vom bunt bedruckten T-Shirt bis zu herrlichen Jadefiguren oder kleinen Kunstwerken aus Marmor alles angeboten wurde, was Touristen als Andenken mitnehmen. Evans nahm die Kamera und fotografierte das bunte Treiben.
Kewei Tuo machte Sha Zhenxing ein heimliches Zeichen. Sha, der noch im Wagen saß, fuhr an und stellte den Santana in den Schatten einer Mauer. Hier saßen die Händler, die sich keinen eigenen Stand leisten konnten, meist alte Frauen oder junge Mütter, neben sich die in bunte Tücher gewickelten Säuglinge. Und auch hier scharten sich die Touristen um sie.
Kewei Tuo konnte nicht verhindern, dass Evans auch ihn fotografierte, und er hielt ihn auch nicht davon ab. Evans wusste ja nicht, dass es von Kewei Tuo bisher kein Foto gab – und es würde auch keines geben … der Film, den Evans jetzt verknipste, würde nie entwickelt werden.
»Jetzt aber ran an das Frühstück.« Evans blickte fröhlich auf seine Uhr. Halb elf. So spät hatte er noch nie gefrühstückt.
Sie betraten die Straße zum Hotel, aber Kewei schwenkte nicht ab, sondern kaufte die Eintrittskarten für den Steinwald. Evans blieb abrupt stehen. Er ärgerte sich. Nein! Nicht mit mir! Jetzt will ich erst frühstücken, und dann wird ein kühles Bier gezischt. Bier! Gott, lass Bier regnen! Meine Kehle brennt. Mich werden keine zehn Pferde daran hindern, mich jetzt an einen gedeckten Tisch zu setzen …
Aber Kewei war plötzlich von einer seltsamen Ungeduld. Vor dem Hotel stand eine große Reisegruppe aus Österreich und hörte den Erklärungen ihres Reiseleiters zu, eine Gruppe Amerikaner wartete auf ihren Dolmetscher, der an der Eintrittskasse einen Streit angefangen hatte. Kewei jedenfalls schob sich an den Streitenden vorbei zur Kasse und löste die Karten.
»Gehen wir!«, sagte er, als er zu Evans zurückkam.
»Erst ins Hotel!«
In die Auffahrt bogen zwei große Busse ein. Das alltägliche Leben im Steinwald … Menschen, Reisegruppen, ein kleines Heer von Touristen. Zu viel für Kewei – er konnte sie jetzt nicht brauchen.
»Im Steinwald haben wir ein sehr gutes Restaurant«, sagte er überzeugend. Es gab aber nur ein paar Erfrischungsstände mit bunt geschmückten Reiteseln, die man für einen kurzen Rundritt auf dem Platz mieten konnte. Auch einige Kamele standen dort und – eine Attraktion – vier Zebras. Es waren keine echten Zebras, sondern kleine Pferdchen, die von findigen Bauern weiß und mit schwarzen Streifen bemalt waren. Auf den Fotos – viele Touristen ließen sich auf den »Zebras« fotografieren – sah man das nicht. Und niemand fragte danach, woher die Zebras kamen, denn in China hat es sie nie gegeben.
Evans amüsierte sich köstlich darüber, setzte sich auf eines der angemalten Zebras und ließ ein Foto machen. Die werden in Birmingham staunen. Zebras in China. Total verrückt. Sein Frühstück vergaß er dennoch nicht.
»Wo ist das Restaurant?«, fragte er, als er von dem »Zebra« kletterte.
»Weiter drinnen … fast in der Mitte des Steinwalds.« Kewei Tuo ging voraus, Sha Zhenxing folgte als Letzter. Um sie herum schnatterten zahlreiche Touristen und knipsten alles, was nach Steinsäulen aussah. Und das war die Attraktion … ein unübersehbares Gewirr von glatten, von Wind und Sonne geschliffenen, kahlen bizarren Urgesteinsäulen, ein Wald aus grauen Felsen, der höchste 40 Meter hoch. Schmale Wege schlängelten sich durch Schluchten, in Stein gehauene Treppen erschlossen immer neue Eindrücke, und die Menschen in diesem Steinwald kamen sich wie verloren vor, erdrückt von der gewaltigen und formenreichen Schönheit der Felsen und der in der Sonne glänzenden Steinsäulen.
Ab und zu blieb Kewei stehen, um Besuchergruppen vorbeizulassen. »Viele dieser Gebilde haben einen Namen«, sagte er und zeigte Evans eine Doppelsäule, die nach oben hin wieder zusammengewachsen war. »Das da ist ›Zwei Vögel, die sich küssen‹. Und dort, ja, das links neben dem runden Felsen, heißt ›Der Phönix kämmt seine Flügel‹.«
»Ich sehe auf einem Felsen eine Art Tempel. Ist das das Restaurant?«, fragte Evans.
»Da kommen wir nachher hin.« Kewei ging weiter durch das Labyrinth der Steinsäulen und achtete darauf, nicht mit anderen Gruppen zusammenzukommen. Ohne dass Evans es bemerkte, wich er von den allgemeinen Touristenpfaden ab, zwängte sich durch enge Durchgänge und erklärte weiter die bizarren Felsgebilde.
»Hier sehen Sie das Nashorn«, sagte er. »Und dort leuchtet die Lotosblüte. Und blicken Sie nach links … da sind Mutter und Sohn …«
Evans schaute, fotografierte und strengte sich an, die Gebilde mit den Namen zu identifizieren. »Nashorn«, sagte er. »Mutter und Sohn – da muss man verdammt viel Fantasie haben, so eine Säule danach zu benennen.«
»Wir haben viel Fantasie, Sir!«, sagte Sha Zhenxing hinter ihm. »Wir kleiden die Welt in Poesie.«
»Das haben Sie gut und treffend gesagt.« Evans wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. An einem Rinnsal tauchte er das Tuch in das kalte Wasser und kühlte seinen Nacken und seine Stirn. »Dieser Steinwald ist wirklich sehenswert. Aber jetzt möchte ich ein Bier. Dann können wir weiterwandern …«
»Wie Sie wünschen, Sir.« Kewei ging wieder voraus. Sie waren jetzt ganz allein, denn sie hatten den Teil des Steinwalds betreten, der für die Touristen gesperrt war. Nur etwa ein Drittel des Naturwunders war der Allgemeinheit zugänglich.
Nur selten kam ein Geologe oder ab und zu ein Gärtner in dieses gesperrte Gebiet. Wer sich hier verlief, wurde nie gefunden und suchte vergeblich nach einem Ausgang aus dem Irrgarten der Steinsäulen.
Kewei, Evans und Sha zwängten sich durch enge Felsspalten, manche so schmal, dass der etwas füllige Evans sich quer hindurchquetschen musste. Er sah nicht, dass sie sich immer mehr von dem Aussichtstempel und dem freigegebenen Teil entfernten und in ein Gebiet kamen, das noch kein Tourist betreten hatte. Als sie auf einen kleinen Platz kamen, eingerahmt von in Jahrtausenden glattgeschliffenen Felsen, blieb Kewei stehen. Sha, immer im Rücken von Evans, steckte die Hände in die Hosentaschen. Jetzt merkte auch Evans, dass sie vom normalen Weg abgekommen waren. Er sah sich im Kreis um und wischte sich wieder den Schweiß aus den Augen.
»Haben wir uns verlaufen?«, fragte er.
»Nein.« Keweis Stimme klang wie ein Peitschenschlag. Evans sah ihn verblüfft an. Was ist los?, dachte er. Natürlich haben wir uns verlaufen. Er will es nur nicht zugeben.
»Wir sind vom Weg abgekommen …«, sagte er, fast tröstend.
»Ja.« Wieder ein Peitschenschlag.
»Macht nichts … kehren wir um!«
»Nein!«
»Nicht? Wieso denn?« Evans sah sich wieder um. Shan war drei Schritte zurückgetreten und grinste ihn an. »Sie kennen doch Ihren Steinwald …«
»Wie ein Mann seine Geliebte … es bleiben immer Geheimnisse.« Keweis Poesie verwirrte Evans jetzt.
»Heißt das: Sie wissen keinen Weg aus dem Steinlabyrinth? Herr Kewei, ich komme um vor Durst und Hunger …«
»Das wäre ein falscher Tod, Mr. Evans.« Das »Sir« fiel weg, auch die Höflichkeit verschwand. »Es wäre auch gegen meinen Plan.«
»Wie soll ich das verstehen?« Evans kühlte wieder mit dem nassen Taschentuch seinen Nacken, aber die Feuchtigkeit war warm geworden. »Was für einen Plan?«
»Sie zu töten!«, sagte Kewei wie beiläufig, als erklärte er: Das da, dieser Felsen, heißt ›Der Elefant‹.
Evans zog das Kinn an. Er liebte zwar den britischen Humor, aber das hier war zu viel. »Das war ein dummer Witz, Herr Kewei!«
»Bitte, legen Sie Ihre Fröhlichkeit ab, und begreifen Sie den Ernst Ihrer Lage.«
Evans begriff immer noch nicht. Wie sollte er auch? Zwei Dolmetscher des staatlichen Reisebüros CITS führten ihn in den Steinwald und hatten sich verlaufen. Jungs, so was kann doch vorkommen. Wieso ist die Lage ernst? Und was heißt hier töten?
»Nehmen Sie das mit vor Durst sterben nicht so wörtlich«, lachte er verlegen. »So war es nicht gemeint. Ein Glas Bier, und ich bin wieder topfit! Bei uns sagt man: Durst ist schlimmer als Heimweh …«
Er lachte kurz auf, aber Kewei und Sha verzogen keine Miene.
»Bei uns sagt man«, entgegnete Kewei mit eisiger Ruhe: »›Der Verräter trägt sein Haupt in den Händen.‹ Leider haben wir offiziell das Schwert abgeschafft, eine uralte Tradition ist damit erloschen. Aber der Sinn des Spruches ist geblieben.«
Evans schüttelte den Kopf. »Ich begreife den Sinn nicht. Was hat das mit unserem Ausflug in den Steinwald zu tun?«
»Hier hört Sie keiner, wenn Sie schreien … hier findet Sie keiner, wenn Sie tot sind … hier sind Sie für immer verschollen.«