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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
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Epilog
Danksagung
SEAL Team 12 – Aus dem Dunkel
SEAL Team 12 – Gebrochene Versprechen
SEAL Team 12 – Geheime Lügen
SEAL Team 12 – Bittere Vergangenheit
SEAL Team 12 – Gefährliche Suche
SEAL Team 12 – Im letzten Augenblick
Eine dunkle Verschwörung gefährdet ihre Liebe und ihr Leben …
Helen Renault traut ihren Augen kaum, als ihr totgeglaubter Ehemann Gabe plötzlich vor ihrer Tür steht. Der Navy SEAL kann sich an die letzten drei Jahre nicht mehr erinnern und ist von der Gefangenschaft in Nordkorea schwer gezeichnet. Trotzdem kämpft Gabe mit allen Mitteln um Helens Liebe. Doch dann holt ihn die Vergangenheit wieder ein …
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Marliss Melton hat fast überall in der Welt gelebt, da ihr Vater Diplomat war. Ihr Mann ist aus der Marine ausgeschieden. Sie nutzt ihre Weltkenntnis und ihre Militärkontakte, um realistische und aufrichtige Romane zu schreiben.
SEAL Team 12
AUS DEM DUNKEL
Aus dem amerikanischen Englisch von
Isabell Bauer und Timothy Stahl
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2004 by Marliss Arruda
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Forget me not«
Originalverlag: Forever
Forever is an imprint of Grand Central Publishing/Hachette Book Group, USA.
This edition published by arrangement with Grand Central Publishing, New York, NY, USA. All rights reserved.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30 161 Hannover.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2011/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Die Medienakteure, Hamburg
Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © AdobeStock|Michal Ludwiczak; © GettyImages|triocean
eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7517-2047-2
be-ebooks.de
lesejury.de
In Dankbarkeit den Frauen und Männern der Streitkräfte der Vereinigten Staaten zugedacht, besonders jenen der U. S. Special Forces – für ihre Tapferkeit und Opferbereitschaft.
Gewidmet ist dieses Buch Chris Nally »Ozzy«, einem früheren Allied Special Forces Ranger, dessen Engagement für die Freiheit ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung und ein Chronisches Erschöpfungssyndrom eingebracht hat. Dein Opfer war nicht umsonst. Wir alle, die wir in Freiheit leben dürfen, stehen in deiner Schuld.
Und für Alan Arruda, Pensionär der U. S. Navy.
Ich liebe dich über alles.
Ein Kugelhagel prasselte auf den Trupp der vier SEALs nieder, und die Geschosse wurden zu Querschlägern, wenn sie den Betonboden oder die Metallwände des Lagerhauses in Pjöngjang, Nordkorea, trafen. Einige von ihnen schlugen Löcher in die Ölfässer, die zwischen großen Metallcontainern aufgestapelt waren, und der schmierige Inhalt ergoss sich über den ganzen Boden.
Lieutenant Gabriel Renault, Deckname Jaguar, duckte sich hinter ein Fass, als ein Geschoss neben ihm Splitter aus einer Holzpalette riss. Wer zum Teufel ist das?, fragte er sich, während sein Herz unter seinem Neoprenanzug hämmerte. Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass die Terroristen ihr eigenes Lagerhaus zusammenschossen, nur um irgendwelche Eindringlinge abzuwehren. Auch konnten sie die SEALs nicht entdeckt haben, die aufgrund ihrer Tarnung mit der Dunkelheit verschmolzen.
Trotzdem waren es mindestens vier Schützen, die auf Laufstegen postiert waren, die kreuz und quer unter der Decke des Lagerhauses verliefen. Um den SEAL-Trupp zu entdecken, hätten sie Nachtsichtgeräte haben müssen, ganz ähnlich dem von Gabe. Und falls das zutraf, waren sie entweder lausige Schützen, oder es lag gar nicht in ihrer Absicht, die SEALs zu töten, sondern sie sollten lediglich abgeschreckt werden, was auch wieder keinen besonderen Sinn ergab, wenn sie tatsächlich Terroristen waren.
Das aufgeregte Flüstern des Truppführers Miller drang durch Gabes Ohrhörer und klang genauso unsicher wie bei den anderen Missionen, an denen er als Jaguar teilgenommen hatte. »Rückzug!«, befahl der XO.
Angewidert verzog Gabe das Gesicht. »Wir müssen den Rest der Ladung sicherstellen, Sir«, erinnerte er seinen Vorgesetzten. Himmel, es waren doch nur vier Schützen. Man konnte also kaum davon sprechen, dass sie in der Überzahl waren. Sie hatten sich in der Vergangenheit schon in ungünstigeren Situationen befunden und trotzdem ihren Auftrag erfüllt.
»Negativ. Uns reicht, was wir haben. Ich wiederhole: Rückzug zum SDV! Westy und Bear, haben Sie verstanden?«
»Verstanden, Sir.« Es war Chief Westy McCaffrey, der genauso angepisst klang, wie Gabe sich fühlte.
»Verstanden, X-ray Oscar«, bestätigte Bear mit einem Knurren und benutzte dabei den Decknamen des XOs.
»Sie beide nehmen den südlichen Ausgang«, befahl Miller. »Jaguar und ich nehmen den westlichen.«
Der Funkspruch endete mit einem lauten statischen Knistern, das Gabe zusammenzucken ließ. Nicht schon wieder! Mit dem Finger tippte er auf seinen Ohrhörer, weil er fürchtete, dass sein Funk, der schon während der letzten zwanzig Minuten immer wieder gesponnen hatte, nun endgültig den Geist aufgab. »X-ray Oscar, hören Sie mich?«, flüsterte er, aber er vernahm nur ein Rauschen. »Scheiße!« Er klopfte dreimal auf das Mikrofon, bekam aber keine Antwort.
Zumindest seine Nachtsichtbrille funktionierte noch. Mit dem Infrarotgerät suchte er die Laufstege unter der Decke ab und entdeckte, wie plötzlich ein Arm hinter einem Stahlträger hervorgestreckt wurde, in der Hand eine Waffe, aus der wahllos in die Gegend gefeuert wurde. Weitere Ölfässer wurden durchsiebt, und ihr Inhalt ergoss sich ebenfalls in glitschigen Strömen auf den Boden.
Vorsichtig, um nicht auszurutschen, verließ Gabe im Rückwärtsgang sein Versteck. Die vierte Boden-Luft-Rakete zurückzulassen, passte ihm überhaupt nicht. Er war es gewohnt, einen Auftrag zu Ende zu führen, egal, welche Hürden es dabei zu überwinden galt – und die gab es schließlich immer. Sich jetzt zurückzuziehen, war ein Akt der Feigheit. Westy war als Scharfschütze gut genug, um ihre Feinde, die sogenannten Tangos, einen nach dem anderen auszuschalten. Sie hatten ja noch nicht einmal ein Ablenkungsmanöver probiert. Warum hatten sie Rauchgranaten dabei, wenn sie sie gar nicht einsetzten?
Gabe schob sich aus seiner Deckung und presste sich gegen die Kiste, in der sich die vierte Rakete befand. Die Tatsache, dass diese Boden-Luft-Rakete – kurz SAM genannt – morgen in den Nahen Osten verschickt werden sollte, bedeutete, dass sie irgendwann gegen die Vereinigten Staaten eingesetzt werden würde. Sie hier in dem nordkoreanischen Lagerhaus zurückzulassen, war seiner Meinung nach einfach keine Option.
Zögernd fuhr er mit der Hand über die Transportkiste und spürte das raue Holz unter seiner Handfläche. Vorsichtig umrundete er sie und stand plötzlich vor seinem XO. Überrascht fuhr er zurück. Miller hätte ihn eigentlich erst an ihrem Außenposten treffen sollen.
Selbst mit all der Tarnfarbe im Gesicht war Miller die Nervosität deutlich anzusehen. Das Weiß seiner Augen leuchtete in der Dunkelheit. »Verschwinden wir«, murmelte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang.
Gabe wollte ihm gerade sagen, dass sein Funk nicht funktionierte, aber Miller hatte sich bereits abgewandt. Gabe biss die Zähne zusammen und folgte ihm. Jeder Muskel in seinem Körper zitterte vor Wut.
Plötzlich fuhr Miller herum. Der Kolben seiner Heckler & Koch blitzte vor Gabes Augen auf und traf dann hart seinen rechten Wangenknochen. Schmerz durchschoss ihn. Er taumelte zurück und verlor auf dem öligen Boden das Gleichgewicht. Er fiel flach auf den Rücken, und die Luft wurde ihm mit einem Schlag aus den Lungen gepresst. Er schmeckte Blut.
Was zum Teufel …?
Miller beugte sich über ihn, packte ihn beim Koppel und drehte ihn mit Schwung auf den Bauch. Gabe rang nach Atem. Dann trat er auch schon nach hinten aus und traf das Knie des XOs. Der Mann fluchte und packte ihn nur noch fester.
Gabes Schädel schien vor Schmerz fast zu explodieren und alles Denken unmöglich zu machen. Was zum Teufel geht hier vor? Er fand keine Antwort auf diese Frage. Warum fiel Miller ihm in den Rücken? Schnarrend wurde eine Plastikfessel um sein linkes Handgelenk gezogen und dann um sein rechtes. Gabes Mund füllte sich mit Blut. Er spuckte einen Zahn aus und sog unter Schmerzen Luft in die Lungen. »Was zum Teufel tun Sie, Miller?«, knurrte er und trat um sich, als dieser in der Dunkelheit seine Füße zusammenband.
Miller antwortete nicht. Heftiger Schmerz durchflutete in Wellen seinen Kopf, sodass Gabe nur noch dunkel wahrnahm, dass Miller ihn gefesselt hatte. Die Schüsse, die sie zum Rückzug gezwungen hatten, waren verstummt. Das musste eine Bedeutung haben, aber Gabe konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Miller riss ihm den Kopf nach hinten. Gabe spürte, wie die Hände des Mannes zitterten, als er das Klebeband abriss. Ein Streifen verschloss Gabes Mund und machte ihm jede verständliche Äußerung unmöglich. Er hatte Mühe, nicht an dem Blut zu ersticken, das ihm nun in die Kehle rann.
Miller ließ ihn los und wandte sich ab. Voller Entsetzen beobachtete Gabe, wie er aus der Deckung trat und den Daumen in Richtung der Männer auf den Metallstegen hob. Trotz des Hämmerns in seinem Schädel hörte Gabe, wie sie näher kamen.
Er starrte auf Millers Rücken, während er mit der Erkenntnis rang, dass es sein eigener XO war, der weltweit Waffen stahl.
Seit Monaten hatten SEALs versucht, die verschiedensten Waffenlieferungen abzufangen, nur um jedes Mal herauszufinden, dass sie bereits weg waren. Und es war Miller, der sie stahl. Der so willensschwach wirkende, blassgesichtige Miller!
Er konnte es kaum glauben. Aber der XO stand direkt vor ihm und befahl den dunklen Gestalten um ihn herum, die SAM in der Transportkiste durch den Seiteneingang hinauszuschaffen, und zwar schnell.
Gabe kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, um die anderen Plünderer identifizieren zu können. Sein Gesichtsfeld wurde immer weiter eingeschränkt, was ihm zeigte, dass er dabei war, ohnmächtig zu werden. Miller drehte sich um und warf ihm noch einen letzten Blick zu, bevor er sich davonmachte, wohl um sich mit Gabes ahnungslosen Kameraden zu treffen.
Gabe lag mit der linken Wange in einer Öllache. Die Nachtsichtbrille war ihm vom Kopf gerissen worden und hing an seinem rechten Ohr. Seine Arme und Beine waren gefesselt. Sein Mund blutete immer noch. Er würde niemals die Chance haben, der Welt zu sagen, wer hinter all den Waffendiebstählen steckte.
Aus irgendeinem Grund hatte Miller ihn dort zum Sterben zurückgelassen. Aber warum? Durch sein angeschlagenes Hirn brauchte er einen Moment, um die Antwort zu finden. Es musste das Memo sein, das er auf Millers Schreibtisch gefunden hatte, in dem es um die Anforderung eines zusätzlichen U-Boots ging. Er hatte Miller darauf angesprochen, weil er der Meinung gewesen war, dieser sei einfach nur zu unfähig, zu wissen, dass ein U-Boot genug Transportkapazität für vier Raketen besaß. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, dass sein XO plante, eine der Raketen für seine eigenen Zwecke beiseitezuschaffen.
Während Öl zwischen seine Augenlider drang und in seinen Taucheranzug aus Kevlar sickerte, vernahm Gabe ein Geräusch, bei dem sich ihm sofort jedes einzelne Haar aufstellte.
Jemand zündete ein Streichholz an.
Wenn er jetzt keine Lösung fand, wie er aus diesem verdammten Lagerhaus herauskommen konnte, würde er wie mit Grillanzünder übergossene Kohle in Flammen aufgehen.
Er wusste nicht, was schlimmer war – bei lebendigem Leib zu verbrennen oder zu begreifen, dass er niemals eine Chance gehabt hatte, Helen zu sagen, dass er sie liebe.
Helen ließ sich so tief in das heiße Wasser sinken, dass nur noch ihre Augen und ihre Nase aus dem Schaum herausschauten. Am Fußende der Wanne stand Gabes Bild, umringt von brennenden Kerzen. Sie betrachtete es. Ein Chaos von Gefühlen wütete in ihrem Herzen, als sie ihm in die Augen sah. Selbst aus dieser Entfernung faszinierten sie seine Augen auf dem ungefähr DIN A4 großen Porträt, genau wie damals, als sie Gabe zum ersten Mal gesehen hatte. Hellgrün waren sie, mit einem golden strahlenden Kranz in der Mitte. Diesen Augen hatte er auch seinen Tarnnamen zu verdanken: Jaguar. Er hatte einen so unglaublich direkten Blick, und Helen war jedes Mal rot geworden, wenn er sie angesehen hatte, was am Anfang sehr oft der Fall gewesen war. Aber bevor er letztes Jahr fortgegangen war, nur zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, hatte er noch nicht einmal mehr Zeit gefunden, sich ordentlich von ihr zu verabschieden, so sehr war er darauf erpicht gewesen, Zugführer bei den SEALs zu sein und die Welt zu retten.
Helen blies in die Schaumberge, die sich vor ihrem Mund gesammelt hatten. Eine der Seifenblasen stieg in die Luft, hielt sich einen Moment dort und zerplatzte dann. Wie meine Liebe zu dir, dachte sie und meinte damit den Mann auf dem Bild.
Vor einem Jahr war er verschwunden. Die Navy wollte nicht preisgeben, wohin er geschickt worden war, und teilte auch nichts über die Umstände seines Verschwindens mit. Zwölf lange Monate hatte sie ihn als MIA – Missing In Action – geführt, aber nie für tot erklärt. Doch all das hatte sich letzte Woche geändert, als ein junger Offizier mit einer Fahne an Helens Tür erschienen war.
Da nun volle zwölf Monate vergangen waren, hatte die Navy sich dazu durchgerungen, Gabe für tot zu erklären. Die Fahne machte es offiziell. Es war schon seltsam, dass eine brandneue Flagge mit leuchtend roten Streifen und kräftigen Sternen Helen einen derartigen Schock versetzen konnte. Nicht, dass sie tatsächlich damit gerechnet hatte, dass Gabe zurückkehren würde, aber die Art, wie die Fahne in militärischer Weise zusammengelegt war, machte ihr mehr als alles andere klar, dass er tatsächlich tot war. Die so fest gefaltete Flagge erschien ihr wie ein Symbol für das Ende von Gabes Lebenskraft.
Und doch folgte dem Schock schnell ein geradezu euphorisches Gefühl der Erleichterung. Sie würde ihre neue Unabhängigkeit, die sie sich in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte, nicht aufgeben müssen. Sie würde den Job behalten können, der ihr so viel Befriedigung verschaffte. Sie würde ihre dreizehn Jahre alte Tochter allein großziehen, so, wie sie es eigentlich schon immer getan hatte.
Es war nicht leicht, es zuzugeben, aber Gabe zu heiraten, war ein Fehler gewesen, ein unnötiger Umweg. Sie hatte geglaubt, es ihren Eltern schuldig zu sein. Sie hatte gewollt, dass Mallory mit einem Vater aufwuchs. Aber Gabe, mit seinem Ehrgeiz, die Welt zu retten, hatte keine Zeit für eine Ehefrau gehabt, geschweige denn für eine Stieftochter.
Bereits ein Jahr nach ihrer Hochzeit hatte ihr Ritter auf dem weißen Ross sie praktisch vergessen. Und nun, drei Jahre später, war er tot.
Alles war vorbei.
Der mächtige, unbezwingbare Jaguar war tot, ausgelöscht von irgendeinem gesichtslosen Feind. Die Fahne war der Beweis. Nun galt es, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu blicken. Sie brauchte Gabe Renault nicht, um sich als vollständiger Mensch zu fühlen. Sie war im letzten Jahr sehr gut allein zurechtgekommen. Mehr noch als das. Und doch …
Selbst mit den Ohren unter Wasser konnte sie die Worte von der Natalie-Cole-CD deutlich hören: »Unforgettable, that’s what you are …«
Bedauern versetzte ihr einen Stich ins Herz. Von Zeit zu Zeit vermisste sie ihn. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie immer noch seine Hände spüren, seine heiße Zunge, mit der er zu allen Schandtaten bereit war. Er hatte jede erogene Zone ihres Körpers gekannt und dieses Wissen zu seinem Vorteil genutzt, sie immer wieder zu sich gerufen, wenn ihr Herz begann, sich auf Wanderschaft zu begeben.
»Unforgettable, in every way …«
Jetzt war er nicht mehr da, um sie zurückzurufen. Sie war frei. Frei, ihr eigenes Leben zu leben. Mit einem tiefen Seufzer der Erlösung ließ sie sich noch tiefer ins Wasser sinken. Kurz darauf tauchte sie wieder auf und griff nach dem Shampoo.
In einem anderen Teil des Hauses klingelte das Telefon. Sie wartete darauf, dass Mallory den Hörer abnahm. Am Vormittag hatte sie einen Step-Aerobic-Kurs gegeben und nachmittags Bildhauerei unterrichtet. Als sie abends nach Hause gekommen war, hatte sie ein großes Verlangen nach einem langen heißen Bad verspürt.
»Mom, es ist für dich.« Die Badezimmertür wurde aufgerissen, als Mallory, ohne anzuklopfen, hereinmarschiert kam. Im Licht der Kerzen wirkte ihr Gesicht wächsern. Vielleicht lag es auch an dem Kontrast zwischen ihrem hellen Teint und ihren Haaren, die sie sich gerade frisch gefärbt hatte.
Schwarz? »Oh, Mal!«, rief Helen. »Was hast du …?«
»Es ist dringend«, erklärte Mallory und hielt ihr das Telefon hin.
Die Art, wie Mallory ihre grünen Augen aufriss, ließ Helen zögern. Doch sie nahm das Telefon und beugte sich aus der Wanne. »Hier ist Helen«, sagte sie schnell.
»Mrs Renault, hier spricht Commander Shafer von der Traumatologie im Portsmouth Naval Medical Center.«
Helen sah in das bestürzte Gesicht ihrer Tochter. Es musste um Mallory gehen. Wahrscheinlich hatte sie wieder etwas angestellt, was sonst?
»Ma’am, ich rufe Sie an, um Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihren Mann hier haben. Es ist wirklich eine bemerkenswerte Geschichte. Er ist in Südkorea an Land gespült worden, direkt vor der entmilitarisierten Zone. Er war in einem ziemlich schlechten Zustand, wenn man bedenkt …«
Der Commander sprach weiter, aber Helen konnte ihn nicht mehr verstehen, so laut rauschte das Blut in ihren Ohren. »Es tut mir leid, aber das muss ein Irrtum sein«, unterbrach sie den Anrufer. »Mein Mann ist tot. Er wird seit über einem Jahr vermisst.«
»Er ist nicht tot, Ma’am. Der Mann, den wir hier haben, ist Lieutenant Gabriel Renault. Er ist die ganze Zeit in Nordkorea gewesen.«
Es konnte nicht Gabe sein. Das Bild des Offiziers, der ihr die Fahne überreicht hatte, schoss ihr durch den Kopf. Sie war so streng gefaltet gewesen, so endgültig. »Haben Sie ihn zweifelsfrei identifiziert? Wie können Sie so sicher sein?«
»Ich verstehe, dass es ein Schock für Sie sein muss«, beschwichtigte der Commander. »Aber Sie können absolut sicher sein, dass wir seine Identität gründlich überprüft haben. Sein Commander ist bereits hier gewesen, um ihn zu besuchen. Jetzt sollte ein Mitglied seiner Familie das noch einmal tun. Er lebt, Ma’am, und er befindet sich in einem ziemlich guten Zustand, wenn man bedenkt, was er durchgemacht haben muss.«
Helen schluckte heftig. Schock und Verblüffung rangen in ihrem Innern mit einem Gefühl völliger Ablehnung. Die Freiheit, die sie in der vergangenen Woche so sehr genossen hatte, war eine Illusion gewesen. Gabe war zurück. Er war die ganze Zeit am Leben gewesen!
»Ich bin mir sicher, Sie möchten gleich zu uns kommen«, bot der Commander an.
»Natürlich«, sagte sie mechanisch, obwohl sie sich dessen bei Weitem nicht so sicher war wie er. Vielleicht hatten sie sich doch geirrt. Denn wie sollte Gabe ausgerechnet in Nordkorea ein Jahr überlebt haben?
»Es gibt da noch eine Sache, die Sie wissen sollten, bevor Sie ihn sehen, Ma’am.«
Sie wappnete sich gegen weitere schlechte Nachrichten. Wahrscheinlich würde man ihr jetzt mitteilen, dass Gabe gefoltert oder verstümmelt worden sei.
»Er hat offenbar einen Teil seines Gedächtnisses verloren. Er erinnert sich nicht daran, eine Familie oder etwas Ähnliches gehabt zu haben. So etwas ist durchaus normal, ich möchte, dass Sie das wissen. Es ist ein Hinweis auf eine Posttraumatische Belastungsstörung, nichts, was man nicht behandeln könnte. Wir geben ihm im Moment Medikamente, um ihn ruhigzustellen. Kommen Sie doch heute Abend noch ins Krankenhaus, dann erkläre ich Ihnen alle weiteren Einzelheiten.«
Stumm vor Entsetzen starrte Helen in das blasse Gesicht ihrer Tochter. Er erinnert sich nicht an uns?
»Ma’am?«
»Ja.« Sie zwang sich zu einer Erwiderung. »Ich bin in ungefähr einer Stunde bei Ihnen.«
»Sehr schön. Sie finden uns im zweiten Stock. Fragen Sie einfach nach Commander Shafer. Ich begleite Sie dann zu Ihrem Mann. Und vielleicht sollten Sie nicht allein kommen«, schlug er vor.
»Ich bringe meine Tochter mit.«
Der Commander zögerte kurz, da er sich ohne Zweifel ein kleines Kind vorstellte. »Okay, dann bis nachher.«
In Helens Ohr klickte es, als aufgelegt wurde. Der Hörer rutschte ihr aus den tauben Fingern und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Badematte. Die Kerzenflammen schienen zu verschwimmen. Vielleicht war sie ja in der Wanne ertrunken und hatte eine Art Halluzination.
»Mom!« Es war Mallory, die sich über sie beugte, mit ihrem Haar, das jetzt mitternachtsschwarz war anstatt kastanienbraun. »Es geht um Dad, stimmt’s?«, wollte sie wissen. Ihr weißes Gesicht war nicht nur das Ergebnis ihrer Färbeaktion. »Er ist zurück, oder?«, fragte Mal angespannt. Helen wusste nicht, ob sie überglücklich oder einfach nur wütend war. Aber so simpel war es wahrscheinlich nicht.
Arme Mallory. Als Helen und Gabe geheiratet hatten, war sie völlig euphorisch gewesen, endlich einen Vater zu bekommen. Und es war schmerzhaft für sie gewesen, herausfinden zu müssen, dass dieser Vater keine Zeit für eine heranwachsende Tochter hatte.
»Er erinnert sich nicht an uns.« Helen berichtete, was der Arzt ihr gerade gesagt hatte. »Er leidet an einer Art Gedächtnisschwund, weil er … äh …« Sie brachte es einfach nicht über die Lippen.
»Gefoltert worden ist?«, bot Mallory an.
»Ich vermute ja. Wir müssen ins Krankenhaus fahren.« Helen stemmte sich aus der Wanne hoch.
»Mom, dein Haar ist noch voller Seife.«
Helen drehte den Hahn auf und streckte ihren Kopf unter das kalte Wasser. Dann zog sie sich in Rekordzeit an, bürstete ihr Haar durch und quetschte ihre Füße in Tennisschuhe, während Mallory auf dem Bett saß und wartete.
»Möchtest du, dass ich fahre?«, fragte Mal und wirkte verdächtig gelassen.
»Ja, klar.« Helen rang sich ein Lachen ab. Dafür, dass sie nicht einmal mit Gabe verwandt war, ähnelte Mallory ihm sehr. Sie schien jeden noch so heftigen Schlag wegzustecken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und ließ sich von der harten Realität des Lebens offenbar nicht beeindrucken. Aber irgendwann war der Stress dann doch aus ihr herausgebrochen, und sie hatte begonnen, sich selbst zu verletzen. Helen hatte sich daraufhin professionelle Hilfe geholt.
»So schwer ist es nun auch wieder nicht, zu fahren«, beharrte Mallory, während sie ihr durch den Flur und zur Eingangstür hinaus folgte.
Helen nahm den silbernen Jaguar, der Gabes persönliches Eigentum gewesen war. Es war bereits fast neun Uhr und ein wundervoller Augustabend. Sie jagten der Sonne nach, die schnell hinter den Bäumen versank. Helen fuhr hundertzwanzig, die Finger so fest um das Steuer geschlossen, dass sie eine Hand geradezu davon losreißen musste, um das Radio einzuschalten.
Tu einfach so, als wäre alles normal, redete sie sich zu. Ein Gefühl von Dankbarkeit verspürte sie nicht, auch wenn es nicht jeden Tag passierte, dass ein vermisster Soldat wieder auftauchte. Was war sie nur für eine Ehefrau, dass sie davon nicht völlig begeistert war?
Sie war skeptisch, das war alles. Sie wusste einfach nicht, was sie zu erwarten hatte. Gabe hatte sich ein Jahr lang in Gefangenschaft befunden. Nordkoreaner verhielten sich Ausländern gegenüber grundsätzlich eher unfreundlich. Zweifellos hatten sie ihn durch die Mangel gedreht, um Informationen aus ihm herauszupressen, die gegen die USA eingesetzt werden konnten. Wer konnte schon wissen, welche Auswirkungen das auf seine Persönlichkeit gehabt hatte.
Sie warf Mallory einen Blick von der Seite zu und fragte sich, ob ihre Tochter innerlich genauso aufgewühlt war wie sie selbst. Doch Mallory wirkte gelassen und blickte aus dem Fenster auf die Skylines von Norfolk und Portsmouth. Es war ihr absolut nicht anzusehen, was sie dachte.
»Es wird alles gut werden, Mal«, sagte Helen, wenn auch nur, um etwas zu sagen. Die Therapeuten hatten sie immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es war, dass man miteinander redete.
Mallory erwiderte nichts. Mit einem Blick auf den Schoß ihrer Tochter stellte Helen fest, dass Mallory beide Daumen drückte. Sie riss ihren Blick von diesem Anblick los und fragte sich, worauf Mallory hoffte. Dass Gabe gesund war? Dass er sich an sie erinnern würde? Sicherlich war sie nicht so naiv, auf irgendetwas zu hoffen, was darüber hinausging.
Wie schlimm musste er gelitten haben, dass er seine Erinnerungen verdrängt hatte! Sie schaffte es nicht, sich seine Qualen vorzustellen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, wenn sie daran dachte, in welchem Zustand er sich jetzt befinden musste – ein verängstigtes mentales Wrack.
Sie konnte geradezu sehen, wie sich ihre neu gewonnene Freiheit vor ihren Augen in Luft auflöste. Es war noch keine Stunde vergangen, seit sie sich eingestanden hatte, dass ihre Ehe mit Gabe durch Desinteresse zugrunde gegangen war. Was für eine Ironie des Schicksals, dass er in dem Moment, als sie die Erinnerung an ihn zu Grabe trug, zu ihr zurückgekehrt war, vielleicht um den letzten Tropfen Hingabe aus ihr herauszuwringen, bevor er sie wieder fallen ließ.
Sie würde sich nicht von ihm abwenden, nicht in einer für ihn so schweren Zeit. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit Gabe wieder gesund würde. Und wenn er irgendwann wieder normal funktionierte, würde sie ihn Onkel Sam zurückgeben, dem er sowieso gehörte. Dann würde sie ihm auch sagen, dass ihre Ehe vorbei war.
Von dieser Nachricht würde er ohnehin nicht am Boden zerstört sein. Gabe hatte sie genauso wenig gebraucht, wie sie ihn jetzt brauchte. Es würde eher seinen Stolz verletzen als seine Gefühle ihr gegenüber.
Helen seufzte erleichtert, als sie diese Entscheidung getroffen hatte. Die Wiedervereinigung würde nur vorübergehend sein.
Ein Klopfen an der Tür riss Gabe aus seiner durch die Medikamente ausgelösten Lethargie. Er hatte auf den dunklen Fernsehschirm gestarrt, sich ein Baseballspiel vorgestellt, dass er vor vier Jahren gesehen hatte, und sich dabei gefragt, wieso er sich daran erinnern konnte, aber nicht an die drei Jahre, die dazwischenlagen. »Ja!«, rief er und setzte sich im Bett auf.
Das Klopfen hatte entschlossen geklungen. Gabe hielt den Atem an, weil er vermutete, es könnten seine Frau und seine Tochter sein – an die er sich nicht mehr erinnerte. Dr. Shafer hatte ihm zwar angekündigt, dass die beiden auf dem Weg zu ihm waren. Und er hatte gebadet und sich sorgfältig rasiert, aber bereit fühlte er sich deswegen trotzdem nicht. Wie sollte ein Mann sich auch auf eine solche Begegnung vorbereiten?
Als Erstes wurde ein Blumenstrauß in der Tür sichtbar. Über den Lilien in strahlendem Orange erkannte er das Gesicht des Truppführers vom SEAL-Team 12, Commander Lovitt, und Gabe versuchte sich aus dem Bett zu kämpfen, um zu salutieren.
»Rühren, Lieutenant«, sagte Lovitt. Dann kam er herein und stellte die Blumen auf den Tisch neben Gabes Bett. »Vom ganzen Büro«, erklärte er und pflückte ein paar Blütenblätter von seiner weißen Ausgehuniform, die makellos war wie immer. Offensichtlich war Lovitt auf dem Weg zu irgendeiner offiziellen Veranstaltung. »Wie geht es dem Patienten heute?«
Dieselbe Frage hatte Lovitt auch gestern schon gestellt, aber Gabe hatte unter zu starken Beruhigungsmitteln gestanden, um sie beantworten zu können. »Besser, Sir«, erwiderte er. »Ich bitte um Verzeihung, dass ich gestern nicht geantwortet habe …«
Lovitt winkte ab. »Keine Erklärung notwendig, Lieutenant. Man hat gute und schlechte Tage. Zumindest haben Sie sich an mich erinnert.« Lovitts graue Augen schienen durchdringender zu werden. In seinen Worten hatte ein fragender Unterton gelegen.
»Ja, Sir. Ich erinnere mich daran, dass ich hier stationiert war und hauptsächlich im Echo Platoon gedient habe, aber das ist drei Jahre her.«
Lovitts langer, stummer Blick traf Gabe tief. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?«, erkundigte sich der Commander.
Gabes Magen zog sich zusammen. »Nein, Sir. Bitte tun Sie das.« Lovitts düstere Miene machte ihn nervös. Er hatte das Gefühl, sein befehlshabender Offizier würde ihn aus dem Team entfernen, ohne abzuwarten, ob er sein Gedächtnis wieder zurückerlangen würde.
Lovitt zog seine perfekt gebügelten Hosenbeine ein wenig hoch und setzte sich auf den Besucherstuhl, in militärisch perfekter Haltung. »Sagen Sie mir, woran Sie sich erinnern, mein Sohn«, bat er.
Gabe schluckte. »Was die Mission angeht, Sir?« Er hatte das gerade erst gestern durchgemacht, mit einem Analysten von der DIA, dem Geheimdienst des Verteidigungsministeriums, einem Mann, dessen Fragen ihn derart aufgewühlt hatten, dass er ruhiggestellt werden musste. Gabe wollte nicht noch einmal so in die Mangel genommen werden.
»Nein, nein«, beschwichtigte Lovitt. »Ich meine alles. Beginnen Sie ganz am Anfang. Wo wurden Sie geboren?«
Die Anspannung in Gabes Schultern ließ nach. Mit Erinnerungen, die lange zurücklagen, hatte er keine Probleme. Seine Kindheit – so gern er sie auch vergessen hätte – schien erst gestern gewesen zu sein. »Ich bin in New Bedford, Massachusetts, geboren, 1968.«
»Fahren Sie fort«, ermunterte ihn Lovitt und nickte geduldig.
»Meine Großmutter hat mich aufgezogen«, fuhr Gabe fort und fragte sich, wie sehr der CO an Details interessiert war. War es wichtig, zu wissen, dass seine Mutter sehr jung einen tödlichen Autounfall gehabt hatte? Dass er damals gerade sechs gewesen war und dass er seinen Vater nie kennengelernt hatte?
»Wir … äh … haben in einem Mietshaus in der Acushnet Street gewohnt.« Seine Großmutter war Alkoholikerin gewesen und hatte von der Pension ihres verstorbenen Mannes gelebt. Ihr erzieherischer Einfluss auf Gabe war ungefähr so groß gewesen wie der des Weihnachtsmanns. Gabe hatte sich durch die Schule gemogelt und war tief in die Kleinkriminalität abgerutscht, als er seine erste echte Vaterfigur getroffen hatte – Sergeant O’Mally von der Polizei in New Bedford.
Gabe war sich sicher, dass Commander Lovitt nicht unbedingt etwas über Sergeant O’Mally erfahren brauchte, aber es war hauptsächlich dessen Verdienst, dass Gabe zur Navy gegangen war. Wenn O’Mally den Richter nicht davon überzeugt hätte, eine Anklage wegen Autodiebstahls fallen zu lassen, wäre Gabe jetzt gerade erst wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Stattdessen hatte er die Möglichkeit bekommen, etwas aus seinem armseligen Leben zu machen, indem er zur U. S. Navy gegangen war.
»Ich habe mich verpflichtet, als ich achtzehn war.« Gabe beschloss, seinem CO die Einzelheiten zu ersparen. »Ich war fast acht Jahre EW«, fügte er hinzu und bezog sich damit auf seinen Dienstgrad als Spezialist für elektronische Kriegsführung.
Lovitt nickte, sein kurzes silbernes Haar glänzte im Licht der Halogendeckenlampen. Gabe vermutete, dass er seinen Lebenslauf bereits kannte – er testete nur das Erinnerungsvermögen des Patienten, genau wie es alle anderen getan hatten, seit er vor drei Tagen mit einer Ambulanzmaschine von der koreanischen Halbinsel ausgeflogen worden war.
Schnell fasste Gabe den Rest seines Lebens zusammen. »Dann bekam ich eine Empfehlung für BOOST«, fuhr er fort und meinte damit die Erweiterten Möglichkeiten zur Offizierslaufbahn, eine Gelegenheit für einfache Soldaten, Offizier zu werden. »Und nach vier Jahren an der Marine-Akademie bin ich direkt zum BUD/S-Training gekommen.« Die Grundausbildung für Unterwassersprengungen in Coronado war so tief in Gabes Gedächtnis eingegraben, dass auch die schwerste Posttraumatische Belastungsstörung sie nicht hätte auslöschen können. »Ich erinnere mich an meine gesamte Ausbildung, Sir«, betonte er. »Ich kann meinem Land immer noch mit ganzer Kraft dienen.«
Lovitt nickte grimmig und gleichzeitig bedauernd. »Drei Jahre, an die man sich nicht erinnern kann – ein langer Zeitraum«, bemerkte er.
Gabes Arzt zufolge war es tatsächlich die längste Zeitspanne, die ein Mensch in Folge einer Posttraumatischen Belastungsstörung jemals vergessen hatte.
Gabes Blutdruck stieg. Er saß jetzt aufrechter im Bett und hoffte, dass er nicht mehr wie ein halb verhungertes Skelett aussah, sondern mehr so wie früher. »Das Gedächtnis wird wieder zurückkommen, Sir«, schwor er.
»Ich bin nicht hier, um Sie zu entlassen, Renault«, beschwichtige der Commander. »Sie sind einer meiner Männer, und ich mache mir Sorgen um Sie. Laut Commander Shafer ist Ihr Stirnlappen verletzt worden, was zu Ihrem Gedächtnisverlust beigetragen haben kann. Also, ich glaube, dass ihr Gedächtnisverlust vorübergehend ist. Aber Sie dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es auch dabei bleiben kann.«
Gabe starrte in Lovitts unbewegtes Gesicht und fragte sich, was er tatsächlich dachte. Lovitt war ein guter CO – fähig und engagiert, aber unmöglich zu durchschauen. Zumindest schien er nicht das zu unterstellen, was der Analyst der DIA gestern angedeutet hatte: Dass Gabe im Verhör des Feindes zusammengeklappt war und Staatsgeheimnisse preisgegeben hatte, dass der Gedächtnisverlust ein praktischer Weg war, um diese Schmach zu verdrängen.
Aber hatte der CO auch nur die geringste Ahnung, welche Narben Gabe davongetragen hatte? Er ballte die Finger seiner linken Hand zur Faust, um seine Nägel zu verbergen, die gerade erst wieder nachwuchsen.
»Erinnern Sie sich in irgendeiner Weise an den Abend, an dem Sie verschwanden, Lieutenant?«
Gabe hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. Von allen Rätseln, die er den Leuten, die ihn befragten, aufgab, verwirrte sie dies am meisten. Wo zum Teufel war er das vergangene Jahr über gewesen? Die Navy hatte ihn gerade für tot erklärt.
Gabe stieß einen Seufzer aus und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, während er verzweifelt nach irgendeinem Erinnerungsfetzen an diese Mission suchte, irgendetwas, womit er das Vertrauen seines Commanders zurückgewinnen konnte. Für eine Sekunde war da ein Bild, wie ein aufblitzender Funke in der Dunkelheit, aber dann erlosch er auch schon wieder und verschwand in dem gähnenden Loch der vergangenen drei Jahre. Gabe schüttelte den Kopf und schämte sich, seinem Commander in die Augen zu sehen.
Lovitt beugte sich vor und drückte Gabes Hand. »Ich möchte nicht, dass Sie sich Sorgen um Ihre Karriere machen, Lieutenant. Ich möchte, dass Sie sich darauf konzentrieren, gesund zu werden und wieder auf die Beine kommen. Es ist ein gottverdammtes Wunder, dass Sie heute überhaupt hier bei uns sind.«
»Danke, Sir«, murmelte Gabe. Er wusste Lovitts Unterstützung zu schätzen, aber er hörte auch unterschwellig etwas Bedrohliches aus seinen Worten heraus: Lovitt rechnete nicht damit, dass Gabe sich wieder erholen würde. Er glaubte nicht daran, dass Gabe jemals wieder ein SEAL werden würde. Und diese Erkenntnis verursachte Gabe Magenschmerzen.
»Wie ich höre, werden Sie morgen entlassen«, sagte der CO und erhob sich.
»Ja, Sir.« Schon bei dem Gedanken daran zog sich ihm erneut der Magen zusammen. Er würde nach Hause fahren, obwohl er nicht wusste, was sein Zuhause war. Seine letzte Erinnerung bestand darin, dass er im BOQ, der Unterkunft für ledige Offiziere, gewohnt hatte. Jetzt hatte er offenbar Frau und Kind. Ohne Zweifel lebte er mit ihnen zusammen, obwohl er keine Ahnung hatte, wo das sein sollte.
Die einzige Familie, an die er sich erinnern konnte, waren seine Kameraden beim Echo Platoon. »Sind die Jungs hier, Sir? Westy, Bear und … der Neue, Luther?«
Lovitt warf ihm ein schiefes Lächeln zu. »Luther ist jetzt Lieutenant, Junior Grade«, erklärte er geduldig. »Die Männer sind auf Küstenpatrouille. Ich habe sie über Funk darüber informiert, dass Sie wieder aufgetaucht sind, und Master Chief León ist in diesen Minuten auf dem Weg hierher. Ich nehme an, er wird eintreffen, bevor man Sie entlässt.«
Gabe nickte, und ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn. »Danke, Sir.« Der Master Chief war genau der richtige Mann, den jemand in seiner Situation gern in seiner Nähe hatte. Im Gegensatz zum CO würde er Gabes Selbstvertrauen nicht untergraben. Er würde Gabe anstacheln, sich an die vergangenen drei Jahre zu erinnern, ihm vorschlagen, sich wieder an seine verdammte Arbeit zu machen. Gabe sehnte seinen Besuch geradezu verzweifelt herbei.
»Nun gut.« Lovitt schlug die Hacken seiner makellos weißen Schuhe zusammen. »Nehmen Sie es nicht so schwer, Renault. Ihre Frau wird sich gut um Sie kümmern. Sie kann sich glücklich schätzen, dass Sie zurück sind.«
Gabe brachte es einfach nicht über sich, darauf zu antworten. Er hatte gesehen, was die Feinde mit ihm gemacht hatten, er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau noch ein Interesse an ihm haben sollte.
»Ruhen Sie sich noch etwas aus.« Lovitt wandte sich der Tür zu.
»Einen schönen Abend, Sir. Vielen Dank für die Blumen«, rief Gabe, obwohl er nicht einmal einen kurzen Blick darauf werfen mochte. Lilien. Gott, waren die nicht eigentlich etwas für Beerdigungen?
Als die Tür hinter dem CO ins Schloss fiel, sank Gabe zurück in die Kissen und fluchte erst einmal ausgiebig. Sein Commander hatte ihn schon so ziemlich abgeschrieben. Wenn er sein Gedächtnis nicht sehr schnell wiedererlangte, war er seinen Job los. Und eigentlich auch seine Identität. Und was dann? Bedrückt dachte Gabe darüber nach, was er gewesen war, bevor er zu den SEALs gekommen war – kaum mehr als ein kleiner Ganove. Bei den SEALs hatte er zu Selbstbewusstsein gefunden und Disziplin gelernt. Sein Leben hatte einen Sinn bekommen und ein Ziel. Es waren die besten Jahre seines Lebens gewesen. Davor war er nur irgendein Junge gewesen, der sich auf der Suche nach Streit und Schlägereien herumgetrieben hatte, um die tief in ihm sitzende Wut loszuwerden.
Wenn er also kein SEAL mehr war, was war er dann? Ehemann und Vater? Wie war es dazu gekommen?
Er war der letzte Mann auf der Welt, den irgendeine Frau hätte heiraten sollen. Nicht, dass er keine Frauen mochte. Ganz bestimmt nicht, er liebte ihre Körper, liebte es, wie stark er sich bei ihnen fühlte. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung von Intimitäten. Er mochte es nicht, wenn zärtliche Gefühle sich seiner bemächtigten. Gefühle, die einen Mann um den Verstand brachten und ihm das Herz brachen, konnte er sich nicht leisten. Es hatte ihn zehn Jahre seines Lebens gekostet, um bei klarem Verstand zu bleiben. Er durfte nicht zulassen, dass eine Frau ihm diesen erneut raubte. Wieso war er dann eigentlich verheiratet und hatte ein Kind?
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
Gott, Allmächtiger. Gleich würde er es herausfinden.