Jay Asher & Carolyn Mackler
Wir beide, irgendwann
Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger
Jay Asher & Carolyn Mackler
Wir beide, irgendwann
Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger
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© 2011 by Jay Asher und Carolyn Mackler
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »The Future of Us« bei Razorbill, an Imprint of Penguin Group, New York
© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger
st · Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-07579-8
V002
www.cbt-verlag.de
www.wir-beide-irgendwann.de
Carolyn Mackler
Für Jonas, Miles und Leif Rideout
Jay Asher
Für JoanMarie und Isaiah Asher
Unsere Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft
Im Jahr 1996
hatte weniger als die Hälfte aller amerikanischen Higschoolschüler schon mal das Internet benutzt.
wurde erst ein paar Jahre später erfunden.
Emma & Josh
waren dabei, sich in ihre Zukunft einzuloggen.
Sonntag
1://Emma
Ich kann heute nicht mit Graham Schluss machen, obwohl ich meinen Freunden angekündigt habe, dass ich es bei nächster Gelegenheit tun würde. Stattdessen verstecke ich mich in meinem Zimmer und nehme meinen neuen Computer in Betrieb, während er im Park auf der anderen Straßenseite Ultimate Frisbee spielt.
Mein Vater hat mir den Computer geschickt, wieder mal ein Geschenk, das seinem schlechten Gewissen geschuldet ist. Letzten Sommer, bevor er mit meiner Stiefmutter von Pennsylvania nach Florida gezogen ist, hat er mir den Schlüssel seines alten Honda in die Hand gedrückt und sein neues Leben begonnen. Jetzt haben sie ihr erstes Baby bekommen und ich bekam dafür diesen Computer inklusive Windows 95 und Farbbildschirm.
Ich scrolle mich gerade durch die Liste verschiedener Bildschirmschoner, als es an der Tür klingelt. Ich lasse meine Mutter die Haustür öffnen, weil ich mich noch nicht zwischen einem Labyrinth sich verändernder Ziegelmauern und einem Röhrenmuster entschieden habe. Hoffentlich ist es nicht Graham.
»Emma!«, ruft meine Mom. »Josh ist da!«
Eine echte Überraschung. Josh Templeton wohnt direkt neben uns. Als Kinder sind wir ständig zwischen unseren Häusern hin und her gelaufen, haben in unseren Gärten gezeltet und Festungen gebaut, und an den Samstagen kam er morgens mit seiner Cornflakesschale rüber, um sich auf unserem Sofa Zeichentrickfilme anzuschauen. Auch auf der Highschool waren wir unzertrennlich, bis sich im letzten November alles verändert hat. In der Lunchpause sitzen wir zwar immer noch mit unserer kleinen Clique zusammen, aber in den letzten sechs Monaten hat er kein einziges Mal den Fuß über unsere Schwelle gesetzt.
Ich entscheide mich für die Ziegelmauern und laufe die Treppe hinunter. Josh steht auf der Veranda vor dem Haus und klopft mit der abgenutzten Spitze seines Turnschuhs an den Türrahmen. Er ist einen Jahrgang unter mir, also in der zweiten Highschoolklasse. Seine glatten rotblonden Haare und sein scheues Lächeln sind so wie immer, aber in den letzten Monaten ist er zwölf Zentimeter in die Höhe geschossen.
Ich sehe, wie meine Mom mit dem Auto rückwärts aus der Einfahrt setzt. Sie hupt und winkt, bevor sie auf die Straße einbiegt.
»Deine Mom sagt, dass du heute noch gar nicht aus deinem Zimmer rausgekommen bist«, sagt Josh.
»Ich richte meinen neuen Computer ein«, entgegne ich und versuche, dem Thema Graham aus dem Weg zu gehen. »Nettes Gerät.«
»Wenn deine Stiefmutter wieder schwanger wird, solltest du deinen Dad überreden, dir ein Handy zu kaufen.«
»Ja, absolut.«
Vor letztem November wären Josh und ich niemals verlegen auf der Schwelle stehen geblieben. Meine Mom hätte ihn reingelassen und er wäre sofort in mein Zimmer gelaufen.
»Meine Mutter meinte, ich sollte dir das mal vorbeibringen«, sagt er und hält eine CD-ROM in die Luft. »Die lag letzte Woche bei uns im Briefkasten. Bei Vertragsabschluss schenkt dir America Online hundert Freistunden im Netz.«
Unsere Freundin Kellan hat neulich einen AOL-Zugang bekommen. Die ist jedes Mal total begeistert, wenn sie eine E-Mail erhält. Sie verbringt Stunden damit, mit irgendwelchen Leuten zu chatten, die vielleicht nicht mal auf die Lake Forest High gehen.
»Wollen deine Eltern die nicht selbst behalten?«, frage ich.
Josh schüttelt den Kopf. »Sie wollen kein Internet, weil sie das für reine Zeitverschwendung halten. Außerdem meint meine Mutter, dass sich in den Chatrooms so viele komische Typen rumtreiben.«
Ich lache. »Also ist es ihr lieber, wenn ich mich da rumtreibe.«
Josh zuckt die Schultern. »Ich habe deiner Mom davon erzählt, und sie meinte, sie hätte nichts dagegen, solange sie und Martin eigene E-Mail-Adressen bekommen.«
Ich kann Martins Namen immer noch nicht hören, ohne die Augen zu verdrehen. Meine Mom hat ihn letzten Sommer geheiratet, weil sie davon überzeugt ist, in ihm ihre große Liebe gefunden zu haben. Aber das hat sie bei Erik auch gesagt und die Sache hielt nur zwei Jahre.
Ich nehme die CD-ROM entgegen und Josh steckt seine Hände in die hinteren Hosentaschen.
»Ich hab gehört, dass der Download ein bisschen Zeit braucht«, sagt er.
»Hat meine Mom gesagt, wie lange sie weg ist?«, frage ich. »Wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, um die Telefonverbindung einzurichten.«
»Sie hat gesagt, dass sie Martin abholt und mit ihm nach Pittsburgh fährt, um sich Spülbecken anzuschauen.«
Zu meinem letzten Stiefvater hatte ich nie eine besonders enge Beziehung, doch zumindest hat Erik das Haus heil gelassen. Stattdessen hat er meine Mutter überredet, sich Wellensittiche anzuschaffen, sodass meine ersten Highschooljahre zu Hause von ständigem Gezwitscher begleitet wurden. Martin ist es hingegen gelungen, meine Mutter vom Sinn einer Rundumrenovierung zu überzeugen. Seitdem ist unser Haus voll vom Staub des Sägemehls und überall stinkt es nach frischer Farbe. Nachdem die Arbeiten in der Küche beendet und neue Teppiche verlegt worden sind, wird nun die Toilette im Erdgeschoss in Angriff genommen.
»Wenn du willst«, sage ich, vor allem, um keine Stille zwischen uns aufkommen zu lassen, »kannst du ja ab und zu mal rüberkommen und AOL ausprobieren.«
Josh streicht sich die Haare aus den Augen. »Tyson ist total begeistert. Der sagt, dass das Internet dein ganzes Leben verändert.«
»Mag sein, aber der findet auch, dass eine Folge von Friends sein Leben verändert.«
Josh lächelt, bevor er sich umdreht und geht. Sein Kopf streift beinahe das Windspiel, das Martin unter dem Vordach aufgehängt hat. Es ist nicht zu glauben, dass Josh fast 1,80 Meter groß ist. Manchmal, aus der Ferne, erkenne ich ihn kaum wieder.
➜
Ich schiebe die CD-ROM in den Schlitz und lausche dem leisen Surren, das daraufhin einsetzt. Ich klicke mich durch das Installationsprogramm, ehe ich Enter drücke und der Download beginnt. Der blaue Statusbalken auf dem Bildschirm zeigt an, dass er siebenundneunzig Minuten in Anspruch nehmen wird. Sehnsüchtig blicke ich aus dem Fenster auf den wunderschönen Mainachmittag. Nach einem stürmischen Winter, gefolgt von einem kalten, verregneten Frühjahr, ist es endlich Sommer geworden.
Morgen habe ich einen Leichtathletikwettkampf, habe jedoch seit drei Tagen kein Lauftraining mehr absolviert. Ich weiß, dass meine Angst, Graham über den Weg zu laufen, albern ist. Außerdem ist der Wagner-Park ziemlich groß. Er zieht sich von der Innenstadt bis zum Neubaugebiet am Stadtrand. Graham könnte überall Frisbee spielen. Aber wenn er mich sieht, wird er mir WIEDER den Arm um die Schultern legen und mich irgendwohin ziehen, um an mir rumzufummeln. Auf dem Abschlussball unserer Highschool am letzten Wochenende hat er mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Ich hab sogar den Macarena verpasst, den ich mit Kellan, Ruby und meinen anderen Freundinnen tanzen wollte.
Ich erwäge, den Download zu unterbrechen, um einen Testanruf bei Graham zu Hause zu machen. Wenn er rangeht, lege ich auf. Allerdings hat Kellan mir erzählt, dass bei manchen neuen Telefonen die Nummer des Anrufers auf dem Display erscheint. Nein, ich werde mich wie eine Erwachsene verhalten. Schließlich kann ich mich nicht ewig in meinem Zimmer verstecken. Wenn ich Graham irgendwo im Park erblicke, dann winke ich ihm einfach zu und rufe, dass ich laufen muss.
Ich ziehe Shorts und einen Sport-BH an und binde meine lockigen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Mit einem Klettverschluss befestige ich den Discman an meinem Arm und begebe mich auf die Rasenfläche vor unserem Haus, um ein bisschen Stretching zu machen. Joshs Garagentor schwingt auf. Im nächsten Moment rollt er auf seinem Skateboard heraus.
Als er mich sieht, bleibt er mitten auf der Einfahrt stehen. »Hast du den Download gestartet?«
»Ja, aber das dauert ewig. Wo willst du hin?«
»Zum Skate-Shop«, antwortet er. »Ich brauche neue Rollen.«
»Viel Spaß!«, rufe ich ihm hinterher, während er auf die Straße zurollt.
Es gab eine Zeit, in der Josh und ich länger miteinander geredet hätten, aber die ist schon eine Weile her. Ich trabe zum Bürgersteig und biege nach links ab. Am Ende unseres Blocks jogge ich quer über die Straße auf den gepflasterten Weg, der in den Park hineinführt. Ich drücke auf die Play-Taste meines Discmans. Kellan hat mir diesen Laufmix zusammengestellt, der mit Alanis Morissette beginnt, gefolgt von Pearl Jam, und mit Dave Matthews endet.
Ich laufe die Dreimeilen-Strecke in durchgehend hohem Tempo und bin froh, nirgends irgendwelche Frisbeespieler zu erblicken. Als ich mich erneut unserer Straße nähere, höre ich die Gitarrenklänge des Anfangs von »Crash into Me«.
Lost for you, formen meine Lippen. I’m so lost for you. Der Songtext lässt mich immer an Cody Grainger denken. Er gehört zu unserem Leichtathletikteam. Er ist schon älter und ein unglaublicher Sprinter, einer der zwanzig besten in ganz Pennsylvania. Letztes Frühjahr saß er auf der Rückfahrt von einem Wettkampf neben mir und hat mir alles Mögliche über die Talentscouts vom College erzählt, die auf ihn aufmerksam geworden waren. Später, als ich ein Gähnen nicht unterdrücken konnte, hat er mich an seiner Schulter ruhen lassen. Ich habe die Augen geschlossen und so getan, als schliefe ich, dabei habe ich die ganze Zeit gedacht: Auch wenn ich nicht an die wahre Liebe glaube, für Cody würde ich glatt eine Ausnahme machen.
Kellan meint, ich solle mal schön auf dem Teppich bleiben, doch sie hat gut reden. Als sie letzten Sommer mit Tyson zusammenkam, hätte man den Eindruck gewinnen können, sie persönlich habe die Liebe erfunden. Sie hat einen hohen IQ und schreibt kluge Artikel für die Schülerzeitung, doch von da an hat sie nur noch über Tyson, Tyson und Tyson geredet. Als er mit ihr Schluss gemacht hat, war sie so am Boden zerstört, dass sie zwei Wochen lang nicht zur Schule kam.
Wie dem auch sei, auch wenn ich Cody anschmachte, muss das Leben ja irgendwie weitergehen. Seit zwei Monaten bin ich mit Graham Wilde zusammen. Wir spielen zusammen in der Schulband. Er Schlagzeug, ich Saxofon. Er ist sexy, hat schulterlange blonde Haare, aber dass er auf dem Higschoolball so eine Klette war, hat mich doch ziemlich abgeschreckt. Ich werde auf jeden Fall bald mit ihm Schluss machen. Oder ich lasse die Sache über den Sommer ausklingen.
➜
Der Statusbalken ist immer noch nicht vollständig.
Ich gehe unter die Dusche und mache es mir danach in meinem Korbsessel gemütlich, um meine Unterlagen für die Bioabschlussprüfung noch mal durchzugehen. Ich habe dieses Jahr jede Menge As in Biologie gesammelt, definitiv mein bestes Fach. Kellan wollte mich überreden, nächsten Herbst mit ihr einen Biokurs am College zu belegen, aber ich glaube nicht, dass ich das tun werde. Sonst artet mein letztes Highschooljahr noch in Stress aus.
Als der Download vollständig ist, klappe ich mein Biobuch zu und starte den Computer erneut. Nachdem ich die Einwahlnummer von AOL eingegeben habe, beginnt das Modem zu knacken und zu piepen. Sobald ich online bin, probiere ich die E-Mail-Adresse EmmaNelson@AOL.com aus, aber die ist schon vergeben. Genau wie EmmaMarieNelson. Schließlich entscheide ich mich für EmmaNelson4ever. Für mein Passwort lasse ich mir ein paar Möglichkeiten durch den Kopf gehen, ehe ich Millicent eintippe. Letzten Sommer, als Kellan und Tyson total ineinander verknallt waren, haben Josh und ich sie durch den Kakao gezogen, indem wir so taten, als wären wir ein liebeskrankes Paar mittleren Alters namens Millicent und Clarence, die tonnenweise Fertigprodukte in sich hineinstopfen und mit einem verbeulten Eiswagen durch die Stadt fahren. Kellan und Tyson fanden das nie besonders lustig, doch Josh und ich sind aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen.
Ich drücke auf Enter, worauf dasselbe AOL-Bild auf meinem Monitor erscheint, das ich auch auf Kellans Computer gesehen habe.
»Willkommen!«, meldet sich eine elektronische Stimme.
Ich will Kellan gerade meine erste E-Mail schreiben, als ein helles Licht über den Bildschirm flackert. Ein kleines weißes Kästchen mit blauem Rand erscheint und fordert mich auf, meine E-Mail-Adresse und mein Passwort erneut einzugeben.
Ich tippe EmmaNelson4ever@AOL.com und Millicent.
Für ungefähr zwanzig Sekunden friert mein Bildschirm ein. Dann schrumpft das weiße Kästchen zu einem kleinen blauen Punkt zusammen, woraufhin eine neue Webseite erscheint. Ein blauer Balken zieht sich am oberen Rand entlang. Darauf steht in weißer Schrift »Facebook«. Weiter unten in der Mitte des Bildschirms steht »Neuigkeiten«. Darunter sind viele kleine Fotos von Leuten zu sehen, die ich nicht kenne. Zu jedem Foto gibt es einen kurzen Kommentar.
Jason Holt
Ich liebe NYC. Hab schon zwei Cupcakes von Magnolia gegessen!!
Gefällt mir · Kommentieren · Vor 3 Stunden
Kerry Dean Und du hast mir keinen abgegeben? Ich mag am liebsten die mit Zuckerguss und Schokostreuseln.
Gefällt mir · Vor 2 Stunden
Mandy Reese
Ich bin gerade in ein Spinnennetz getreten und nicht ausgeflippt. Yeah!
Gefällt mir · Kommentieren · Vor 17 Stunden
Ich lasse die Maus um den Bildschirm kreisen, verwirrt von der Vielzahl an Fotos und Mitteilungen. Ich habe keine Ahnung, was all diese Dinge zu bedeuten haben: »Status«, »Freunde finden« und »anstupsen«.
Dann entdecke ich etwas direkt unter dem blauen Balken, das mich stutzen lässt. Neben dem kleinen Porträt einer Frau, die an einem Strand sitzt, steht »Emma Nelson Jones«. Die Frau ist in den Dreißigern, hat lockige braune Haare und braune Augen. Ein eigenartiges Gefühl überkommt mich, weil diese Frau mir vertraut erscheint.
Allzu vertraut.
Als ich mit der Maus über ihren Namen gleite, wird aus dem weißen Pfeil eine Hand. Ein Klick und eine weitere Seite baut sich langsam auf. Diesmal ist ihr Foto größer und wird von so vielen Informationen begleitet, dass ich gar nicht weiß, wo ich mit dem Lesen anfangen soll. In der mittleren Spalte, neben einer kleineren Version desselben Fotos, lese ich:
Emma Nelson Jones
Will mir Strähnen ins Haar machen lassen.
Gefällt mir · Kommentieren · Vor 4 Stunden
Es heißt, Emma Nelson Jones sei früher auf die Lake Forest High School gegangen. Sie hat einen Mann namens Jordan Jones Jr. geheiratet und wurde am 24. Juli geboren. Die Jahreszahl fehlt, aber der 24. Juli ist mein Geburtstag.
Ich lege beide Hände an die Stirn und atme tief durch. Durch das offene Fenster höre ich Josh auf seinem Skateboard zurückkommen. Seine Rollen rattern über die Rillen, die sich im Bürgersteig befinden. Ich eile die Stufen hinunter und laufe aus der Tür. Das helle Sonnenlicht lässt mich die Augen zusammenkneifen.
»Josh!«, rufe ich.
Er rollt seine Einfahrt hinauf und kickt das Skateboard in seine Hände.
Ich umfasse das Geländer der Veranda, um einen besseren Halt zu haben. »Da ist was Komisches passiert, nachdem ich AOL runtergeladen habe.«
Josh schaut mich an, während das Windspiel sacht in Bewegung gesetzt wird.
»Kannst du kurz raufkommen?«, frage ich.
Er starrt auf das Gras, ohne etwas zu sagen.
»Bitte!«, füge ich hinzu.
Das Skateboard in einer Hand, folgt mir Josh ins Haus.
2://Josh
Ich folge Emma die Stufen hinauf und zähle die Monate von November bis Mai an den Fingern ab. Vor sechs Monaten bin ich das letzte Mal hier gewesen. Vorher war dies mein zweites Zuhause. Doch an dem Abend, als Toy Story angelaufen ist und wir alle im Kino waren, habe ich einiges missverstanden und geglaubt, sie wolle mehr sein als nur eine gute Freundin.
Wollte sie nicht.
Als wir ihr Zimmer betreten, winkt sie mich sofort zu ihrem Computer. »Hier, schau mal.«
Der Bildschirmschoner sieht aus, als bewege man sich durch ein Labyrinth aus Ziegelmauern.
»Nicht schlecht«, sage ich und lehne mein Skateboard gegen ihre Kommode. »Der läuft so leise, dass man den Motor kaum hört.«
Ihr Zimmer sieht aus wie früher, abgesehen von der Vase mit welken weißen Rosen, die auf ihrer Kommode steht. Von der Decke hängen mehrere rote Papierlampen. Die beiden Pinnwände neben ihrem Bett sind über und über mit Fotos und abgerissenen Tickets von Kinobesuchen und Schulpartys bedeckt.
Emma schüttelt den Kopf. »Tut mir echt leid«, sagt sie und scheint über sich selbst zu lachen. »Das ist einfach zu blöd.«
»Wie meinst du das?« Ich wische mir die verschwitzten Haare aus den Augen. Nachdem ich meine neuen Rollen abgeholt hatte, habe ich Tyson auf dem Parkplatz vor der First Baptist Church getroffen. Zwischen der Morgen- und der Abendmesse ist er vollkommen leer und dort gibt es einige tolle hohe Betonhindernisse.
Emma steht neben ihrem Schreibtischstuhl und dreht ihn mir zu. »Eigentlich brauche ich nur deine Bestätigung.«
Ich setze mich hin und Emma dreht mich so weit herum, bis ich den Monitor direkt vor mir habe.
»Beweg mal ein bisschen die Maus«, fordert sie mich auf, »und sag mir, was du siehst.«
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich zum ersten Mal wieder in ihrem Zimmer bin oder dass sie sich so merkwürdig verhält, aber irgendwie ist mir nicht besonders wohl in meiner Haut.
»Bitte!«, sagt sie erneut und tritt ans Fenster.
Ich schüttle die Maus hin und her. Die Ziegelmauern erstarren und verschwinden. Stattdessen erscheint eine Webseite, die von kleinen Fotos und kurzen Texten übersät ist wie ein Kaleidoskop. Ich habe keine Ahnung, worauf ich achten soll.
»Diese Frau hier sieht aus wie du«, sage ich schließlich. »Echt cool!« Ich blicke zu Emma hinüber, doch sie guckt aus dem Fenster, das ebenso wie mein Badezimmerfenster auf die Rasenfläche vor unseren Häusern hinausgeht. »Natürlich sieht sie nicht genauso aus wie du«, fahre ich fort, »aber später wirst du wohl mal so aussehen wie sie.«
»Was siehst du noch?«, fragt Emma.
»Dass sie denselben Namen hat wie du, nur mit Jones am Ende.«
An der oberen Kante der Webseite steht »Facebook«. Mit ihren verstreuten Texten und Abbildungen macht sie einen ziemlich chaotischen Eindruck.
»Das hast doch nicht du gemacht, oder?«, frage ich.
Ich bin in diesem Jahr in Textverarbeitung I, wo es um das Erstellen, Bearbeiten und Sichern von Computerdateien geht. Emma ist mir ein Jahr voraus und hat bereits Textverarbeitung II.
Sie dreht sich zu mir um und zieht ihre Augenbrauen nach oben.
»Obwohl du dazu bestimmt in der Lage wärst«, füge ich hinzu.
Es sieht so aus, als habe Emma diese Webseite als Hausaufgabe erstellt und sich dafür ihre Fantasiezukunft ausgedacht. Dort heißt es, Emma Nelson Jones sei mal auf unsere Highschool gegangen und habe später einen Mann namens Jordan Jones Jr. geheiratet. Der Name ihres Ehemanns hört sich ziemlich erfunden an, aber zumindest hat sie sich nicht Emma Nelson Grainger genannt, nach diesem Leichtathletik-Typ. Oder Emma Nelson Wilde, nach ihrem momentanen Freund. Apropos Graham, wollte sie nicht längst mit ihm Schluss machen?
Emma sitzt auf der Bettkante, ihre Hände zwischen die Oberschenkel gepresst. »Was hältst du davon?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was das darstellen soll«, entgegne ich.
»Wovon redest du?«
»Wann soll das denn fertig sein?«
»Fertig sein?«
Emma kommt zu mir, starrt auf den Monitor und tippt sich mit zwei Fingern an die Lippen. Wasser tropft aus ihren Haaren auf ihr T-Shirt und lässt die kleinen bunten Sterne ihres BHs durchscheinen. Ich versuche, nicht hinzusehen.
»Sei ehrlich, Josh«, sagt sie. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich?«
»Du hast mir doch die CD-ROM gegeben«, sagt sie. Sie streckt ihre Hand nach unten und drückt auf Eject, worauf die CD wieder ausgespuckt wird. »Du hast gesagt, sie wäre von AOL.«
»Ist sie auch!« Ich zeige auf den Bildschirm. »Glaubst du wirklich, dass ich weiß, wie so was funktioniert?«
»Du hast viele Fotos von mir. Vielleicht hast du eins in der Schule gescannt und …«
»Und es so verändert, dass du älter aussiehst? Wie sollte ich das machen?«
Meine Hände beginnen zu schwitzen. Wenn Emma das nicht getan hat, dann …
Ich fahre mit den Handflächen über meine Knie. Die eine Seite meines Gehirns flüstert mir zu, dass es diese Webseite noch gar nicht geben dürfte. Dass sie aus der Zukunft kommt. Die andere Seite meines Gehirns schreit, dass ich einen Knall habe.
Die Emma Nelson Jones auf dem Bildschirm lächelt. In ihren Augenwinkeln zeichnen sich feine Lachfältchen ab.
Emma deutet auf den Monitor. »Vielleicht ist das ein Computervirus.«
»Oder ein Scherz«, entgegne ich. Ich nehme die CD-ROM aus dem Computer und sehe sie mir genau an. Vielleicht hat jemand von der Schule gewusst, dass Emma einen neuen Computer bekommt, diese echt aussehende CD hergestellt … und bei mir in den Briefkasten geworfen?
In der Mitte des Bildschirms sehe ich eine Abfolge kurzer Sätze. Sie stammen von Emma Nelson Jones. Darunter stehen verschiedene Antworten und Kommentare anderer Leute.
Emma Nelson Jones
Will mir Strähnen ins Haar machen lassen.
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Mark Elliot Lass das, E!
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Sondra McAdams Ich mach auch mit!
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»Wenn das ein Scherz sein soll, dann verstehe ich ihn nicht«, sagt Emma. »Was soll das bedeuten?«
»Das soll anscheinend deine Zukunft sein«, antworte ich lachend. »Vielleicht deutet die Webseite an, dass du mal berühmt wirst.«
Auch Emma fängt an zu lachen. »Okay, aber wie? Als Saxofonistin? Als Leichtathletin? Oder glaubst, ich werde eine weltbekannte Inlineskaterin?«
Ich gehe darauf ein. »Kann ja sein, dass Inlineskaten mal eine olympische Disziplin wird.«
Emma klatscht begeistert in die Hände. »Vielleicht qualifiziert sich Cody für das Leitathletikteam und wir nehmen gemeinsam an den Olympischen Spielen teil.«
Ich hasse die Art, wie es ihr stets gelingt, Cody Grainger ins Spiel zu bringen.
Sie zeigt auf einen Eintrag, der sich am unteren Ende der Seite befindet. »Was ist das?«
Emma Nelson Jones
Weiß irgendjemand, wo mein Mann das ganze letzte Wochenende gewesen ist?
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Darunter, weitgehend verdeckt vom unteren Bildschirmrand, ist ein Foto. Der obere Teil des Bildes sieht nach Meerwasser aus. Ich gleite mit der Maus darüber.
»Soll ich das Bild mal anklicken, um zu sehen …?«
»Nein!«, antwortet Emma. »Vielleicht ist das ein Virus, der sich immer weiter ausbreitet, je mehr Befehle wir eingeben. Ich will meinen neuen Computer nicht gleich kaputt machen.«
Sie nimmt mir die CD-ROM aus der Hand und lässt sie in ihrer Schreibtischschublade verschwinden.
Ich drehe mich mit dem Stuhl um und schaue ihr in die Augen. »Ach, komm! Auch wenn das Ganze ein Witz ist, willst du nicht zumindest sehen, wen du später mal heiraten wirst?«
Emma denkt kurz nach. »Also gut.«
Ich klicke auf das Foto und der Bildschirm verändert sich. Wir beobachten, wie sich in der Mitte allmählich ein großes Foto aufbaut. Ein bewegtes Meer, darunter das Gesicht eines Mannes. Er trägt eine schwarze Sonnenbrille. Seine Finger schließen sich um den Schnabel eines Fischs, der einem Schwert ähnelt. Nachdem das Foto vollständig geladen ist, sieht man, dass er am Bug eines Fischerboots steht.
»Ganz schön großer Fisch«, sage ich. »Ich frage mich, wo das Bild gemacht wurde. Vielleicht in Florida.«
»Ziemlich attraktiver Typ«, sagt Emma. »Ich meine, dafür, dass er schon älter ist. Ich frage mich, wo sie das Foto herhaben?«
Wir zucken zusammen, als es unversehens an der Tür klopft. Im nächsten Moment kommt Emmas Mutter herein.
»Gefällt dir dein neuer Computer?«, fragt sie. »Surft ihr jetzt im Internet mit all den Freistunden?«
Emma rückt ein Stück vor den Monitor. »Wir informieren uns über Schwertfische.«
»Und über zukünftige Ehemänner«, ergänze ich, worauf mich Emma in den Arm kneift.
»Könntet ihr vielleicht später weitermachen?«, fragt ihre Mom. »Martin muss vor dem Abendessen noch einen Kunden anrufen, und das geht nicht, solange ihr im Internet seid.«
»Aber ich bin noch nicht fertig«, sagt Emma. »Und ich weiß nicht, ob ich noch mal auf diese Webseite zurückkomme.«
Sie hat recht. Was ist, wenn wir die Seite nicht wieder öffnen können? Auch wenn sie nur ein Scherz ist, gibt es noch so viel zu entdecken. Emma braucht ein überzeugendes Argument, damit wir online bleiben können.
»Es gibt aber nur eine Telefonverbindung«, sagt ihre Mom. »Schreibt euch die Adresse der Webseite auf, dann könnt ihr später zu ihr zurückkehren. Also wenn das mit dem Internet ein Problem wird, dann …«
»Wird es nicht«, versichert Emma. Sie nimmt die Maus, schließt die Seite und loggt sich aus AOL aus.
Die elektronische Stimme wünscht ein fröhliches »Auf Wiedersehen!«.
»Danke«, sagt Emmas Mom und sieht mich an. »Schön, dass du mal wieder bei uns vorbeischaust, Josh. Willst du zum Essen bleiben?«
Ich stehe auf, nehme mein Skateboard in die Hand und vermeide jeden Blickkontakt mit Emma. »Geht leider nicht. Ich muss noch ziemlich viel Hausaufgaben machen, und meine Eltern …« Ich verabschiede mich mit brennenden Wangen.
Zu dritt marschieren wir die Treppe hinunter. Emmas Mom geht zu Martin ins Badezimmer, wo er gerade ein paar Plastiktüten aus dem Baumarkt abstellt. Emma öffnet mir die Haustür und flüstert mir zu: »Ich geh später wieder ins Netz.«
»Okay«, flüstere ich zurück, die Augen auf mein Skateboard gerichtet. »Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«
3://Emma
Während des Abendessens muss ich die ganze Zeit an Emma Nelson Jones denken.
»Man schmeckt fast gar nicht, dass es fettarmer Käse ist«, schwärmt meine Mom, während sie an ihrer Pizza knabbert. »Und Birne statt Peperoni … einfach köstlich!«
»Ganz deiner Meinung«, sagt Martin.
Wir essen vor dem Fernseher, während wir Seinfeld anschauen. Wir nehmen die Serie jeden Donnerstag auf Video auf und sehen sie uns am Sonntagabend an. Ich verfrachte ein weiteres Pizzastück auf meinen Teller.
»Sei vorsichtig«, ermahnt mich Martin.
»Der neue Teppich«, fügt meine Mom hinzu.
Immer wenn die Serie von Werbeblöcken unterbrochen wird, rückt Martin meiner Mom auf die Pelle und streichelt ihr den Arm, anstatt vorzuspulen. Irgendwann wird mir das zu blöd, also stehe ich auf, balanciere den Teller auf meiner Handfläche, nehme mit der anderen Hand mein Glas Milch und verschwinde auf mein Zimmer.
Im Schneidersitz hocke ich auf meinem Bett, mampfe die Pizza und starre auf das Ziegellabyrinth des Bildschirmschoners. Vielleicht ist das weder ein Scherz noch ein Virus. Vielleicht gibt es wirklich eine Frau Mitte dreißig, die Emma Nelson Jones heißt, früher einmal auf die Lake Forest High ging und am selben Tag Geburtstag hat wie ich. Doch selbst wenn all diese Zufälle der Wahrheit entsprechen, warum erscheint sie dann auf meinem Computer?
Ich greife zum Telefon und rufe Josh an. Ich kenne seine Nummer so gut, dass ich nicht auf die Liste schauen muss, die an meiner Pinnwand hängt.
Aber dann lege ich den Hörer wieder auf die Gabel. Josh hat bestimmt keine Lust, in diese Sache hineingezogen zu werden. Vielmehr hat er die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich hier aus dem Staub zu machen.
Ich versuche es bei Kellan, aber bei ihr ist besetzt, und ich kann mich nicht dazu durchringen, meinen Dad anzurufen. Als er und Cynthia noch in Lake Forest gewohnt haben, waren wir ständig zusammen. Wir sind gemeinsam gejoggt, und wenn er mit seiner Jazzband einen Auftritt hatte, bin ich oft zu ihnen auf die Bühne gegangen, um sie für ein Stück zu begleiten. Doch wenn ich jetzt anrufe, habe ich stets das Gefühl, sie in ihrem neuen Leben mit dem Baby zu stören. Seit er weggezogen ist, habe ich ihn erst zweimal besucht, eine Woche lang an Weihnachten und für ein paar Tage in den Osterferien.
Ich esse die Pizza auf und gehe ins Badezimmer. Seit das untere Bad renoviert wird, muss ich jedes Mal Moms und Martins Schlafzimmer durchqueren, wenn ich pinkeln muss. Während ich in den Spiegel schaue, denke ich an Emma Nelson Jones und ihre Strähnen.
Ich habe meine Haarfarbe immer gemocht, vor allem im Sommer, wenn ich sie mit Sun-In aufhelle und mich im Garten in die Sonne lege. Aber vielleicht sollte ich mir auch mal Strähnen zulegen.
Vielleicht werde ich eines Tages welche haben. Ich eile zu meinem Computer und rüttle an der Maus. Als ich mich einwähle, erscheint die Startseite von AOL. Aber dann erblicke ich eine Rubrik, die »Favoriten« heißt. Ich weiß, dass Kellan dort all die Webseiten speichert, die ihr am besten gefallen.
Und da ist sie auch schon. »Facebook«. Wenn ich auf das Wort klicke, erscheint wieder dieses Kästchen, das mich nach E-Mail-Adresse und Passwort fragt. Ich gebe beides ein und drücke auf Enter.
Joy Renault
Hab mir zum ersten Mal seit dem College die Harmony Alley Carjackers angeschaut. Geil!!!
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Gordon Anderson
Ich komme mir albern vor, als Erwachsener Apfelsaft zu bestellen. Als würde ich noch nicht richtig sprechen und »Appelsaff« sagen.
Gefällt mir · Kommentieren · Vor 4 Stunden
Doug Fleiss Das erinnert mich immer an den Atem eines Babys.
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In der oberen linken Ecke ist neben »Emma Nelson Jones« ein anderes Foto als letztes Mal zu sehen. Als ich den Namen anklicke, erscheint eine größere Version desselben Fotos. Mit ihrem ausladenden Hut und der Sonnenbrille sieht sie ziemlich mondän aus.
Unter dem Foto klicke ich auf das Wort »Info«.
High School Lake Forest High School Abschlussklasse 1997
1997? Das ist nächstes Jahr. Dann werde ich meinen Abschluss machen. Ich wende meinen Blick von der Abschlussklasse, die es noch gar nicht gibt, und scrolle nach unten. Emma Nelson Jones hat eine Liste ihrer Lieblingsfilme, -musik und -bücher angelegt.
Filme American Beauty, Titanic, Toy Story 3
Die ersten beiden Filme kenne ich nicht, freue mich aber zu hören, dass es von Toy Story offenbar zwei Fortsetzungen gibt. Doch vor allem die genannten Bücher springen mir ins Auge.
Bücher Tuck Everlasting, Harry Potter, Gute Geister
Ich weiß zwar nicht, was Harry Potter oder Gute Geister für Bücher sind, aber zu meinem elften Geburtstag hat mir Josh Tuck Everlasting. Die Unsterblichen geschenkt. Ich kann mich immer noch an die Szene erinnern, in der Tuck Winnie über den See rudert. Als das Boot in einem Pflanzengestrüpp hängen bleibt, sagt Tuck, das vorbeirauschende Wasser sei wie die Zeit, die ohne sie voranschreite. Diese Worte haben bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Ich klicke mich zu der Seite zurück, auf der Emma Nelson Jones erklärt, sie wolle sich Strähnen ins Haar machen lassen, aber ich kann diesen Eintrag nicht mehr finden. Es heißt immer noch, sie sei mit Jordan Jones Jr. verheiratet, aber das Foto von ihm und dem Fisch ist ebenfalls verschwunden.
Wie merkwürdig. Wie kann sich denn etwas, das ich vorhin noch gesehen habe, so plötzlich verändern?
Emma Nelson Jones
Donnerstag, der 19. Mai ist ein Tag, der in die Geschichte eingehen wird. Fragt sich nur, ob in positiver oder in negativer Hinsicht. Ich werde darüber nachdenken, während ich das Essen mache.
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Heute ist der 19. Mai! Das heißt also, dass alles in diesem Moment passiert. Aber heute ist nicht Donnerstag, sondern Sonntag.
Drei Leute haben Emma geantwortet. Haben sie gefragt, was sie gerade kocht. Seltsamerweise hat sie geantwortet, dass sie eines meiner Lieblingsgerichte zubereitet.
Emma Nelson Jones Überbackene Makkaroni. Meine Trostnudeln, die ich jetzt unbedingt brauche.
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Weitere Leute haben sich gemeldet. Haben geschrieben, dass sie auch ein bestimmtes Trostessen hätten. Ganz unten steht etwas, das Emma vor zwölf Minuten geschrieben hat. Als ich es lese, bekomme ich eine Gänsehaut.
4://Josh
Meine Eltern sind spät nach Hause gekommen, also gibt’s bei den Templetons heute Rührei und Hotdogs. An jedem anderen Abend wäre ich begeistert gewesen, doch heute gehen mir zu viele Dinge durch den Kopf. Ich habe versucht, Emma anzurufen, bevor wir uns zum Essen gesetzt haben, bin aber nicht durchgekommen.
»Du bist ja so still heute«, sagt mein Vater. Er neigt mir die Bratpfanne entgegen und schaufelt noch mehr Pommes auf meinen Teller.
Das Telefon klingelt. Während mein Vater auf den Flur geht, um abzuheben, stochere ich mit meiner Gabel im Rührei. Die Webseite auf Emmas Computer ist mir ein Rätsel. Offenbar hat sich da jemand einen Scherz erlaubt, doch wenn es ein Scherz ist, dann habe ich ihn nicht verstanden. Wenn ich jemand mit so einer fiktiven Zukunftsseite überraschen wollte, dann würde ich mir außergewöhnliche Dinge ausdenken wie einen Lottogewinn oder den Besitz einer Burg in Schottland. Warum sollte man sich wegen ein paar Strähnen im Haar oder einer Angeltour so viel Mühe machen?
Mein Vater kehrt an den Tisch zurück. »Das war Emma. Ich habe ihr gesagt, dass du sie nach dem Essen zurückrufst.«
»Wie geht’s ihr eigentlich?«, fragt mich meine Mutter. »Wollte sie diese American-Online-CD haben?«
»CD-ROM«, sage ich und schiebe mir rasch einen Hotdog in den Mund, um den Rest ihrer Frage nicht beantworten zu müssen.
»Hat Sheila ihr erlaubt, AOL zu benutzen?«, fragt sie weiter.
Ich nicke und beiße ein weiteres Mal ab. Warum hat Emma bloß angerufen? Sie weiß doch, dass meine Eltern nur sehr ungern beim Abendessen gestört werden. Hat sie irgendwelche Ungereimtheiten entdeckt? Irgendeinen Hinweis darauf, dass jemand sie mit dieser Webseite zum Narren halten wollte? Vielleicht hat sie sogar herausgefunden, wer es war!
»Alles verändert sich so schnell, wenn man ein Teenager ist«, sagt mein Vater und löffelt sich ein bisschen Salsa aufs Rührei. »Du und Emma, ihr wart früher so vertraut miteinander. Letzten Sommer haben deine Mom und ich uns fast ein bisschen Sorgen gemacht, weil du dich mit gar niemand anderem mehr getroffen hast.«
»Ich hab mich doch auch mit Tyson getroffen«, entgegne ich.
»Wir meinten eigentlich andere Mädchen.«
»Wenigstens kennen wir Emma gut«, ergänzt meine Mutter. Sie sieht meinen Dad an und lacht. »Weißt du noch, wie David nach der Schule immer zu dieser Jessica gegangen ist, sie aber nie mit hierhergebracht hat? Schließlich haben wir darauf bestanden, dass sie auch mal hier ihre Hausaufgaben machen, und was ist daraus geworden?«
»Am nächsten Tag hat er mit ihr Schluss gemacht«, antwortet mein Vater.
David ist mein älterer Bruder. Meine Eltern hatten eigentlich angenommen, er würde nach der Schule das Hemlock State College besuchen, an dem sie beide Soziologie lehren. Doch stattdessen geht er jetzt in Seattle aufs College, mehr als zweitausend Meilen von hier entfernt. Ich frage mich, ob er sich für den Bundesstaat Washington entschieden hat, um Mom und Dad aus seinem Alltag herauszuhalten. Selbst im Sommer bleibt er dort, um irgendwelche Praktika zu machen. Ich musste in den Osterferien zu ihm fliegen, um ihn mal wieder zu Gesicht zu bekommen.
Erneut klingelt das Telefon. Mein Vater blickt kopfschüttelnd auf die Uhr, doch es klingelt kein zweites Mal.
»Ich bin fertig«, sage ich, wische mir die Hände an der Serviette ab und lasse sie zerknüllt auf meinem Teller liegen.
»Bist du sicher?«, fragt meine Mom. »Es ist doch noch so viel übrig.«
»Ich hab ein bisschen Bauchweh«, sage ich, was nicht völlig gelogen ist. Ich habe ein mulmiges Gefühl, weil Emma offenbar dringend versucht, mich zu erreichen. Ich trage meinen Teller in die Küche, stelle ihn in die Spüle und stapfe den Flur entlang. Das Telefon steht auf einem kleinen Tisch am Fuß der Treppe. Ich nehme den Hörer ab, wähle Emmas Nummer und strecke das Kabel so weit wie möglich, um außer Hörweite meiner Eltern zu gelangen.
Beim ersten Freizeichen ist Emma am Apparat.
»Josh?«, fragt sie atemlos.
»Was ist los? Hast du gerade …?«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, entgegnet sie mit gepresster Stimme. »Ich hab noch mal diese Webseite geöffnet, aber …«
»War sie immer noch da? Wie hast du sie gefunden?« Ich kann meine Aufregung nicht verbergen.
»Kannst du rüberkommen?« Emma klingt, als sei sie den Tränen nahe. »Meine Mom und Martin sind gerade spazieren. Nimm also ruhig den Ersatzschlüssel, um ins Haus zu kommen.«
»Willst du mir nicht erst mal sagen, was los ist?«
»Ich habe das Gefühl, dass die Webseite echt ist«, antwortet Emma. »Und ich bin unglücklich.«
»Das hört man. Aber warum?«
»Ich meine, in der Zukunft. Ich werde niemals glücklich sein.«