Das Buch

In Virginia freut sich ganz Crozet auf den hundertsten Geburtstag von Tally Urquhart. Ihre ehemalige Universität in Fulton richtet ein großes Fest für sie aus. Wie viele andere auch macht sich Mary Minor »Harry« Haristeen auf den Weg, um ihre Tante Tally hochleben zu lassen. Selbstverständlich in Begleitung ihrer tierischen Freunde: Mrs. Murphy, Pewter und Tucker. Ausgerichtet wird das Fest vom Verein der Ehemaligen, allesamt erfolgreiche Frauen, die sich zudem erhoffen, bei diesem Anlass in großem Stile Spenden sammeln zu können. Doch nichts verläuft wie geplant. Vor den Augen aller geraten die Vereinsfrauen in Streit, und dann vereitelt ein Schneesturm die Anreise vieler geladener Gäste. Die Veranstaltung droht endgültig im Chaos zu versinken, als eine Leiche gefunden wird. Zum Glück ist Harry vor Ort, und gemeinsam mit Mrs. Murphy & Co. macht sie sich daran, den Fall zu lösen – und das Fest für Tante Tally zu retten.

Die Autorin

Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Titel Rubinroter Dschungel und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Koautorin.

Mehr Infos unter www.ritamaebrown.com

Von Rita Mae Brown sind in unserem Hause bereits erschienen:

In der Krimiserie »Ein Mrs.-Murphy-Krimi«:

Die Katze lässt das Mausen nicht ·Schade, dass du nicht tot bist

Rache auf leisen Pfoten · Mord auf Rezept

Die Katze im Sack · Da beißt die Maus keinen Faden ab

Die kluge Katze baut vor · Eine Maus kommt selten allein

Mit Speck fängt man Mäuse · Die Weihnachtskatze

Die Geburtstagskatze · Mausetot

Weitere Titel der Autorin in der Krimiserie mit Sister Jane:

Auf heißer Fährte · Fette Beute

Dem Fuchs auf den Fersen · Mit der Meute jagen

Schlau wie ein Fuchs

Außerdem:

Die Sandburg

   

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,
wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,
Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Irwyn Applebaum und Barb Burg
in Dankbarkeit und
herzlichem Andenken gewidmet

Personen der Handlung

Mary Minor Haristeen. »Harry« ist fleißig, wachsam und meistens gut gelaunt. Sie hat soeben die vierzig überschritten, somit ist sie lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass das Leben selten so verläuft, wie man es erwartet. Aber das ist nicht unbedingt ein Nachteil.

Pharamond Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin. »Fair« ist ein großer, kräftig gebauter Mann. Er ist empfindsamer als seine Frau und kann die Gefühle der Menschen oft besser deuten.

Tante Tally Urquhart. Sie steht kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag und ist bereit für die nächsten hundert Jahre. Das alte Mädchen erkennt, wenn der Kaiser keine Kleider trägt, und erfreut sich an dieser Erkenntnis.

Inez Carpenter, Doktor der Veterinärmedizin. Inez und Tally haben sich an der William-Woods-Universität kennengelernt. Sie ist jetzt achtundneunzig. Sie hat Fair in seinen ersten Berufsjahren angeleitet und ist stolz auf seinen Erfolg in der Tiermedizin. Sie selbst zählt zu den meistgeachteten Tierärzten des Landes und gilt als Pionierin für den Fortschritt der Frauen auf diesem Gebiet.

Marilyn Sanburne sen. »Big Mim« ist Tallys Nichte. In wohlhabende Verhältnisse hineingeboren, kann sie zuweilen ein Snob sein, doch alles in allem ist sie ein guter Mensch. Mit über siebzig gibt sie sich große Mühe, den Standpunkt anderer Menschen zu sehen.

Marilyn Sanburne jun. »Little Mim« weiß, dass sie nie so viel Macht in der Gemeinde haben wird wie ihre einflussreiche Mutter. Als Reaktion hierauf ließ sie sich zur Vizebürgermeisterin von Crozet wählen. Sie wird im Laufe der Jahre auf andere Art einflussreich sein.

Mariah D’Angelo. Sie hat 1974 an der William-Woods-Universität ihren Abschluss gemacht. Die erfolgreiche Geschäftsfrau ist Inhaberin eines edlen Schmuckgeschäftes in Kansas City, wo sie die Vorsitzende des dortigen WWU-Ehemaligenverbandes ist. Sie kann Flo Langston nicht ausstehen.

Flo Langston erwidert diese Abneigung. Sie konnte Mariah schon nicht leiden, als sie zusammen Studienanfängerinnen waren, und sie kann sie auch heute nicht leiden. Flo hat als Investmentbankerin ein Heidengeld verdient, und sie ist Vorsitzende des WWU-Ehemaligenverbandes von St. Louis. St. Louis und Kansas City sind so verschieden wie Tag und Nacht; vielleicht spiegelt sich dies in der Antipathie zwischen Flo und Mariah wider.

Liz Filmore. Sie ist Ende dreißig und Vorsitzende der WWU-Ehemaligen-Ortsgruppe in Richmond, Virginia. Sie betrachtet Flo als ihre Ratgeberin. Flo schweigt zu diesem Thema, doch die zwei sind in ständigem Kontakt. Liz verwaltet Inez Carpenters Wertpapierbestand.

Terri Kincaid. Sie ist ein paar Jahre jünger als Liz und eine gute Freundin von ihr. Auch sie ist WWU-Absolventin. Sie steht der kleinen Ehemaligen-Ortsgruppe in Charlottesville, Virginia, vor und besitzt und führt ein Geschäft auf der Nordseite des Barracks-Road-Einkaufszentrums. Terri hat sich auf teure französische und italienische Keramik und Porzellane verlegt. Sie ist ein kleines Nervenbündel.

Garvey Watson ist der Inhaber von Thompson und Watson, einem exklusiven Herrenbekleidungsgeschäft unmittelbar neben Terri Kincaids Laden. Er ist Anfang siebzig, freundlich, in der Gemeinde beliebt. Er ist außerdem Afroamerikaner. Garveys viele weiße Freunde sehen ihn nicht als Schwarzen, was sowohl gut als auch schlecht sein kann. Er ist einfach Garvey Watson, sieht aber in den meisten Belangen all die grauen Schattierungen, die seine Freunde oft nicht wahrnehmen.

Dr. Jahnae Barnett. Die Rektorin der Universität sprudelt über von Energie, Ideen und der Leidenschaft für Bildung und Erziehung. Sie gehört zu den Menschen, die das Beste aus anderen herausholen können.

Miss Gayle Lampe ist überhäuft mit Titeln, Preisen und Schleifen vom Turnierplatz, trotzdem misst sie alledem keinen Wert bei. Sie konzentriert sich auf die schönen Saddlebred-Pferde und die jungen Menschen in William Woods, die sie reiten. Wie die oben erwähnte Rektorin dieser einmaligen Hochschule, die sich der Entwicklung des absoluten Individuums verschrieben hat, ist sie herzlich und zugänglich.

Kenda Shindler. Dr. Barnetts Assistentin ist die ideale Person für diesen Job. Sie ist positiv eingestellt, geht gern ins Detail und keinem Problem aus dem Weg.

Trudy Sweetwater. Die prosaische Frau aus Fulton, die 1996 in William Woods ihren Abschluss gemacht hat, leitet den Ehemaligenverband in der Stadt, in der die Universität beheimatet ist. Sie verfügt über gesunden Menschenverstand, der, wenn man es recht bedenkt, nicht allen gesunden Menschen gegeben ist.

Die wirklich wichtigen Figuren

Mrs. Murphy. Die hochintelligente Tigerkatze ist behände und liebt ihre Menschen ebenso wie den Hund, mit dem sie dieses Leben teilt. Sie liebt auch die andere Katze, findet dies aber schwieriger, als den Hund zu lieben.

Pewter. Die andere Katze ist rundlich, grau und entsetzlich egozentrisch. Wie meine Südstaaten-Mutter über Pewter gesagt haben würde: »Sie ist dick wie eine Zecke und badet in Eigennutz, du liebe Güte.« Trotzdem ist Pewter im Notfall für andere da.

Tee Tucker. Sie ist ein Pembroke Corgi, voll Enthusiasmus und von hellem Verstand. Sie liebt Harry und Fair und hängt auch an Mrs. Murphy und Pewter, obwohl es da zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten kommen kann. So großartig sie und alle Corgis sind, laden Sie sie lieber nicht zu Ihrer Cocktailparty ein. Sie würde versuchen, die Gäste zu hüten.

Simon. Das Opossum wohnt auf dem Heuboden von Harrys Stall. Er ist ein lieber Kerl, wenn auch etwas einfältig.

Doodles. Der junge Gordon Setter gehört Tante Tally. Er weiß, dass sein Mensch alt ist, sei sie auch noch so robust, und er passt auf sie auf.

Erno. Er ist ein prachtvoller Wischler und gehört Inez Carpenter. Auch er ist jung, vielseitig begabt und lernt von den anderen, wie das Leben ist. Er liebt Inez.

1

Auf dem freigeschaufelten Ziegelweg ging eine einsame Gestalt. Der winterschlafende Garten glitzerte im Frost. Der Himmel hing so tief, dass man meinte, ihn berühren zu können.

Tante Tally Urquhart, die in zwei Wochen ihren hundertsten Geburtstag begehen würde, rief nach Doodles, ihrem Gordon Setter.

Der junge Hund lief folgsam zu seinem Frauchen. Tante Tally stützte sich auf ihren Stock, dessen silberner Griff die grazile Form eines Jagdhundkopfes hatte. Abgesehen davon, dass sie infolge der üblichen unfreiwilligen Trennungen vom Sattel, die allen Reitenden widerfahren, den Stock benutzen musste, wies sie nur wenige Anzeichen ihres hohen Alters auf. Hätte man sie gesehen, wie sie beim Gehen auf den Boden blickte, würde man sie auf etwa achtzig geschätzt haben.

»Gibt noch mehr Schnee.« Sie blinzelte an diesem Mittwoch, dem II. März, zum Himmel.

Doodles, der mit schärferen Sinnen ausgestattet war, erwiderte: »Vor Sonnenuntergang.«

Auf das kurze Jaulen hin streichelte Tante Tally den Kopf des Hundes. Dann zog sie den Kaschmirschal enger um sich und setzte ihren Weg fort.

Ein tiefes Rattern ließ Doodles aufhorchen, der sowohl das typische Geräusch des Motors als auch das der Reifen erkannte. Hunde identifizieren ein Fahrzeug mühelos am Reifen- und Motorgeräusch. Menschen können das nicht.

Doodles sprang schwanzwedelnd zur Vorderseite des Hauses, wo Tallys Nichte Marilyn »Big Mim« Sanburne ihren nagelneuen Dodge-Halbtonner geparkt hatte. Der Hund ging mit Mim auf die Rückseite des Hauses zu Tante Tally.

Big Mim, scherzhaft »Queen von Crozet« genannt, war eine gebieterische Frau. Doch selbst sie war zuweilen der zierlichen, schlanken Tally unterlegen.

»Was machst du hier draußen? Wir haben minus vier Grad.«

»Ich guck nach meinen Krokussen. Ein Schößling hier, ein Schößling da, und schon denke ich an die Judasbäume.«

Big Mim stemmte eine behandschuhte Hand in die Hüfte. »Judasbäume blühen erst um den fünfzehnten April herum voll auf. Das weißt du doch.«

»Klar weiß ich das. Was nicht heißt, dass ich nicht schon mal nachgucken kann.« Sie klopfte mit dem Stock auf den alten Ziegelweg. »Ich sehne mich nach dem Frühling. Der Winter bringt mich noch um.«

»Du bringst dich noch selbst um, wenn du nicht aus der Kälte kommst. Du holst dir den Tod.«

»Den holt man sich nicht so leicht wie einen Schnupfen«, versetzte die alte Dame.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Big Mim nachsichtig. »Bist du so weit, oder brauchst du noch was aus dem Haus?«

»Muss nur den Hund reinlassen.« Tante Tally ging zur Hintertür, öffnete sie, und Doodles, froh über die Wärme, flitzte hinein.

»Handtasche?« Big Mim hob eine Augenbraue.

»Mein Portemonnaie hab ich in der Manteltasche. Handtaschen sind eine Plage. Selbst wenn ich eine finde, die sich gut über die Schulter hängen lässt, rutscht sie früher oder später runter. Es ist schwierig, eine Handtasche zu tragen, wenn man am Stock geht.«

»Kann ich mir denken.« Big Mim ging auf die Beifahrerseite ihres blauen Transporters und hielt Tally die Tür auf. Die alte Dame stieg ohne Hilfe ein.

Als sie auf der Straße waren, plauderten die zwei, wie es nur zwei Menschen können, die sich zeit ihres Lebens kennen. Tante Tally war knapp dreißig gewesen, als Big Mim auf die Welt kam. Das war ein Freudentag gewesen. Infolge einer verhängnisvollen Liebesgeschichte in ihrer Jugend war Tante Tally vor einer Heirat zurückgeschreckt, nicht aber vor Affären. Sie behandelte Big Mim wie eine eigene Tochter, was zu etlichen Auseinandersetzungen mit Tallys geliebter, inzwischen längst verstorbenen Schwester geführt hatte. Später war ihr ein Bruder von Big Mim gefolgt; er war auf dem berüchtigten Todesmarsch von Bataan umgekommen. Abgesehen von Zorn und Kummer hatte dies zur Folge, dass kein Urquhart der kommenden Generationen je ein japanisches Auto oder sonst ein japanisches Produkt kaufte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Es war bei allen alten virginischen Familien üblich, ungeachtet von Generationen von Heiraten auf der männlichen wie auf der weiblichen Seite, sich den Nachnamen des ersten Europäers unter ihren Vorfahren zu geben, der seinen Fuß auf virginischen Boden gesetzt hatte. In diesem Fall war es ein Urquhart gewesen.

»Deine Rede?«

Tante Tally, die starr geradeaus sah, hob die Stimme ein wenig. »Och, Mimsy, ich mache mir Notizen. Ich lese sie. Ich verwerfe sie. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, mich dort hinzustellen und Plattitüden und Gefühlsduseleien zu salbadern. Mir ist nichts eingefallen, was ich sagen möchte.«

»Das ist ja mal was ganz Neues.«

Tante Tally hörte darüber hinweg und konzentrierte sich auf eine Straßeneinmündung, auf die sie gerade zufuhren. Tallys Farm »Rose Hill« lag ungefähr sechseinhalb Kilometer westlich von Harrys Anwesen. Sie waren auf dem Weg nach Crozet an Harrys Farm vorbeigekommen und erreichten jetzt die Stelle, wo eine Lehmstraße in die zweispurige Schnellstraße mündete, auf der sie sich befanden.

»Ich kann hier nie vorbeifahren, ohne an Ralston Peavey zu denken.« Tante Tally nahm ihren Stock auf die linke Seite. »Seinen Mörder hat man nie gefasst.«

»Jemand wollte Ralston unbedingt aus dem Weg räumen.« Big Mim erinnerte sich an den Fall. »Es war im Herbst, nicht wahr?«

Tante Tally nickte. »Leichter Frost, stellenweise Nebel.«

»Neunzehnhundertvierundsechzig. Das ist mir im Gedächtnis geblieben, weil Jim in dem Jahr zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt wurde.«

Jim Sanburne, ihr Ehemann, war seither Bürgermeister geblieben, und Little Mim, die Tochter, war jetzt Vizebürgermeisterin. Der Witz war, dass Vater und Tochter verschiedenen politischen Parteien angehörten. Die Kleinstadt Crozet scherte sich nicht um Amtszeitbegrenzungen. Jim, der ein guter Bürgermeister war, würde sein Amt höchstwahrscheinlich bis zum Tage seines Todes ausüben.

»Jim hat den Anruf von Dinny Myers entgegengenommen; ich wünschte, den Mann hätten wir noch. Das war ein Sheriff mit Verstand«, murmelte Tante Tally.

»Oh, Verstand hat unser jetziger auch. Du denkst eben, alles war besser, als du jünger warst.«

»War’s ja auch.« Tante Tally hob die Stimme. »Das Land geht den Bach runter. Ich will mich nicht darüber auslassen, das würde mir sonst den Tag verderben. Aber das musst sogar du zugeben, Ralston Peavey war der beste Hufschmied, der dir je unter die Augen gekommen ist.«

»Stimmt.«

Erfreut über ihren kleinen Triumph, rief Tante Tally die Einzelheiten wach, als sie über die betreffende Stelle fuhren. »Genau hier wurde Ralston gefunden, er lag mitten auf der Straße. Überfahren und noch mal rückwärts drüber. Um sicherzugehen, dass er tot war, nehme ich an.«

»Jim hat ihn gesehen, ehe Dinny die Leiche wegschaffen ließ. Die Reifenspuren waren eindeutig, hat er gesagt. Sie hofften, den Mörder anhand der Reifenprofile zu finden. Ist ihnen allerdings nicht gelungen.«

»Dinny und seine Abteilung haben sämtliche Reifen in dieser Gegend untersucht. Er konnte die Untersuchung nicht auf ganz Albemarle County ausdehnen, aber in Crozet war er gründlich. Nichts. Keine Spur. Manche Leute dachten, wer das getan hat, war nicht von hier. Ich nicht. Ich denke, es war einer von uns.«

Big Mim ging in einer Kurve vom Gas. »Hm, Ralston konnte saufen. Er hatte ganz schön geladen.«

»Er lag nicht mitten auf der Straße, weil er betrunken war.«

»Sein Wagen stand am Straßenrand.« Big Mim, die Spaß an ihrem neuen Transporter hatte, beschleunigte wieder. »Ich denke immer noch, er hatte was mit einer verheirateten Frau, und ihr Mann ist dahintergekommen und hat ihn umgebracht.«

»Kann sein, aber wir wissen alle, wer auf solchen Pfaden wandelte. Er hatte so etwas noch nie getan. Zwei Kinder – warte – acht und zehn, und er ist anscheinend gut mit ihnen klargekommen. Ich frage mich, ob es nicht was anderes war. Drogen konnten es nicht sein. Das hatte damals noch nicht angefangen.«

»Ich kann mir Ralston nicht als Dealer vorstellen. Obwohl, als Hufschmied hatte er den idealen Job, um das Zeug abzusetzen.«

»Nein.« Tante Tally schüttelte den Kopf. »Das war was anderes.«

Big Mim meinte nach einer Pause: »Sagen wir einfach, kein Stein ist unumgedreht geblieben.«

»Einer doch, sonst hätten wir den Mörder.« Tante Tally runzelte die Stirn.

»Vielleicht ist er längst gestorben, nach so langer Zeit.«

»Mimsy, ich habe eine Menge erlebt. Eines Tages, vielleicht zweitausendfünfzig, drängt die Wahrheit ans Licht. Tut sie immer.«

»Hast du mit Inez gesprochen?« Big Mim meinte Tante Tallys beste Freundin, die zwei Jahre nach Tante Tally an der William-Woods-Universität – damals hieß sie noch William Woods College – Examen gemacht hatte. Die ausgezeichnete Lehranstalt in Fulton, Missouri, hatte Tante Tally erstmals einen Geschmack vom Leben außerhalb Virginias vermittelt.

»Sie fliegt wegen der Vorstandssitzung des Ehemaligenverbands schon zwei Tage vorher hin.«

»Gut. Harry fährt mit dem Auto.«

Mary Minor »Harry« Haristeen hatte nicht an der William Woods studiert. Sie war Absolventin des Smith College. Vierzig Jahre alt und am treffendsten als attraktiver Wildfang beschrieben, hatte sie sich ganz auf ihre wahre Liebe, die Landwirtschaft, verlegt, nachdem sie vor zwei Jahren ihre Stelle beim Postamt gekündigt hatte. Harry wollte an der von Tante Tallys Alma Mater ausgerichteten Feier teilnehmen, weil sie die alte Dame gern hatte und wusste, dass man dieses Ereignis nicht verpassen durfte, zumal die temperamentvolle Dame eine Rede halten würde. »Wird Harry gut tun, mal wegzukommen«, meinte Tante Tally.

In diesem Augenblick hatte Harry mit niemand Geringerem als einer Absolventin von William Woods alle Hände voll zu tun.

2

Die Vase war aus Italien. Du wirst sie mir natürlich ersetzen.« Terri Kincaid, die sich hinter der Ladentheke verschanzt hatte, richtete einen scharfen Blick auf Harry.

Die zwei Frauen, die altersmäßig nur drei Jahre auseinander waren – Terri war siebenunddreißig –, kannten sich schon lange. Harry, ein natürliches, hübsches Mädchen vom Land, machte sich nichts aus den Utensilien der Weiblichkeit. Terri lebte dafür. Die beiden waren wie Öl und Wasser.

Liz Filmore aus Richmond, eine Freundin von Terri und wie sie eine Absolventin der William Woods, war Zeugin von Harrys peinlicher Situation.

Garvey Watson, die Arme verschränkt, die Lippen geschürzt, war ebenfalls zugegen. Der große, elegante Afroamerikaner war der Besitzer des florierenden Herrenbekleidungsgeschäfts nebenan. Garvey war ein begnadeter Kaufmann.

Harry dachte, seine geschürzten Lippen kämen vielleicht von Verärgerung über die zerbrochene Vase.

Tucker, Harrys Corgihündin, saß bekümmert zu ihren Füßen. Der Hund war von einem hinausgehenden Kunden angerempelt worden und hatte infolgedessen die Vase umgestoßen, die auf einem niedrigen schmiedeeisernen Tisch stand. Es war nicht Tuckers Schuld, aber was konnte Harry sagen?

Harry hatte die Keramikscherben aufgelesen und auf die Theke gelegt. Die dicken Schichten aus grüner und gelber Glasur waren sehr hübsch.

Harry, die mit Geld äußerst sparsam umging, zuckte zusammen. »Wie viel?«

»Zweihundertneunundvierzig Dollar zuzüglich fünf Prozent Mehrwertsteuer«, erklärte Terri.

Harry zog ihr Scheckheft und einen Stift aus der Innentasche ihrer dicken Winterjacke.

Während Harry den Scheck ausschrieb, plapperte Terri drauflos: »Ich bin ja so aufgeregt. Wir haben schon zwanzigtausend Dollar von hiesigen Ehemaligen zusammen, dabei hab ich noch nicht mal angefangen. Liz nimmt die ganze Rede auf Video auf, um sie bei künftigen Spendensammelaktionen einzusetzen.« Liz und Terri hielten zusammen wie Pech und Schwefel. »Ich wünschte so sehr, ich könnte dabei sein, aber wir veranstalten hier eine extra Geburtstagsparty zum Spendensammeln. Ich kann nicht aus dem Laden weg, zumal wenn das Wetter gut wird. Die Leute geben mehr Geld aus, wenn sie Frühlingsgefühle haben.«

»Wollen wir’s hoffen«, sagte Garvey. »Der Wirtschaft geht’s mies. Die Leute halten sich zurück.«

Liz wandte ein: »Garvey, die Leute brauchen immer was zum Anziehen. Terris Geschäfte mögen schlecht laufen, aber sie wird das Tief überstehen. Und du auch, es sei denn, die Männer wollen nackt rumlaufen – eine schauerliche Vorstellung. Eljo ist dein einziger Konkurrent.« Sie sprach von einem guten Herrenbekleidungsgeschäft auf der Elliewood Avenue unweit der Universität von Virginia.

»Ich hoffe sehr, dass du recht hast«, murmelte Garvey, klang aber keineswegs überzeugt.

Mit einem breiten Lächeln nahm Terri Harrys Scheck entgegen. »Deinen Ausweis will ich mal nicht verlangen«, witzelte sie.

»Schön.« Harry gab sich gelassen, aber für sie war Terri eine ständige Nervensäge, und ihr Geschrei wegen der zerbrochenen Vase bestärkte sie in dieser Ansicht.

»Weißt du schon, dass alle Ehemaligen über achtzig teilnehmen werden? Es sind vierzig. Ist das nicht wunderbar? Unser Ehemaligenfonds zahlt den Flug für die, die ihn sich nicht leisten können, und die Motels in und um Fulton machen uns einen Sonderpreis.«

»Großartig«, meinte Harry verkniffen.

Mehr als zweihundertfünfzig Dollar rauszurücken, das nagte an ihr.

Terri, der es nicht lag, Groll herunterzuschlucken, würde die Flammen des Unmuts angefacht haben, wenn Harry sich gegen die Zahlung gesträubt hätte. Harry verachtete diesen Zug bei Männern wie Frauen. Aber sie war keine Landpomeranze. Sie hatte gelernt, ihre Meinung für sich zu behalten, bis sie mit ihrem Mann oder guten Freunden gesprochen hatte. Immer mit der Ruhe. Sie bemühte sich.

Terri war Vorsitzende des William-Woods-Ehemaligen-verbands von Charlottesville und für solch einen Posten ziemlich jung. Als das Institut 1996 auch Männer zuließ, war ein Streit über den Namen des Verbands entbrannt. Sollten sie die alte Bezeichnung abändern, um eindeutig erkennen zu lassen, dass dem Verband nunmehr Frauen und Männer angehörten? Die ehemaligen Damen waren dagegen. Fast ihr Leben lang hatten sie sich mit männlichen Ehrenbezeichnungen und Titeln schmücken müssen. Sollten sich die Männer doch in die alte – im Plural sowieso geschlechtsneutrale – Bezeichnung eingeschlossen fühlen. Davon würde ihr Pimmel nicht schrumpfen.

Somit blieb es bei der alten Bezeichnung.

Derartige Wortklaubereien interessierten Harry nicht, aber sie hatte einen Grundsatz des Lebens begriffen: Männer mussten beweisen, dass sie Männer waren. Frauen mussten nicht beweisen, dass sie Frauen waren. Diese Bürde konnte schwache Männer dumm oder regelrecht gefährlich werden lassen. Starke Männer segelten glatt durch.

Harry konzentrierte sich auf das Wesentliche: animalisches Verhalten, Nahrung, Kleidung, Obdach. Sie stieß immer direkt zum Kern einer Sache vor, was Leute, die sich mit der rauen Wirklichkeit nicht abfinden konnten, nervös machte. Harry wusste, das Tier namens Mensch hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die schwachen Menschen die starken verschlangen. Wie ihre Mutter zu sagen pflegte, »das Rad, das am meisten quietscht, kriegt das Öl«.

Kein Grund, Terri mit der Realität zu belasten, denn Terri gehörte zu den unbedarften Seelen, die glaubten, dass Gesetze die Lösung seien. Man hat ein Problem? Man beschließe ein neues Gesetz.

Liz bemühte sich um bessere Stimmung. »Harry, dein Corgi hat einen guten Geschmack. Das war eine schöne Vase.«

Harry lächelte. »Tucker hat einen besseren Geschmack als ich.«

»Danke schön«, freute sich der Hund.

Garvey scherzte: »Bring sie in meinen Laden. Wenn sie ein Stück zerfetzt oder Schuhe zerbeißt, kann ich mehr bestellen.«

»Garvey, du bist urkomisch.« Harry lachte ihn an.

Terri, eine rechte Modepuppe, fragte Harry: »Weißt du schon, was du anziehst?«

»Hm, tja, es wird vermutlich kalt sein. Ich dachte an den langen wollenen Wickelrock, an den ich vorn die große goldene Brosche stecke.«

»Aber was ist mit dem Abendessen, und dann sind da natürlich noch die Chöre. Sie werden Tante Tally Ständchen bringen. Du brauchst Abwechslung in deiner Garderobe.«

»Ich weiß nicht. Ich überleg mir was.«

»Keine Jeans und Cowboystiefel«, verfügte Terri hochmütig.

»Sag ihr, sie soll gefälligst die Klappe halten«, knurrte Tucker.

»Wir gehen ja gleich.« Harry lächelte zu ihrer ständigen Begleiterin hinunter. »Terri, ich hoffe, die Geschäfte gehen gut.« Damit verließ sie den Laden. Garvey folgte ihr auf dem Fuße.

»Tut mir leid, dass dein kleiner Hund die Vase zerdeppert hat.« Er schauderte, denn es ging ein kalter Wind, und Garvey hatte nur einen Pullover an. »Dieser Pullover würde Fair gut stehen.« Er stieß sich an die Brust.

»Sicher.« Harry nickte. »Er ist ein kleiner Pfau.«

»Ohne Pfauen könnte ich meinen Laden dichtmachen. Wir sehen uns hoffentlich bald.«

Er verschwand in seinem Geschäft.

»Jesses.« Harry sah Tucker an. »Der Wind ist stärker geworden. Richtig schneidend.«

Keine Minute später waren sie am Transporter. Harry machte die Tür auf. Das Auto war ein 1978er Ford F-150. Lief wie eine Eins. Sie hob den Corgi hoch, stieg ein und schloss geschwind die Tür.

»Und?« Pewter, die dicke graue Katze, sah den Hund an.

Mrs. Murphy, die schlanke Tigerkatze, sagte nichts. Sie war froh, als Harry den Motor startete. Weil der Wagen nicht lange gestanden hatte, kam die Heizung gleich auf Touren.

Alle vier blieben einen Moment so sitzen und genossen die Wärme.

Harry hatte immer eine alte Decke auf dem Sitz liegen, damit sich die Tiere reinkuscheln konnten und es warm hatten.

Während Harry vom Barracks-Road-Einkaufszentrum in die Barracks Road einbog, erzählte Tucker den zwei Katzen von der zerbrochenen Vase.

Harry war selten ohne ihre Gefährtinnen unterwegs. Mit wenigen Ausnahmen war deren Freundschaft ihr das Wichtigste auf der Welt. Zum einen logen sie sie nie an, zum anderen hatten sie nichts dagegen, wenn sie Jeans und Cowboystiefel trug, dazu Ohrringe und Wimperntusche – zwei Zugeständnisse an Weiberkram. Sich mit ihrem Gesicht und ihrer Kleidung zu befassen, war ihr einfach zu viel Arbeit. Sie hatte Wichtigeres zu tun.

In dem alten Transporter gab es keine Becherhalter, aber Harry hatte einen eingebaut. In den steckte sie ihr Handy, das anfing zu klingeln. Sie benutzte es nie beim Fahren, weil sie ihre Konzentration behalten wollte.

Sie hatte schon einen ausgefüllten Tag hinter sich. Früh um halb sechs hatte sie Fair, ihrem Mann, und sich Frühstück gemacht. Er war danach in seine Praxis für Pferdemedizin gefahren. Sie hatte die Pferde gefüttert, die Boxen ausgemistet, die Pferde mitsamt Decken ins Freie gebracht. Sie hatte bei Southern States angerufen, einer regionalen Kette für Landwirtschaftsbedarf, und ihre Saat- und Düngerbestellung aufgegeben. Bei frühzeitiger Bestellung schlug sie einen kleinen Nachlass heraus. Mannomann, es ging trotzdem ins Geld.

Aufgrund des regen Verkehrs bog sie fünfunddreißig Minuten nach Verlassen des Einkaufszentrums in die anderthalb Kilometer lange Zufahrt zu ihrer Farm ein. Sie parkte den Transporter vor dem Stall, um sich das Vordach zunutze zu machen. Die Luft roch nach Schnee. Wenn das Wetter ungemütlich würde, bekäme die Windschutzscheibe dank des Vordachs nicht so viel Schnee ab.

Sie klappte das Handy auf, um nach dem verpassten Anruf zu sehen. Big Mim.

Sie lief schnell in das alte Farmhaus zum Festnetzapparat.

Als Big Mim die bekannte Stimme vernahm, fiel sie gleich mit der Tür ins Haus. »Harry, Sie sollen Inez Carpenter in Richmond anrufen.«

»Geht klar.«

Harry tat wie geheißen.

Trotz ihrer achtundneunzig Jahre hatte Tallys beste Freundin eine kräftige Stimme.

Sie plauderten ein paar Minuten, bevor Inez zur Sache kam. »Harry, wie Sie wissen, bin ich die Vorsitzende der Ortsgruppe des William-Woods-Ehemaligenverbands hier in Richmond – nun gut, ich bin emeritiert. Der Vorstand möchte Tally etwas Persönliches von uns schenken. Ich werde mich hüten, Mim zu fragen. Sie würde abwinken. Haben Sie eine Idee?«

»Sie wünscht sich ein Purpurschwalbenhaus.« Harry sprach von einem schönen insektenfressenden Vogel mit einem spezifischen Nestbedürfnis. Purpurschwalben kehrten im Frühling nach Virginia zurück und wohnten gern in Kolonien. Mehrere an gekreuzten Latten aufgehängte Flaschenkürbisse oder große Vogelhäuser mit vielen Unterteilungen sagten ihnen zu. Man musste ihre Behausungen gründlich säubern, wenn sie diese über den Herbst und Winter verließen. Ein der Schar vorausfliegender Späher kam im Februar, um die Einrichtungen zu inspizieren. Waren sie schmutzig, kehrte die Purpurschwalbe nicht mehr zum Nisten dorthin zurück.

»Oh.« Inez hob die Stimme um eine Nuance. »Eine gute Empfehlung.« Sie legte eine Pause ein. »Sie haben Sinn für Rätsel. Wenn wir in Fulton etwas Zeit haben, habe ich eins für Sie. Das bleibt aber unter uns.«

»Klingt spannend.«

Hierauf folgte eine sehr lange Pause, und die knapp Hundertjährige senkte die Stimme. »Vielleicht zu spannend.«

3

Möchte wissen, um was es da geht.« Harry hatte Fair soeben von ihrem Telefonat mit Inez berichtet.

»Inez neigt nicht zu Übertreibungen.« Er spießte das letzte Stück Steak von seinem Teller auf die Gabel, das er zuvor sorgfältig vom Fett befreit hatte.

Tucker, Mrs. Murphy und Pewter saßen aufmerksam zu seinen Füßen. Harry hatten sie bereits bearbeitet.

»Ich werd’s schon noch rauskriegen. Sie wollte es mir nicht am Telefon sagen.«

»Dann hat es mit jemandes Leumund zu tun, oder es ist was Heikles.« Fair genoss die Wärme, die ein voller Magen spendet.

»Da könntest du recht haben. Inez wird niemanden in den Schmutz ziehen wollen. Sie mag ihre Zweifel haben, aber sie hält sich zurück, bis sie sich ganz sicher ist. Ich habe viel von ihr gelernt.«

»Ich auch.« Er lächelte.

Inez hatte Bibliothekarin werden wollen, als sie das William Woods College besuchte, sich aber nach dem Abschluss anders entschieden und beschlossen, Pferdeärztin zu werden. Sie ging wieder aufs College, belegte organische Chemie und andere naturwissenschaftliche Fächer, bewarb sich dann an der Cornell-Universität. Sie wurde als einzige Frau ihres Jahrgangs zugelassen, und als sie wieder nach Virginia zog, war sie die einzige Pferdeärztin im Staat. Die Götter hatten ihr eine große Begabung geschenkt. Sie sah, was andere Tierärzte, denen das Gespür für Pferde fehlte, nicht sehen konnten. Manche Leute dachten, Inez könne die Gedanken eines Pferdes lesen. Im Laufe von zehn Jahren wurde sie von einigen Leuten beneidet, während andere von purer Eifersucht geplagt wurden. Viele aber bewunderten sie. Sie zählt zu den besten Tierärzten Virginias. Mit fünfzig galt sie als eine der besten in den Staaten.

Als Fair einen Praktikumsplatz suchte, stellte Inez ihn ein. Ihre Praxis umfasste die Bezirke westlich von Richmond. Sie hatte sich auf Pferdefortpflanzung spezialisiert. Fair wurde ihr Stellvertreter. Sie prahlte stets mit ihm, er sei nicht nur ihr bestaussehender, sondern überhaupt ihr bester Stellvertreter. Auch er besaß ein Gespür für Pferde, er lernte, sich ebenso auf seine Eingebung zu verlassen wie auf die Methodik.

Als seine Praktikumszeit um war, richtete Fair in seiner Heimatstadt Crozet, Virginia, eine Klinik ein und verschuldete sich hoch. Inez schusterte ihm so viele Patienten wie möglich aus Louisa County zu, ihrem westlichsten Bezirk. Sie schleppte ihn zu Konferenzen mit. Ihr Glanz färbte auf ihn ab. Er war aber auch verdammt gut.

»Du hast doch sicher noch einen Brocken Fett auf dem Teller?« Pewter stand auf den Hinterbeinen und schlug Fair mit der Vorderpfote ans Bein.

Fair richtete seine blauen Augen auf die rundliche Katze. »Ich würde mich schämen, so dick zu sein.«

Dennoch warf er ihr einen Fettbrocken hin, Mrs. Murphy und Tucker bekamen auch einen.

Pewter ließ ihm die Beleidigung durchgehen. Der Leckerbissen schmeckte einfach zu gut.

»Ich bin froh, dass du es geschafft hast, zum Abendessen zu Hause zu sein.«

»Kommt mir vor, als wär’s Wochen her.« Er lehnte sich seufzend zurück.

»Ist es auch.«

Die Fohlzeit setzte im Januar ein, insbesondere bei Vollblütern, und dauerte bei anderen Rassen bis in den April hinein. Gelegentlich wurde ein spätes Fohlen sogar erst im Juni geboren. Wie Menschen kamen Fohlen nach ihrem eigenen Zeitplan, und das schien immer mitten in der Nacht zu sein. Fair hatte gelernt, Schlaf abzuknapsen, wann immer es ging. Er konnte notfalls im Stehen schlafen.

In neunundneunzig Prozent der Fälle kam das Junge gesund zur Welt. Gelegentlich hatte man es mit Geburtsfehlern zu tun. Manche ließen sich durch eine Operation korrigieren, andere dagegen waren hoffnungslos, dann musste das Tier eingeschläfert werden. Hin und wieder gab es ein Problem mit der Mutter. Glücklicherweise war diese Fohlsaison sehr gut verlaufen, mit wenigen Unannehmlichkeiten, und heute Abend hatte Fair es zeitig nach Hause geschafft. Mit etwas Glück könnte er sogar sieben Stunden schlafen.

»Ich denke, ich nehme den Transporter für die Fahrt nach Fulton. Er frisst Sprit, aber die lange Strecke ist vielleicht zuviel für den 78er.«

»Wie lang?« Fair lächelte, weil Pewter sich zufrieden neben Harry plumpsen ließ.

»Sechzehn Stunden. Könnten weniger werden, wenn ich hellwach bin. Aber ich denke, ich nehme mir zwei Tage Zeit und übernachte bei Joan und Larry in Kentucky.« Sie sprach von zwei guten Freunden. Joan Hamilton war die Besitzerin des Gestüts Kalarama, das Saddlebred-Pferde züchtete. Larry Hodge, ihr Ehemann, trainierte diese und anderer Leute Pferde für Turniere. Er besaß ein eigenes Anwesen namens Simmstown, das er vermietete. Er war außerdem ein begabter Auktionator. Die zwei waren ein großartiges Paar, wie Abbott und Costello oder Ginger und Fred.

»Nimm ihnen Bilder von Shortro mit.«

Harry nickte. Eine Kundin von Joan hatte ihr Shortro überlassen. Er war ein Schimmel-Saddlebred und gerade vier geworden. Er war klug, freundlich und lerneifrig, und Harry hatte sich in den Burschen verliebt.

Fair griff nach seinem Bier und sah aus dem Küchenfenster. »Der Winter gibt keine Ruhe.«

»Ja, aber die Schneeglöckchen zeigen schon ihre Köpfchen. Bald spitzen meine Krokusse raus. Früher oder später zieht der Winter sich zurück.«

»Ich find’s schön, wenn Schnee liegt, aber im März bin ich wie alle Menschen reif für den Wechsel.« Er machte eine Pause. »Der Transporter. Nein, Schatz, nimm den nicht. Ist ein toller Wagen, aber du wirst nicht sechzehn Stunden mit der Doppelbereifung fahren wollen. Allein der Wenderadius macht dich fertig, wenn du dich durch St. Louis fädelst. Das ist so ein blöder Engpass.«

»Stimmt. Aber ich mag St. Louis. Wenn sie bloß mehr Brücken über den Mississippi und eine neue Umgehungsstraße bauen würden.«

»Wenn man bedenkt, wie schadhaft die Brücken sind, werden sie es vielleicht müssen. Der Mississippi ist tückisch. Dabei fällt mir ein, ich muss unbedingt mal wieder Leben auf dem Mississippi lesen.«

»Und womit soll ich nun fahren? Fliegen kommt nicht in Frage. Zum einen könnte ich die Kinder nicht mitnehmen. Zum anderen ist es voll und eng, die Maschinen haben Verspätung oder fallen aus, man kriegt nicht mal ein Sandwich, und man muss dafür bezahlen, dass das Gepäck untersucht wird, und ein Flugzeug verschmutzt die Umwelt achtmal mehr als ein Zug. Ich persönlich finde, der Luftverkehr muss bald der Vergangenheit angehören, wenn wir wirklich umweltfreundlich werden wollen.«

»Vergiss es. Die Unternehmerlobbys schert es doch keinen Deut, was gut für die Umwelt ist, und erst recht nicht, was gut für das Land ist.« Er leerte sein Glas. »Und die Öffentlichkeit gibt sich der Täuschung hin, dass Energiesparlampen und Elektroautos das Problem lösen werden. Wenn wir unsere umweltschädlichen Branchen wie den Luftverkehr nicht stufenweise abbauen, sind wir geliefert.« Er hielt inne. »Es ist kompliziert, ich weiß. Wenn wir diese Branchen auflösen, ohne neue aufzubauen und die Menschen für die Arbeit in den neuen umzuschulen, schaffen wir entsetzliche Härtefälle für Teile unserer Bevölkerung. Es gibt keine einfache Lösung, aber es gibt Lösungen.« Fair setzte sich leidenschaftlich für Umweltthemen ein.

»Du hast recht. Die Öffentlichkeit interessiert sich nicht für Habgier, Korruption oder Raubbau an der Umwelt, solange die Leute kriegen, was sie brauchen. Das ist jedenfalls meine Meinung.«

»Nicht brauchen, wollen«, bemerkte Fair scharfsinnig. Er tätschelte Pewters Kopf.

Sie stand wieder auf den Hinterbeinen. Fair hatte seinen Teller geleert, aber er warf ihr ein Stückchen Pastetenkruste hin.

»Ferkel.« Mrs. Murphy ließ die Schnurrhaare nach vorn schnellen. Sie machte sich nichts aus Süßigkeiten oder Pastetenkrusten.

Pewter liebte Teig und Brot jeder Art. »Du bist nicht behindert. Wenn du mehr willst, verlang es.«

»Nee.« Die Tigerkatze machte kehrt und schlenderte aus der Küche.

»Du hast recht. Noch mal zu meinem Problem.«

»Mal überlegen. Ich könnte einen PKW mieten. Wir haben keinen eigenen, und für so eine Reise brauchst du einen.«

»Hier brauche ich keinen. Der alte 78er tut’s voll.«

»Er ist nicht gerade bequem.«

»Ich sitz auf ’nem Kissen.« Sie lächelte und sah dann aus dem Fenster. Sie stand auf, ging hin, um besser erkennen zu können. »Schneeschauer.«

»Mist.«

»Gut, dass ich das Feuer in Gang gehalten habe.«

»Auch im Schlafzimmer?« Das Schlafzimmer war kalt.

»Hab ich erst eingeheizt. Aber ich kann dich wärmen.«

Er lachte. »Hab ich ein Glück.« Dann sagte er gefühlvoll: »Es ist wahr. Ich bin verheiratet mit der Frau, die ich liebe. Ich liebe meine Arbeit. Ich habe großartige Freunde – Menschen und Tiere. Und ich lebe an einem der schönsten Flecken der Welt. Sollte ich je vergessen, dankbar zu sein, knall mir eine.«

»Mach ich.« Harry trank ihren Tee aus. »Hoffentlich bringt das viele Getue um Tante Tally sie nicht um.«

»Tally? Himmel, sie wird uns vermutlich alle überleben.«

»Schon möglich, aber ich hab ein komisches Gefühl dabei.«

Fair hatte gelernt, Harrys Gefühle nicht zu unterschätzen, genau wie er durch Erfahrung gelernt hatte, nicht zu unterschätzen, wenn Inez sagte, einem Pferd sei nicht wohl, auch wenn körperlich nichts zu erkennen war. »Du meinst, sie wird krank oder was?«

»Nein.« Harry stellte die Tasse auf die Untertasse. »Ich kann es nicht richtig festmachen. Es wird eine riesige Spendensammelaktion. Die Zeiten sind hart, darum ist sie besonders wichtig. Dann will diese kriecherische kleine Aufsteigerin Terri Kincaid – die mir übrigens tierisch auf die Nerven geht – hier eine weitere Spendensammlung organisieren. Sie spannen Tally zu sehr ein, finde ich. Ich weiß, dass Inez sich bei der Richmonder Ortsgruppe für eine extra Spendensammlung in Verbindung mit Tallys hundertstem Geburtstag ins Zeug legt.«

»Sie können warten, bis Inez hundert wird. Noch zwei Jahre. Weißt du, dass sie Anfang achtzig war, als ich mein Praktikum bei ihr gemacht habe? Abgesehen von einem schlimmen Rücken – und welcher Tierarzt oder Reiter hat den nicht – sah sie wie fünfzig aus.«

»Manche Menschen sind einfach so. Andere sterben mit dreißig an Lungenkrebs, ohne dass sie je geraucht haben.« Harry hatte sich schon als Teenager damit abgefunden, dass es für solche Dinge keinen erkennbaren Grund gab.

Aber da der Mensch von Natur aus ängstlich ist, braucht er Gründe und erfindet deshalb welche. Zu diesem Schluss waren die Katzen gekommen. Sie hatten auch andere Schlüsse über das Tier namens Mensch gezogen, und nur wenige dieser Schlüsse waren schmeichelhaft. Aber Mrs. Murphy verteidigte Harry und Fair standhaft, indem sie erklärte, sie hätten katzenhafte Eigenschaften.

Tucker liebte ihre Menschen. Es wäre ihr egal, wenn sie anders gepolt wären.

»Noch mal zu deiner Vorahnung.«

»Hab ich Vorahnung gesagt?« Fair schüttelte den Kopf, und Harry fuhr fort. »Hm, ist wohl so. Kommt vielleicht von dem finanziellen Druck. Ich knie mich da zu sehr rein. Aber«, sie suchte nach den richtigen Worten, »ich hab das Gefühl, das könnte ins Auge gehen.«

»Das will ich nicht hoffen.«

»Ich auch nicht, weil das College – ach ja, ist ja jetzt eine Universität – alles richtig macht für das große Fest. Laut Inez und Tally ist William Woods eine der bestgeführten Hochschulen im Land.«

»Stell dir vor, Inez und ich können uns noch heute über unsere jeweilige Alma Mater streiten. Sie findet, dass Cornell die beste ist, ich finde, Auburn ist die beste.« Er stand auf und räumte den Tisch ab. »Hoffen wir, dass alles gutgeht. Falls nicht, bist du weit weg von mir. Das gefällt mir gar nicht.«

»Es hat nichts mit mir zu tun. Es ist ein Gefühl.«

»Harry, wenn irgendwas schiefgeht, steckst du bald mittendrin. Du kannst gar nicht anders.«

»Stimmt«, meldete Tucker.

»Das reicht, Tucker«, schalt Harry den Corgi.

»Sie hat es verstanden«, verkündete Tucker.

»Nein. Sie wollte, dass du aufhörst zu bellen«, entgegnete Mrs. Murphy.

»Ich hab doch bloß einmal kurz gebellt.«