Bärenreiter BasiswissenHerausgegeben vonSilke Leopold und Jutta Schmoll-Barthel
Silke Leopold Dorothea Redepenning Joachim SteinheuerMusikalische Meilensteine111 Werke, die man kennen sollteBand 2: Von Mozarts »Dissonanzenquartett« bis zu Sofia Gubaidulinas »Johannes-Passion«Bärenreiter Kassel BaselLondon New York Praha
Gefördert durch die Landgraf-Moritz-Stiftung, KasselBibliograsche Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe; detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.eBook-Version 2014© 2008 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, KasselUmschlaggestaltung:+ Lektorat: Jutta Schmoll-BarthelRedaktion: Sara Springfeld, HeidelbergKorrektur: Caren Benischek, HeidelbergNotensatz: Joachim Linckelmann, MerzhausenInnengestaltung und Satz: Dorothea Willerding978-3-7618-7004-4104-03www.baerenreiter.comeBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, FreiburgDie Bände dieser Reihe: Grundwortschatz Musik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichMusikalische Meilensteine · 111 Werke, die man kennen sollte2 Bände · von Silke Leopold, Dorothea Redepenning und Joachim SteinheuerMusik und Bibel · 111 Figuren und Motive, Themen und Texte Band 1: Altes Testament· Band 2: Neues Testament· von omas SchippergesMusikalische Formen · 20 Möglichkeiten, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichKlaviermusik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Annegret Huber
In dem Meer der Informationen, die das Internet, die Enzy-klopädien, die wissenschaliche Spezialliteratur bereitstellen, fehlt vor allem eines: Orientierung. Wo anfangen, worauf aufbauen? Welche Begrie muss ich kennen, um zu nden, wonach ich suche? Welche historischen und kulturellen Grund-lagen helfen mir, das schier unendliche Universum der Musik besser zu verstehen? Was muss ich wissen und kennen, um zu neuen, unbekannten Ufern aufbrechen zu können?Bärenreiter Basiswissengibt auf diese Fragen Antworten. Die Bände sind Navigationsinstrumente: Sie helfen, sich in derFlut der verfügbaren Materialien zurechtzunden und Pöcke einzuschlagen, auf denen später Wissensgebäude errichtet werden können. Sie vermitteln Grundlagenwissen und geben Tipps für die Erweiterung des Bildungshorizonts. Komplexes Wissen wird knapp, aber fundiert zusammengefasst.Die Bände sind für Musikinteressierte jeden Alters geschrie-ben, vor allem aber für Schüler und Studierende, die trotz verkürzter Ausbildungszeiten solides Basiswissen erwerben wollen. Sie erleichtern das Hören, Lesen, Studieren und Ver-stehen von Musik.Die eBook-Versionbietet neben den üblichen Verlinkungen von Inhaltsverzeichnis und Querverweisen auch Verweise auf Band 1 der Musikalischen Meilensteine; sie sind unter Angabe der Seitenzahl mit gekennzeichnet.Bärenreiter BasiswissenEin Navigator durch die Wissenslandschaft
Band 11 Hildegard von Bingen Ordo virtutum 122 Perotin Sederunt principes 143 Walther von der Vogelweide Palästinalied 164 Dies irae 185 Machaut Messe de Nostre Dame 206 Machaut Ma fin est mon commencement 227 Landini Occhi dolenti mie 248 Dunstaple Quam pulchra es 269 Binchois Tristre plaisir2810 Dufay Nuper rosarum flores 3011 Dufay Missa Sancti Jacobi 3212 Buxheimer Orgelbuch Selaphasepale 3413 Ockeghem Requiem 3614 Isaac Innsbruck, ich muss dich lassen 3815 Josquin Illibata dei virgo nutrix 4016 Josquin Missa L’homme armé 4217 Janequin La guerre 4418 Lasso Prophetiae Sibyllarum 4619 Palestrina Missa Papae Marcelli 4820 Florentiner Intermedien von 1589 5021 G. Gabrieli Canzon in echo duodecimi toni 5222 Marenzio Solo e pensoso 5423 Dowland Flow my tears 5624 Monteverdi Cruda Amarilli 5825 Monteverdi L’Orfeo 6026 Monteverdi Marienvesper 6227 Marini Affetti musicali 6428 Sweelinck Mein junges Leben hat ein End 6629 Schütz Musikalische Exequien 6830 Frescobaldi Cento partite sopra passacagli 7031 Carissimi Jephte 7232 Schütz Verleih uns Frieden genädiglich 7433 Cavalli Il Giasone 7634 Strozzi Sul Rodano severo 7835 Froberger Tombeau80Inhalt
36 Biber Rosenkranz-Sonaten 8237 Lully Atys8438 Purcell Three parts on a ground 8639 Corelli Sonata op. 1,1 8840 Charpentier Te Deum9041 Purcell The Fairy Queen 9242 Couperin Pièces de clavecin 9443 Bach Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen 9644 Bach Das Wohltemperierte Klavier 9845 Händel Giulio Cesare 10046 Vivaldi Die vier Jahreszeiten 10247 Bach Matthäus-Passion 10448 Pergolesi La serva padrona 10649 Rameau Hippolyte et Aricie 10850 Telemann Tafelmusik11051 Händel Messias 11252 Scarlatti Sonata K. 491 11453 C.Ph.E.Bach Fantasie c-Moll 11654 Gluck Orfeo ed Euridice 11855 Haydn Streichquartett op. 33,1 120Band 2Einleitung 14856 Mozart Dissonanzenquartett KV 465 15057 Mozart Klavierkonzert d-Moll KV 466 15258 Mozart Don Giovanni 15459 Mozart Jupiter-Symphonie 15660 Haydn Militärsymphonie 15861 Haydn Die Schöpfung 16062 Beethoven Sonate cis-Moll op. 27,2 16263 Beethoven 3. Symphonie »Eroica« 16464 Rossini Il barbiere di Siviglia 16665 Weber Der Freischütz 16866 Beethoven Streichquartett op.130/13317067 Schubert Große C-Dur-Symphonie 17268 Schubert Streichquintett C-Dur D 956 174
69 Schubert Die Winterreise17670 Berlioz Symphonie fantastique 17871 Schumann Kreisleriana 18072 Chopin Préludes op. 28 18273 Schumann Dichterliebe 18474 Mendelssohn Ein Sommernachtstraum 18675 Verdi La traviata 18876 Liszt Faust-Symphonie 19077 Wagner Tristan und Isolde 19278 Mussorgsky Boris Godunow 19479 Bizet Carmen 19680 Verdi Messa da Requiem 19881 Brahms 1. Symphonie 20082 Brahms Violinkonzert D-Dur20283 Smetana Mein Vaterland20484 Offenbach Hoffmanns Erzählungen 20685 Bruckner 8. Symphonie c-Moll 20886 Dvořák Symphonie »Aus der Neuen Welt« 21087 Strauss Also sprach Zarathustra 21288 Puccini Madama Butterfly 21489 Debussy La mer 21690 Ives Central Park in the Dark 21891 Mahler Das Lied von der Erde 22092 Schönberg Pierrot Lunaire 22293 Strawinsky Le Sacre du printemps 22494 Berg Wozzeck22695 Gershwin Rhapsody in Blue 22896 Ravel Bolero 23097 Varèse Ionisation 23298 Bartók Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta 23499 Schostakowitsch 5. Symphonie d-Moll 236100 Messiaen Quatuor pour la fin du temps 238101 Hindemith Ludus tonalis 240102 Webern II. Kantate op. 31 242103 Cage Music of Changes 244104 Boulez Le marteau sans maître 246105 Stockhausen Gesang der Jünglinge 248106 Ligeti Atmosphères 250107 Britten War Requiem252
108 Zimmermann Die Soldaten 254109 Berio Sinfonia 256110 Kurtág Kafka-Fragmente 258111 Gubaidulina Johannes-Passion 260 Lese- und Hörempfehlungen 262Werkregister 272Über die AutorInnen 278
148In früheren Jahrhunderten war es leicht, sich in der Musik auszukennen: Gespielt wurde nur Zeitgenössisches, selten überdauerte ein Werk die Lebenszeit seines Komponisten im Repertoire. Notenblätter aus vergangenen Zeiten dämmerten,wie Mozart einmal schrieb, »fast von würmern gefressen« auf den Dachböden dahin. Dann, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, erwachte das Interesse an älterer Musik. Händel und Mozart waren die ersten Komponisten, deren Werke über ihren Tod hinaus gespielt wurden. Im 19. Jahr-hundert wurde das Bereitstellen von »verklungener«, d.h. im Konzertleben nicht mehr präsenter Musik in Editionen zu einem wichtigen Geschä der Musikwissenscha. Anfang des 20. Jahrhunderts kam die Schallaufzeichnung hinzu, und später dann die Wiederentdeckung der Alten Musik auch für die musikalische Praxis.Heute nun scheint nahezu alles, was die Musikgeschichte jemals hervorgebracht hat, in Noten, aber auch in Einspie-lungen verfügbar. Seitdem ist es nicht mehr so leicht, sich in der Musik auszukennen. Denn die gut gefüllten Noten-regale, die reichhaltigen CD-Kataloge, das unendliche Internet und die Bibliotheken voller wissenschalicher Spezialliteraturhaben zwar zu einer Erweiterung unseres Wissensgeführt, aber gleichzeitig auch zu der Schwierigkeit, sich zu orientie-ren – vor allem für jene, die einen Ausgangspunkt für ihre Expeditionen ins Reich der Musik suchen.»111 Werke, die man kennen sollte« will ein Leitfadensein, sich im Labyrinth der Musikgeschichtezurechtzunden. Die hier in zwei Teilbänden vorgestellten Werke erheben nicht den Anspruch, die bedeutendsten, die schönsten, die wich-tigsten zu sein. Aber sie stehen exemplarisch für bestimmte Epochen, Gattungen, Schreibarten und Komponistenpersön-lichkeiten, die die Musikgeschichte geprägt haben. Sie sind Einleitung
149nicht als verbindlicher Kanon gemeint, sondern als Einstieg in ein schier unübersehbares Terrain, als Orientierungs-punkte für die Suche nach weiteren, vergleichbaren Werken, als Ansporn, sich über die einzelne Komposition hinaus mit ihrem historischen, literarischen, kulturellen Umfeld zu be-fassen. Sie sind so ausgewählt, dass es in jedem Falle möglich ist, sie in modernen Editionen zu lesen, in CD-Aufnahmen anzuhören und sich durch wissenschaliche Literatur weiter darüber zu informieren. Das ist, ungeachtet der zunehmend unüberschaubaren Fülle an Material, immer noch nicht selbstverständlich.Eine Debatte darüber, dass sich Musikgeschichtsschreibung nicht in der Präsentation von 111 Werken erschöpfen kann, ist müßig. Niemand würde dies beanspruchen wollen. Die 111 Werke sind eine Anregung, sich in dem Meer des Unbe-kannten kleine Inseln zu schaen, von deren festem Boden ausweitere Erkundungen und neue Inseln möglich werden, die dann vielleicht irgendwann zu größeren zusammenwachsen: Landgewinnung, das weiß man an den Küsten, ist ein müh-sames, aber einträgliches Geschä. Die ausgewählten Werke sollen dazu ermutigen, auf Entdeckungsreisezu gehen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wenn sich aus der Wahl der 111 Werke eine Debatte darüber ergäbe, ob nicht vielleicht eine andere Palestrina-Messe oder eine andere der Symphonien Beethovens hätte besprochen werden müssen (und warum), ob nicht das 14. Jahrhundert zu stiefmütterlich behandelt und das 20. Jahrhundert zu opulent vertreten sei (und warum), ob Domenico Scarlatti wichtig genug sei und nicht Eliott Carter zu Unrecht vernachlässigt werde (und wa-rum), so hätte dieses Buch ein wichtiges Ziel erreicht.
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150Mozart Dissonanzenquartett KV 465Mozart widmete seine sechs Streichquartette (178), die sein Verleger Atari als Opus10 veröentlichte, Joseph Haydn mit der Bemerkung, dass sie die Frucht einer langen und anstren-genden Arbeit – »frutto di una lunga, e laboriosa fatica« – seien. Das mag als Anspielung auf den hohen kompositions-technischen Anspruchzu verstehen sein und als Zeichen der Verehrung gegenüber Haydns Quartettsammlung op.33, der Mozart respektzollend nacheifert. Für Mozarts Haydn-Quartetteist, wie für ihren Bezugspunkt, ein dialektisches Verhältnis von Komplexität und Leichtigkeit kennzeichnend; sie charakterisiert das Bestreben, Kenner undLiebhabergleichermaßen anzusprechen. Während Haydn dazu tendiert, beide Aspekte auf engstem Raum zu verschrän-ken, neigt Mozart eher dazu, den Kontrast auszuformulieren und so formale und Satz-Normen zu sprengen.Exemplarisch zeigt das zum einen die große langsame Einlei-tung, die als Formidee aus der Symphonie stammt und dem Quartett eigentlich fremd ist. Zum anderen oenbart sich diesim Aekt-Verhältnis zwischen den düsteren Dissonanzen, die dem Werk den Beinamen Dissonanzenquartettgegeben haben, und der Wendung ins ungetrübte C-Dur des Allegro- Teils. Indem sich Antizipationen, Vorhalte, Durchgänge und Auflösungen permanent überlappen, erhebt Mozart den Quer-standund die Unklarheit der harmonischen Verhältnisse zum Prinzip, zu dem der Allegro-Teil einen Gegenpol bildet. Das Andante cantabile in der Subdominante und im ⁄-Takt erinnert durch die Kontraste zwischen seinen beiden emen Die Wende von der dissonanten Einleitung zum konsonanten Hauptsatz kann als Metapher für den Schritt von einer ungeordneten in eine geordnete Welt verstanden werden. So erklärt sich die Verbindung des Quartetts mit Mozarts Aufnahme in die Freimaurerloge »Zur Wohltätigkeit«.»Ich sage ihnen vor gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und den Nahmen nach kenne: er hat geschmack, und über das die größte Compositionswissenschaft« (Haydn gegenüber Leopold Mozart anlässlich einer Aufführung der ihm gewidmeten sechs Streichquartette). S. 120
151an einen Sonatensatz, arbeitet gleichfalls mit Durchgängen und Vorhalten und weist mit der Motivik des zweiten Teils (T.26ff.) auf die langsame Einleitung zurück, sodass ein satz-übergreifender Zusammenhang entsteht.Das Menuett grei die Idee der unklaren harmonischen Verhältnisseauf, indem hier C-Dur als Tonika bis zum Schluss umgangen wird. Mozart entwickelt geradezu eine Systematik, an Stellen, die den Grundton erwarten lassen, auf Sextakkorde, Durchgänge oder Vorhalte auszuweichen, was man auf der »eins« jedes Taktes und bei allen Kadenzen be-obachten kann.Das Finale zeigt eine Verschränkung von Rondo und So-natensatz, für die sich die unglückliche Bezeichnung Sona- tenrondo eingebürgert hat – unglücklich deshalb, weil sie den Witz, den musikalischen Humor dieser formalen Lösung nivelliert; denn ihr Reiz besteht gerade darin, einerseits das Spielerische, das im periodisch gebauten ⁄-Takt und im schnellen Tempo zum Ausdruck kommt, andererseits die Komplexität, die die Sonatenform mit sich bringt, gegenein-ander auszuspielen. So stoßen Tänzerisches, auch Volkstüm-liches und Durchführungstechniken, die harmonische Aus-weichungen mit sich bringen, stets aufeinander.Die Doppeldeutigkeit, die Mozart durch die langsame Ein-leitung zum ema des Quartetts erhebt, lässt den Hörer immer wieder Neues entdecken und macht die Analyse zum Vergnügen. Flothuis 998, Schwindt 5 Quartetto Italiano (Philips 966–973), Quatuor Mosaïques (Astrée 99)Das zum as der Viola querständige a der . Violine (T. ) haben renommierte Fachleute wie Sarti und Fétis für einen »Fehler« gehalten.
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152Unter den 30Klavierkonzerten, die Mozart zwischen 1767 und 1791 komponierte, ist das d-Moll-Konzert das berühm-teste. Am 10. Februar 178vollendet und einen Tag später uraufgeführt, avancierte es vor allem im 19. Jahrhundert zum meistgespielten seiner Klavierkonzerte. Die Beliebtheit geradedieses Konzertes in Zeiten der Romantik resultiert zum einen aus der ungewöhnlichen, als unheimlich empfundenen und mit DonGiovanniassoziierten Tonart und zum anderen aus der gleichsam dramatischen Manierdes ersten Satzes, in der das Orchester und der Solist wie Personen mit jeweils un-verwechselbarem Charakter agieren. Es ist das erste von nur zwei Konzerten, die Mozart überhaupt in einer Molltonart schrieb. Für die Gattung des Konzerts, das als öentliche Gesellschasmusik eher der Unterhaltung als der Erschütte-rungzu dienen hatte, war der pathetische Ton von KV 466 mehr als außergewöhnlich.Normalerweise begann der erste Satz eines Konzerts mit einem forte gespielten Orchesterritornell, dessen thematischesMaterial das Soloinstrument dann aufgri und mit eigenen Mitteln verarbeitete. KV466 beginnt dagegen im Piano mit einem in Synkopen pulsierenden Klangteppich in den Strei-chern, aus dem so etwas wie ein bedrohlicher kleiner Blitz in raschen Notenwerten herausschießt. Erst nach und nach treten die Bläserstimmen hinzu, und der zuvor auf die tiefe Lage beschränkte Tonraum beginnt sich aufzuhellen. Das Kla-vier tritt, anders als üblich, mit einem eigenen ema auf, in einem zögernd rezitativischen Gestus, der wie ein Versuch wirkt, sich in dem düsteren Klangraum des Ritornellszu-rechtzunden und einen eigenen Weg zu gehen. Den ganzen Satz hindurch wird das Klavier mit dem Orchester um die Vor-herrscha ringen, werden die Synkopen und das Blitzmotiv, mit denen der Satz im Pianissimo verklingt, versuchen, die Mozart Klavierkonzert d-Moll KV 466C.F.D.Schubart bezeichnete dMoll in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (784) als eine Tonart für »schwermüthige Weiblichkeit, die Spleen und Dünste brütet«.Schon in seinem für Victoire Jenamy komponierten Konzert KV 7 (777) behandelte Mozart die Vorstellung der Klavierstimme wie den Auftritt einer Dramengur.
153Oberhand zu behalten. Dieses spannende Drama macht bei-nahe vergessen, dass Mozart den Satz auch als einen Sonaten-satz mit Exposition, Durchführung und Reprise in auffällig ausgewogenen Proportionen komponiert hat. Er füllt eine gängige Form mit neuem und so aufregendem Inhalt, dass sie selbst dabei zur Nebensache gerät.Wenn Mozart den zweiten Satz »Romance«überschreibt, so spielt er damit nicht nur auf die gesungene Romanze, ein erzählendes strophisches Lied wie z.B. Pedrillos »Im Mohren-land gefangen war« in seiner Oper Die Entführung aus dem Serailan, er scha darüber hinaus auch mit der schlichten Melodie in liedha-simpler Viertaktperiodik, der übersicht-lichen Rondoform und der eher sonnigen Tonart B-Dur den äußersten musikalischen Gegensatz zu dem pathetischen ers-ten Satz. Nicht nur die kleinen Seufzer im Hauptthema, son-dern vor allem das stürmische erste Zwischenspiel in g-Moll mit den klagenden Bläsertönen, lassen freilich keinen Zweifel daran, dass auch der vermeintliche Friede dieses san daher-kommenden Mittelsatzes gefährdet ist. Diesen Eindruck be-stätigt auch sogleich der dritte Satz, ein Sonatenrondo, der dem ersten an emotionaler Emphase kaum nachsteht. Daran ändert auch der Schlussabschnitt in D-Dur wenig, der die düstere Stimmung kaum mehr aufhellen kann. Mozart, der das Konzert selbst spielte und für seine Improvi-sationskunst berühmt war, hat keine Kadenzdafür hinterlas-sen. Zahlreiche Komponisten des 19. Jahrhunderts, darunter Beethoven, Mendelssohn und Brahms, haben dies als He-rausforderung begrien und ihrerseits Kadenzen für KV 466 komponiert.Mozart hat auch andere langsame Sätze »Romanze« genannt, z. B. den der Kleinen Nachtmusik KV 55 und der Gran Partita KV 36. Gülke 5, Rosen 6 Bilson (DGG 98–989), Levin (Decca 997)Über die Kadenzen, jene zwischen Reprise und Coda angesiedelten solistischen Improvisationenüber das musikalische Material des Satzes, schrieb Carl Philipp Emanuel Bach in seinem Ver-such über die wahre Art das Clavier zu spielen(): »Die verzierten Cadenzen sind gleichsam eine Composition aus dem Stegereif. Sie werden nach dem Innhalte eines Stückes mit einer Freyheit wider den Tackt vorgetragen.«
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154Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni(DerbestrafteWüstlingoderDonGiovanni) auf ein Libretto von Lorenzo Da Ponte ist ein typisches Beispiel für die Gattung Opera buffaund gleichzeitig ein Ausnahmewerk. Typisch ist vor allem die Dramaturgie, die auf der Idee des Ensembles und auf mu-sikalischen Formen basiert, die aus dem Gang der Handlung heraus entstehen. In DonGiovannimachen Introduktion und zwei umfangreiche Aktnali, vier Duette sowie je ein Terzett, Quartett und Sextett den Hauptteil der Oper aus.Dem sprichwörtlichen Verführer Don Giovanni, der schon tausende von Frauen auf dem Gewissen hat, will in der Hand-lungder Oper so recht nichts mehr gelingen. Erst tötet er den Komtur, der zur Rettung seiner Tochter Donna Anna vor dem nächtlichen Eindringling herbeigeeilt war, dann begeg-net er der einst von ihm verlassenen Donna Elvira; schließ-lich misslingt auch die Entführung des Bauernmädchens Zer-lina am Tage ihrer Hochzeit. Seinen Diener Leporello zwingt er, ihm als Komplize zur Verfügung zu stehen, selbst als er sich auf dem Kirchhof versündigt und die Statue des toten Komtur zum Essen einlädt. Doch damit besiegelt er sein Schicksal: Tatsächlich erscheint der Komtur, fordert ihn auf, seine Taten zu bereuen und stürzt ihn, als Don Giovanni sich weigert, in ewige Verdammnis. »Quest’è il n di chi fa mal« (»Das ist das Ende eines Übeltäters«) – mit dieser Moral kehrt die aus den Fugen geratene Ordnung am Schluss der Oper zurück.Zu einem Ausnahmewerk aber wird DonGiovannidurch Mozarts präzis charakterisierende Musik, die weit davon entfernt ist, einfach nur komisch zu sein, und die selbst die konventionellste Komödiensituation zu einer Szene von tra-gischer Dimension umzudeuten und das Lachen der Schaden-freude in Tränen des Mitleids zu verwandeln imstande ist. Mozart Don GiovanniNach der Registerarie, in der Don Giovannis Diener alle verführten Frauen aufzählt, nennt man bis heute ein zieharmonikaförmiges Faltblatt »Leporello«.Bevor er zum Opernhelden wurde, war Don Juan, z. B. bei Tirso de Molina (63), Molière (665) oder Carlo Goldoni (736), ein beliebter Protagonist in der Sprechkomödie.
155Das Terzett im II.Akt etwa, in dem Don Giovanni Donna Elvira Reue und neu erwachte Liebe vorgaukelt, löst durch die musikalische Darstellung, durch die Art, in der Don GiovanniDonna Elviras pathetische Melodien aufgrei und mit kleinen, biegsamen Veränderungen gleichsam aufweicht, während Leporello sich in plapperndem Parlando ins Fäust-chen lacht, beim Publikum nicht Häme, sondern Beklom-menheit aus.Bei der Komposition des DonGiovannibediente sich Mozart auch traditioneller musikalischer Botschaen wie etwa der Tonarten. D-Moll, die Grundtonart der Oper, ist keine hei-tere, sondern eine Todestonart, und sie erklingt nach der Ouvertüre immer in Zusammenhang mit dem Komtur. Und in jenem A-Dur, mit dem Don Giovanni Zerlina in »Là ci darem la mano« (»Dort werden wir uns die Hand reichen«) auf sein Schloss zu locken versucht, sangen in Mozarts Opern sonst häug empndsame Liebhaber – welch ein Betrug!Auch die Tanzrhythmenvermitteln, vor allem in der Tanz-szene im ersten Finale, wichtige Botschaen. Drei Bühnen-orchester spielen hier simultan drei Tänze, die die Gesell-schasordnung abbilden: ein Menuett im ⁄-Takt als Tanz des Adels (Donna Anna und ihr Verlobter Don Ottavio), einen gleichermaßen im Adel wie im Bürgertum beliebten Kontra-tanz im ⁄-Takt (Don Giovanni und Zerlina) und einen Deut-schen im ⁄-Takt als Tanz der Unterschichten (Leporello und Zerlinas Bräutigam Masetto). Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts etablierte sich DonGiovannials Mozarts erfolgreichste Oper. Und Joseph Haydn soll zu Mozart gesagt haben: »Wenn du nichts als den Don Juan gemacht hättest, wäre es genug.« Kunze 984, Schreiber 5 Giulini (EMI 987), Jacobs (Harmonia Mundi 6)Im 9. Jahrhun dert wurde Don Giovanni meistens ohne das moralisierende Finale aufgeführt; die Oper endete mit dem Tod des Protagonisten.Die Uraufführung von Don Giovanni am 9. Oktober 1787 in Prag war ein Erfolg, wie ihn Mozart bei keiner anderen Oper erlebt hat.Da Pontes Libretto orientiert sich an dem am . Februar in Venedig uraufgeführten Einakter Don Giovanni ossia Il convitato di pietravon Giovanni Bertati. In der Vertonung von GiuseppeGazzaniga war diese Oper bis zumindest in Italien erfolgreicher als Mozarts, die wegen ihrer anspruchsvollen Orchesterbesetzung gar nicht überall gespielt werden konnte.
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156Mozart konnte nicht ahnen, dass die C-Dur-Symphonie, die er Anfang August 1788zu Papier brachte, seine letzte blei-ben würde. Er selbst hat sie nie gehört, denn es ergab sich keine Gelegenheit, sie oder die beiden kurz zuvor niederge-schriebenen Symphonien in Es-Dur (KV543) und in g-Moll (KV550) aufzuführen. Dennoch haet ihr aus der Rückschau das Attribut des Abgesangs, der Quintessenz seines sym-phonischen Schaffensan. Dabei scheint sie, was den kom-positorischen Umgang mit dem musikalischen Material und der Form angeht, mindestens so sehr ein Aufbruch zu neuen Ufern wie die Summe aus einem Lebenswerk zu sein.Die Symphonie erfüllt alle Erwartungen an die Gattung und dehnt doch jegliche Grenzen, die von der Konvention ge-zogen werden, bis zum Zerreißen aus. Sie ist viersätzig: Der erste Satz ist ein Sonatensatz im Allegro vivace, der zweite ein Andante Cantabile, der dritte ein Menuett mit Trio, der letzte ein Molto Allegro – so weit, so gewohnt. Das Menuett aber distanziert sich gleich zu Beginn mit seinem chromatisch ein-gefärbten ema und den stampfenden Begleitrhythmen von seiner Herkun aus dem galanten höschen Tanz. Der lang-same Satz verheißt durch das im Titel angesprochene »Can-tabile« einen Satz mit schönen, weit ausschwingenden Melo-dien und saner Bewegung; stattdessen aber werden diese mit schroen Unterbrechungen, schluchzenden Synkopen, unvermuteten Molleintrübungen und einem Seufzermotiv, das sich immer wieder dazwischen schiebt, eher in ein ver-zweifeltes Weinen gewendet.Der Kopfsatz ist zwar ein Sonatensatz, aber einer mit der ty-pisch Mozartschen Überfülle an musikalischen Ideen: Statt einer eher unthematischen, gurativen Schlussgruppe wartet er mit einem dritten emenbereich in der Exposition auf (T.101ff.), der jenen Mittelteil, den man später »Durch-Mozart Jupiter-SymphonieDer Sommer 788 war geprägt von wachsender gesellschaftlicher Isolation und drückenden Geldnöten, die Mozart in mehreren Bettelbriefen an seinen Logenbruder Puchberg bekundete.Die Melodie des dritten Themas übernahm Mozart aus der Arie »Un bacio di mano« (»Ein Handkuss«), die er kurz zuvor für eine Opera bua von Anfossi komponiert hatte.
157führung« genannt hat, über weite Strecken beherrschen wird. Und wenn dann das konventionell anmutende, nach Art einerneapolitanischen Opernouvertüre gestaltete Kopfmotiv wie-der erklingt, steht es in der »falschen« Tonart F-Dur (T.161) und markiert nicht den Beginn der Reprise, sondern eines zweiten, weitere 28 Takte währenden Durchführungsteils.Vor allem aber der letzte Satz sprengt alle Regeln des sympho-nischen Komponierens und ist doch eine Fortsetzung dessen, was Mozart zuvor, vornehmlich in seinen Streichquartetten, erprobt hatte: die Verbindung des polyphonen Satzes vergangener Epochen mit der zeitgenössischen, primär auf harmonischer Strukturierung basierenden Kompositions-weise. Schon die Frage, ob dieser Satz als Sonatensatz, als Rondo oder als Fuge zu lesen sei, hat Generationen von Mo-zart-Forschern in Atem gehalten; für alle Sichtweisen gibt es gute Argumente. Interessanter ist freilich die Frage, wie Mozart mit dem musikalischen Material dieses Satzes ver-fährt. Das berühmte Kopfmotiv c–d–f–egehört zu den Kern-melodien sakralen Komponierens; es lässt sich im gregoria-nischen Hymnus Lucis creator optimeebenso nden wie im Credo von Mozarts Missa brevis KV192(KV186f). Zu die-sem Kopfmotiv gesellen sich weitere Melodiebausteine, die zunächst das musikalische Material eines Sonatensatzes mit erstem und zweitem ema und durchführungsartiger Be-handlung des Kopfmotivs schon in der Exposition sowie mit einer veritablen Durchführung im Mittelteil bilden. In der umfangreichen Coda aber werden diese emen – fünf an der Zahl – in einer Weise übereinander getürmt und nach den Regeln der Kontrapunktik hin und her gewendet, die Si-mon Sechter 1843 veranlassten, den Satz als »Musterbeispiel einer Quintupelfuge« zu bezeichnen. Kunze 988, Gülke 998Walter (Sony 96), Norrington (EMIVeritas 99–99)Simon Sechter (788–867) war einer der einussreichsten Kontrapunktlehrer seiner Zeit. Zu seinen Schülern gehörten sowohl Schubert als auch Bruckner.Peter Gülke nennt den letzten Satz der JupiterSymphonie »Mozarts ›Kunst der Fuge‹«.Die Bezeichnung Jupiter-Symphoniekam um in England auf und geht vermutlich auf den Konzertveranstalter Johann Peter Salomon zurück. In Deutschland war die Symphonie zur selben Zeit unter dem Namen »Symphonie mit der Schlussfuge« bekannt.
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158Die politischen Ereignisse in Frankreich, die Massenhinrich-tungen im Namen der Französischen Revolution, ihre Aus-breitung über die Grenzen Frankreichs hinaus warfen ihre Schatten auch auf das Londoner Musikleben, das in hohem Maße von der Verpichtung ausländischer Künstler lebte. Anfang 1795 stellte der Impresario Johann Peter Salomon seine Konzerte ein, bei denen Haydn, vornehmlich mit seinen zwölf für London komponierten Symphonien, Triumphe ge-feiert hatte. Die letzte Uraufführung hatte am 31. März 179 mit der G-Dur-Symphonie Nr.100 stattgefunden, und es mu-tet wie ein Fingerzeig des Schicksals an, dass ausgerechnet diese unter dem Namen Militärsymphonie in die Geschichte eingehen sollte.Den Beinamen verdankt die Symphonie vor allem ihrem zwei-ten Satz, in dem der Rezensent des MorningChronicle»the hellish roar of war« (»das höllische Gebrüll des Krieges«) zu vernehmen meinte. In Zeiten von Guillotine und Bürger-krieg lag diese Assoziation durchaus nahe – umso mehr, als Haydn in diesem Satz weniger an einer Verherrlichung des Soldatenlebens gelegen war als vielmehr an einer musika-lischen Reflexion über die Schrecken des Krieges. Zwar beginnt dieser mit Allegretto überschriebene, »langsame« Satz durchaus harmlos mit einer liedha schlichten Weise in simpler Viertaktperiodik, die in dem Wechselspiel zwischen Streichern und Holzbläsern auch als die Musik einer länd-lichen Szene verstanden werden könnte; wenn dann aber das »Militärische« in Gestalt von Klarinetten sowie den Militär-instrumenten Triangel, Becken und Große Trommel über diese scheinbar friedliche Welt hereinbricht, trübt sich die lichte Tonart C-Dur unvermittelt zu c-Moll ein (T.56f.), die liedhae Weise mutiert durch die rhythmische Untermalung zu einem Marsch, und der Satz bekommt durch die durchfüh-Haydn Militärsymphonie796 komponierte Haydn in Wien seine Missa in tempore belli (»Messe in Kriegszeiten«), die auf die Bedrohung Österreichs durch die Feldzüge Napoleons anspielt.Triangel, Becken und Große Trommel galten im 8. Jahrhundert auch als »türkische« Musik. Mozart verwendete sie in diesem Sinne in seiner Oper Die Entführung aus dem Serail (78). Britten, War Requiem