Evan Osnos

Joe Biden

Ein Porträt

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff und Stephan Gebauer

Suhrkamp

Für meine Mutter Susan, die mich lesen lehrte; und für meinen Vater Peter, der mich schreiben lehrte.

People pay for what they do, and, still more,

for what they have allowed themselves to become.

And they pay for it very simply: by the lives they lead.

James Baldwin, No Name in the Street

Du bist ein sel'ger Geist, ich bin gebunden
Auf einem Feuerrad, das meine Tränen
Durchglühn wie flüssig Blei.

Shakespeare, König Lear

Prolog

12. Februar 1988

Ein fünfundvierzigjähriger Mann – ein Weißer und Vater von drei Kindern – wacht auf dem Boden seines Hotelzimmers auf. Er schaut auf die Uhr und stellt fest, dass er offenbar fünf Stunden lang bewusstlos war. Er kann seine Beine kaum bewegen und weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Er erinnert sich nur an einen heftigen Schmerz, der ihn getroffen hat wie ein Blitz: Er hatte in Rochester im Bundesstaat New York eine Rede gehalten und wurde bei der Rückkehr in sein Hotelzimmer von einem Gefühl überwältigt, als würde sein Schädel mit einem Beil gespalten. Monatelang hat er sonderbare stechende Kopf- und Nackenschmerzen ignoriert und mit Paracetamol unterdrückt. Er hat diese Beschwerden auf die groteske Überanstrengung im Rennen um eine Präsidentschaftskandidatur zurückgeführt, und obendrein ist er auch noch Vorsitzender des Rechtsausschusses des Senats. Seine Kandidatur hat mit einer peinlichen Niederlage geendet, die, wie er sich eingestehen musste, auf seine Arroganz zurückzuführen war. Aber die Kopfschmerzen sind geblieben.

Der Mann schleppt sich zum Bett. Es gelingt ihm, seinen Assistenten zu verständigen, und er wird in seinen Heimatstaat Delaware geflogen, wo die Ärzte ein Aneurysma im Gehirn feststellen, eine Erweiterung einer Arterie. Seine Überlebenschance ist so gering, dass ein Priester herbeigerufen wird, der ihm die letzte Ölung gibt, noch bevor seine Frau an seine Seite eilen kann. In den folgenden Stunden wird er in aller Eile durch einen dichten Schneesturm zu einer Notoperation nach Washington gebracht. Der Chirurg warnt, dass ihn der Eingriff sein Sprachvermögen kosten kann. »Ich wünschte, das wäre mir letzten Sommer passiert«, antwortet der Mann, der seinen Humor offenbar nicht verloren hat.

Es folgen ein zweites Aneurysma, weitere Operationen und weitere Komplikationen. Für drei Monate ist er an ein Krankenhausbett gefesselt. Das Scheitern seiner Präsidentschaftskandidatur hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet: Wäre er weiter unterwegs gewesen, wäre er kreuz und quer durch New Hampshire gereist und hätte die Symptome ignoriert, wäre er jetzt möglicherweise nicht mehr in dieser Welt. Am Tiefpunkt seines Leidenswegs sagt ein Arzt zu ihm, er sei ein »Mann mit Glück«. Es vergehen sieben Monate, bevor er wieder aufstehen und an die Arbeit gehen kann. Dem ersten Publikum, vor das er tritt, sagt er, das Leben habe ihm »eine zweite Chance« gegeben.

Mehr als dreißig Jahre, nachdem Joe Biden um ein Haar in jenem Hotelzimmer gestorben wäre, bleibt dieser Augenblick in der Liste der offiziellen Meilensteine seiner politischen Biografie oft unerwähnt. Aber dieser Augenblick enthält das definierende Muster seines Lebens: Es ist eine Reise voller unerwarteter Wendungen des Schicksals, einige davon unglaublich glücklich, andere fast unvorstellbar grausam. Bidens Ehrgeiz, die höchsten Stufen der Macht zu erklimmen, treibt seinen Aufstieg seit mehr als fünf Jahrzehnten an. Er war kaum zwanzig Jahre alt, als ihn die Mutter seiner damaligen Freundin Neilia Hunter (die später seine erste Frau wurde) nach seinen beruflichen Zielen fragte. »Präsident«, sagte Biden. »Präsident der Vereinigten Staaten.«

Seine politische Laufbahn machte ihn zum Zeugen und Protagonisten bedeutender Wendepunkte der modernen amerikanischen Geschichte, darunter einige prägende Konflikte über Race, Geschlecht, Verbrechen, Gesundheit, Kapitalismus und Sozialstaat. Er beging Fehler, erklärte seine Beweggründe und bezahlte den Preis. Ein ums andere Mal strafte er jene Lügen, die seine Karriere für beendet erklärten – und fand sich zu seinem eigenen Erstaunen in einer historischen Präsidentschaftskandidatur an der Seite Barack Obamas wieder. In seiner Rede auf dem Parteitag der Demokraten im Jahr 2008 erklärte er: »Fehlschläge im Lauf des Lebens sind unvermeidlich, aber aufzugeben ist unverzeihlich.«

Als Vizepräsident – in der Funktion, über die in Washington mehr gespottet wird als über jede andere – wirkte Biden oft wie ein Mann, der sein Glück kaum fassen kann. Nach den schweren Prüfungen, die er in seinem Leben hatte bestehen müssen, hatte er kaum noch das Bedürfnis nach selbstgefälliger Würde. In einem privaten Gespräch fragte ihn ein britischer Minister, wie er ihn anreden solle. Biden sah sich theatralisch in beide Richtungen um und sagte: »Sieht so aus, als wären wir allein. Warum nennen Sie mich also nicht Herr Präsident, und ich spreche sie als Herr Premierminister an?«

Nach all den Jahren trägt dieser politische Veteran Narben aus so vielen Kämpfen, dass seine Gegner und sogar einige seiner Anhänger im Jahr 2019 kaum nachvollziehen konnten, dass er sich auf eine weitere Kandidatur einließ. Und dann strafte er einmal mehr alle Prognosen Lügen und sicherte sich die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei. In einer Auseinandersetzung, die von so großer Bedeutung für die Zukunft der Vereinigten Staaten war, dass die gewohnten Klischees von der wichtigsten Wahl unseres Lebens wie eine Untertreibung wirkten, stand er nun Donald Trump gegenüber. Sie kämpften um ein Amt, dessen Status als wichtigste politische Funktion in der freien Welt nicht mehr unangefochten war.

Die Umstände eines erfüllten Lebens und eines bedrohten Landes rückten ihn in den Mittelpunkt einer amerikanischen Abrechnung und weckten daheim und im Ausland das Bedürfnis, rasch herauszufinden, was diesen Mann geprägt hatte, was er dachte, was er vorzuweisen hatte und woran es ihm mangelte. In dem Augenblick, als seine Nation vor den Augen der Welt am Boden lag, kam Joe Bidens historischer Moment.