Als Agentin der unsichtbaren Bibliothek ist es Irene Winters Aufgabe, die Balance zwischen Ordnung und Chaos innerhalb der unzählbaren Parallelwelten zu bewahren. Als ausgerechnet die Welt ihrer Schulzeit droht, ins Chaos zu stürzen, muss sie sich auf einen gefährlichen Handel einlassen: Sie soll ein Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien stehlen, um dafür ein seltenes Buch aus dem Besitz eines Sammlers, des Feenmannes Mr. Nemo, zu bekommen. Doch dieser spielt ein falsches Spiel …
Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt »Die unsichtbare Bibliothek« sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Die Reihe um Agentin Irene Winters hat auch in Deutschland viele Fans. Genevieve lebt im Norden Englands.
GENEVIEVE COGMAN
Aus dem Englischen
von Arno Hoven
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Genevieve Cogman
Titel der englischen Originalausgabe: »The Secret Chapter«
Originalverlag: First published 2019 by Pan, an imprint of Pan Macmillan,
a division of Macmillan Publishers International Limited
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
unter Verwendung von Illustrationen von © AdobeStock: natalia9 | artbalitskiy; © mauritius images: Quagga Media | Alamy
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9472-6
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für meine Taufpaten – Judy, James und Angela.
Danke für alles.
Endlich ist ein Waffenstillstand zwischen den Drachen und den Elfen vereinbart worden.
Dies ist weder ein Scherz noch ein Test Ihrer Intelligenz. Es handelt sich auch nicht um eine Übung, die prüfen soll, ob Sie wissen, was im Falle einer Krise zu tun ist.*
Dieser offizielle Friedensvertrag ist von Seiner Majestät Ao Guang (Drachenkönig des Östlichen Ozeans und Vertreter aller acht Drachenkönige und -königinnen) unterschrieben worden. Die Unterzeichnerin für die andere Seite ist die Prinzessin, eine hochrangige Repräsentantin der Elfen. Dieser Vertrag schreibt jeder der beiden Seiten vor, dass sie in den ausgewiesenen Territorien der anderen keinerlei Einmischungen vornimmt. Er verlangt außerdem, dass dort, wo möglicherweise heikle Situationen entstehen, beiderseits auf jegliche aggressive Akte verzichtet wird.
(Mit anderen Worten – die Finger stillhalten und keine Kämpfe beginnen!)
Dies sind wunderbare Neuigkeiten. Ich möchte jeden daran erinnern, dass wir nicht einfach hier sind, um Bücher für unsere private Leseliste zu besorgen. Die Bibliothek ist damit beauftragt, das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos – zwischen Drachen und Elfen – aufrechtzuerhalten, und ist verpflichtet, die von ihnen beanspruchten Parallelwelten sowie die darin lebenden Menschen zu beschützen. Frieden ist ein positiver Schritt – selbst ein sehr kleiner und sorgfältig umgrenzter Friede wie dieser hier. Er sollte die Zahl der unbeabsichtigten menschlichen Opfer im Verlauf längerer Konflikte einschränken. Er wird Leben retten.
Ich muss an dieser Stelle den folgenden Punkt vollkommen klarstellen: Als Mitunterzeichnerin ist die Bibliothek – und das gilt für alle Bibliothekarinnen und Bibliothekare – dazu verpflichtet, als neutrale Partei zu agieren. Als solche sind wir daran gebunden, bei der Lösung von Unstimmigkeiten zu helfen und – was am allerwichtigsten ist – keine Bücher von irgendjemandem zu stehlen, der diese Vereinbarungen unterschrieben hat.** Wir dürfen es nicht riskieren, den Vertrag zu brechen, bei dessen Ausgestaltung wir selbst mitgewirkt haben.
Alle Drachen sind eigentlich Untertanen der acht Drachenherrscher und haben demzufolge den Vertrag im Prinzip mitunterzeichnet – was bedeutet, dass es jetzt für uns ausgeschlossen ist, irgendeinen Drachen zu bestehlen. Glücklicherweise sind wir niemals dabei erwischt worden, so etwas zu tun, und würden es gewiss auch niemals in Erwägung ziehen. Wenn Sie ein Buch von einem Ort wegschaffen, der in dem Vertrag nicht aufgeführt worden ist, sich jedoch als persönliches Lehen eines Drachen erweist, dann kann – unter der Annahme, dass Sie dies überleben – über die Situation verhandelt und durch den Repräsentanten der Bibliothek für den Vertrag eine Entschädigung vereinbart werden.
Da die Elfen nicht die gleichen strengen Hierarchien aufweisen, kann es viel schwieriger sein, festzustellen, ob ein einzelner Elf unterschrieben hat oder nicht. In der Praxis bedeutet das: Prüfen Sie als Erstes die Einzelheiten, und »erwerben« Sie Bücher anschließend. Seien Sie sich auch bewusst, dass Verhandlungen eine Option sein können. Aber bitte seien Sie vorsichtig!
Der vollständige Text dieses Vertrages und eine Liste aller gegenwärtigen Unterzeichner sowie der Welten, die sie als ihren persönlichen Besitz betrachten, sind dieser Meldung beigefügt. Ihnen wird dringend angeraten, alles zu lesen und es sich einzuprägen. Seien Sie sich darüber im Klaren, dass Unwissenheit über die neue Situation keine Entschuldigung sein wird, es sei denn, Sie hätten sehr, sehr, sehr viel Glück.***
Mit sämtlichen Unregelmäßigkeiten befasst sich eine Dreierkommission. Für diesen Ausschuss ist der Vertreter der Elfen noch nicht ernannt worden. Die Abgeordnete der Bibliothek ist Irene, die vor Ort ansässige Bibliothekarin in der Welt B-395 (ihr dortiges Pseudonym: Irene Winters). Der Repräsentant der Drachen ist Prinz Kai, Sohn Seiner Majestät Ao Guang.
Liebe Bibliothekarinnen und Bibliothekare, bitte verstehen Sie, dass dies vielleicht die bedeutendste Chance ist, die wir jemals hatten, um die von uns besuchten Parallelwelten zu stabilisieren. Wir wollen doch nicht das Mittel, mit dem wir das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos aufrechterhalten – das Sammeln von Büchern –, mit unserem höchsten Ziel verwechseln. Eines Buches habhaft zu werden, um den Frieden einer Welt zu festigen, bedeutet möglicherweise, dass man den übergreifenden Friedensvertrag für vielfache Welten bricht. Mehr als je zuvor müssen wir jetzt unsere Neutralität wahren.
Die Zeiten ändern sich. Und wir wollen ihnen helfen, dass sie sich zum Besseren hin ändern.
Coppelia, Leitende Bibliothekarin
*Wir merken dazu an, dass die Bibliothek während der letzten zweihundert Jahre keine Feueralarmübungen durchgeführt hat. Dies liegt daran, dass wir die zwei Standardreaktionen – »kreischend wegrennen« und »sich mit dem Tod abfinden, während man seine Lieblingsbücher umklammert« – für nicht hilfreich hielten. Bibliothekare mit zweckdienlicheren Vorschlägen sollten Yves per E-Mail kontaktieren und eine vollständige Nutzen-Bedrohungsanalyse anhängen.
**Ich bin mir der folgenden Tatsache bewusst: Wenn der Eigentümer eines Buches nicht weiß, dass es verschwunden ist, dann steht eine Vereinbarung nicht zur Diskussion. Unter gewissen Umständen bin ich vielleicht mitfühlend, aber die gegenwärtige politische Situation ist sehr instabil. Wir wollen doch unser Glück nicht überstrapazieren.
***Wir haben uns selbst darauf aufmerksam gemacht, dass diese Art von Wiederholung armseligen Stil darstellt. Doch wir haben das Gefühl, dass sie notwendig ist, um unseren Standpunkt klarzumachen.
»Lächeln und weiter umhergehen«, sagte Irene mit zusammengebissenen Zähnen und zog ihre Röcke von dem Blut zurück, das ihr vor die Füße gespritzt war. Sie betrachtete den knallbunt gekleideten Haufen von Leuten vor ihr. »Es mag ja unschön gewesen sein, doch es war nur ein Duell bis zum ersten Treffer. Es ist ja nicht so, als ob jemand getötet wurde.«
Diener in fleckenlosem Weiß und Schwarz waren wie Kakerlaken herausgekrabbelt gekommen, um den Boden sauber zu wischen und frische Cocktails für die Schaulustigen anzubieten. Die Größen von Londons Modewelt vermischten sich mit der Crème de la Crème der Berühmt-Berüchtigten dieser Stadt – unter Mitwirkung einer breit gefächerten Auswahl an Alkohol und Drogen. Die Kronleuchter, die funkelten, so gut sie es vermochten, taten nur sehr wenig, um die Ecken des Raums zu erhellen. Hier hielten sich die Ernsthafteren oder Verdorbeneren unter den anwesenden Elfen auf: Sie rauchten Opium, schlürften Absinth oder diskutierten über die zuletzt erschienenen Romane.
Es war, kurzum, eine der besten Partys aller Zeiten von Lord Silver.
»Es ist nicht das Duell, über das ich mich beschwere – es ist die Kalligrafie-Challenge, durch die der Streit ausgelöst wurde«, murmelte Kai. Bislang war er an diesem Abend nicht von Irenes Seite gewichen, und dafür war sie dankbar. Das hier war keine Party für die beiden, um sich zu vergnügen: Es war ein Fest, wo die zwei gesehen werden mussten. Es war ein politischer Event in einer Löwenhöhle. Aber selbst hier hatte Kai seinen Sinn für Ästhetik nicht verloren. »Die Auswahl an verfügbaren Tuschefarben war vollkommen ungeeignet, und die Frau hätte eine Stahlfeder verlangen sollen; außerdem hätte, offen gesagt, die ganze Sache unterbrochen werden müssen, bis beide Seiten imstande gewesen wären, besseres Papier zu bekommen. Kein Wunder, dass sie handgreiflich wurden, anstatt wie geplant in einen Wettstreit zu treten. Es war einfach für keinen der beiden möglich, ein Werk zu schaffen, das für die jeweiligen Fertigkeiten repräsentativ gewesen wäre.«
»Ja«, sagte Silver, der hinter ihnen herangerauscht kam. »Ich muss gestehen, dass ich peinlich berührt bin. Auf einer meiner Partys sollte alles, was ein Gast verlangt, auf der Stelle verfügbar sein. In Zukunft werde ich mir unbedingt bessere Vorräte zulegen müssen.«
»Nun ja, es ist der letzte Schrei«, erklärte Irene, die versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Es war ihr niemals angenehm gewesen, wenn jemand auf geheimnisvolle Weise hinter ihr auftauchte. Und in ihrem sehr kostspieligen, jedoch engen Seidenkleid um ihr Leben zu rennen würde eine Herausforderung darstellen. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass es seine Liebhaber so schlimm getroffen hat wie damals die Leute beim holländischen Tulpenwahn. Erinnern Sie sich, als jeder die neueste Zierblume unbedingt haben musste? Und stimmt es, dass man bei Harrods sogar Tusche geraubt haben soll?«
»Ihr Freund, der Detektiv, dürfte das besser wissen als ich«, erwiderte Silver. Er stand kaum ein halbes Dutzend Zoll hinter Irene, und sie war sich seiner Gegenwart schmerzhaft bewusst – seiner Größe, seiner Wärme, der Kurvatur seiner Lippen …
Elfen waren gefährlich. Selbst jetzt, wo sie doch eigentlich Verbündete waren.
Irenes Kleid raschelte, als sie ihren Blick auf Silver richtete. »Lord Silver, als Sie uns einluden, rechneten wir mit einem kleineren Ereignis. Etwas …« – sie zog das Wort »Intimeres« in Erwägung und verwarf es hastig – »… Diskreteres.«
»Sie finden daran kein Vergnügen?«, fragte Silver belustigt. Das Licht von den Ätherlampen verwandelte sein helles Haar in einen Heiligenschein, doch niemand hätte ihn in etwas anderes eingeordnet als in die Kategorie der am stärksten gefallenen Engel. Seine Schultern und der Körperbau – sowie die allzu eng anliegende Hose – reichten aus, um jeden an Sünde denken zu lassen. Und seine Lippen, die er stets auf eine ganz charakteristische Weise wölbte, sowie das Funkeln seiner Augen legten nahe, dass er sich weitaus mehr dafür interessierte, Sterbliche zu verführen, als sie vor etwas zu beschützen. Als Libertin und Lebemann passte er perfekt in das viktorianische England dieser Parallelwelt: Wie viele mächtige Elfen stellte er eine Personifikation gewisser Arten von Geschichten dar. Aber diejenigen, die sich um seinen Charaktertyp drehten, waren auf gar keinen Fall für Kinder bestimmt. »Dennoch trinken Sie meinen Champagner …«
»Es ist ein sehr guter Champagner«, befand Irene, die versuchte, etwas zu finden, über das sie ihm ein aufrichtiges Kompliment machen konnte. Außerdem war nichts Alkoholfreies angeboten worden. »Aber wie ich gerade gesagt habe – etwas Diskreteres. Es sind mindestens hundert Leute hier.«
Die Musik von dem Streichquartett in der Ecke wurde schneller, und auf dem Parkett bildete sich eine freie Fläche. Zwei Gäste, ein Mann in grellem Weiß und eine Frau in Schwarz, begannen Tango zu tanzen. Wenigstens zwei mögliche Duelle und ein Rendezvous wurden plötzlich unterbrochen, als Gäste sich umdrehten, um zuzuschauen und zu applaudieren.
»Meine liebe kleine Maus«, sagte Silver, der den Kosenamen benutzte, über den sich, wie er wusste, Irene am meisten ärgerte. »Du bist dir im Klaren darüber gewesen, dass ich heute Abend dich und deinen Drachenprinzen den Leuten meiner Art stolz vorzeigen würde. Es mag ja nicht ausdrücklich gesagt worden sein, doch es ist gewiss eine Form von Einvernehmen hergestellt worden. Und dein Prinzchen hat nichts gegen irgendwas von dem hier einzuwenden.«
»So etwas lasse ich sie für mich tun«, erklärte Kai gleichmütig.
In dem dramatischen Zusammenspiel von Licht und Schatten, das von den bebenden Kronleuchtern geworfen wurde, hatte Kai die perfekte Schönheit einer klassischen Statue. Sein Haar war schwarz mit einem winzigen Hauch von Blau. Seine Augen waren dunkelblau und besaßen eine Andeutung von tieferliegendem Feuer. Und seine Haut war so bleich wie Marmor, jedoch behaglich warm, wenn man sie berührte. Seit seiner kürzlich erfolgten Nominierung als Drachenrepräsentant beim neu geschaffenen Waffenstillstand zwischen Drachen und Elfen hatte er sich auf die Politik gestürzt. Oder er hatte sich zumindest auf die Frage gestürzt, welches die passendste Kleidung für politische Anlässe war. Irene musste zugeben, dass diese Anstrengung nicht verschwendet war.
»Ebenso umgänglich wie gut aussehend. Der perfekte Partner.« Dass damit auch die Andeutung ›Ebenso im Schlafzimmer wie außerhalb davon‹ gemeint war, wurde durch Silvers Lächeln eindeutig klargemacht; und Irene spürte, wie sich Kais Arm unter ihrer Hand anspannte. »Dennoch … Wenn Sie in einer bestimmten Angelegenheit meine Hilfe wünschen, so werden Sie für wenigstens weitere zwei Stunden auf dieser Party bleiben müssen.«
Irene wusste genau, was er meinte. Sie war als Vertreterin der Bibliothek zur Wahrung genau dieses Waffenstillstands ernannt worden. Sie würde die allgemeine Ansprechpartnerin für Anfragen sowohl der Elfen als auch der Drachen und ebenso für jeden neuen Unterzeichner sein. Außerdem würde sie – dies war zwar nicht erwähnt worden, lag jedoch deutlich sichtbar in ihrer Zukunft – die Person sein, die für die Klärung jeglicher Probleme die Verantwortung trug. Allerdings musste der Repräsentant der Elfen immer noch ausgewählt werden. Und da Silver im Auswahlgremium einer Fraktion saß (oder welche Vorgänge die Elfen auch immer hatten, um einen Vertreter auszusuchen), suchte sie seine Unterstützung.
Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem Champagner. »Ich weiß, wir versuchen beide hier, uns gegenseitig zu helfen … Unsere Anwesenheit steigert Ihr Prestige unter Ihren Leuten. Im Gegenzug könnten Sie die Auswahl des Elfenvertreters beeinflussen – und jemanden aussuchen, der uns nicht das Leben zur Hölle machen wird.« Sie lächelte höflich. »Allerdings wird niemand davon profitieren, wenn Kai oder ich auf Ihrem ureigenen Terrain in einem Duell getötet werden.«
»Das wird nicht geschehen«, entgegnete Silver kategorisch.
Irene hob eine Augenbraue.
»Jeder, der Sie herausfordert, wird niemals wieder zu einer meiner Partys eingeladen«, stellte er klar. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen – ich muss einen Tango unterbrechen.«
Irene schaute ihm nach, während er fortging. »Es ist wirklich ein sehr guter Champagner«, sagte sie mit einem Seufzer.
»Was hat Vale gesagt, als du ihn gefragt hast, ob er hier erscheinen würde?«, erkundigte sich Kai.
Irene musste unwillkürlich lächeln. »Dass er seine gegenwärtigen Recherchen zum Tusche-Schmuggel weitaus lohnender findet als eine weitere sinnlose Party, die von Lord Silver geschmissen wird. Er hat das Gefühl, seinen Beitrag für den Friedensvertrag zwischen Drachen und Elfen schon in Paris geleistet zu haben. Und falls er die Party dennoch besuchen würde, dann nur, um die oberen Räume nach Beweisen für Verbrechen zu durchsuchen, während alle anderen sich unten aufhalten. Außerdem: Wenn er aufgekreuzt wäre, hätte Mu Dan sich ebenfalls hier blicken lassen – ein ungeladener Drache auf einer Elfen-Party …«
»Ich weiß nicht, warum sie so viel Zeit in dieser Welt verbringt«, murmelte Kai gereizt. »Als Ermittlungsrichterin hat sie gewiss andernorts wichtige Aufgaben zu erledigen. Irgendwo andernorts.«
»Sie ist hier, weil sie Vale anwerben will; er soll an einigen ihrer Fälle arbeiten.« Mu Dan hatte kurz vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags in Paris Vale und Irene geholfen, einen Mörder zu fangen. Seitdem hatte sie Vale immer wieder verschleierte Beschäftigungsangebote unterbreitet. »Du kannst ihr nicht vorwerfen, dass sie den Besten will. Doch keine Sorge. Er wird nicht einwilligen.« Sie waren beide recht fürsorglich, wenn es um ihren Freund ging.
Kai nickte. »Wir sollten versuchen, uns zu entspannen«, regte er an. »Du bist gereizt, weil du dachtest, dies könnte ein vornehmes gesellschaftliches Ereignis unter Unparteiischen sein. Ich bin weniger bekümmert, weil ich wusste, dass wir unter Feinden sein würden.«
So viel zum Waffenstillstand, dachte Irene. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf«, sagte sie. »Wir müssen irgendwo beginnen … Denk dir dazu noch alle anderen typischen Plattitüden.«
Kai kniff unvermittelt die Augen zusammen. »Ich kenne dieses Gesicht dort. Was tut sie hier?«
»Ebenfalls Politik betreiben, wie ich mir vorstellen kann«, antwortete Irene. Die Frau, die sich ihnen näherte, war eine Elfe. Und sie war eine Sekretärin, ein Günstling und das Werkzeug eines Mannes, der zu den Mächtigsten unter den Elfen gehörte. »Sterrington, wie interessant, Sie hier zu sehen.«
Sterrington lächelte und hob ihr Glas zur Begrüßung. »Wie nett, Sie beide zu sehen. Haben Sie in der letzten Zeit irgendwelche guten Bücher gestohlen?« Ihr dunkles Haar war glatt nach hinten gekämmt und in ihrem Genick zu einem tief sitzenden Knoten zusammengefasst; und ihr graues Kleid aus Moiré-Seide war angemessen für die späte viktorianische Periode dieser Parallelwelt. Handschuhe verbargen die Tatsache, dass ihre rechte Hand größtenteils kybernetisch war.
»In der letzten Zeit haben wir ein ruhiges Leben geführt«, antwortete Irene. »Sehr angenehm. Es ist mir tatsächlich gelungen, versäumte Lektüre nachzuholen.«
Es war eine Erleichterung gewesen, ein paar Wochen zu haben, in denen sie sich nicht in Gefahr befand und imstande war, ganz alltägliche Dinge zu tun, wie beispielsweise umzuziehen und ihre Beziehung zu Kai neu zu verhandeln – und sogar einige ihrer Fremdsprachen wieder aufzufrischen. Für die Bibliothek fiktionale Werke aus Parallelwelten zu beschaffen war ihre Berufung ebenso wie ihr Beruf, doch es war auch eine Beschäftigung, die sich selten friedlich oder einfach gestaltete.
»Aha!« Sterringtons hintergründiges Lächeln legte Zweifel nahe, so als ob Irene in Wirklichkeit den Sturz von Monarchen oder Diebstähle in Reichsfestungen arrangiert hätte. »Wie … überraschend.«
»Und ich bin überrascht, Sie hier zu sehen«, sagte Kai. »Ich hatte gedacht, dass Ihr Herr und Meister mit Lord Silver nicht auf gutem Fuß steht.«
»Wenn der Kardinal darauf warten würde, mit Leuten auf gutem Fuß zu stehen, ehe er Sendboten schickt, würde er niemals jemanden schicken«, entgegnete Sterrington. »Weshalb haben Sie mich nicht in Liechtenstein besucht? Ich habe eine Einladung geschickt …«
Liechtenstein war das Hauptzentrum von Elfenaktivitäten in dieser Parallelwelt. Doch als solches war dieses Land einer der Orte, die Irene am wenigsten besuchen wollte. »Ich muss mich dafür entschuldigen, aber ich hätte mich … unwohl gefühlt. Sie wissen ja, dass wir Bibliothekare eine Umwelt mit zu hohem Chaos nicht vertragen können.«
»Letztes Jahr kamen Sie in Venedig ganz gut zurecht«, erwiderte Sterrington.
»Ja«, antwortete Kai. Wie Eisblumen an einem Fenster erblühten schwach zu erkennende Schatten von Schuppenmustern auf seinen Wangenknochen und den Rücken seiner Hände; und ein kurzes Auflodern von Drachenrot glitzerte in seinen Augen. »Wohin die Guantes mich entführten. Ich glaube, Sie haben damals für sie gearbeitet?«
»Schnee von gestern«, sagte Sterrington leichthin. »Ich dachte, dass wir unter dem neuen Friedensvertrag sehr viel verständnisvoller sein würden – bei Kleinigkeiten wie dieser.«
Irene reichte Kai ihr noch halb volles Glas. »Könntest du mir bitte noch etwas Champagner bringen?«, bat sie ihn rasch.
Kai neigte seinen Kopf auf eine Weise, die der Begrüßungsgeste eines Duellanten nicht unähnlich war, und stolzierte davon, um das Gewünschte zu besorgen.
»Anscheinend habe ich einen starken Eindruck hinterlassen«, merkte Sterrington an. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er so leicht beleidigt war, als wir uns das letzte Mal begegneten.«
Irene suchte nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Doch Sterrington kam ihr zuvor. »Möchten Sie gerne etwas Kokain? Es ist von lokaler Herkunft.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Kokain nehmen.«
»Das tue ich auch nicht, ausgenommen zu seltenen Anlässen. Doch Lord Silver glaubt, dass ich es nehme. Und ich möchte ihn nicht enttäuschen.« Sie zuckte bei einem klirrenden Geräusch zusammen, das den Tango fast übertönte. »Was ist denn das?«
»Russische Säbeltänzer, die sich aufwärmen.« Irene hatte verlangt, einen Blick auf den Zettel mit dem Unterhaltungsprogramm zu werfen, bevor sie sich bereit erklärte, an dieser Party teilzunehmen. »Mit folgsamen Afghanischen Windhunden.«
»Nicht mit weißen Hengsten?«
»Die wurden beim Zoll aufgehalten.«
»Es freut mich zu hören, dass Sie mit nichts Besorgniserregenderem beschäftigt sind als mit dieser Art von Angelegenheiten.« Sterringtons elegante Geste umfasste die gesamte Szenerie.
Eine kleine Alarmglocke klingelte in Irenes Hinterstübchen. »Geht denn irgendwo etwas Besorgniserregenderes vor sich – mal abgesehen von unserem gemeinsamen Vertrag?«, fragte sie verhalten.
»Nur das Übliche«, antwortete Sterrington mit einem Schulterzucken. »Tote, Gewalt, Blutvergießen, Attentate, Morde, Diebstähle. Sie und ich sollten ein Zusammentreffen vereinbaren, um dies alles zu besprechen. Ihre persönliche Assistentin soll meine anrufen … Sie haben doch eine, oder? Falls nicht, kann ich für so etwas eine hervorragende Firma empfehlen.« Ihr Tonfall veränderte sich nicht, doch ihre Augen überflogen suchend die Menge, als sie fortfuhr: »Übrigens, Silver hat doch hoffentlich die Liste der Gäste genau überprüft, nicht?«
»Das hat er getan«, bestätigte Irene. So verstohlen, wie sie nur konnte, folgte sie Sterringtons Blick. »Aber Sie zum Beispiel sind einfach durchgewinkt worden; also ist derjenige, der die Namen am Eingang kontrolliert, eindeutig nicht so zuverlässig, wie er sein könnte. Gibt es ein Problem?«
»Möglich. Sehen Sie diesen Elfen dort – den Mann mit der grünen Krawatte?«
Die fragliche Krawatte zeichnete sich durch einen besonders giftig wirkenden smaragdgrünen Farbton aus: eine Schattierung der Art, wie man sie mit Mambas und Giftfröschen assoziiert. Ansonsten sah der Mann ziemlich durchschnittlich aus – für jemanden auf Silvers Partys –, und er stand weniger als fünf Meter von Kai entfernt. »Sie kennen ihn?«
»Ich weiß von ihm. Natürlich habe ich ihn nicht persönlich kennengelernt …«
Irene hätte beinahe ihre Augen verdreht. »Kommen Sie zur Sache.«
»Sein Name ist Rudolf«, antwortete Sterrington. »Er verlor seine Mutter bei irgendeinem Vorfall, der mit der Übernahme ihrer Welt durch Drachen verbunden war. Der Kardinal hörte, dass er plant, sich öffentlich zu rächen, und zwar an dem neuen Abgeordneten der Drachen; und deshalb bin ich hier vorbeigekommen. Ich nehme an, verzweifelte Leute tun verzweifelte Dinge.«
Irenes Blick huschte schnell durch den Raum. Keine Spur von Silver. Und das allgemeine Gedränge der Gäste war so dicht, dass sie mindestens fünf Minuten brauchen würde, um entlang des Rands der Tanzfläche, die augenblicklich von Walzer tanzenden Paaren eingenommen wurde, zu Kai zu gelangen. »Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie in dieser Angelegenheit ehrlich sind«, sagte Irene.
»Die Elfen haben genauso viel zu verlieren wie Sie«, erwiderte Sterrington. »Warum sonst hätte ich mir die Mühe gemacht, Ihnen davon zu erzählen? Ich denke sogar, dass Sie mir für diese Warnung womöglich einen Gefallen schulden. Können Sie ihn aufhalten?«
»Nicht von der anderen Seite des Raums aus.« Die den Bibliothekaren eigene Sprache konnte sehr viele Dinge bewerkstelligen. Sie konnte Champagner zum Kochen bringen, Elektrizität umleiten, Kanäle zufrieren und ganz allgemein die Wirklichkeit beeinflussen. Aber dafür musste sie hörbar sein.
»Was werden Sie tun?«
Also nicht: ›Was sollen wir tun?‹, registrierte Irene mit einem innerlichen Seufzer. »Ich werde ihn aufhalten«, antwortete sie und sprach den am nächsten stehenden Mann an. »Entschuldigen Sie – würden Sie gerne tanzen?«
Seine Augen weiteten sich voller Überraschung. »Ma’am«, begann er, »dies ist ein höchst unerwartetes Vergnügen, und ich kann nur –«
»Tanzen Sie!«, befahl Irene, ergriff ihn energisch und wirbelte ihn auf die Tanzfläche – in Kais Richtung.
»Ich habe niemals zu hoffen gewagt, die Ehre Ihrer Bekanntschaft machen zu dürfen, Ma’am«, säuselte ihr Tanzpartner.
Rudolf war Kai mittlerweile noch näher gekommen – und sie sah, wie sich in der Menge eine Öffnung auftat. »Sie müssen mir später mehr darüber erzählen.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil ich …« – sie löste sich geschmeidig und wirbelte zum nächsten Paar herum – »… die Partner wechsle«, erklärte sie, zerrte die Frau aus den Armen ihres Tanzpartners und änderte ihren Kurs, um näher zu Kai zu kommen.
»Danke«, hauchte ihre Tanzpartnerin und drückte sich an Irenes Schulter. »Ich habe immer schon davon geträumt, in dieser Weise gerettet zu werden. Haben Sie gesehen, wohin er seine Hände gelegt hatte?«
Irene schaute auf den blonden Kopf hinab, der versuchte, sich an ihre Brust zu kuscheln. Dies war das Problem, wenn man in einer Welt mit hohem Chaos tätig war: Alles versuchte immer wieder, sich in erzählerische Standardmuster aufzulösen. Irene hatte nicht beabsichtigt, wie ein edler Ritter jemanden zu retten.
»Keine Sorge«, sagte sie beschwichtigend. »Alles wird in einem Moment in Ordnung sein.« In ungefähr dreißig Sekunden, wenn sie Kai erreichte. Mit einer letzten wirbelnden Bewegung gelangte sie an den Rand der Tanzfläche und ließ die Blondine los, wobei sie ihr noch einen leichten Klaps auf die Schulter gab.
Doch ihre Augen waren auf Kai geheftet. Er hatte die Hände voll – in jeder war ein Champagnerglas. Und Rudolf stand hinter ihm: Eine Hand griff schon ins Jackett, um eine Pistole herauszuziehen.
Ein Schritt. Zwei. Drei. Und sie packte Rudolf an der Schulter. Als er verblüfft die Augen aufriss, verpasste sie ihm mit der ganzen Kraft, die Zorn und Furcht ihr verliehen, einen kräftigen Faustschlag in den Unterleib.
Die Schusswaffe fiel ihm aus der Hand und klappernd auf den Boden, während er auf die Knie stürzte. Er mühte sich darum, wieder hochzukommen; und so hob Irene ihre Röcke und trat ihm obendrein in den Magen. Dabei wünschte sie sich ausnahmsweise einmal, dass sie Schuhe tragen würde, die vorne spitzer zuliefen. Der Kerl brach nach Luft schnappend auf dem Boden zusammen.
Fair zu kämpfen war etwas für Freundschaftsspiele und offizielle Wettbewerbe.
Irene blickte auf und sah einen wachsenden Ring gaffender Schaulustiger. Insbesondere angesichts des Friedensvertrags benötigte sie dringend irgendeinen Vorwand für das, was sie gerade getan hatte – und Sterrington war verschwunden. Zumindest hielt Kai immer noch den Champagner in den Händen. Sie konnte was zu trinken vertragen.
Ihr kam eine Eingebung, als eine Gruppe von Kellnern in einer Art Keilformation durch die Menge auf sie zusteuerte. »Er steht nicht auf der Gästeliste«, behauptete sie und zeigte auf den stöhnenden Rudolf. »Lord Silver wird den Wunsch haben, sich … persönlich um ihn zu kümmern.«
»Tatsächlich?«, sagte Silver, der aus dem Gedränge heraustrat und seine Krawatte wieder festzog.
Plötzlich gab es ein lautes Getöse von Trommeln, und die Kosaken-Säbeltänzer betraten das Parkett. Dies gab Irene die Möglichkeit, näher heranzutreten und zu murmeln: »Sterrington hat mir gesagt, der Mann sei hier, um einen Mordanschlag auf Kai zu verüben. Das wäre dann so ziemlich das beherrschende Ereignis Ihrer Party gewesen.«
Silvers Augen verengten sich, und er ergriff ihre Hand, um seine Lippen darauf zu pressen. »Wie ich seit jeher sage: Du bist meine ganz besondere kleine Lieblingsmaus …«
»Entschuldigung«, sagte Kai und löste Silvers Griff – mit einer Drehung, die recht schmerzhaft aussah. Dann drückte er Irene eine Champagnerflöte in die nun freie Hand. »Verpasse ich gerade etwas?«
Irene widerstand dem Verlangen, ihre Hand an der Stelle zu berühren, wo Silvers Lippen ihre Haut gestreift hatten. Leider hatte der Elf nichts von seiner Verführungskraft verloren. »Bloß ein Attentatsversuch«, antwortete sie. »Wie du sagtest: Wir sind unter Feinden. Lächeln wir. Und gehen weiter umher.«
Als sie in der Kutsche auf dem Rückweg zu ihrer Unterkunft waren, gestattete sich Irene endlich, zu entspannen. Aber selbst durch die dicke Wolle und Seide ihres Umhangs konnte sie fühlen, dass Kai neben ihr so straff gespannt wie Klaviersaitendraht war.
»Du brütest über etwas nach«, sagte sie.
Kai war noch eine Weile still, bevor er schließlich zu sprechen begann. »Ich kann dich gegen rationale Bedrohungen verteidigen«, erklärte er. »Ich kann dich sogar vor den Elfen schützen, und sowohl der Himmel als auch die Erde wissen, dass die irrational sind. Aber wie soll ich dich vor Fanatikern bewahren?«
»Du bist es gewesen, den er zu töten versucht hat«, hob Irene hervor.
»Ja, und du hast dich ihm schnell in den Weg gestellt, um ihn aufzuhalten. Und wie können wir wissen, dass der nächste Killer nicht hinter dir her sein wird? Dass es sich um irgend so einen mordlüsternen Spinner handelt, der geschworen hat, sich an allen Bibliothekaren zu rächen, weil einer von euch einst sein Lieblingsbuch gestohlen hat?«
»Nun ja, das stimmt«, musste Irene eingestehen. »Einige Leute können sich auf ziemlich unverhältnismäßige Racheakte verlegen.«
»Sie sollen mit Absicht unverhältnismäßig sein, um ein Zeichen zu setzen«, erklärte Kai. »Genau das ist der Punkt.«
»Und so zieht es sich durch die ganze Geschichte.« Sie seufzte. »Zweifellos wäre es genau das Gleiche, wenn wir zum Anbeginn der Zeit zurückgehen könnten – zur Geburt der ersten Elfen oder der ersten Drachen …«
Kai schien froh, von seinen grüblerischen Gedanken abgelenkt zu werden. »Das ist die Art von historischen Aufzeichnungen, die man in der Bibliothek finden dürfte«, meinte er. »Weniger unter den Historien meines Vaters. Selbstverständlich müsste er eigentlich eigene Eltern gehabt haben, aber diese Art von Kenntnissen ist in der fernen Vergangenheit verloren gegangen. Wir neigen dazu, uns auf die Zukunft zu konzentrieren.«
Irene spitzte stets ihre Ohren, wenn Kai über die Vergangenheit seines Volks sprach, selbst wenn dies in einer solch vorsichtigen Weise geschah. Er tat dies fast nie. »Glaubst du, dass eure Drachenherrscher die chinesische Mythologie inspiriert haben?«, fragte sie. »Oder die Mythologie im Allgemeinen? Ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass die Namen der Könige oftmals dieselben sind wie in den Märchen.«
»Na ja, das ist offensichtlich«, antwortete Kai. »Schließlich gibt es doch keine anderen Drachenherrscher.«
»Aber lass uns in die Zukunft blicken, nicht in die Vergangenheit … Du hast recht. Wir haben wirklich ein Problem. Was unternehmen wir wegen der möglichen Attentäter? Vor allem, da wir zur Verfügung stehen und bekanntermaßen hier ansässig sein sollen, um für jeden da zu sein, der mit uns reden will.«
Zum Schutz gegen die feuchte Kälte zog Irene ihren Umhang enger um sich. Der Frühling mochte ja unterwegs sein, doch er nahm sich Zeit; und die Nebel in London waren nass und beißend kalt, sodass man bis ins Mark fror. Ihre Stimmung änderte sich, passte sich dem Wetter an. »Kai, würde es kindisch klingen, wenn ich sagte, ich wünschte mir, dass wir fortgingen, um Bücher zu erwerben, anstatt uns als Politiker zu versuchen?«
Sie spürte, wie er sich entspannte, und er drückte ihre Hand durch die Schichten ihres Umhangs. »Das richtige Wort, Irene, ist ›stehlen‹.«
»Oh, Bedeutungslehre. ›Ich erwerbe‹, ›du borgst‹, ›sie stiehlt‹, ›sie dringen ein und rauben‹ …«
Die Kutsche hielt vor ihrer neuen Unterkunft; eine zusätzliche Vergünstigung ihrer Stellungen als Repräsentanten des Vertrags. Kai trat hinaus und half Irene nach unten, bevor er den Fahrer bezahlte.
Irene schaute zu den Fenstern hoch. Im Wohnzimmer war an den Säumen der Vorhänge entlang Licht sichtbar. »Vale ist vielleicht hier«, vermutete sie. »Womöglich hat er diese Recherche schließlich doch beendet.«
Kai lebte sogleich auf und sprang die Stufen zur Tür hoch. Irene folgte ihm in einem langsameren Tempo.
Das Haus war mit Ausnahme einer einzelnen Lampe, die am Ende des Flurs brannte, ruhig und dunkel. Doch unterhalb der Wohnzimmertür drang Licht in die Diele. Es war zwei Uhr morgens, und die Haushälterin dürfte schon vor langer Zeit zu Bett gegangen sein.
Gedanken an die vorhergehenden Geschehnisse der Nacht huschten Irene durch den Kopf, und sie legte eine Hand warnend auf Kais Handgelenk. Das Haus war derzeit mit einem Schutzzauber gegen das Eindringen von Elfen gesichert – was sich als misslich erweisen würde, wenn sie tatsächlich einen Elfen-Kollegen bekamen. Und ein Käfig, der um den Briefkasten herum angebracht worden war, sollte verhindern, dass jemand Bomben, Kugeln mit Giftgas oder riesige Giftspinnen hineinstecken konnte … Wenn man einmal von einer rund um die Uhr im Einsatz befindlichen bewaffneten Wache absah, war es schwierig, das Gebäude noch mehr zu sichern. Vale allerdings hatte einen Schlüssel. Logischerweise würde er es sein – und niemand sonst.
Dennoch, irgendwas verunsicherte Irene. Etwas war … nicht im Lot.
Wer auch immer sich im Hauptraum aufhielt, dürfte sie beim Betreten des Hauses gehört haben. Es war daher sinnlos, zu versuchen, sich zu verstecken.
Sie öffnete die Wohnzimmertür und blieb wie erstarrt im Eingang stehen. Ein Mann hatte das Sofa in Besitz genommen, und mehrere Nachschlagewerke lagen geöffnet in einem chaotischen Haufen aus Notizen und Kritzeleien um ihn herum. Die Frau, die mit angezogenen Beinen in dem großen Ohrensessel hockte, den Irene selbst gerne in Beschlag nahm, war damit beschäftigt, das Kreuzworträtsel der Times zu lösen.
»Irene?«, fragte Kai in schneidendem Tonfall.
»Kai«, antwortete Irene, deren Stimme auf einmal ziemlich erstickt klang, »bitte gestatte mir, dir meine Eltern vorzustellen.«