DAS NEUE GRÜNE ZEITALTER
DAS NEUE GRÜNE ZEITALTER
Wie der Green New Deal unsere Art zu leben radikal verändern wird
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1. Auflage 2021
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Redaktion: Christiane Otto
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: PopTika/Planet-Erde mit Sonne
Satz: Daniel Förster, Belgern
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-86881-851-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-341-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-342-0
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Für Emily und Jakob
EINLEITUNG
Unser Aufbruch in das neue grüne Zeitalter
KAPITEL 1
Individuelle Freiheit, Konsumgesellschaft und die Wut der globalen Mittelschicht
KAPITEL 2
Wie wir ein neues Verhältnis zur Natur aufbauen können – ein Zukunftsprojekt der Versöhnung
KAPITEL 3
Wie wir Technologien zu einem nachhaltigen Innovationsmotor machen und den Weg in das postfossile Zeitalter ebnen
KAPITEL 4
Wie werden wir uns in Zukunft informieren: Es reicht nicht, Fake News mit Fakten widerlegen zu wollen
KAPITEL 5
PeakCar oder die neue Freiheit der Fortbewegung
KAPITEL 6
Unsere Zukunft entscheidet sich in den Städten. Wie können die Menschen den urbanen Raum zurückerobern?
KAPITEL 7
Konsens statt Disruption: Wie wir das Internet als Teil einer progressiven Öffentlichkeit zurückgewinnen
KAPITEL 8
The Great Food Transformation: Wie wir uns in Zukunft ernähren werden
KAPITEL 9
Regenerative Ökologie und kühne Technologien machen die Landwirtschaft nachhaltig
KAPITEL 10
Places matter: Wie wir vor Ort die Welt verändern können
Anhang
2021 ist für Deutschland ein Superwahljahr, das direkt auf den pandemischen Super-GAU folgt. In den vergangenen Monaten, genauer gesagt seit dem Regierungsantritt Joe Bidens in den USA, ist der Green New Deal, bis vor Kurzem nur ein blumiges Versprechen, ins Epizentrum globaler Politikgestaltung gerückt. Die Bundestagswahl am 26. September wird zur »Klimawahl«. Zukunft wird – nach Jahren Trumpscher Dystopie – plötzlich wieder vorstellbar und planbar. Anfang Mai kippte in Deutschland das Bundesverfassungsgericht ein erst anderthalb Jahre altes Klimagesetz, weil es den Anforderungen des Pariser Klimaabkommens nicht in ausreichendem Maße Rechnung trägt. Die Politik ist angehalten, dafür zu sorgen, dass 2030 bereits 65 Prozent und nicht 55 Prozent des Wegs zur Klimaneutralität geschafft sind. Drei Tage später, so war der Süddeutschen Zeitung zu entnehmen, wurde der überarbeitete Gesetzesentwurf vom Umweltministerium auf den Weg gebracht.1
Das Klima genießt oberste Priorität. Wir haben die planetaren Grenzen längst überschritten und können nicht mehr weitermachen wie bisher. Es ist Zeit zu handeln. Nur noch 4 Prozent aller auf der Erde lebenden Säugetiere gehören nicht zu den Menschen oder werden für die Ernährung des Menschen produziert. 70 Prozent aller lebenden Vögel sind Geflügel, vor allem Hühner, die für uns zum Essen produziert werden. Willkommen im Anthropozän, der maßgeblich durch menschliches Handeln geprägten Welt des frühen 21. Jahrhunderts!2 Wir brauchen einen neuen Deal mit der Natur, mit unseren Freiheitsansprüchen und Konsumwünschen. Einen globalen Pakt, der Wirtschaft und Gesellschaft durch eine sozial-ökologische Transformation in ein neues Zeitalter führt.
Zu einem ähnlichen Schluss kam Thomas L. Friedman, als er sich 2008 mit den Folgen der globalen Weltwirtschafts- und Finanzkrise für die Märkte und gleichzeitig mit den Auswirkungen des exzessiven Lebensstils der US-amerikanischen Gesellschaft auf die Umwelt beschäftigte. Der Kolumnist der New York Times berief sich auf den durch Kurt Andersen geprägten Begriff der »Grasshopper Generation« (zu Deutsch: »Heuschrecken-Generation«), die sich auf der Suche nach immer mehr Errungenschaften und einem immer höheren Lebensstandard rücksichtslos durch ihre Umwelt bewegt und den Bezug zum Ökosystem, den planetaren Grenzen und unseren Ressourcen verloren hat. Letztlich war es Friedman, der – zumindest für die nationale Debatte in den USA – den Begriff des »Green New Deal« prägte, als er im Jahr 2007 in seiner The New York Times-Kolumne »A Warning from the Garden« für eine »grüne« Erweiterung des New Deals von Franklin D. Roosevelt aus den 1930er-Jahren und für mehr staatliche Eingriffe angesichts der Klimaerwärmung und ihrer bereits national erlebbaren, drastischen Auswirkungen auf Klima und Umwelt plädierte.3
Friedman lag bereits 2007 richtig: Der Klimawandel ist ein menschengemachter Klimawandel, für den es einen neuen Deal in Wirtschaft und Gesellschaft braucht. Wir brauchen einen Fahrplan, um eine lebenswerte Zukunft für das prekäre Zeitalter des Anthropozäns zu entwickeln. Geschichte wiederholt sich nicht. Doch aus mutigen Maßnahmen in der Vergangenheit lässt sich sehr wohl für die Zukunft lernen. Wir werden in diesem Buch dafür plädieren, dass der Green New Deal, wie er sich seit der Biden-Wahl als transatlantischer, respektive als »doppelter Green New Deal«4 darstellt, die historische Chance bietet, einen gesellschaftlichen Neuanfang zu wagen, der die planetaren Grenzen respektiert und dabei die Möglichkeiten zu einem besseren Leben und humaneren Arbeitsverhältnissen auf der Grundlage einer CO2-neutralen Wirtschaft eröffnet. Damit möchten wir einen Diskurs in Gang bringen, der konkret die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Anthropozän auslotet.
Wovon sich dieser Diskurs bewusst abgrenzt, ist eine Sichtweise, die wir als »das Theorem der Individualisierung der Schuld« bezeichnen. Dahinter verbirgt sich ein Lösungsansatz für unsere ökologische Krisensituation, der davon ausgeht, dass jeder Einzelne durch die Optimierung seines CO2-Fußabdrucks die Welt retten kann. In letzter Konsequenz läuft das darauf hinaus, die Verantwortung für die Bewältigung der Klimakrise dem Verbraucher aufzubürden, was eine absurde Überforderung darstellt und komplett die Existenz von sozioökonomischen Megatrends wie Energiewende, Digitalisierung und soziale Ungleichheit ausblendet.5
In den Positionen von Wachstumskritikern wie Niko Paech und Harald Welzer wird immer wieder ein solcher Rückzug auf die persönliche Klimabilanz gefordert und als einzig taugliche Maßnahme gegen die Erderwärmung präferiert.6 Doch dieses merkwürdig puritanische »Fange bei dir selbst an« schließt sozioökonomische und politische Maßnahmen von vornherein aus; dem Blick auf technologische Entwicklungen verweigert es sich komplett.7 Wir werden in der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass die wirksamsten Hebel bei der Klimabekämpfung aufseiten der Politik und der Wirtschaft liegen. Es ist für jeden Menschen empfehlenswert, einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Wir würden indes einen schweren Fehler machen, eine solche kulturelle Entscheidung, die in beschränktem Maße einen Beitrag zur CO2-Reduzierung leistet, als Lösungsansatz für das Menschheitsproblem des Klimawandels in Stellung zu bringen.
Der Green New Deal hat in den vergangenen Monaten eine beachtliche politische Karriere gemacht. Mit ihm verbinden viele Menschen die konkrete Hoffnung, dass es auf globaler Ebene einen konzertierten Ansatz gibt, die Folgen des Klimawandels einzugrenzen und für eine lebenswerte Zukunft zu sorgen. Viele Klimawissenschaftler, NGOs und Politiker sehen in einem Green New Deal (in der EU wird in der Regel von einem »Green Deal« gesprochen) mithin die letzte Chance, wirkungsvolle Schritte gegen einen Klimawandel einzuleiten, der – wird das 1,5- beziehungsweise 2-Grad-Ziel nicht erreicht – zu unkontrollierten und katastrophalen Kettenreaktionen in unseren Ökosystemen führen könnte.
Die globale Vollbremsung durch die Pandemie hat bei vielen Menschen die Frage aufkommen lassen, wie wir nach der Pandemie leben wollen. Schon in den ersten Tagen des Lockdowns wurde debattiert, wie schnell wir wieder in die alte Normalität zurückfinden werden. Leergefegte Straßen, zugsperrte Flughäfen, digitale Konferenzen im Homeoffice machten schnell klar, dass das Virus uns in eine existenzielle Grenzsituation gebracht hatte. Das erzeugt Angst, schafft aber auch Raum für grundsätzliche Fragen. Eine davon lautete: Wollen wir wirklich in die alte Normalität zurück? Können wir noch einmal in die gewohnte Normalität zurück? Was bindet uns an den Status quo ante? Der forcierte Klimawandel duldet keinen Aufschub, Corona hin oder her. Seit dem Jahr 2008 äußern nicht nur Linksradikale, sondern auch der Chef des World Economic Forum WEF, Klaus Schwab (und mit ihm Spitzenpolitiker, Wirtschaftsführer bis hin zu Oberbürgermeistern der größten Städte der Welt) das Gefühl, dass wir am Ende einer Ära angekommen sind und den Wandel, der durch den Klimawandel mit massiver Wucht herandrängt, endlich gestalten müssen.8
Wieso sollten wir also die historische Zäsur der Pandemie nicht dafür nutzen, einen Neuanfang zu wagen? Konzepte eines Green New Deals hatten sich ohnehin bereits in viele Debatten über die Zukunft des Planeten eingeschlichen. Begreifen wir das, was seit gut fünf Jahren von engagierten Frauen und Männern als Green New Deal zwischen Vancouver und Sydney diskutiert wird, als eine große Chance zur Besinnung und Neuorientierung. Der Green New Deal – ein Tipping Point auf dem Weg in ein neues Zeitalter. Der Green New Deal lädt uns ein, als Weltgesellschaft eine Vision zu entwickeln, die uns einen Weg durch Veränderungsturbulenzen hindurchweist. Dafür benötigen wir nicht nur Geld und Technologien. Wir müssen uns über Werte verständigen, Gewohnheiten, Bequemlichkeiten und Vorurteile ablegen, Alltagskultur und Medien, Konsum und Sehnsüchte hinterfragen. Um den Green New Deal aufs Gleis setzen zu können, müssen wir mit einem Wort eine Grundsatzdebatte darüber führen, wie wir in Zukunft leben wollen.
Wir leben in politisch aufregenden Zeiten. Das sollten wir nutzen, um die Weichen für unsere Zukunft zu stellen. Bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 stimmen wir über unsere Zukunft ab. Wir stimmen darüber ab, ob wir mit einem Green New Deal unsere Zukunft in die Hand nehmen und konstruktiv gestalten können oder ob wir zu desillusionierten Zuschauern einer ökologischen Katastrophe werden. Wie wir in ein neues Zeitalter der sozial-ökologischen Transformation gelangen, hängt weniger von der Tagesbilanz unseres CO2-Fußabdrucks, sondern vielmehr von wichtigen politischen Entscheidungen ab, die nur wir als Gesellschaft treffen können.
Dafür brauchen wir ein robustes Wertesystem (Was ist wichtig, was ist gut und was ist moralisch verwerflich?). Es geht um Werteentscheidungen (Ist es moralisch vertretbar, den Klimawandel zu leugnen?), ohne die aus der grün-digitalen Verheißung kein realitätstauglicher Deal wird. Die entscheidenden Weichenstellungen für das 21. Jahrhundert und die Zukunft der Menschheit brauchen eine weltgesellschaftliche Vision. Nur von dort aus können wir Investitionen und Technologien so steuern, dass nicht der Klimawandel und die polarisierenden Internetplattformen uns vor sich hertreiben, sondern wir künstliche Intelligenz, Social Media et cetera für unsere Vision einer guten Zukunft für alle einsetzen können.
Der Green New Deal hat sich in den vergangenen fünf Jahren von einer radikalen Forderung aus Gruppen von Klimaaktivisten vornehmlich in den USA und Europa zu einem zentralen Begriff des politischen Alltags entwickelt und dominiert seitdem viele Agenden. Den Weg in die transatlantische Politik hat der Green New Deal nicht zuletzt durch die Gesetzesinitiative der demokratischen Kongressabgeordneten Alexandra Ocasio Cortez gefunden. Auf dürren zwölf Seiten fordert die junge Kongressabgeordnete einen grundlegenden Wandel, bleibt dabei aber sehr unkonkret.9 Auch der rasante Aufstieg des Green New Deals in den Strategienetzwerken der Europäischen Union verlangt, in den kommenden Monaten genau zwischen Verlautbarungsrhetorik und tatsächlich eingeleiteten Maßnahmen zu unterscheiden. Skepsis ist allemal angebracht.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am 14. Januar 2020 erste konkrete Vorschläge zur Finanzierung des Green Deal präsentiert. Mit dem »Investitionsplan für ein zukunftsfähiges Europa« (»Sustainable Europe Investment Plan«, kurz SEIP) möchte die EU-Kommission zwischen 2021 und 2030 öffentliche und private Investitionen in Klimaprojekte von »mindestens 1 Billion Euro« mobilisieren – in Summe etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr. Etwa die Hälfte der Billion Euro soll im Rahmen des Klimaausgabenziels des EU-Budgets finanziert werden. Die andere Hälfte setzt sich aus vier Quellen zusammen: 279 Milliarden Euro werden durch das Investitionsförderungsprogramm #InvestEU (öffentliche und private Investments) generiert. Die Idee hinter #InvestEU besteht darin, durch Anreize private und öffentliche Geldgeber zu Investitionen zu bewegen, während staatliche Garantien mögliche Risiken abfedern. 114 Milliarden Euro fließen laut Plan der EU-Kommission durch die nationale Kofinanzierung einzelner Projekte in den EU-Mitgliedstaaten. 100 Milliarden Euro soll der sogenannte »Mechanismus für einen gerechten Übergang« (»Just Transition«) aufbringen. 25 Milliarden Euro fließen aus dem Innovation and Modernisation Fund des EU-Emissionshandelssystems (»Emissions Trading System«, kurz ETS).10
Unmittelbar nach der Wahl Joe Bidens zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika am 20. Januar 2021 legte die US-Regierung einen eigenen Finanzierungsplan für einen Green New Deal vor. Bidens Stimulus-Paket wird bereits jetzt als so etwas wie ein Epochengesetz bezeichnet: 700 Milliarden US-Dollar in Bidens Infrastrukturplan sind allein für erneuerbare Energien vorgesehen, weitere 500 Milliarden US-Dollar für die Investition in Schulgebäude, die Wasserinfrastruktur und die Versorgung mit Elektrizität und Internet für sozial Schwache. Wenig später kündigte Biden an, die Besteuerung für Industrieunternehmen künftig mit einem Mindeststeuersatz von 28 Prozent (Ära Trump: 21 Prozent) anzusetzen.11 Durch den Infrastrukturplan sollen USA-weit 10 Millionen neue Jobs entstehen. Die »lahme Ente« Biden hat augenscheinlich die Zeichen der Zeit erkannt und legt in Windeseile den Grundstein für die größte sozial-ökologische Transformation in der Geschichte der USA.
Meilensteine für Politik, Infrastrukturen und Technologie auf dem Weg in die postfossile Ökonomie
Bidens Anknüpfung an die Person Roosevelt und den New Deal ist mehr als offensichtlich und mitnichten zufällig. Franklin Delano Roosevelt, den in den USA alle nur FDR nennen, hat mit seinem New Deal in den 1930er-Jahren dafür gesorgt, dass ein vernünftiges Sozialversicherungssystem und Mindestlöhne eingeführt wurden. Er hat Bankentrusts und Energiekonzerne zerschlagen und zugleich Sozialwohnungen in den Städten gebaut, die ländlichen Gebiete der USA elektrifiziert und 2 Milliarden Bäume pflanzen lassen. Es waren harte Zeiten. Roosevelt wollte Amerika aus dem tiefen Loch, das der Börsencrash 1929 und die Weltwirtschaftskrise gegraben hatten, herausholen. Das Land, erklärte FDR 1932, noch bevor ihm die Präsidentschaftskandidatur sicher war, brauche und verlange »bold, persistent experimentation. It is common sense to take a method and try it: If it fails, admit it frankly and try another. But above all, try something.«12
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Biden-Administration scheint entschlossen, mit dem Green New Deal ein epochales Reformprojekt anzuschieben zu wollen, das dem Wagnis FDRs in nichts nachsteht.13
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was ist in unseren Wohlstandsgesellschaften der zweiten Wirtschaftswunderwelle ab den 1970er-Jahren schiefgelaufen? Was hat uns getrieben?14 Aus heutiger Sicht haben wir einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, dem Neoliberalismus. Marktgläubigkeit, Deregulierung, Beseitigung von Handelshemmnissen, Schutz privater Kapitalrechte, schlanker Staat, Steuersenkungen wurden selbst von sozialdemokratischen Regierungen (speziell Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland) zu ökonomischen Selbstverständlichkeiten für die Aufrechterhaltung des globalen Wohlstandsniveaus erklärt.
Gerade nach dem Fall der Mauer 1989 schien sich der Kapitalismus in ein goldenes Zeitalter aufzumachen, dessen Signatur ungebremstes Wachstum war – man müsse die Märkte nur ihrem eigenen Spiel der Kräfte überlassen. Neoliberale Theoretiker wie Friedrich A. von Hayek und Ludwig von Mises hatten seit den späten 1920er-Jahren die theoretischen Grundlagen für eine ökonomische Weltordnung gelegt, der ab den 1980er-Jahren mehr Macht und Einfluss eingeräumt wurde als jedem Nationalstaat. Im Zentrum dieses Wachstumswahns stand die Idee eines Marktradikalismus, der Gesetze, Institutionen und Politik dafür benutzte, den Märkten immer mehr Freiräume für ihre schwer vorhersehbaren, aber Wohlstand und Überfluss bringenden Entwicklungen zu schaffen. Dass sich Märkte angeblich nicht prognostizieren oder gar steuern lassen, hat die neoliberalen Theoretiker nicht gestört, das war, ganz im Gegenteil, ein entscheidender Baustein ihrer Philosophie. Aber woher rührte dieser eiserne Kampf um die unberührbaren Märkte? Gelingt es, die Märkte dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, können sie nicht von sozialistischen oder sozialdemokratischen Interessen angeeignet werden. Demokratisierung, Teilhabe, Gewerkschaften, die Ansprüche eines Wohlfahrtsstaates, Umverteilung nach unten – dagegen machte der Neoliberalismus mobil, das weist ihn allerdings auch als reaktionären Gesellschaftsentwurf aus.15
Und dieser Entwurf verwandelte sich im Lauf der 1980er-Jahre insbesondere in den Administrationen von Margret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA tatsächlich in gesellschaftliche Praxis. Im Vereinigten Königreich begann die neoliberale Ära der Deregulierung und des schrumpfenden Staates mit der Privatisierung der Busse und Bahnen. Und die neoliberale Ideologie avancierte in den 1970er- und 1980er-Jahren über die GATT-Verhandlungen (»General Agreement on Tariffs and Trade«) und die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1994 zur hegemonialen Weltwirtschaftsordnung. Es entstand »eine Welt, in der die Wirtschaft vor den Forderungen nach Umverteilung, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit geschützt war«.16 Die schöne neue Weltwirtschaftsordnung der befreiten und unantastbaren Märkte brummte, weil sie beim Verbraucher als »ein unerschöpfliches Füllhorn erschwinglicher Konsumgüter«17 ankam, das von einem Strom billiger Kredite stimuliert wurde – bis 2008 alles zusammenbrach.
Der Konsumrausch fand in der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2007 und 2008 ein jähes und schmerzhaftes Ende. Das System des von fossilen Brennstoffen und überhitzten Kreditmärkten angetriebenen Hyperkapitalismus fuhr frontal gegen die Wand. Die entfesselte Marktlogik, die auf der exzessiven Nutzung von Kohlenwasserstoffen (Öl, Gas, Benzin, Kohle), aus dem Gleichgewicht geratener Globalisierung, ungerichtetem Wachstum und der Ökonomisierung von schlechterdings allem basierte, hat Gesellschaften polarisiert und die Natur zerstört. Wir brauchen einen neuen Entwurf für Wirtschaft und Gesellschaft. Und dabei dürfen wir nicht mehr den Fehler machen, die Ökonomie von der Gesellschaft zu entkoppeln. Eines der durchtriebensten Glanzstücke der neoliberalen Weltbemächtigung war nicht die Abschaffung, sondern die strategisch geplante Indienstnahme des Staates zum Schutz der Märkte.
Von hier aus wird deutlich, worum es beim Green New Deal tatsächlich geht. Es geht um das System, das große Ganze. Ja, wir brauchen ein neues System. Ein System, das neue dekarbonisierte Technologien entwickelt und einen gesellschaftlichen Konsens darüber entwickelt, wie wir in Zukunft leben wollen. Mit »dem System« meinen wir nicht den Kapitalismus im engeren Sinne (Märkte spielen für diese Transformation, wie wir noch sehen werden, eine wichtige Rolle). Wir müssen das alte System, das auf der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Illusion ewigen Wachstums basierte, durch ein neues ersetzen. Das macht einen Transformationsprozess unausweichlich, der die gesamte Industrie und unsere Wertschöpfungsmodelle auf den Kopf stellt. Und mehr noch: Um den ökologischen Kollaps zu verhindern, muss der Green New Deal einen bislang ungekannten gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel in Gang setzen.
Was können wir als Bürger dafür tun? Wie bereits oben angedeutet, können wir gerade dadurch etwas gegen das Fortschreiten des Klimawandels tun, indem wir anfangen, politisch zu denken und uns aktiv für eine Klimapolitik einzusetzen, die ihren Namen auch verdient. Der amerikanische Geophysiker und Klimaexperte Michael E. Mann liegt richtig, wenn er betont: »Wir Individuen spielen dann eine relevante Rolle, wenn wir gemeinsam handeln, wählen gehen und politisches Handeln fordern.«18
Auf den eigenen CO2-Fußabdruck zu achten, ist eine gute Sache, weil sie uns in die Entwicklung nachhaltiger Lebensstile einübt. Was uns aber nicht passieren darf, ist, durch eine solche Individualisierung des Problems den wirklich wichtigen Hebel für die Begrenzung der Erderwärmung aus der Hand zu geben. Und der besteht darin, dass rund 200 Jahre alte System der Nutzung fossiler Brennstoffe durch Maßnahmen im politischen Feld zu deinstallieren. 70 Prozent der menschengemachten Kohlendioxidemissionen werden von rund 100 Kohle-, Öl- und Gaskonzernen erzeugt. Dieser Fußabdruck ist zukunftsentscheidend! Michael E. Mann weist in seinem Buch The New Climate War19 nach, dass das Konzept des persönlichen CO2-Fußabdrucks »in den 2000er-Jahren in den USA vor allem vom Energiekonzern BP populär gemacht«20 wurde. Mann weiter: »Wir dürfen nicht zulassen, dass uns (der persönliche CO2-Fußabdruck, E.W.) als Lösung für die Klimakrise verkauft wird. Denn weder Sie noch ich können einen Preis für Kohlendioxid festlegen. […] Das sind Dinge, die nur Politikerinnen und Politiker tun können.«21 Verhaltensänderungen sind wichtig. Sie sollten jedoch über Anreize schmackhaft gemacht werden, zum Beispiel durch das Überflüssigmachen von Kurzflügen durch ein europäisches Bahnnetz.22
In dem vorliegenden Buch beschreiben wir zehn Handlungspfade, Zukunftsmärkte und -politiken, die, davon sind wir überzeugt, die Lebensstile und Wertschöpfungsmodelle in der Ära des Green New Deal maßgeblich prägen werden. Wir werden diese Zukunftspfade nur dann beschreiten können, wenn wir als lebendige Gemeinschaft mit vereinten Kräften und auf Basis neuer Kooperationsmodelle zwischen Zivilgesellschaft, Staat und Unternehmen losgehen. Von Joe Biden wusste man lange vor der Wahl, dass er Roosevelts New Deal im Kopf hatte. Biden wird nicht müde zu betonen, dass das gespaltene Land nur durch eine große Transformation wieder zusammenfinden kann. Der Green New Deal wird nur dann gelingen, wenn gleichzeitig der Megatrend Ungleichheit und der Megatrend Klimawandel adressiert werden kann. Und das bedeutet: »Jobs, Jobs, Jobs«23, aber in zukunftsfähigen, CO2-neutralen Industrien.
Man kann sich natürlich auch dem egozentrischen (wissenschaftliche Expertisen souverän ignorierenden) Geschreibe von Autoren wie Jonathan Franzen anschließen und den Klimawandel geschehen lassen.24 Doch das wäre ein moralisches Versagen gegenüber der Gegenwart und unserer Zukunft. Franzens fatalistisches und uninspiriertes Requiem für das Klima zeugt für einen weltbekannten Schriftsteller von erschreckender Fantasielosigkeit. Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Klimaforschung aus betrachtet, ist Franzens Text sachlich völlig unhaltbar und in seiner Wirkung noch gefährlicher als die platteste Klimaleugnung. Dabei erleben wir mit der Neuauflage des transatlantischen Klimabündnisses gerade so etwas wie einen Aufbruch, einen positiven »Kipppunkt des Klimaschutzes«25.
Zehn Wege in eine gute Zukunft
Quelle: ITZ 2021
Der Green New Deal schickt sich an, zum größten Reform- und Transformationsprojekt der modernen Menschheit zu werden. Kleiner geht es leider nicht, dafür tickt die Uhr unbarmherzig, denn wir haben nur noch rund zehn Jahre Zeit, um das Schlimmste zu verhindern und Systeme und Technologien für eine postfossile Industriegesellschaft auf den Weg zu bringen. Technologien alleine werden uns allerdings nicht ans Ziel bringen. Dafür müssen wir gesellschaftliche Ziele definieren und eine Vision entwickeln, wie wir in Zukunft leben wollen. Das bedeutet, dass wir viele Grundlagen und Gewohnheiten unseres Lebens und Wirtschaftens in der modernen Gesellschaft prüfen und neu bewerten müssen. Wir stehen vor einem grundlegenden Wandel unserer Lebensgewohnheiten, der Arbeitswelt und der gesamten Weltordnung.
Mit den zehn Handlungspfaden dieses Buches möchten wir Lust auf diese große Transformation machen. Wir möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ab jetzt nicht Schluss mit lustig ist. Wir stehen nicht am Beginn einer Ökodiktatur, wie von konservativer Seite immer gerne ins Spiel gebracht wird. Mit dem Green New Deal, wie er seit Beginn des Jahres 2021 Konturen annimmt, treten die USA und Europa (wieder) als Schrittmacher für das Projekt einer 4. Industriellen Revolution auf. Selbstverständlich sollten wir unseren Fleischkonsum reduzieren, nachhaltiger einkaufen und wieder mehr selbst kochen – aber die kaputte Lebensmittelindustrie verändern wir nur, wenn wir auf politischem Wege eine Veränderung des Systems herbeiführen. Natürlich können wir versuchen, unsere Mobilität einzuschränken und in Zoom-Konferenzen in Kontakt zueinander treten. Als Gesellschaft und politische Menschen können wir in den nächsten Jahren darauf hinwirken, dass wir uns als Gesellschaft von einer überholten Fortbewegungsform wie der privaten PkwMobilität verabschieden – wer würde heute eine klimaschädliche Mobilitätsoption wie den Pkw einführen, in dem deutschlandweit pro Jahr mehr als 1100 Menschen sterben?!26
Wir müssen in den kommenden Jahren eine kollektive Anstrengung unternehmen. Kriegsmetaphern sind eher unangebracht. Die Formulierung von Angélica Navarro Llanos, bolivianische Klimaunterhändlerin beim Pariser Klimaabkommen 2015, trifft es sehr gut: »(…) wir brauchen eine Massenmobilisierung in nie gekanntem Ausmaß. Wir brauchen einen Marshallplan für die Erde. (…) Er muss alle Länder mit Technologien versorgen, um sicherzustellen, dass die Emissionen gesenkt werden und der Lebensstandard der Menschen gleichzeitig gehoben wird.«27
Im Grunde müssen wir eine neue Fortschrittsidee entwickeln, bei der entscheidende Größen wie Natur und Technologie, aber vor allem wir als Individuen einen neuen Ort, neue Verantwortlichkeiten zugewiesen bekommen. Für die Anforderungen des Green New Deals müssen wir bis auf die philosophischen Grundlagen unserer Gesellschaft zurückgehen. Wir müssen langfristige Megatrends, steil aufsteigende Technologietrends und fluktuierende kulturelle Praktiken überprüfen, die für das Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft so eminent wichtig sind. Vor allem sollten wir im 21. Jahrhundert eine moralische Fortschrittsidee verfolgen. Ohne sie werden wir mit der Rettung der Welt keinen Schritt weiterkommen.
Der Bonner Philosoph Markus Gabriel erklärt vollkommen zurecht: »Gibt man die Idee auf, dass der demokratische Rechtsstaat daran beteiligt werden sollte, moralischen Fortschritt zu begünstigen (…)«, könne man die Moderne und den demokratischen Rechtsstaat gleich mit ad acta legen, »da dieser nicht darauf reduziert werden kann, bloß bestimmte Wahlvorgänge und -verfahren zu definieren.«28
Entsprechend bewegen sich die Kapitel der vorliegende Untersuchung entlang solch vielfältiger Themenstränge wie Kap. 1: Freiheit und Verantwortung; Kap. 2: Mensch und Natur; Kap. 3: Technologie und Gesellschaft; Kap. 4: Information und Desinformation; Kap. 5: Mobilität und Digitalisierung; Kap. 6: Urbanität und Teilhabe; Kap. 7: Demokratie und Datensouveränität; Kap. 8: Ernährung und Effizienz; Kap. 9: Landnutzung und Technologie; Kap. 10: Regionalität und Modernisierung. Stets geht es darum, soziale, ökonomische und ökologische Bedingungen für die Umsetzungen eines Green New Deal im Sinne einer großen Transformation für die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu analysieren.
Wie wir in der vorliegenden Studie zeigen werden, sind für den großen Wurf einer kohlendioxidfreien Weltwirtschaftsordnung eine moralische Fortschrittsidee und ein radikal klimafreundlicher Technologiewandel unausweichlich. Die Auswirkungen der »sozialdemokratischen Revolution« des New Deals sind in den Vereinigten Staaten bis heute spürbar. Durch die große Reform in den 1930ern angestoßen, arbeiten noch heute USA-weit 2,5 Millionen Menschen in der Forstwirtschaft. Die Forstwirtschaft erarbeitet 1,5 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts.34 Aufforstung wird auch in den kommenden Jahren als regenerative Maßnahme – nicht nur in den USA – zum Einsatz kommen. Eine Studie hat errechnet, dass eine Million US-Dollar, die beispielsweise in das Pflanzen von Bäumen gesteckt wird, 39,7 neue Jobs in der Forstwirtschaft schaffen kann. Dahingegen schafft das gleiche Investment in der Ölindustrie gerade einmal 5,2 neue Jobs.35
Die große Transformation des Green New Deal schafft durch den radikalen Technologiewandel neue und bessere Jobs. Grüne Jobs lassen sich nicht einfach quantifizieren wie beispielsweise in der Stahlindustrie oder im Bergbau. Viele dieser Jobs wandern in klassische Branchen ein. Grüne Jobs finden sich auf unterschiedlichen Hierarchiestufen. Die meisten grünen Jobs in den USA sind wohl in der Energieeffizienztechnologie zu verorten; dort gehen die Marktexperten von E2.org mittlerweile von mehr als 2 Millionen Jobs aus.36 Von insgesamt 24 Millionen neue Jobs durch die sozial-ökologische Transformation geht mittlerweile die International Labour Organization (ILO) aus.37
Wie es Michael E. Mann fast beschwörend ausdrückt: »Wir sind so nah dran.«38 Vor allem die globale Energiewende hat das Potenzial, die Machtverhältnisse auf der Welt zu verändern und damit auch Ungleichheiten in Gesellschaften und zwischen Gesellschaften zu beseitigen. Arme Länder könnten dabei die größten Nutznießer sein. Sie hätten das größte Potenzial für Solar- und Windkraftanlagen und könnten davon wirtschaftlich enorm profitieren. »Der afrikanische Kontinent zum Beispiel ist eine Supermacht für erneuerbare Energien mit 39 Prozent des globalen Potenzials«, heißt es in einem Report der Carbon Tracker Initiative.39 Dass der Weg aus der fossilen Energiewelt nicht einfach wird, ist jedermann klar: Nach wie vor stützen weltweit mehr als 100 Staaten den Preis fossiler Brennstoffe durch Subventionen. Ein Umdenken kann auch hier starke Hebelwirkungen im Kampf gegen die Erderwärmung entfalten. Laut einer IISD-Studie würde eine 30-prozentige Reduktion der Subventionen unter den 20 größten Nutzern fossiler Brennstoffe dafür sorgen, dass zwischen 11 und 18 Prozent der CO2-Emissionen eingespart werden könnten.40
Die meisten Technologien, die wir für den Green New Deal benötigen, sind bereits vorhanden. Die Fläche an Sonnenkollektoren, die wir benötigen, um die gesamte Menge an Energie für die Welt zu liefern, beträgt gerade einmal 450.000 Quadratkilometer, 0,3 Prozent der globalen Landfläche.41 Schon in der Mitte der 2030er-Jahre könnten alle fossilen Brennstoffe aus der Stromerzeugung, bis 2050 aus der gesamten Energieversorgung verschwunden sein. Gleichzeitig werden dadurch die Energiepreise deutlich fallen, was gerade ärmeren Regionen einen erheblichen Modernisierungsschub verleihen sollte.