Die Autorin
Jalda Lerch kommt aus Berlin und lebt, nunmehr mit Familie und Hund, bis heute dort. Sie lernte Wirtschaftskaufmann, studierte Soziologie und arbeitete einige Jahre in kleineren Redaktionen und Verlagen. Wenn sie nicht gerade Krimis schreibt oder kocht, liest sie und verreist, so oft es geht.
Das Buch
Ein neuer Fall für Lars Behm
Hauptkommissar Lars Behm ist stolz auf sich: Mit vierzig zieht er endlich bei seiner Mutter aus und wohnt mit einem alten Freund zusammen. Statt Veggieküche gibt es jetzt jeden Abend Wurst und Bier vorm Fernseher. Doch ein neuer Fall schränkt sein nunmehr entspanntes Privatleben ein: Nach einer rauschenden Party im idyllischen Karolinenhof wird ein Toter im angrenzenden Wald gefunden. Unter seiner Hand klemmte ein Pappschild mit der Aufschrift: Waffen töten. Nur wenige Tage später wollte der Mann seinen neuen Job in einer Firma für Waffentechnik unten in Bayern beginnen. Die Familie sollte mit. Wirklich begeistert war darüber niemand. Lars Behm und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Stecken vielleicht militante Friedensaktivisten hinter der Tat, wie es das Schild vermuten lässt? Oder stammt der Täter doch aus dem persönlichen Umfeld des Opfers?
Von Jalda Lerch sind bei Midnight in der Lars-Behm-Reihe bereits erschienen:
Tödliches Lächeln (Fall 1)
Party in den Tod (Fall 2)
Jalda Lerch
Mit dem Finger am Abzug
Ein Fall für Lars Behm
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
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Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2016 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95819-086-3
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»Auf zu neuen Ufern!«
Jens umklammert den Stiel seines zur Hälfte gefüllten Weißweinglases wie den Griff einer Tischtenniskelle und streckt es Martina zum Anstoßen entgegen. Der laue Spätsommerabend ist wie gemacht für eine Flasche Grauburgunder auf dem Balkon. Noch immer blüht der zerrupft aussehende Oleanderbusch und der Hibiskus leuchtet tiefrot in den letzten Strahlen der Abendsonne, die sich auf den Balkon verirren. Der alte Friedhof, der an den Bürgerpark grenzt, liegt auf der gegenüberliegenden Straßenseite schon im Dämmerlicht.
Martina hebt ebenfalls ihr Glas. Sie blickt tief in die graugrünen Augen ihres Mannes, die entschlossen und zuversichtlich gucken wie selten, und lächelt ihn an. Oder lächelt sie über ihn? Und wäre das denn ein Wunder? Seit jeher hasst Jens Veränderungen jeder Art. Für ihn soll immer alles gefälligst so bleiben, wie es ist. Was, schon wieder neue Nachbarn? Was sind denn das für komische Nudeln, die hatten wir ja noch nie! Sogar das Wachstum der Kinder kommentiert er zuverlässig mit einem Seufzer: Schon wieder ein Zentimeter mehr! In letzter Zeit aber gibt Jens dauernd Aufbruchsparolen von sich, als wäre er ein Mentalcoach oder gar ein Revolutionär.
Als sich die Weingläser endlich über dem kleinen Balkontisch treffen, klingt es, als wären sie aus Plastik.
»Ja, auf in den Kampf!«, entgegnet Martina und bemerkt zu spät, dass ihr Lächeln zu einer gruseligen Maske gefriert. Was ihr wiederum in letzter Zeit öfter passiert.
»Wieso guckst du denn schon wieder so komisch?!«, fragt Jens prompt, trinkt sein Glas in einem Zug leer und knallt es auf den Tisch. Wieder registriert Martina dieses Plastikgeräusch.
»Mensch, Martina, ich habe dir doch versprochen, dass wir sofort zurück nach Berlin gehen, wenn du dort unten unglücklich bist!«
Martina nickt brav, obwohl sie es natürlich besser weiß. Wenn es so weit ist, wird er ihr Unglück Frust nennen. Und mit einem hämischen Unterton in der Stimme wird er sie fragen, wie sie sich das überhaupt vorstelle, dieses Zurück nach Berlin: Wie sollten sie dort ohne Job und mit zwei Kindern eine passable Wohnung finden? Daran aber will Martina jetzt bloß nicht denken. Die Entscheidung ist gefallen und basta. In drei Wochen kommt der Umzugswagen und bringt all ihre Möbel und den Hausrat zu diesen neuen Ufern.
Und die liegen unten in Bayern.
»Ein Garten wäre schon toll«, sagt Martina, und während sie verträumt an ihrem Glas nippt, sieht sie sich bereits mitten in einem grünen Paradies. Bunte Stockrosen vor einem rustikalen Holzzaun, dunkelrote Tomaten an üppigen Stauden und ein Kräuterbeet mit Basilikum, Petersilie und Rosmarin, das in der Sonne vor sich hin duftet. Das wäre nicht nur entspannend, sondern sogar hip. Neuerdings gärtnern doch alle wie verrückt herum, sogar mitten in der Stadt: Auf mickrigen Balkons oder Kollektivgrundstücken, in zweckentfremdeten Einkaufswagen oder unter den Bäumen am Straßenrand.
»Und dann die Berge!«, schwärmt Jens und schenkt sich noch Wein nach. »Und die vielen Seen! Da können wir am Wochenende wandern. Und Ski fahren!«
Die Aussichten auf derartige Unternehmungen dämpfen Martinas Vorfreude umgehend, ist sie doch ein ausgemachter Sportmuffel. Das Spiel mit der Fantasie gefällt ihr dafür umso mehr.
»Und Lukas kommt auf eine gute Schule mit freundlichen Jungs. Und Mia endlich weg von ihren Chaoten.«
Martina nimmt jetzt ebenfalls einen großen Schluck Wein, als könne der sie umgehend vergessen machen, dass Mia gar nicht aus Berlin weg will. Auf gar keinen Fall, nicht einmal um den Preis eines eigenen Pferdes, mit dem sie sie hatten bestechen wollen. Aus diesem Grund hat ihre sonst so faule Tochter sogar einen Termin beim Jugendamt organisiert, um ganz offiziell durchzusetzen, dass sie künftig bei ihrer Oma in Hellersdorf wohnen darf. Die sich natürlich ebenfalls nach Kräften und vollbepackt mit Bedenken und Sorgen gegen diesen Umzug stemmt wie ein bockiges Kind. Überhaupt ihre Mutter mit ihrem ewigen Gejammer! Martina unterdrückt einen Seufzer, denn auf keinen Fall will sie wie diese in Selbstmitleid untergehen.
»Und Österreich ist gleich um die Ecke!«, macht Jens munter weiter. »Und Frankreich und Italien!«
»Statt Polen!«, ergänzt Martina und lacht, allerdings mit winzigen Tränen in den Augenwinkeln, die Jens hoffentlich nicht bemerkt. Sogar das Wort Polen klingt plötzlich nach Heimat, bemerkt Martina verdutzt. Sie sollte heute wirklich nichts mehr trinken, beschließt sie, und gießt noch schnell den Rest aus der Weinflasche in ihr leeres Glas.
Unten auf der Straße läuft gerade der Vater von Anton vorbei und grüßt, eine Hand an der Baskenmütze, hoch auf den Balkon. Diese winzige Geste versetzt Martina einen Stich ins Herz. Bereits jetzt vermisst sie den munteren Elternstammtisch der Klasse 4c, wo niemand so recht erwachsen sein will.
»Wir schaffen das schon, wirst sehen.«
Wieder nickt Martina zustimmend. Und wieder blitzt dieses dramatische Wort in ihr auf: Exil. Schuld daran ist Romy. Vor zwei Jahren war die Freundin ihrem Mann nach Kiel gefolgt und verschickt nun vierteljährlich per Rundmail ihre »Briefe aus dem Exil«, in denen sie mit viel Galgenhumor ihr deprimierendes Leben in der spröden Küstenstadt beschreibt.
»Klar schaffen wir das«, antwortet Martina müde und so viele Sekunden später, dass Jens gar nicht mehr mit einer Entgegnung gerechnet hat.
»Wir sind doch ein Power-Team, weißt du noch?«, erinnert er Martina leise mit einer Floskel von Lindenberg, die er seit Jahren nicht gebraucht hat.
Ja, denkt Martina gerührt. Sie steht auf und setzt sich, etwas ungelenk, auf den Schoß ihres Mannes, was sie ebenfalls seit Jahren nicht getan hat. Und in diesem Moment ist sie ganz sicher: Gemeinsam können sie es schaffen.
Egal wo auf der Welt.
Sogar in Bayern.
»Jens?«
Leicht genervt rief Martina den Namen ihres Gatten in den morgendlichen Garten, während sie selbst noch schlaftrunken auf nackten Füßen durch das feuchte Gras taumelte. Doch die frische Luft, die bereits ein wenig nach Herbstnebel roch, kitzelte sie wach. Der Duft von Nadelbäumen und Moos betörte ihre Sinne und beruhigte ihr Innerstes.
Was für ein schönes Fest war das gestern gewesen!
Sicher, der Anlass war traurig. Aber immerhin waren alle gekommen – Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kollegen –, um ihnen Mut für die Zukunft zu machen: Wohin auch immer es euch verschlägt, wir vergessen euch nicht! Dieser Gedanke wurde zum eigentlichen Motto der Party, und das hatte überraschend gutgetan. Kraft gegeben. Martina musste lächeln, und diesmal war ihr Lächeln nicht starr und verkrampft wie eine Maske, hinter der sie sich versteckte, sondern lebendig und frisch wie dieser Morgen hier draußen in der Natur. In den hohen Bäumen, die vereinzelt und wie zufällig im Garten verteilt waren, sangen die unterschiedlichsten Vögel, die sie als Städterin gar nicht zu benennen wusste. Lediglich das kleine Tier mit dem rotbraunen Fell, das flink an einem dunklen Baumstamm emporkletterte, erkannte sie eindeutig: Es war ein Eichhörnchen.
Diese Abschiedsfeier hier draußen am Ende der Welt war die geniale Idee ihrer Freundin Jana gewesen, die sie am meisten vermissen würde. Aber auch Tom, Bernd, ihre Kollegin Nadja. Und ja, natürlich ihre Mutter. Gelegentlich jedenfalls. Die Fete letzte Nacht hatte Martina deutlich gemacht, dass es irgendwie weitergehen würde: »He, wir kommen euch natürlich besuchen!« – »Dann machen wir München unsicher.« – »Oder auch in Pasing, Aubing oder Trudering, wo auch immer ihr euch einnistet, ganz egal.« – »Spätestens zum Oktoberfest sehen wir uns wieder!«
Martina schlang die Arme fest um sich, als könnte sie all die warmen Gefühle in ihrem Inneren damit beschützen. Die für Jens, für die Kinder. Sogar für ihre Mutter. Für niemanden würde die neue Situation leicht werden, und doch befiel Martina zum ersten Mal das Gefühl, das Richtige zu tun. Indem sie ein »Wagnis« einging, wie ihre Oma es genannt hätte. Denn so war das Leben nun einmal: Ein einziges Wagnis.
Obwohl ihre Füße inzwischen so feucht und durchkühlt waren, dass eine Erkältung oder Blasenentzündung unvermeidlich schien, lächelte Martina weiter zufrieden vor sich hin.
Es schien, als wäre endlich der berühmte Groschen gefallen. Oder ein Schalter im Kopf umgelegt. Als hätten obskure biochemische Vorgänge in ihrem Hirn die Umzugspläne endlich mit einem positiven Blick in die Zukunft verlinkt. Nun endlich würde sie ihrer Tochter ehrlichen Herzens Mut machen können, es da unten in Bayern doch wenigstens zu probieren. Und sogar ihre Mutter davon überzeugen, die Hunderte Kilometer Entfernung von ihren Enkelkindern einfach als Katzensprung zu betrachten. Es war schließlich alles nur eine Frage der Perspektive! Und sollte Mia für eine Weile bei ihrer Mutter wohnen, ginge die Welt davon vermutlich auch nicht unter. Insgeheim ahnte und hoffte Martina jedoch, dass ihre eigenwillige Tochter es sowieso nicht lange bei ihrer Mutter aushalten würde. Denn wie anstrengend das Zusammenleben mit dieser pingeligen Person war, wusste kein Mensch besser als Martina selbst.
»Jens?«
Wie oft in ihrem Leben hatte sie schon nach ihrem Mann gesucht? Ob beim Shoppen in einer Fußgängerzone, beim Pilzesammeln im Wald oder sogar in der Wohnung, wenn er mal eben einkaufen ging, ohne Bescheid zu sagen. Es war immer dasselbe mit ihm. Aber noch war er immer wieder aufgetaucht.
Körperlich erschöpft und von leichtem Kopfschmerz gepeinigt steuerte Martina das kleine Gartenhäuschen an, das am Rand der feuchtkalten Wiese stand. Sie setzte sich auf die marode Holzbank unter dem trüben Fenster und zog die Füße zu sich hoch auf den Sitz, um sie mit den Händen ein wenig durchzukneten und aufzuwärmen. Trotz dieser unbequemen Haltung auf der harten Bank genoss Martina diesen Moment, vor allem die zwitschernde Einsamkeit um sich herum. In wenigen Minuten würde sie sich, nach nur drei oder vier Stunden Schlaf, wieder ins Getümmel stürzen. Gemeinsam mit Jana würde sie das Frühstück für die Gäste zubereiten, und zwar möglichst gut gelaunt und scherzend.
Martina blickte auf das stattliche Haus mit Fachwerk und einer verspielten Veranda aus Holz und Glas, in dem ihre Freunde schliefen oder allmählich erwachten, und dachte zurück an die Party der letzten Nacht. Das zunächst einigermaßen gepflegte Beisammensein war ziemlich rasch zu einem kollektiven Rausch mutiert. Die Musik wurde lauter, das Chaos größer, das Verhalten der Leute jünger und verrückter – und die Gedanken an den nächsten Morgen oder an die Nachbarn wurden immer weniger und hörten schließlich ganz auf. Eine rundum gelungene Fete, wie vor zwanzig Jahren.
Als ihre Freundin Jana vor einiger Zeit bemerkt hatte, wie sehr Martina wegen des Umzugs nach München in Resignation zu versinken drohte, hatte sie ihr geraten, in die Offensive zu gehen. Dann hatte sie es sogleich selbst in die Hand genommen, diese legendäre Abschiedsparty für sie und Jens zu organisieren. Vermutlich nicht zufällig in keiner lässigen Kneipe in irgendeinem Szeneviertel oder einer anderen coolen Location, sondern hier draußen am Ende der Welt, im Haus ihrer Eltern, mitten im Grünen.
Umgeben von frischer Luft und fröhlichem Vogelgezwitscher.
In einem kleinen Paradies, wie Martina vielleicht bald ein ähnliches haben würde.
Unten in Bayern.
Doch, sie könnte sich daran gewöhnen, das wusste Martina nun. Von jeher war sie ein sinnlicher Mensch, und der Duft hier draußen war einfach betörend frisch und würzig. Ganz anders als die vielbesungene »Berliner Luft«, die lediglich als Metapher sinnlich war.
Martina blickte sich um, sie suchte das drollige Eichhörnchen. Doch das war verschwunden.
Genau wie Jens.
Martina fielen die Laufschuhe ein, die er extra zur Party angezogen hatte. Natürlich! Erleichtert schlug sie ihre flache Hand gegen die Stirn. Vermutlich war Jens früh, als sie noch schlief, leise aufgestanden und joggen gegangen. Ohne sich zu verabschieden. Kein Zettel und nix.
Doch das war Martina egal. So war Jens eben. Immer schon gewesen. Sie freute sich einfach auf seine Rückkehr. Verschwitzt, wie er war, würde sie ihn umarmen, ihm einen Kuss auf die salzigen Lippen drücken und danach in sein Ohr flüstern: »Ich freu mich schon auf unsern Umzug in den Süden!«
Das klang doch prima.
Das Wort Bayern hingegen wollte ihr in diesem Zusammenhang noch immer nicht so leicht über die Lippen kommen.
Wie eine rührige Herbergsmutter wirbelte Jana in der großen Küche im Haus ihrer Eltern herum: Sie kochte kannenweise Kaffee, holte buntes Geschirr aus alten Bauernschränken, ließ von jenen Gästen, die bereits vor Ort waren, weitere Stühle herbeischaffen.
Nach und nach schleppten sich zerstört aussehende Partyleichen die knarrende Treppe herunter und ließen sich entweder sofort auf einen Stuhl fallen, wie Bernd, Sascha und René, oder halfen eifrig beim Tischdecken, wie Judith, Katleen und Sabine. Die Rollen waren überraschend klassisch verteilt, beobachtete Martina amüsiert, während sie die noch leeren Stühle zurechtrückte und sich schließlich, um mit dem Klischee zu brechen, selbst auf einen von ihnen setzte. So wie die faulen Jungs.
»Wo ist denn Peter?«
»Schnarcht noch«, antwortete die dralle Judith, die mit diesem Mann erst seit zwei Wochen liiert war, mit verzückter Stimme.
»Und wo ist Jens?«, fragte sie zurück.
»Weg!« Martina lachte. »Vielleicht ist er ja mit Melly durchgebrannt, die fehlt auch noch.«
Martinas junge Kollegin, die hübsche und freche Melanie, war eine der wenigen Singles unter den Anwesenden. Für einen Moment erschien Martina ihr eigener Scherz überhaupt nicht mehr lustig. Was wäre, wenn? Vielleicht trieb Jens gar nicht draußen im Freien Sport, sondern in Mellys Bett? Ihr Gesicht verdüsterte sich augenblicklich.
»Ach Quatsch, Melly war doch hinter Tom her, weißt du noch? Aber den hast du ihr ja dann erfolgreich vor der Nase weggeschnappt«, erklärte Katleen sachlich, während sie die Messer auf dem Tisch verteilte, exakt an dem jeweiligen Teller ausgerichtet. Sogar wenn diese Frau eine ganze Flasche Wein intus hatte, verlor sie nie ihren nüchternen Tonfall.
Tom? Weggeschnappt? Sie?
Martina war verwirrt. Thomas Schwarz war der beste Freund ihres Mannes, der Bruder, den Jens nie hatte. Ein kompakter Kerl, ein ruhiger Typ. Obwohl er das Haar extrem kurz und nicht etwa zottelig trug, erwartete man aus seinem Mund statt schlauer Worte eher das gemütliche Brummen eines Bären.
Unruhig stand Martina wieder auf und lief zu ihrer Proviantkiste, die auf der breiten Fensterbank stand. Sie holte drei Gläser Marmelade heraus, Erdbeer, Himbeer und Aprikose, sowie diverse Packungen Käse, in Scheiben, als Aufstrich und drei Leibchen französischen Camembert. Damit es voranging und dieses Frühstück vorüber.
»Habt ihr hier einen Toaster?«, wandte sie sich an Jana und hob die Hände hoch mit den zwei Tüten Toastbrot, einmal Weizen und einmal Vollkorn.
»Da drüben neben dem Herd«, antwortete Jana, dann wandte sie sich an Katleen: »Es gibt nun mal Leute, die feiern, und solche, die immer bloß zugucken.«
Die zarte Katleen stützte sich mit den Händen auf einer Stuhllehne ab und zuckte mit ihren knochigen nackten Schultern, denn sie trug lediglich ein blaues Feinripphemd.
»Wenn das feiern sein soll, dass man sich an den Mann seiner besten Freundin ranschmeißt, dann gucke ich wirklich lieber zu!«
Verstört sah Martina von einer zur andern. Trotz der harschen Worte war der Ton der beiden Frauen äußerst gelassen, die Stimmung weiterhin friedlich, jedenfalls an der Oberfläche. Vermutlich war auch das Hirn der andern, genau wie ihr eigenes, dank des Katers in eine angenehme Wolke gehüllt, die die Realität sanft abfederte. Indes, was hatte Katleen Jana da eben vorgeworfen? Dass sie sich an den Mann ihrer besten Freundin herangemacht hatte? Also an ihren?
»Da muss ich Jens aber mal in Schutz nehmen«, meldete sich Bernds angenehm tiefe Stimme aus dem Hintergrund. »Es war schließlich dunkel. Und ihr seht ja aus wie Zwillinge.« Er sah grinsend von Martina zu Jana. »Da kann es schon mal zu Verwechslungen kommen!«
Sein krächzendes Gelächter dröhnte in Martinas empfindlichen Ohren. Als würde dieser Lärm sie zum Einstürzen bringen, stützte sie sich sicherheitshalber mit der linken Hand am Küchenschrank ab und stopfte mit der rechten nacheinander zwei Scheiben Weizentoast in die Schlitze des Toasters. Dann drückte sie den Schaltgriff herunter und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.
»Ach, da ist ja der Herr Schwarz!«
Martina drehte sich abrupt um und sah Tom in die Küche wanken wie ein Cowboy in einen Saloon. Er streifte sie mit einem, wie ihr schien, verlegenen Blick. Dann ließ er sich auf den Stuhl fallen, den Bernd ihm angeboten hatte, gleich neben sich. Sein blasses Gesicht war verquollen und erinnerte nur entfernt an jenes, das Martina gestern vor sich gesehen hatte: Mit diesem äußerst knappen Lächeln um die Mundwinkel und blauen Augen wie Eis, das man unbedingt zum Schmelzen bringen will.
Martina wandte sich von den andern ab und sah durch das Fenster hinaus in den Garten, in dem es mindestens so wüst aussah wie in ihrem Kopf. Grelle Erinnerungsfetzen schwirrten darin herum, die es zu sortieren galt.
Vergangene Nacht, so erinnerte sie sich, war sie tatsächlich ein wenig übermütig geworden. Sie hatte es für eine gute Idee gehalten, sich von Tom mit einem Tanz zu verabschieden. Doch nach »Baby Jane« von Rod Stewart folgte, dank Zufallsgenerator, »Heart of Gold« von Neil Young. Ein Kuschelsong. Und danach musste jemand Böses, vermutlich Katleen, den Zufallsgenerator außer Kraft gesetzt und selbst aufgelegt haben. Jedenfalls kamen nur noch langsame Lieder, eins nach dem andern.
Oder nicht?
Zack! Erschrocken zuckte Martina zusammen, als die Toastscheiben aus den Schlitzen hüpften. Nein, fiel ihr ein. Es waren lauter rockige Songs aus der Box gekommen, von den Stones oder Bowie. Statt nach den Brotscheiben zu greifen, hielt sich Martina vor Schreck die Hand vor den Mund, als würde das jetzt noch helfen. Unerbittlich kehrte die Erinnerung an die frühen Morgenstunden zurück: Engumschlungen hatten Tom und sie einfach weitergetanzt. Zu egal welchem Rhythmus, Reggae, Rock oder Punk.
War Jens vielleicht deswegen verschwunden?
Endlich griff Martina nach den heißen Toastscheiben. Und verbrannte sich daran die Finger.
Was für ein herrlicher Anblick!
Lars Behm konnte sich gar nicht sattsehen an den vier graubraunen Umzugskartons, die jeweils zu zweit übereinandergestapelt im kleinen Korridor bereitstanden. Immer wieder lugte er durch die offene Küchentür zu ihnen hinüber, während er mit seiner Mutter eine letzte Tasse Kaffee trank.
Vier Kartons, mehr brauchte er nicht. Bett und Schrank waren in der neuen Wohnung vorhanden.
Denn es war soweit: Lars zog von zu Hause aus. Endlich hatte er den Absprung geschafft.
»Meinst du wirklich, dass ihr euch versteht, Torsten und du?«
Sibylle Behm sah Lars besorgt an. Dabei hielt sie sich ein Stofftaschentuch vor die Nase, deren exzessiver Gebrauch sonst eher die Marotte ihres Sohnes war. Aber heute war nun mal ein besonderer Tag. Und das Taschentuch sollte ihrem Jungen signalisieren, dass sie wegen seines Auszugs kurz vor einem heftigen Tränenausbruch stand.
Was natürlich Quatsch war. Es wären allerhöchstens Freudentränen, die die drahtige, zarte Frau mit dem kurzen, grausilbernen Haar vergießen würde. Und die Frage nach Torsten war absolut rhetorisch gemeint.
»Torsten ist in Ordnung«, brummte Lars.
Er zog nämlich nicht etwa in eine eigene Wohnung, sondern zu Torsten, einem Schulfreund. Das hatte sich so ergeben. Doch immerhin: Zum ersten Mal in seinem Leben würde er nun von zu Hause ausziehen. Weg von Muttern. Nach vierzig Jahren des Zusammenlebens.
Das war schon hart.
Lars sann darüber nach, wie er seiner Mutter diesen dramatischen Abschied erleichtern könnte.
»Ich komme dich auf jeden Fall besuchen, Mama. Einmal in der Woche sollte man schließlich einen Veggie-Day einlegen, behaupten die Grünen«, sagte Lars versöhnlich. »Und wenn irgendwas ist …«
»… dann rufe ich dich einfach an!«
Sibylle Behm nickte hastig und lächelte, wobei sie aufpassen musste, dass dieses Lächeln nicht in ein überglückliches Strahlen ausartete. So sehr genoss sie diesen Moment, auf den sie so viele Jahre gewartete hatte! Noch saß ihr Sohn hier mit ihr gemütlich am Küchentisch und schlürfte seinen heißen Kaffee, wie immer zu laut. Doch jeden Augenblick konnte es an der Tür läuten und sein Freund Torsten würde davorstehen, um Lars und seine vier Kisten mit zu sich zu nehmen.
Nach vierzig Jahren würde sie endlich wieder ein eigenes Leben haben!
Allein beim Gedanken daran fühlte sich Sibylle sofort zwanzig Jahre jünger. Nur durfte sie sich ihre stiefmütterlichen Gefühle nicht allzu deutlich anmerken lassen.
»Tja«, sagte Lars und sah nunmehr seine Mutter an, nicht mehr die Kisten im Flur. Für einen Moment glaubte er, so eine Art Vorfreude in ihren Augen aufblitzen zu sehen, wie in den Augen eines Kindes an Weihnachten. Doch sicher irrte er sich. Vermutlich waren es Tränen, die dort schimmerten.
»Ab und zu mache ich dir auch ein Schnitzel, wenn du kommst. Aus Bio-Fleisch!«, sagte Sibylle rasch, um ihren Sohn abzulenken. Eben hatte er sie so kritisch angesehen, als ahnte er etwas von ihren beschwingten Gefühlen, die sie krampfhaft hinter dem Taschentuch zu verbergen suchte.
»Und denk dran, Wäsche braucht man nur bei dreißig Grad zu waschen, dank der Wirksamkeit der Waschmittel heutzutage. Höhere Temperaturen sind reine Energieverschwendung, sauberer wird dadurch nichts.«
So scharf Sibylle Behm auch nachdachte, es war im Moment der einzige Tipp für den Start in den eigenen Haushalt, den sie auf die Schnelle für ihren Sohn parat hatte.
Lars nickte eifrig, als hätte er wirklich zugehört, und warf einen Blick auf die hässliche gläserne Küchenuhr – die er schon jetzt vermisste! So viel Sentimentalität musste sein. Es war bereits drei Minuten nach elf. Jeden Moment konnte es klingeln. Eigentlich müsste er nun wohl so Sachen sagen wie: Danke, Mama, für alles! Oder: Wie werde ich dich vermissen! Denn dass seine streng vegetarisch lebende Mutter ihm bei seinem Besuch ein Schnitzel machen wollte, kam definitiv einer Liebeserklärung gleich.
Als die Türklingel endlich schrillte, zuckten Mutter und Sohn zusammen, als wäre direkt vor ihrer Nase ein China-Kracher explodiert.
»Na dann«, sagte Lars und stand auf.
Sibylle Behm erhob sich feierlich langsam von ihrem Stuhl. Dieser Moment war tatsächlich ein ganz besonderer. Wider Erwarten rollte ihr nun doch eine winzige Träne über die Wange, die sie mit dem Taschentuch wegtupfen konnte – aber erst, nachdem Lars sie gesehen hatte. Unbeholfen ging dieser auf seine Mutter zu und drückte sie kurz, aber entschlossen an sich.
»Ich bin ja nur aus der Wohnung. Nicht aus der Welt.«
Sibylle Behm konnte nicht sprechen, sondern nur nicken. Auf eine diffuse Art war es doch seltsam, dass ihr Sohn nun tatsächlich auszog. Es schnürte ihr die Kehle zu. Obwohl sie sich seit mindestens zwanzig Jahren auf diesen Moment freute!
Inzwischen war Lars an der Tür und drückte den Summer. Von fern hörte Sibylle Behm eine weiblich klingende Stimme durch die Anlage schnarren. War dieser Freund, zu dem ihr Sohn zog, etwa doch schwul, wie sie insgeheim vermutete?
»Ach nee. So ein Mist!«, entfuhr es Lars.
Sibylle Behm erstarrte äußerlich, und in ihrem Kopf begann es zu schwindeln. Ihre Hände fühlten sich plötzlich eiskalt an und ihr Herz schlug wie verrückt. Hatte es sich Torsten etwa anders überlegt? Wollte er ihren Sohn mit seinen vier Kisten doch nicht bei sich aufnehmen? Sie presste das Taschentuch fest vor den Mund, um nicht vor Enttäuschung loszuschreien.
Lars drehte sich zu seiner Mutter um und sah sie enttäuscht an: »Es ist bloß Inga. In Karolinenhof gibt es einen Toten.«
Obwohl Sibylle Behm diesen armen Menschen, der vermutlich zu früh und noch dazu unfreiwillig aus dem Leben gerissen worden war, aus tiefster Seele bedauerte, schloss sie vor Erleichterung die Augen.
»Wird schon alles, Behm«, ermutigte Inga Frenzel ihren Chef, während sie mit sicherer Hand das Lenkrad steuerte. Mit der anderen raufte sie ihr rotblondes Strubbelhaar, entblätterte einen Schokoriegel oder fummelte sinnlos an irgendwelchen Knöpfen am Armaturenbrett herum, wie ein kleines Kind, das ein neues Spielzeug ausprobierte. Dabei fuhr sie diese alte Karre, den royalblauen Opel Vectra, schon ewig.
»Hm«, antwortete Lars Behm nur. Er war sich da nicht so sicher. Wie sollte Torsten die vier Kisten allein herunter und ins Auto schaffen? Und danach in die Wohnung in der Thulestraße? »Geh du mal arbeiten, ich mach das schon!«, hatte sein Freund vorhin am Telefon großspurig versprochen. Aber vorstellen mochte sich Lars Behm das lieber nicht.
»Weißt du denn schon was über den Toten?«, fragte er seine Assistentin, weniger aus Neugier, als um sich von seinen vollen Umzugskartons abzulenken. In Kiste Nummer drei war sein Laptop. Er sah den Karton bereits die Treppe hinunterpoltern und dann sich selbst, wie er später Elektroschrott auspackte.
»Eine männliche Leiche um die vierzig mit einer Schussverletzung an der Schläfe. Die Frau aus der Nachbarschaft, die den Mann gefunden hat, kannte ihn nicht. Er stammt also nicht aus der Siedlung, in deren Nähe er gefunden und vermutlich erschossen wurde. Das ist alles, was ich bis jetzt weiß.«
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Behm ungeduldig, zumal schon seit einer ganzen Weile links und rechts nur Bäume zu sehen waren. Die Schnellstraße schien durch einen stattlichen Laubwald zu führen.
»Nach Karolinenhof.«
»Und wo soll das sein?«
»In Schmöckwitz.«
»Das klingt fast schon nach Brandenburg«, stöhnte Behm.
»Gehört aber noch zu Köpenick!«, sagte Inga lachend.
Da sie die Stimmungen ihres Chefs ziemlich gut deuten konnte, überbrückte sie die lange Fahrt in den südöstlichen Rand der Stadt mit einer Anekdote über den neuen sexy Türsteher ihres Lieblingsclubs, die Behm tatsächlich einigermaßen von seinen Grübeleien ablenkte. Zugleich aber fragte sich der Kommissar, und das nicht zum ersten Mal, mit wem er da eigentlich tagtäglich zusammenarbeitete. Seine Assistentin war das Gegenteil von solide und wirkte nur selten wie eine Anwärterin für den mittleren Polizeivollzugsdienst.
»Da sind wir schon!«
Behm sah sich auf der Straße um und wunderte sich, wie so oft, über seine Stadt. Würde man für eine Quizsendung ein Foto von dieser Gegend machen, käme wohl niemand auf die Idee, dass es sich dabei um Berlin handelte! Karolinenhof war eine Siedlung mitten im Wald, so jedenfalls kam es Behm vor, da sogar auf den Grundstücken Bäume standen, mit Laub oder Nadeln, einige davon doppelt so hoch wie die Häuser, die ebenfalls allesamt recht stattlich waren. Es gab einige hypermoderne Häuser, aber auch etliche alte Villen, die mehrere Regierungswechsel und den Krieg überlebt haben mochten.
Nachdem Inga den Wagen behände und punktgenau zwischen zwei anderen Autos eingeparkt hatte, was Behm immer aufs Neue Respekt abnötigte, liefen sie die kleine Straße hinunter, die eine sonntägliche Ruhe, fast Verschlafenheit ausstrahlte. Lediglich der Streifenwagen und die rotweißen Absperrbände, die Behm und Inga den Weg zum Tatort wiesen, störten dieses Idyll.
Am Waldrand angekommen, sah sich der Kommissar in der Runde aus Polizisten und dem üblichen Tatortpersonal um. Diesmal entdeckte er kein einziges bekanntes Gesicht. Obwohl sich alle Anwesenden möglichst kurz fassten, dauerte die Vorstellungsrunde entsprechend lange. In dieser Situation vertraute Behm blind seiner jungen Kollegin, die sich all die neuen Namen und die zugehörigen Dienstgrade gewöhnlich merkte, während er selbst in solchen Momenten vorwiegend damit beschäftigt war, möglichst gerade zu stehen und einigermaßen freundlich zu gucken. Was schon anstrengend genug für ihn war.
Umso erleichterter war Behm, als er endlich an der Seite von Dr. Siebert, dem Gerichtsmediziner, den charmant verwilderten Laubwald betrat. Laut einigen Schildern war der Wald Privatbesitz, jedoch wurde er lediglich durch einen niedrigen Zaun aus morschen Holzbalken geschützt, der an mehreren Stellen kaputt war. Durch eine solche Lücke betraten sie den Wald. Sie stapften durch das Unterholz und kämpften sich durch abgebrochene Äste. Nach nur wenigen Metern stießen sie auf die Leiche. Der Tote lag auf dem Rücken, die gläsernen Augen waren starr gen Himmel gerichtet, der Kiefer heruntergeklappt. Ohne sich seine Beklommenheit anmerken zu lassen, lief Behm um den Toten herum.
»Fundort gleich Tatort, würde ich sagen«, hörte er jemanden neben sich brabbeln.
An der linken Schläfe des Mannes befand sich ein schwarzroter Kreis, in dem sich ein kleines Loch befand. Die Einschussstelle.
»Der Einschussdefekt ist ziemlich rund, also wurde die Waffe nahezu im rechten Winkel aufgesetzt.«
Seit wann mochte der Tote hier so liegen?
»Die Leichenstarre ist bereits voll ausgeprägt. Da es nachts nicht mehr so warm ist, müsste der Mann seit mindestens acht Stunden tot sein.«
Verwirrt sah Behm zu Dr. Siebert, der nicht nur seine Beobachtungen, sondern sogar seine Gedanken zu kommentieren schien. Der Gerichtsmediziner, ein zierlicher Typ und im Auftreten recht devot, entschuldigte sich sogleich dafür, noch keine genaueren Angaben zum Todeszeitpunkt machen zu können. So als hätte ihn Lars vorwurfsvoll angesehen. Das passierte dem Kommissar leider häufig, dass andere seine Blicke fehlinterpretierten, meist ins Negative.
»Wurde die Waffe gefunden?«
Mit dieser Frage, die er mit extrafreundlicher Stimme aussprach, wandte sich Behm nunmehr an die Polizisten, die ihnen gefolgt waren. Einhellig schüttelten sie die Köpfe.
»Keine Waffe, aber dafür diese Binsenweisheit hier!«
Inga drängelte sich vor und hielt Behm ein Stück Pappe entgegen. Ihre Hände steckten glücklicherweise in Gummihandschuhen, registrierte der Kommissar erleichtert. Es hatte eine Ewigkeit von zwei Jahren gebraucht, bis sich seine Assistentin daran gewöhnt hatte, die Gegenstände am Tatort nicht mit bloßen Händen zu befummeln.
Die Pappe hatte die Größe eines Schulblocks. Auf rotem Grund war mit schwarzer Schrift, vermutlich mit Hilfe einer Schablone, ein Slogan gesprüht: »Weapons kill – kill weapons!« Während Behm dieses kleine Kunstwerk näher betrachtete, roch er deutlich die Spraydosenfarbe. Darüber hinaus nahm er jedoch noch einen anderen, weitaus angenehmeren Geruch wahr, einen dezenten Hauch von kühler Zitrone. Dieser Duft erinnerte ihn an die luxuriöse Toilette eines exquisiten Restaurants, in das er seine Mutter zu ihrem sechzigsten Geburtstag eingeladen hatte. Das Essen dort war delikat gewesen, der Abend an sich jedoch ein Desaster. In diesem Edel-Restaurant zu essen war unangenehmer, als eine mündliche Physik-Prüfung zu absolvieren – die Kellner hatten sich als weitaus präsenter und arroganter erwiesen als jeder Lehrer an seiner Schule.
»Pass bloß auf, dass du das Schild nicht mit der bloßen Nase berührst, Behm!«, neckte ihn Inga.
Behm richtete sich wieder auf. Dieser kühle Duft, verwoben mit den Erinnerungen, mochten sie noch so unangenehm sein, hatte ihn in seinen Bann gezogen.
»Und wo lag dieses Schild?«
»Auf dem Toten. Wie genau, müssen Sie Frau Richter fragen.«
Alle Köpfe drehten sich nach der Frau in der blauen Strickjacke um, die mit hängenden Schultern und einem Weidenkorb in der Hand hinter der Absperrung wartete. Mit vorsichtigen Schritten stapfte Behm zurück auf die Straße. Seine Füße versanken im weichen Boden, der mit Moos und Laub bedeckt war, permanent sprangen ihm kleine Zweige mitten ins Gesicht oder drohten ihn Äste aufzuspießen. Die anderen folgten ihm.
Als Behm die Zivilisation in Form der Straße endlich wieder erreicht hatte, machte ihn ein lokaler Wachtmeister mit Frau Richter bekannt. Obwohl die Frau bereits weit über fünfzig sein mochte, reichte sie dem Kommissar mädchenhaft schüchtern die Hand.
»Ich wollte doch bloß Pilze sammeln«, sagte sie entschuldigend.
»Anfang September? Ist das nicht ein bisschen früh?«, wunderte sich Behm.
»Ich dachte, ich versuch’s trotzdem. Manchmal hat man Glück.«
Und so war es vermutlich der Reflex einer leidenschaftlichen Pilzsammlerin, dass diese Frau das Schild, das auf dem Toten gelegen hatte, umgehend aufgehoben hatte, als wäre es bloß eine Marone oder ein Seitling. Jetzt tue ihr das natürlich wahnsinnig leid, sagte Frau Richter und senkte schuldbewusst den Kopf. Behm beruhigte sie, so gut er sowas eben konnte, obwohl er sich über die Frau ärgerte. Dann erkundigte er sich, wie genau das Pappschild auf dem Toten gelegen habe.
»Unter seiner linken Hand, die ja immer noch auf seinem Bauch liegt, da steckte das Schild. Weshalb ich es nicht ganz lesen konnte. Also hob ich es auf. Es war gar nicht so leicht, es unter der steifen Hand vorzuziehen. Vermutlich wegen der Totenstarre.«
Behm verdrehte die Augen. Sie hätte es doch auch gar nicht vorziehen sollen!
»Haben wir die Personalien der Dame?«, fragte Behm den Wachtmeister.
»Frau Richter wohnt hier, die kenne ich persönlich.«
»Und was ist mit dem Toten? Kennt den eventuell auch jemand?«
Behm ließ seinen fragenden Blick durch die Runde kreisen. Die meisten schüttelten ihre Köpfe, nur Frau Richter sah den Kommissar leicht auftrumpfend an.
»Kennen tu ich den Mann zwar nicht«, sagte sie. »Aber er war sicher zu Besuch bei den Zühlkes.«
»War das ein Heidenlärm! Bis frühmorgens um vier«, stöhnte Frau Richter. Beide Hände fest um den leeren Korb geschlungen, als wolle ihn ihr jemand rauben, lief sie mit sportlichem Schritt die kleine Straße entlang. Behm und Inga folgten und lauschten ihr. »Aber wir sind hier sehr tolerant. Es wird selten laut, und falls doch, stopft man sich eben Ohropax in die Ohren und gut.«
Die Siedlung strahlte einen solchen Frieden aus, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass hier jemand auch nur ein Lied laut vor sich hin trällerte. Geschweige denn eine ausgelassene Party feierte.
»Was wurde denn gefeiert?«
»Keine Ahnung. Wir waren ja nicht eingeladen.« Frau Richter klang ein wenig beleidigt. »Die Zühlkes selbst waren auch nicht da, glaube ich. Ihr Auto steht jedenfalls nicht in der Einfahrt. Es war wohl ihre Tochter Jana, die mit Freunden aus Berlin feierte.«
Aus Berlin, wie witzig, dachte Inga. Als befänden sie sich hier im tiefsten Brandenburg. Oder in einem Niemandsland, nirgends zugehörig. Eine einsame grüne Insel im Betonmeer. Oder auch wie der berühmte Elfenbeinturm: abgeschieden, ruhig, etwas elitär, das exakte Gegenteil vom Wedding. Zum Beispiel.
»Die da ist übrigens auch nicht von hier«, flüsterte Frau Richter dem Kommissar zu, als sie eine Frau mittleren Alters mit kurzen, schwarzen Haaren auf sie zukommen sah, deren Blick unruhig von einer Straßenseite zur andern flatterte, als suche sie einen entlaufenen Hund. Allerdings trug sie keine Leine bei sich, sondern hatte die Arme fest vor ihrem zierlichen Körper verschränkt.
»Die gehört sicher auch zur Partygesellschaft.«
Noch ehe sich Behm überlegen konnte, ob und wie er sie ansprechen sollte, marschierte Inga bereits auf die Frau zu.
»Guten Tag! Suchen Sie jemanden?«
Die Frau blieb stehen und starrte misstrauisch von einem zum andern. Ihre Blässe, die durch das künstliche Schwarz ihres Haares und die verschmierte Schminke um die Augen noch betont wurde, verlieh ihrem hübschen Gesicht einen fragilen Charme. Deutlich sah man ihr an, dass sie übernächtigt und wohl außerdem verkatert war. Inga, der es oft genug ähnlich ging, bekam sofort Mitleid.
»Einen Mann?«, fragte sie freundlich.
Die Frau ließ ihre Arme fallen, als wäre alle Kraft aus ihnen gewichen.
»Wieso?!« Misstrauisch runzelte sie ihre dunklen Augenbrauen.
Hilfesuchend sah sich Inga nach Behm um. Diese Frau suchte also einen Mann, so viel war nun klar. Vermutlich stand er ihr nahe. Sehr nahe. Da sollte Kommissar Behm mal lieber übernehmen, der sie endlich erreicht hatte. Frau Richter wartete indes diskret, aber mit gespitzten Ohren, auf dem Bürgersteig.
Behm stellte sich der Frau mit Namen und Dienstgrad vor und zückte dabei routinemäßig seine ovale Dienstmarke. Obwohl er das Wort Mordkommission gar nicht in den Mund nahm, reichte sein Auftritt, um die Frau aus der Fassung zu bringen.
»Kriminalhauptkommissar? Ist was mit Jens? Was ist mit Jens?«, stammelte sie nervös und trat von einem Fuß auf den andern.
Inga verdrehte die Augen. Behms Auftritt hatte die Situation weiter dramatisiert, statt sie zu entspannen. Vorsichtig berührte sie mit der Hand den nackten Arm der Frau.
»Sie suchen also einen Mann namens Jens? Ist das Ihr Freund oder Ehemann?«
Die Frau nickte, sah die beiden Polizisten mit einem seltsam verträumten Blick an und wurde plötzlich ganz ruhig.
»Mein Mann ist joggen«, sagte sie nun bestimmt. »Das macht er oft, dass er morgens einfach wegrennt, ohne mir Bescheid zu sagen. Aber jetzt ist das Frühstück vorbei und alle wollen nach Hause aufbrechen. Haben Sie ihn vielleicht irgendwo gesehen? Er hat mittelblondes Haar, ist ungefähr so alt wie ich …«
Die Beschreibung traf auf den Toten zu. Inga sah Behm eindringlich an. Er musste doch nun endlich etwas sagen!
»Doch, ja, eventuell.«
Im gleichen Maße, wie sich die Frau von Behms Gestammel angenehm überrascht zeigte, sah Inga ihren Chef fassungslos an.
»Liebe Frau … Wie war noch Ihr Name?«
Mit diesem plumpen Ablenkungsmanöver riss Inga das Gespräch an sich, ehe es bei der armen Frau völlig falsche Hoffnungen weckte.
»Friedrich heiße ich, Martina Friedrich.«
»Liebe Frau Friedrich …«, begann Inga, doch dann drehte sie sich um und schimpfte leise. Sie war im Moment ebenso rat- und sprachlos wie ihr Chef.
Frau Richter, die vom Bürgersteig aus alles genau verfolgt hatte, stellte ihren Korb ab und kam mit offenen Armen auf Martina Friedrich zu. Die aber wich erschrocken einen großen Schritt zurück, bevor Frau Richter sie beherzt an ihre Brust drücken konnte. Allmählich begann sie das seltsame Verhalten dieser drei Fremden zu durchschauen. Die Erkenntnis durchbohrte sie quälend langsam und schmerzhaft.
»Wo ist Jens?«
Martinas Stimme war heiser. Sie starrte Behm so tief in die Augen, dass er ihrem Blick nicht standhalten konnte, sondern sich umdrehte, die Straße hinunterblickte und mit der Hand flüchtig in Richtung Wald deutete.
»Kommen Sie doch bitte einfach mit. Dort hinten im Wald haben wir einen Mann gefunden, auf den Ihre Beschreibung zutreffen könnte.«
Noch an die hundert Meter hätte er nun Zeit, die Frau darauf vorzubereiten, dass der Mann, den sie gefunden hatten, leider tot war. Behm lief bereits los und sann über die richtigen Worte nach, Inga und Frau Richter folgten ihm zögernd. Auch Martina Friedrich bewegte sich endlich, allerdings nur zaghaft, als hielten sie unsichtbare Fäden zurück. Schon bald blieb sie stehen.
»Bestimmt ist Jens inzwischen zurück.«
Energisch drehte sie sich um und rannte mit schleppenden Schritten zurück zum Haus der Zühlkes.
Der Zusammenbruch kam schleichend, aber total. Zurück im Haus hatte Martina die Küchentür aufgerissen und sich sofort nach Jens umgesehen. Doch weder unter den Männern am Tisch noch an der Spüle oder auf der Fensterbank hatte sie ihn entdecken können. Dann fragte Hinnerk sie lachend, wen sie denn da an Stelle von Jens aufgegabelt hätte. Hektisch drehte sich Martina um und entdeckte den Kommissar mit der Dienstmarke, der ihr offensichtlich gefolgt war.
In diesem Moment begriff sie alles. Dass Jens nicht da war. Und vor allem, dass er nicht wiederkommen würde.
Als hätten die andern auch umgehend alles durchschaut, verebbte das Gelächter in der Küche und Martina blickte in lauter ratlose Gesichter, so leer wie die Kaffeetassen, die noch auf dem Tisch standen. Daraufhin begann sie leise, und nahezu ohne Luft zu holen, vor sich hin zu wimmern, bis sie erschöpft auf die Terrakottafliesen niedersank. Zwei Freundinnen, die in ihrer Nähe standen, fingen sie noch gerade so ab, bevor sie auf den Fliesen aufschlug. Mit Hilfe von Bernd und Hinnerk schleppten sie Martina hinüber in das Salonzimmer, wo sie eine Ewigkeit wie eine Katze in sich zusammengerollt auf dem weichen roten Plüschsofa zwischen einem alten Klavier und dem offenen Kamin verbrachte. Und sich ebenso leer fühlte wie die Kaffeetassen nebenan, an die sie noch immer denken musste, warum auch immer.
Inzwischen waren einige Stunden vergangen. Martina lag immer noch zusammengerollt da, nunmehr allerdings auf dem wesentlich härteren Sofa in ihrer Wohnung. Lag dort, ohne sich großartig darüber zu wundern, wie sie eigentlich hergekommen war. Eine einzige Erinnerung beherrschte ihr Bewusstsein und stieß jeden anderen Gedanken sofort beiseite: Jens war tot.
Erschossen.
Einerseits war es unvorstellbar, dass Jens tot sein sollte. Wo er doch am Mittwoch, also in nur drei Tagen, nach Bayern fahren sollte! Immer wieder musste sich Martina den Anblick ihres toten Mannes auf dem Waldboden vergegenwärtigen, so absurd kam sein Tod ihr vor.
Und zugleich so normal. Irgendwie logisch. Vermutlich dank der Spritze, die der Notarzt ihr verpasst hatte. Der Tod gehörte schließlich zum Leben. Diese Aussage, die sie früher nie kapiert hatte, leuchtete ihr plötzlich völlig ein. Ebenso wie der Spruch auf diesem Pappschild, das Jens in der Hand gehalten haben soll: Weapons kill. Waffen töten. Genau so war das. Dass Jens erschossen worden war, war der beste Beweis für diese These. Angenehm logisch schien ihr das alles. Doch in einem hinteren Winkel ihres Bewusstseins lauerte der dunkle Schatten der Trauer und wartete geduldig auf seinen Auftritt.
»Möchtest du vielleicht eine Tasse Kräutertee?«
Die freundliche Stimme, die auf Martina einsäuselte, gehörte einer älteren Frau, die aufrecht auf einem Stuhl neben dem Sofa saß. Ihre Bluse war ebenso stahlgrau wie ihr glattes Haar und ihre Augen; den einzigen farblichen Akzent bildete das zarte Rosa ihrer Wangen, das von der Aufregung herrühren musste. Ihr wachsamer und zugleich mitfühlender Krankenschwesternblick ruhte auf Martina.
»Oder willst du lieber eine Kleinigkeit essen?«
»Nein danke, Mutti.«
Allein der Gedanke an Essen verursachte Martina Brechreiz. Am liebsten würde sie ihre Mutter auch etwas fragen. Nämlich ob sie jetzt, da Jens tot war, endlich zufrieden sei. Denn genau so wirkte sie: zufrieden, fast sogar heiter, die Stimme ein paar Nuancen zu hoch. Doch nein, das würde Martina ihrer Mutter jetzt auf keinen Fall vorhalten. Dazu befand sie sich in einer allzu friedlichen Stimmung. Außerdem hatte sie keine Lust zu sprechen. Das war viel zu anstrengend.
»Ich mach dir Eierkuchen, die magst du doch!«
Igitt, dachte Martina nur. Andererseits wäre ihre Mutter dann eine Weile in der Küche beschäftigt. Sie wäre sie endlich los und müsste nicht mehr diesen verdächtigen Glanz in ihren Augen beobachten, der sie – trotz Spritze – aufzuregen drohte. Obwohl Jens in wirklich jeder Beziehung als perfekter Schwiegersohn hätte gelten können, ganz objektiv betrachtet, hatte ihre Mutter ihn seltsamerweise nie gemocht. Doch erst seit er den Plan gefasst hatte, ihre heißgeliebten Enkel nach Bayern zu verschleppen, war ihr Hass offen ausgebrochen. Zwar gezügelt und gebremst, wie ihre Mutter nun mal war, dafür aber deutlich und mehrmals. Sie hatte einfach »vergessen«, ihn zu begrüßen. Oder Fragen von ihm ständig »überhört«. Einmal hatte sie ihm sogar »aus Versehen« die Tür vor der Nase zugeknallt. Und so weiter.
Plötzlich schrillte die Wohnungsklingel ungewöhnlich laut. Martina zuckte zusammen, als wäre direkt neben ihr eine Bombe explodiert.
Das musste Lukas sein. Doch wo steckte eigentlich Mia? Hatte sie ihr eine Nachricht geschickt? Wo war ihr Handy? Und wie spät war es überhaupt? Fragen über Fragen, die Martina leise aufstöhnen ließen. Am liebsten hätte sie sich die dünne Decke, die auf ihr lag, über den Kopf gezogen. Doch dazu war es leider zu spät.
Plötzlich stand ihr Sohn mitten im Zimmer.
Für seine zehn Jahre wirkte Lukas eher klein, zumal er dauernd übergroße T-Shirts trug, die ihm nicht auszureden waren. Sein hübsches Lausbubengesicht, das so gar nicht zu seinem schüchternen Charakter passte, glühte. Hinter dem Jungen stand ihre ratlos dreinblickende Mutter, die ihre Hand auf seine schmale Schulter gelegt hatte.
»Ich will auch Eierkuchen, Mama! Bei Vincent gibt’s immer nur Gemüse und Salat.«
Wieder stand Lukas mit seinen schmutztriefenden Turnschuhen auf dem Laminat. Normalerweise brachte das Martina auf die Palme. Ihr Sohn war ein ungewöhnlich lieber Junge, dafür aber mindestens ebenso zerstreut.
»Bist du krank?«, fragte Lukas und kam neugierig ans Sofa, was Martina nur eingeschränkt freute. »Wo ist denn Papa?«
Lukas sah sich im Zimmer um, als hätte sich sein Vater aus Jux in einer Ecke versteckt und wartete nur darauf, dass jemand nach ihm suchte. Zum Beispiel Lukas.
Das zerfetzte Martina das Herz.