Yfaat Weiss

Verdrängte Nachbarn

Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book 2012 by Hamburger Edition

© der Printausgabe 2012 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

© Fotos auf dem Cover (von oben nach unten):

Zur Erinnerung an meine Mutter Esther Haifa 1937–2005

Inhalt

Einleitung

Prolog: »Die Nachbarn, die auf unsere Kosten reich werden«

Krieg

Diachronische Nachbarn

»Es ist gut ohne Araber, es ist leichter …«

»Es stimmt, früher haben sie separat gelebt«

»Wo endet Kolonisation und beginnt Zwangstransfer?«

Bevölkerungsaustausch

Aufruhr

»Und ich dachte, ich mache etwas Hübsches, wie es am Hadar oben gibt«

»Man winkt ihnen mit den Lichtern vom Hadar und Karmel von oben«

Mismatch

Das Jahr der Teilung

»Sind Sie ohne Vereinbarung eingezogen?«

Selektivität

»Stellen Sie sich vor, dass es unter denen aus Europa welche gab, die in luxuriösen Wohnungen gelebt haben«

Evakuierung

Lichter der Großstadt

Bevölkerungsverteilung

»Was weißt Du schon von der Geschichte der Besiedlung des Landes?«

Retusche

»Sie vermischen sich und vergessen die Herkunft«

»Ich bin in ein Grab geraten, um dort zu wohnen, während wir noch am Leben sind«

»Regelrecht menschlicher Abfall«

Semi-Stadt

»Ich habe gefragt, ob es eine Synagoge gibt, sie sagten, es gibt eine«

Reinheit und Gefahr

Chirbe

Altneuland

»Haifa hat keinen besonderen historischen oder architektonischen Charakter«

Zukunft

Epilog: Efrat Goschen und seine Frau Mirjam ziehen in Saids Haus in Hallisa

Bibliographie

Dank

Einleitung

Auf den ersten Blick erzählt dieses Buch die Geschichte eines Stadtviertels in Haifa. Wadi Salib, am östlichen Rand von Haifa gelegen, erwarb sich seinen Status als Ikone im Sommer 1959, als sich der Protest von jüdischen Immigranten aus arabischen Ländern – überwiegend aus Marokko – in einer Welle von Unruhen entlud, die sich gegen die Behörden und das städtische, aschkenasische, sozialdemokratische Establishment vor Ort richtete. Diese gewalttätige Konfrontation zwischen der Polizei und den Einwohnern Wadi Salibs rückte die Existenz einer innerjüdischen Spannung zwischen Immigranten und Alteingesessenen, zwischen Juden aus islamischen und aus europäischen Ländern in Israel ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Später sollte diese Spannung mit dem Begriff »das ethnische Problem« bezeichnet werden. Die Ereignisse von Wadi Salib ließen zum ersten Mal ein politisches Bewusstsein für die ethnische Diskriminierung sowie für die Frustration und die Vorbehalte unter den Juden in Israel erwachen. Auch wenn heute kein Konsens über die Entwicklung des ethnischen Protests ab diesem Zeitpunkt besteht, bestreitet niemand, dass die Ereignisse von Wadi Salib der Katalysator waren.

Zu jener Zeit des mizrachischen Protests war die Tatsache, dass Wadi Salib nur elf Jahre zuvor ein arabisches Viertel gewesen war, vollkommen in Vergessenheit geraten. Das Viertel wurde zur britischen Mandatszeit als eine Bedrohung der Kontinuität der jüdischen Besiedlung der Stadt begriffen. Wie die übrigen arabischen Stadtviertel wurde Wadi Salib im Laufe eines Kampftages im April 1948 von der Hagana erobert. Während der Kämpfe und im Gefolge der Niederlage flüchteten die muslimischen Bewohner Wadi Salibs sowie die überwiegende Mehrheit der arabischen Bevölkerung Haifas. Von den circa 65.000 arabischen Einwohnern, die etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachten, waren im Sommer 1948 nur noch an die 3500 zurückgeblieben. Als es dann in Wadi Salib 1959 zu den innerjüdischen Auseinandersetzungen kam, war keine Spur mehr von ihnen vorhanden, nur der arabische Name des Viertels blieb erhalten. Wadi Salib war nun ein jüdisches Armenviertel in einer israelischen Stadt, in der Gegenwart verankert, scheinbar ohne jede Vergangenheit. Wie kam es, dass die Zerstörung der arabischen Existenz in der Stadt in solch einer kurzen Zeitspanne im Gedächtnis ausgelöscht und vergessen wurde? Dieses Buch versucht, eine Antwort auf die Transformierung der Erinnerung zu geben, der Erinnerung des arabischen Haifas im jüdischen Haifa.

Diese Erinnerungsarbeit strebt vor allem danach, die Geschichte der Stadt Haifa auf eine andere Art zu erzählen. Als solche kann sie als repräsentativ für eine Grundsatzdiskussion über »gemischte Städte« [mixed cities] in Israel betrachtet werden. Dieser Begriff, den die Briten zur Mandatszeit für Städte prägten, deren Bevölkerung sowohl aus Juden als auch aus Arabern bestand, wandelte sich im Laufe der Jahre zu einem Euphemismus, der mehr verhüllt, als er aussagt, da er die Deklaration einer gemeinsamen Existenz beinhaltet, dabei aber die Bruchstelle des Jahres 1948 ignoriert. Das trifft ganz besonders auf Haifa zu, wo die Führungsschicht und die Institutionen immer eine jüdisch-arabische »Koexistenz« proklamieren, die sie sogar als touristisches Konsumprodukt das ganze Jahr über sowie als kommerziell folkloristische Initiative während der Festperiode der drei Religionen gegen Ende des Kalenderjahres vermarkten. Die relative Ruhe, die das Leben von Juden und Arabern in Haifa nach 1948 kennzeichnete, und der graduelle Anstieg der arabischen Bevölkerung in der Stadt im Laufe der Jahre auf beständige über zehn Prozent der Einwohnerschaft nähren in vielerlei Hinsicht bei der Majorität der Gesellschaft die Neigung, die Katastrophe der arabischen Minderheit von 1948 der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Dieses Buch möchte dieser Amnesie etwas entgegensetzen.

Anders als sonst in der Geschichtsschreibung üblich, hält sich das Buch nicht an eine chronologische Reihenfolge, sondern folgt eher dem Verlauf einer Kreisspirale. Ausgehend von dem begrenzten Zeitfenster zwischen 1948 bis 1959 zieht das Buch seine Kreise zur ursprünglichen Besiedlung Wadi Salibs im Rahmen des osmanischen Projekts der Hedschasbahn bis zu den misslungenen Versuchen einer urbanen Gentrifizierung in den letzten beiden Jahrzehnten. Die kreisförmige Bewegung durch die Chronologie ermöglicht es, die hundertjährige Geschichte vom Aufstieg und Fall Wadi Salibs und seiner Verwandlung in ein Ruinenfeld im Herzen Haifas so zu erzählen, dass eine teleologische Schlussfolgerung von vornherein vermieden wird. Würde man der schlichten Chronologie folgen, nämlich den Annalen von Wadi Salib von ihrem verheißungsvollen Anfang bis zum bitteren Ende, hätte dies die Erwartung einer direkten Beziehung von Ursache und Wirkung nach sich gezogen und eine automatische Parallelisierung zwischen Chronologie und Kausalität entstehen lassen. Das Buch postuliert jedoch keine zwingende Kausalität, die zur Zerstörung Wadi Salibs führte. Wadi Salib hatte, wie auch die Stadt Haifa, eine glänzende Zukunft mit zahlreichen Visionen vor sich, die eine nach der anderen ad acta gelegt wurden, was jedoch nicht unvermeidbar hätte sein müssen.

Die spiralförmige Erzählweise hat zusätzliche Vorzüge. Sie ermöglicht es, einen gewissen Wiederholungsprozess in der städtischen Entwicklung zu veranschaulichen, vor allem den reproduktiven Aspekt der Segregation in der urbanen Planung vor und nach 1948. Haifa war in allen seinen verschiedenen Stadien von segregativen Wohnmustern charakterisiert, die in den Annalen Wadi Salibs klar erkennbar sind. Zur Zeit der Osmanen war Wadi Salib von Muslimen bevölkert. In der britischen Mandatsperiode vertiefte sich die ethnisch-religiöse Segregation zu einer nationalen Trennung, während im Staat Israel, im erklärten Gegensatz zu seiner integrativen Ideologie der »Verschmelzung der Diaspora«, wieder neue, innerjüdische Teilungen entstanden, die zum Resultat hatten, dass Wadi Salib vorherrschend ein marokkanisch-jüdisches Viertel wurde. Obgleich sich die Basis der Separation mit dem Übergang von einer Periode zur anderen veränderte, sich von religiöser zu nationaler und ethnischer Zugehörigkeit verschob, blieb dennoch ihr segregativer Charakter, Ausschluss und Benachteiligung, erhalten. Unter Zuhilfenahme soziologischer Begriffsbildung werden hier die sich verändernden Linien der Abgrenzung und Absonderung und ihr Gewicht in der Debatte der zivilen Teilhabe diskutiert. Die Verknüpfung von Konzepten aus der Diskussion um Staatsbürgerschaft mit der räumlichen Perspektive, die hier vorgeschlagen wird, widerspricht der herkömmlichen Unterscheidung zwischen »internen« Themen, nämlich die Frage der interethnischen jüdischen Beziehungen in der israelischen Gesellschaft und vor allem der Diskriminierung der mizrachischen Juden durch die führende aschkenasische Gesellschaftsschicht einerseits, und »externen« Themen, das heißt die Frage des israelisch-palästinensischen Konflikts und seine Auswirkungen auf den Status der palästinensischen Bürger Israels andererseits.

Durch die Entschlüsselung des urbanen Raums von Wadi Salib in Haifa zeigt sich, dass die Kategorien »intern« und »extern« untrennbar miteinander verbunden sind.

Auch wenn hier vermieden werden soll, simple und eindimensionale ursächliche Erklärungen zu liefern, muss dennoch eine Antwort auf das augenfällige und unbegreifliche Phänomen gegeben werden: die Existenz eines Trümmerareals im Herzen der Stadt über viele Jahrzehnte hinweg. Diese Narbe, die sich durch die gesamte Stadtmitte Haifas, die untere Stadt vom Hafen bis zum Geschäftszentrum, zieht und entgegen allen Proklamationen die Ruinen von 1948 konserviert, lässt sich teilweise entschlüsseln, wenn man den rechtlichen Status des ehemaligen arabischen Besitzes in Haifa näher betrachtet. Die Archäologie des Eigentums bildet einen weiteren zentralen Aspekt des Buches. Der ungesicherte rechtliche Status von arabischem Besitz in Haifa generell und Wadi Salib insbesondere, bekannt unter dem juristischen Begriff des »Absentees’ Property«, soll hier ausführlich behandelt werden, wobei eine Relation zwischen den Einschränkungen in der urbanen Entwicklung einerseits und der schweren Erinnerungslast andererseits hergestellt wird. Die Beziehung zwischen Besitzverlust und Entschädigung auf der einen und Erinnerung und Identität auf der anderen Seite durchläuft Wadi Salib kreuz und quer und verbindet alle seine Bewohner: die palästinensischen Flüchtlinge und die evakuierten marokkanischen Juden. Selbstverständlich gilt all dies hier für viele Orte in Israel, und in dieser Hinsicht schließt sich das Buch der »archäologischen Wendung« an, die in den letzten zwei Jahrzehnten in der israelischen Forschung eingetreten ist und zum Gegenstand hat, die arabische Vergangenheit israelischer Städte aufzudecken, zu rekonstruieren und ins Bewusstsein zurückzuholen.

Das Buch ist als Gewebe aus fünfundzwanzig Miniaturen oder Fragmenten konzipiert, aus denen sich die Handlung zusammensetzt. Sie sind jeweils unterschiedlich und pendeln zwischen den relevanten Disziplinen: Geschichte, Architektur, Literatur, Recht, Geographie, Soziologie und Anthropologie. Der fragmentarische Aufbau spiegelt gleichzeitig die heutige materielle Realität Wadi Salibs wider, noch immer eine Ödnis zwischen Schutthaufen und Baggern.

Die Geschichte beginnt mit der Reihe gewalttätiger Ereignisse im Sommer 1959, in deren Verlauf Wadi Salib seinen Ikonenstatus im israelischen Bewusstsein erlangte. In der Wahrnehmung der Bedeutung Haifas, Bastion der israelischen Arbeiterpartei (Mapai), der Partei des ansässigen aschkenasischen Establishments, entwirft der Prolog eine akribische Schilderung der Straßenschlachten in den Gassen Wadi Salibs. Die Topographie, die sich herausschält und in Wadi Salibs Vergangenheit als muslimisches Viertel liegt, markiert den Hauptstrang des Buches, der die Ereignisse von Wadi Salib aus der abstrakten israelischen soziokulturell-ethnischen Sphäre in den konkreten geographisch-physikalischen Raum der britischen Mandatszeit verschiebt, oder wahlweise vom jüdischen zum arabischen Raum.

Das erste Kapitel – Krieg – gibt einen Überblick über den Wandel, den die Stadt 1948 durchlief. Das arabische Haifa kollabierte im Laufe eines einzigen Tages von Kampfhandlungen – zwischen dem 21. und 22. April 1948 – etwa drei Wochen vor der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. Vorausgegangen war eine Kette gewalttätiger Zusammenstöße, die in der Stadt erfolgten, als der Teilungsplan, die Resolution Nr. 181, auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29. November 1947 angenommen wurde. Das Kapitel beginnt mit dem Akt der Kapitulation der lokalen arabischen Delegation in Haifa. Damit war das Ende der arabischen Elite in der »gemischten Stadt« eingeläutet. Parallel dazu wird in dem Kapitel versucht, die Verwirrung der Sieger einzufangen und das momentane Zögern, sich den entleerten Raum anzueignen, ein Zögern, das rasch politischen Plänen und Ideen wich, die militärischen Erfolge auf Dauer zu konsolidieren. In Bezug auf Haifa demonstriert das Kapitel, wie sich die ethnische Vereinheitlichung als offizielle israelische Staatspolitik im Sommer und Herbst 1948 etablierte, gestützt auf europäische und anderweitige Präzedenzfälle, die als Ideenspeicher einerseits und Legitimierungsbasis andererseits für die Vertreibung der Palästinenser und die Aneignung ihres Besitzes dienten. Abhängig wie auch unabhängig davon begannen sich zur gleichen Zeit die ersten Risse im Status der jüdischen Gemeinden in den islamischen Ländern aufzutun. Dort war man im Rahmen des aufstrebenden arabischen Nationalismus, der den Prozess der Entkolonialisierung begleitete, hin- und hergerissen zwischen Versuchen, die Juden miteinzubeziehen, und Initiativen, sie auszuschließen. Am Ende dieser Entwicklung sollten sich die marokkanischen Juden, wie auch viele andere aus den islamischen Ländern, als Bewohner des verwaisten Besitzes der Palästinenser wiederfinden, ganz speziell in Wadi Salib.

Das zweite Kapitel – Aufruhr – betrachtet die Ereignisse von Wadi Salib noch einmal durch die institutionelle Linse. Die Befassung des Rechtssystems mit den Anführern des marokkanischen Protests und die Verhandlungen der staatlichen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ereignisse enthüllen das innerjüdische Beziehungsgeflecht Ende der Fünfzigerjahre. Hinter den Debatten der Untersuchungskommission kommt auch die städtische Topographie zum Vorschein, die eine Kongruenz zwischen der geographischen Lage, der ethnischen und der schichtspezifischen Zugehörigkeit an den Hängen des Karmels erzeugt. Die Ursprünge dieser Topographie wurzeln in den Tagen des britischen Mandats, in denen sich die Segregation verstärkte, die sich bereits um die Jahrhundertwende mit Haifas rapider Entwicklung zum Ende der Osmanenzeit abgezeichnet hatte. Die Neigung der Briten, ihre Investitionen zu beschränken, vertiefte die Kluft zwischen den arabischen Vierteln, die kein Kapital von außen für ihre Entwicklung zu mobilisieren vermochten, und den jüdischen Vierteln, die gemäß ordentlicher städtischer Planung erbaut und mit Geldern finanziert waren, die die zionistische Bewegung organisiert hatte. Der Antagonismus zwischen dem jüdischen Gartenviertel Hadar hakarmel und dem muslimischen Wadi Salib prägte sich ins urbane Gefüge ein und verschärfte sich mit dem wachsenden nationalen Konflikt. Dieser Antagonismus, wie das Kapitel zeigt, wurde danach in der israelischen Stadt zwischen den orientalischen Bewohnern Wadi Salibs und den aschkenasischen von Hadar hakarmel reproduziert und entlud sich in den gewalttätigen Auseinandersetzungen des Jahres 1959.

Getreu der institutionellen Perspektive verweilt das Kapitel bei der Bevölkerung Haifas nach 1948 und der Reproduzierung der städtischen Segregation. Die Besiedlung Wadi Salibs mit jüdischen Immigranten parallel zur Zwangsumsiedlung der arabischen Restbevölkerung Haifas in das Viertel Wadi Nisnas bildet das konstituierende Moment des israelischen Haifas. Das Kapitel demonstriert zugleich, wie die Schaffung einer legalen Grundlage zur Besitzaneignung in Form des »Absentees’-Property-Gesetzes« und der »Entwicklungsbehörde« und die stark willkürliche Anwendung das Vertrauen in Recht und Gerechtigkeit in jüdischen wie arabischen Kreisen gleichermaßen erschütterten. Aufgrund ihres Status als Nutzer des verlassenen palästinensischen Besitzes fanden sich die jüdischen Bewohner Wadi Salibs in ständigen Auseinandersetzungen mit den Instanzen begriffen, die mit der Verwaltung des zurückgelassenen Eigentums betraut worden waren. Das Gefühl von Kränkung und Diskriminierung im Kreis der marokkanischen Einwanderer steigerte sich, während ein Teil der europäischen Immigranten infolge der Wiedergutmachungsabkommen ihre wirtschaftliche Lage verbessern, den palästinensischen Besitz verlassen und ihren Wohnstandard heben konnten.

Thema des dritten Kapitels – Evakuierung – ist räumliche Ähnlichkeit oder alternativ die Abwesenheit davon. Das Kapitel zeichnet die marokkanischen Juden vor ihrer Immigration nach, speziell die Armen unter ihnen, die Bewohner der Mellah – der jüdischen Viertel in den großen Städten. Obgleich Israel es vorzog, die dörflichen Juden ins Land zu holen, war man gezwungen, auch die Stadtbewohner aufzunehmen. Gemäß dem Diktat der traditionellen antiurbanen Ausrichtung, die den sozialdemokratischen Zionismus dominierte, ergriff Israel Anfang der Fünfzigerjahre Maßnahmen, die Immigranten im ländlichen Grenzgebiet anzusiedeln. Der Landarbeit ungewohnt, begann ein Teil von ihnen, die Böden an der Grenze zu verlassen und sich in den verwaisten arabischen Vierteln der großen Städte niederzulassen. Wadi Salib, das die jüdischen Planer von seinen arabischen Bewohnern gemäß Schubladenplänen, die schon 1937 erstellt worden waren, zu entleeren gehofft hatten, um einen modernen Stadtteil, eine City, daraus zu machen, füllte sich entgegen diesen Absichten nach der Austreibung seiner ursprünglichen Einwohner wieder mit armen jüdischen Bewohnern. Statt der Modernisierung, die Israel ununterbrochen verkündete, wurden die mageren Ressourcen hauptsächlich in die symbolische Tilgung der arabischen Vergangenheit investiert, die Hebräisierung der Straßennamen im Viertel sowie in der ganzen Stadt.

Die spontane Besiedlung durch jüdische Bewohner fand im Gefolge der Ereignisse von Wadi Salib 1959 ihr Ende. Die Schlussfolgerungen der Untersuchungskommission, dass es notwendig sei, das Wadi zu evakuieren, leiteten den Eliminierungsprozess des Viertels ein. Auch hier tritt die institutionelle Blindheit für räumliche Zusammenhänge zutage. Statt den Bewohnern die Möglichkeit von Alternativwohnraum in der Nähe des Wadis zu bieten, eine Lösung, zu der sie tendierten, zog es die Stadtverwaltung vor, die Bewohner in neue Wohnsiedlungsprojekte umzusetzen. Dadurch leerte sich das Stadtzentrum, blieb verödet zurück, während den Bewohnern die Isoliertheit der Außenbezirke aufgezwungen wurde. Zudem ignorierte man ihre kulturellen Bedürfnisse im Namen einer integrativen Ideologie und zerstörte ihr religiöses Gemeindeleben. Das Kapitel endet mit einer Grundsatzdiskussion gesellschaftlicher Integration, urbaner Segregation und bürgerlicher Gleichheit, wobei die jüdischen und arabischen Stadtviertel vor und nach 1948 einer umfassenden Betrachtung unterzogen werden. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit betont die Diskussion wiederholt die Differenz zwischen orientalischen Juden und Arabern hinsichtlich der Korrelation zwischen urbanen Wohnmustern, Identität und bürgerlicher Gleichheit, wobei der grundsätzliche Unterschied zwischen Diskriminierung und historischer Ungerechtigkeit verdeutlicht wird.

Das letzte Kapitel – Chirbe, Ruine – verbindet die beiden Enden Wadi Salibs, den Anfang mit dem Untergang. Der Bau der Hedschasbahn Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und die Errichtung der Bahnstation im östlichen Vorstadtbereich Haifas stellten einen ersten Akt der Erkenntnis des wirtschaftlichen Potenzials der Stadt dar, das von ihrer Topographie und einmaligen Lage herrührt. Mit dem Übergang zur britischen Mandatsherrschaft war ihre Zeit der imperialen Bedeutung und kolonialen Planung gekommen. Großbritannien verzeichnete die Kontrolle über die Bucht von Haifa als Teil der Konsolidierung seines Zugriffsbereichs im Nahen Osten. Die Stadt konnte als Station auf dem Weg nach Indien und Mosul von Bedeutung sein. Diese Überlegung war der Quell der großen britischen Initiativen in der Stadt: der Hafen, die Raffinerie und die Pipeline. Diese Attribute, die Haifa als eine Stadt mit glänzender Zukunft auswiesen, gingen mit dem Übergang zur Souveränität verloren. Die hier getroffene Wahl, die chronologische Ordnung zu vernachlässigen und mit dem Anfang der historischen Entwicklungskette zu enden, bietet den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, die Historie der Stadt Haifa generell und speziell Wadi Salibs als kontrafaktische Geschichte zu lesen, das heißt als eine Zukunft, die mit dem Übergang vom Imperium zum Nationalstaat zu den Akten gelegt wurde. In Anbetracht der anerkannten teleologischen Interpretation der Annalen des Staates Israel, die die Souveränität als Akt der Erfüllung und Verwirklichung betrachtet, präsentiert das Kapitel, wie im Grunde das gesamte Buch, die umgekehrte Lesart. So wie Haifa 1948 seine Bedeutung und sein internationales Prestige einbüßte, so verlor es auch die multinationale Existenz, die es charakterisierte, solange es eine »gemischte Stadt« war. Als »hebräische Stadt« konnte Haifa nicht mit Tel Aviv konkurrieren, das dies von Anfang an gewesen war und sich anderweitiger Vorzüge erfreute.

Der Epilog schließt mit dem Verweis auf die Novelle »Rückkehr nach Haifa«, die der palästinensische Schriftsteller Ghassan Kanafani im Exil in Beirut veröffentlichte. Kanafani erzählt von einer Begegnung zwischen den diachronischen Nachbarn, zwischen Said und Safija, ehemalige Bewohner des Haifaer Stadtviertels Hallisa, und der Holocaustüberlebenden Mirjam Goschen aus Europa, die im einstigen Zuhause Ersterer einquartiert wurde.

Die ersten Bewohner Wadi Salibs waren wohlhabende Leute, die in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts prachtvolle levantinische Häuser am Hang des Wadis erbauten. Danach, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde das Wadi in raschem Tempo und in großer Dichte von den arabischen Arbeitern der Hedschasbahn besiedelt. In den ersten Monaten nach der palästinensischen Katastrophe, al-Nakba, okkupierten jüdische Flüchtlinge, hauptsächlich aus Europa, die Häuser der muslimischen Bewohner. Nach ihnen kamen Immigranten aus Marokko, die im Gefolge der Unruhen von Wadi Salib schließlich in die Wohnsiedlungsprojekte am Stadtrand evakuiert wurden. Die Reste des Viertels, die nach dem Evakuierungsprozess und der Zerstörung übrig blieben, versuchten diverse einschlägige Gruppierungen im Laufe der Jahre zu retten und zu erhalten, scheiterten dabei jedoch eine nach der anderen. Ein partieller Erfolg war dem Bahnhofskomplex selbst beschieden, der allerdings, das sei hier nur beiläufig erwähnt, während des zweiten Libanonkriegs im Sommer 2006 von einer Rakete getroffen wurde. An den Rändern der Ruinen- und Schuttfelder, die auch heute noch einen Großteil der Fläche Wadi Salibs überziehen, auf dem Gebiet der 1948 zerstörten Altstadt, steht nun ein Komplex von Gerichtsgebäuden für Haifa und den Norden des Landes. Ironie der Geschichte, könnte manch einer sagen.

Prolog: »Die Nachbarn, die auf unsere Kosten reich werden«

Am Sommerabend des 9. Juli 1959 war Polizeifeldwebel Jisrael Walk von der Einheit für Verbrechensbekämpfung auf einer Routinepatrouille im Stadtgebiet Haifa unterwegs, begleitet von Said Abu Sa’ada aus dem Dorf Usfia, dem Fahrer des Polizeiwagens.1 Ihre Tour begann am Schemenstrand, und auf dem Rückweg, gegen zehn Uhr abends, statteten sie dem Café von Ja’akov und Schalom Schitrit in der Schivat-Zion-Straße 85, bekannt als das Café Aviv, einen Routinebesuch ab. Während einer Debatte mit Schalom Schitrit über die Führung des Betriebs und vor allem bezüglich des Gesuchs der Brüder, eine Lizenz für den Verkauf von Spirituosen zu erhalten, kamen Passanten in das Café und riefen Feldwebel Walk auf die Straße hinaus. Mitten auf der Fahrbahn lag ein Mann, der gegen eine Gruppe von Leuten ankämpfte, die sich erfolglos bemühten, ihn dort wegzubringen. Walk drängte die Menschenansammlung zurück und ergriff die Arme des ausgestreckten Mannes im Versuch, ihn vom Straßenpflaster zu ziehen, wogegen sich dieser jedoch wehrte. »In marokkanischem Dialekt«, so bezeugte Walk später vor der öffentlichen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ereignisse von Wadi Salib, habe der Mann, Ja’akov Akiva (Elkarif), zu ihm gesagt, »Ich habe mehr Geld als Ben Gurion. Lass mich in Ruhe, ich habe hier keinen Menschen, und ich will nicht mehr leben.« Walk schaffte es nicht, Akiva dazu zu überreden, ihn zu begleiten. Nachdem die Anwesenden versprochen hatten, den Mann nach Hause zu bringen, beschloss er, es auf sich beruhen zu lassen.

Als Walk seine Patrouillentour in Richtung Hadar hakarmel und Har hakarmel fortsetzte, betrat Akiva das Café und verlangte ein Glas Bier. Der Inhaber Schalom Schitrit weigerte sich, ihm eines zu verkaufen. Als Reaktion darauf griff Akiva nach einer leeren Flasche, zerbrach sie und warf sie auf ein Regal mit vollen Flaschen. Der Schaden, der dem Caféinhaber in diesem Stadium entstand, belief sich auf acht Flaschen Spirituosen und einige Gläser. Akivas Freund, Avner Maman, gelang es, sich Akivas zu bemächtigen, und er begann, ihn aus dem Café zu zerren. Am Ausgang schnappte sich Akiva eine Pfanne mit heißem Öl, schüttete sie über Avner Deri, einen der Gäste, und schaffte es auch noch, dabei den Grill umzuwerfen – »den Herd mit den glühenden Kohlen«, wie es im Polizeibericht festgehalten ist. Maman und Akiva traten auf die Straße hinaus und gingen weiter in Richtung der Wadi-Salib-Straße. Auf dem Weg versuchte Akiva, zwei andere Cafés zu betreten, um etwas zu trinken, doch Maman, wie er behauptete, zog ihn gewaltsam weg und sagte zu ihm: »Warum willst du ins Gefängnis kommen, komm lieber nach Hause.«

Laut dem Bericht der öffentlichen Untersuchungskommission in Sachen Wadi Salib bemerkte Chaim First, der Wirt des Cafés in der Wadi-Salib-Straße 7, einen »marokkanischen Typ«, und wenige Augenblicke später hörte er von einer Passantin: »Der Mann zerbricht Flaschen im Café, weil man ihm nichts zu trinken gegeben hat.« Und sie schlug vor: »Es ist besser, das Café zuzumachen, damit der Mann nicht reinkommt.« Schneller als er war Eizik Weissler, Inhaber des Cafés in der Wadi-Salib-Straße 10, der seinen Laden sofort schloss, nachdem er gehört hatte, »da ist ein Betrunkener, und es gibt Schlägereien.« Auch Chaim First zögerte nicht lange. Er ließ einen Rollladen herunter und holte drei der vier Tische herein, die draußen standen. Akiva hatte jedoch gar nicht die Absicht, sein Café zu betreten. Er passierte es nur. »Er hat nicht mit mir geredet«, sagte First aus, »er ging mit einem anderen Mann. Ich habe nicht gesehen, ob dieser Mann ihn festgehalten hat, und sie sind in Richtung Irakstraße weitergegangen.« In diesem Moment kam ein Polizeistreifenwagen dort vorbei, gefahren von Ja’akov Chajek und dem Kommando von Ascher Goldenberg unterstellt. Er war auf dem Weg, die Streifenpolizisten Jitzchak Getenju, Nathan Edelstein, Nechemia Hochmann, Schlomo Chinga und Karol Segal auf ihre Posten zu bringen. First signalisierte dem Streifenwagen anzuhalten. »Müssen wir unsere Läden zumachen wegen eines einzigen Mannes?«, beklagte sich First, ein Neueinwanderer aus Transsilvanien, in Jiddisch bei Hauptfeldwebel Goldenberg, der im Wagen saß, »wir zahlen schließlich Steuern.« Goldenberg beruhigte ihn und sagte: »Sie sind unterwegs, den Mann mitzunehmen.« First wies ihm die Richtung, in die Maman und Akiva gegangen waren.

Unterdessen betraten Maman und Akiva das Café von Schlomo Rozilio in der Wadi-Salib-Straße 24. Als sich der Streifenwagen dem Café näherte, erkannte Karol Segal Ja’akov Akiva, den er aus seiner Dienstzeit bei der Kriminalpolizei vor drei oder vier Jahren kannte. Damals, so erinnerte sich Segal, war Akiva Zuhälter gewesen. Akiva saß mit dem Rücken zum Eingang und zu dem Streifenwagen, der nun an der Frontseite parkte. Hauptfeldwebel Goldenberg deutete mit dem Finger in Akivas Richtung. Maman, der Akiva gegenübersaß, schoss in die Höhe, auf die Polizisten zu. Goldenberg sagte zu ihm: »Nicht Sie, sondern der andere.« Maman trat näher an Goldenberg heran und erwiderte: »Ich verspreche, dass ich Akiva sicher heimbringe, ich werde ihn beruhigen.« Goldenberg gab sich damit nicht zufrieden, sondern verlangte mit Nachdruck, dass Akiva ihn begleite, »nach allem, was passiert ist«. Akiva stand auf, kam dazu und lehnte sich an das Polizeiauto, wobei er Hauptfeldwebel Goldenberg fragte: »Was wollt ihr?« Maman, so erinnerte sich Chajek, der Fahrer des Streifenwagens, versuchte, Akiva auf Marokkanisch zuzureden: »Geh zurück nach Hause, und sie nehmen dich nicht mit.« Akiva erwiderte: »Ich hab keine Angst, 20 Polizisten können mich nicht mitnehmen. Ich will sterben, aber nicht allein.« Inzwischen, so bezeugte Chajek, »kamen noch andere Leute, Marokkaner, von Akivas Bekannten dazu und versuchten, ihm zuzureden und ihn vom Streifenwagen wegzubringen.«

Nun überstürzten sich die Ereignisse: Akiva machte einen Satz zur Theke des Cafés, packte eine volle Flasche und zerschmetterte sie, die Polizisten stürzten aus dem Wagen, Akiva begann, sie mit einer Flasche nach der anderen zu bewerfen, wobei er unter anderem die Windschutzscheibe des Polizeiautos traf. Die Polizisten gingen hinter dem Streifenwagen in Deckung, und es wurden durch ein Loch in der Scheibe in Richtung des Cafés einige Schüsse aus Hauptfeldwebel Goldenbergs Pistole abgefeuert, in dem in diesem Augenblick Akiva etwa eineinhalb bis zwei Meter von der Tür entfernt neben der Theke stand. Weitere Schüsse fielen aus einer anderen Pistole. Akiva gelang es noch zu sagen: »Ihr schießt auf mich, schießt nur«, während er weiter Flaschen warf, und dann brach er zusammen. Die Schüsse hörten auf. Akiva lag über die Bartheke hingestreckt, eine blutende Wunde in der linken Hüfte. »Wir hoben ihn auf«, sagte Chajek aus, »legten ihn in den Wagen und rasten sofort los ins Krankenhaus. Wir erreichten das Rothschild-Krankenhaus, und die Polizisten brachten ihn hinein. Ich sah ihn noch atmen.« »Hätten Sie und der Polizist Getenju Akiva verhaften können, als er aus dem Café kam?«, wurde Karol Segal, der zweite Schütze, bei seinem Verhör gefragt, worauf er antwortete: »Ich bin der Meinung, wir hätten es nicht geschafft, ihn mit Gewalt abzuführen, denn er ist ein sehr kräftiger, starker und großer Mann, und ich und Getenju sind klein. Im Vergleich zu ihm sind wir Fliegengewichte.«

Um halb elf Uhr am gleichen Abend gelangte ein Wagen der Kriminalabteilung mit zivilem Kennzeichen, gesteuert von dem Polizisten Elijahu Aschraf mit Hauptfeldwebel Chaim Melech an seiner Seite, an die Ecke der Schivat-Zion- und Wadi-Salib-Straße. Sie stießen auf eine Zusammenrottung von ungefähr 150 bis 200 Personen, die den Wagen umringten und schrieen: »Unser Bruder ist von der Polizei getötet worden!« Aschraf sagte aus, dass einer aus der Menge auf ihn zurannte, ihn am Hemd packte, es zerriss und brüllte: »Ihr habt unseren Bruder getötet!« Er erinnerte sich, dass man ihn stieß und an ihm zerrte und dass die Leute auch anfingen, Steine auf den Wagen in die Richtung zu werfen, wo Hauptfeldwebel Melech saß. Melech erinnerte sich: »Der Fahrer Aschraf begann auf Marokkanisch mit ihnen zu reden, und am Anfang haben sie ihn zwar noch angerührt, aber anscheinend hatte die Sprache Wirkung auf sie, und sie fingen an, Steine nach der Seite zu werfen, auf der ich saß.« Nachdem sie die Windschutzscheibe des Wagens zerschmettert hatten, packten sie Hauptfeldwebel Melech mit Händen, zogen ihn gewaltsam aus dem Auto und warfen ihn zu Boden. Währenddessen machten sich einige von ihnen daran, den Polizeiwagen umzustürzen. Mittendrin wurden Schüsse laut, und in dem entstehenden Tumult gelang Melech die Flucht. Aschraf war inzwischen aus dem Wagen ausgestiegen, suchte Schutz vor den Objekten, die gerade in seine Richtung geworfen wurden.

Am gleichen Abend gerieten der Polizist Kalman Chaimovitz und seine Frau an den Schauplatz der Ereignisse. Chaimovitz erinnert sich, dass er anfänglich die Prostituierte Faricha registrierte, die Rozilios Café betrat, und den zuständigen Streifenpolizisten suchen wollte, um das zu dessen Kenntnis zu bringen. Unterdessen hörte er die Schüsse, die auf Akiva abgegeben wurden und schickte rasch seine Frau in ihre Wohnung in der Wadi-Salib-Straße 10 zurück, während er selbst auf der Straße blieb. Er beobachtete den Menschenauflauf, der um den Wagen von Melech und Aschraf entstand. »Der Fahrer«, bezeugte er, »stieg nicht aus dem Wagen. Die Leute fingen an, auf Marokkanisch mit ihm zu reden, was ich nicht verstehe, der Fahrer stieg aus dem Auto, und sie begannen, es mit Steinen zu bewerfen.« Im selben Moment war ein Schuss zu hören, der aus dem dritten Stockwerk des Gebäudes abgefeuert wurde, in dem sich das Café Aviv befand. Drei weitere Schüsse fielen in den darauf folgenden Minuten, alle aus der Pistole eines Zivilisten, der als Wächter bei der Nationalbank angestellt war, mit dem Ziel, »die wilde Menge« zu vertreiben. Einer der Zeugen erinnert sich, dass jemand aus der Menge, als die Schüsse aus dem dritten Stockwerk abgegeben wurden, »Nazi!« in Richtung des Schützen brüllte. »Er war ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß, und er sah aus wie um die sechsundzwanzig.« Chaimovitz eilte zu seiner Wohnung, um eine Pistole zu holen, kehrte an den Schauplatz der Ereignisse zurück, stellte sich drei bis fünf Meter entfernt von der Menge mitten auf die Straße und feuerte einen Schuss in die Luft ab. Die Leute identifizierten Chaimovitz, den Schützen, als »der mit dem Nylonhemd«, ließen von dem Streifenwagen und Hauptfeldwebel Melech, der inzwischen entkommen war, ab, und ein Teil von ihnen fiel nun sofort über Chaimovitz her. Durch die Schläge brach einer von Chaimovitz Zähnen ab, doch es gelang ihm zu fliehen, und er rannte in Richtung der Kibbuz-Galujot-Straße. Dort stieß er auf Hauptfeldwebel Melech, und die beiden setzten ihre Flucht fort, bis sie einen Arzt auf der Straße fanden, der ihnen behilflich war, die Polizeizentrale zu alarmieren und Verstärkung anzufordern. Es trafen rasch Streifenwagen ein, die über die Ma’aleh-Haschichrur anrückten. »Die Polizisten räumten die Menge um den Wagen, Aschraf brachte das Auto weg, die Schivat-Zion hinunter in Richtung Faisalplatz.« Um elf Uhr nachts erschien Jissachar Schefi, der Polizeikommandant Haifas, an Ort und Stelle und wurde von einer erregten Menge empfangen, die schrie: »Ihr habt einen Menschen ermordet! Ihr habt einen Menschen verletzt! Sie verkaufen Waffen an die Deutschen!« Laut Bericht der öffentlichen Untersuchungskommission wurde Kommandant Schefi »mit einem Wirrwarr an Beschwerden über Diskriminierung und Unrecht« überschüttet, »die zuweilen von hysterischen Schreien von Frauen begleitet waren«.

Das erste Kapitel der Unruhen von Wadi Salib begann am nächsten Tag. In der vorhergegangenen Nacht hatte sich der Aufruhr um Mitternacht gelegt, die Leute waren wieder nach Hause gegangen, und es war Ruhe im Wadi eingekehrt. In den frühen Morgenstunden wurden im Viertel Instruktionen ausgegeben, per Mundpropaganda und per »Zettel«, die Geschäfte zu schließen und nicht zur Arbeit zu gehen. Um sieben Uhr morgens versammelten sich in der Rambam-Synagoge etwa 150 bis 200 Menschen, die dem Aufruf des »Verbandes der Nordafrika-Immigranten« gefolgt waren. Zu Anfang sprach David Ben-Harusch zu den Versammelten, und anschließend brachen sie zu einer Demonstration auf, verließen die Straßen des Viertels auf dem Marsch zum Polizeihauptquartier. Die Demonstranten schwangen schwarze Flaggen und Transparente mit den Aufschriften: »Wo ist die Gerechtigkeit?«, »Die Polizei hat einen unschuldigen Menschen getötet!«, »Es gibt kein Gesetz im Staat!«. Sie trugen auch eine Nationalfahne, deren Ränder mit Blut befleckt waren – Hühnerblut, wie im Bericht der Untersuchungskommission vermerkt steht. Polizeikommandant Schefi und Polizeikommandant Bendel traten den Demonstranten entgegen und unternahmen den Versuch, sie zu beruhigen. Die Kommandanten erklärten einer Abordnung der Demonstranten, dass Akiva nicht getötet, sondern nur verletzt worden sei, und schlugen der Delegation vor, sie ins Krankenhaus zu begleiten, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Sie erklärten, dass die Polizei die Umstände des Vorfalls untersuche und ihn zutiefst bedaure. Ab diesem Zeitpunkt bis in die Nachmittagsstunden ereigneten sich nur relativ begrenzte Zwischenfälle. Gegen Mittag versammelten sich dann ca. 80 bis 100 Personen am Rande des Viertels auf dem Faisalplatz und bewarfen Polizeiautos, die dort in den Straßen Streife fuhren, mit Steinen. Die Menge, vermerkte der Bericht der Untersuchungskommission, setzte sich überwiegend aus Kindern, Jugendlichen und Frauen, darunter Schwangere, zusammen. Nachdem diese sich zerstreut hatten, wurde der Wagen des Filialdirektors der Nationalbank in der Kibbuz-Galujot-Straße in Brand gesteckt und anschließend die Cafés von Schitrit und First beschädigt. Danach zerstörten die Randalierer den Klub der Allgemeinen Arbeitergewerkschaft in Erez-Israel (Histadrut) und wandten sich dann dem Klub der Arbeiterpartei (Mapai) zu, wo sie große Schäden anrichteten.

Von diesem Stadium ausgehend verschärfte sich die Situation. Um drei Uhr nachmittags stieß eine Menge von etwa 200 Demonstranten auf Polizeikräfte und fing an, Steine auf die Polizisten zu werfen. Die Polizei begann, Demonstranten festzunehmen und schrittweise vorzurücken, während diese ihrerseits fortfuhren, von den Dächern aus Steine auf Polizisten zu schleudern, die sich in den Straßen des Viertels, teils enge Treppengassen, verteilten. An diesem Punkt beschloss Polizeikommandant Schefi, einen Versuch zur Beruhigung der Menge zu unternehmen, und appellierte an das Gewissen der Leute. Um fünf Uhr nachmittags schien es, als sei allgemeine Ruhe eingetreten, die Menge hatte sich zerstreut, und die Läden waren wieder geöffnet worden, doch vierzig Minuten später gingen bei der Polizei Meldungen über Demonstrationen mit Hunderten von Menschen ein, die sich auf dem Weg nach Hadar hakarmel befand. Während die Polizei Verstärkung in den unteren Stadtbereich schickte, tauchten aus Wadi Salib zwei Gruppen mit Kurs auf Hadar hakarmel auf, von denen eine die Sokolovstraße entlang bis zur Herzlstraße und zurück die Jechielstraße rannte und die zweite entlang der Jechiel- zur Sirkinstraße, von dort zur Schapirastraße und wieder zurück. Jede Gruppe zählte etwa 25 bis 30 Personen, die Schaufenster einwarfen, Eigentum beschädigten und anschließend sofort verschwanden. Um acht Uhr abends versuchten circa 50 Personen, wieder zur Herzlstraße zu gelangen, doch die Polizei fing sie rechtzeitig ab, und sie zogen sich nach Wadi Salib zurück, während sie Steine warfen. Um halb neun Uhr abends endeten die Zwischenfälle. Der körperliche Schaden belief sich auf dreizehn verletzte Polizisten, darunter zwei schwer, während der Sachschaden auf ungefähr 25000 Liras geschätzt wurde. Die Polizei verhaftete 34 Verdächtige, darunter zehn mit krimineller Vergangenheit. Die meisten wurden am nächsten Tag gegen Kaution freigelassen, mit dem Ziel, die Gemüter zu besänftigen.2 In einer Erklärung, unterzeichnet von David Ben-Harusch, die am gleichen Abend verbreitet wurde, wurde Bedauern über die Vorfälle ausgedrückt und zu Ruhe aufgerufen. In einem anderen Flugblatt, das an jenem Tag verteilt wurde, stand »Juden Nordafrikas, lasst uns den gestrigen Tag in unser Gedächtnis eingravieren – dafür, was uns in der Zukunft von diesen Nachbarn erwartet, die auf unsere Kosten reich werden und danach in prächtige Häuser in Hadar hakarmel und bequeme Wohnsiedlungsprojekte ziehen.«3 Bei dem Versuch der Polizeikommandanten Schefi und Bendel, die Demonstrantendelegation zu besänftigen und ihrem Bedauern über Akivas Verletzung Ausdruck zu verleihen, verpflichteten sie sich zu einer polizeilichen Untersuchung des Vorfalls. Tatsächlich wurde in den nächsten Tagen eine interne polizeiliche Untersuchung durchgeführt. Diese sprach Hauptfeldwebel Goldenberg von jeder Schuld frei. Seine Kugeln, so zeigten die Ergebnisse der Kommission, hatten die hintere Wand im Innern des Cafés getroffen und den Kühlschrank in einer Höhe von 90 Zentimetern, das heißt in verschiedenen Richtungen, weshalb er also nicht versucht hatte, Akiva zu treffen, und mit seiner Waffe nicht auf ihn gezielt hatte. »Hauptfeldwebel Goldenberg«, so konstatierte der Bericht, »war unter den gegebenen Umständen […] befugt, Warnschüsse abzugeben als ein Mittel, Ja’akov Akiva davon abzuhalten, weitere Flaschen zu werfen, wobei es allerdings vorzuziehen gewesen wäre, sie wirklich in die Luft, in den Himmel abzufeuern und nicht in das Café hinein, da er dort Ja’akov oder den Caféinhaber hätte treffen können.« Der Polizist Karol Segal war es, stellte die Kommission fest, der zwei Schüsse abgab, von denen der eine Ja’akov Akiva getroffen hatte. Diese Schüsse wurden für ungerechtfertigt befunden, »sowohl unter rechtlichem als auch professionellem Aspekt«. Segal hatte ohne Anweisung zur Feuereröffnung gehandelt, stellte die Kommission fest, und es gab keine Rechtfertigung für den Versuch, Akivas Beine zu treffen, nachdem dieser »allein und nicht mit einer Schusswaffe ausgerüstet« gewesen war. Die Kommission empfahl daher, Goldenberg einem Disziplinarverfahren zu unterziehen und Karol Segal vor ein Zivilgericht zu stellen.

Laut Meinung der Ärzte war Akivas Zustand zu jener Zeit zu ernst, als dass er eine Aussage hätte machen können. Er lag im Rothschild-Krankenhaus mit einem Riss im Bereich des linken Hüftbereichs, einer Verletzung des Dickdarms und des Rückgrats und mit einem Fremdkörper im Wirbelsäulenkanal. Was den weiteren Zwischenfall anging, so kam die polizeiliche Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass keine gerichtlichen Maßnahmen gegen den Polizisten Chaimovitz zu ergreifen seien, da er »Initiative und Wachsamkeit zeigte, obwohl er nicht im Dienst war«, und zur Rettung von Hauptfeldwebel Melech beitrug. Auch die Schüsse des Zivilisten aus dem dritten Stockwerk wurden für gerechtfertigt befunden. »Wer anfängt, auf Muhammad zu schießen, schießt am Ende auf Rachamim«, schrieb Uri Avnery in seiner Zeitung Ha’olam haze. »Wer Suleiman verhaftet und ohne Gericht und Richter aus weist, wird am Ende auch Nissim verhaften und ausweisen. Wer heute Fatma ins Gesicht spuckt, wird morgen in Mazals Gesicht spucken. Was gestern in Wadi Nisnas geschehen ist, muss heute in Wadi Salib geschehen«, schrieb Avnery weiter, eine einsame Stimme in jenen Tagen.4 »Schüsse auf einen Betrunkenen«, stichelte der Knessetabgeordnete Arie Ben-Eliezer von der revisionistischen Cherut-Partei gegen das Establishment, »wir müssen geradezu dankbar sein, dass wir nicht voller Betrunkener sind, auch nicht voller Randalierer. Wenn es denn wirklich notwendig wäre, auf einen wild gewordenen Betrunkenen zu schießen, dann stelle ich mir vor, wie viele Opfer es Tag für Tag und Nacht für Nacht bei Völkern geben würde, bei denen Trunkenheit ein untrennbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens ist.«5

1 Dieses Kapitel stützt sich vollständig auf die Protokolle der staatlichen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ereignisse von Wadi Salib (hebräisch), Staatsarchiv, Dok. 7253/4 (im Folgenden: Untersuchungskommission in Sachen Wadi Salib).

2 Ha’arez vom 17. 8. 1959.

3 Ein völlig anderer Aufruf wurde in dem Wochenblatt Ha’olam haze veröffentlicht: »Unser Blut soll nicht ungestraft vergossen werden. Lasst uns zu unseren Ausbeuter-Nachbarn in Hadar hakarmel hinaufgehen. Wir sehen sie nachts, in den erleuchteten Fenstern, während wir einen Platz zum Schlafen in Treppenhäusern und dunklen Kellern suchen und am Tag unter Schmerzen hungrig umherwandern, um einen Tag Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu erhalten – lasst uns gegen sie aufstehen!« S. Cohen, »Schwarzer Donnerstag« (hebräisch), in: Ha’olam haze 1137, 15. 7. 1959, S. 4–5.

4 Uri Avnery, »Die Rebellion der Marokkaner« (hebräisch), in: Ha’olam haze 1137, 15. 7. 1959, S. 3.

5 Knessetsitzung 669, 13. 7. 1959, Debatte über die Regierungsstellungnahme in Sachen Haifa, S. 31.

Krieg

Diachronische Nachbarn

»einen traktat könnte ich schreiben

über die jähe verwandlung

des lebens in altertumsforschung«1

Als Uri Avnery Ende der Fünfzigerjahre eine Korrelation zwischen Wadi Nisnas, dem Palästinenserviertel in Haifa, und Wadi Salib, dem ehemals muslimischen Stadtviertel und nun Wohngegend armer jüdischer Immigranten, herstellte, bezog er sich auf das gesamte politische Klima in Israel. Haifa diente ihm als Beispiel für die Verknüpfung und wechselseitigen Verbindungen zwischen der innerjüdischen ethnischen Spannung und dem jüdisch-palästinensischen Nationalkonflikt. In einem Staat, in dem verschiedene normative Systeme nebeneinander bestehen, so warnte er, gebe es keinerlei Garantie für Bürgerrechte. Israel, in dem ein Teil der Bürger, genauer gesagt, die arabischen, unter einem Militärregime leben, agiert innerhalb einer dualen Konstellation, die am Ende zusammenbrechen muss, da man unter solchen Bedingungen die Demarkationslinien nicht zu verteidigen vermag. Die Normen, die in dem einen Kontext – dem jüdisch-palästinensischen – geschaffen werden, konstatierte er, werden am Ende auf den anderen, den aschkenasischorientalischen, ausstrahlen und ihn durchdringen. Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis Avnerys Beobachtung von anderen dahingehend erweitert wurde, dass sie eine strukturelle Analyse des multinationalen Rahmens israelischer Staatsbürgerschaft mit einschloss, »die ihre Bürger eher in Schichten teilt, statt sie zu integrieren«.2 Aber jenseits dieser treffenden Einsicht, die die israelische Staatsbürgerschaftsdebatte vorwegnahm, erweckte die explizite namentliche Erwähnung des jüdischen Armenviertels Wadi Salib und des arabischen Wadi Nisnas im gleichen Atemzug die verdrängte Erinnerung wieder zum Leben. Für einen kurzen Augenblick flackerte in Avnerys Worten die »gemischte Stadt« auf, die in so tiefer Versenkung verschwunden war, dass sie trotz des arabischen Namens von Wadi Salib vollkommen der Vergessenheit anheimgefallen zu sein schien.

Einer der Letzten, der das Verschwinden des arabischen Wadi Salibs und die Entstehung des jüdischen Viertels dokumentierte, war Benjamin Chalfon, Leiter der Abteilung für jüdische Angelegenheiten im Mittleren Osten der Jewish Agency, als ihm gegen Ende 1948 aufgetragen wurde, die Wohnviertel der Immigranten aus Nordafrika im Osten der Unterstadt Haifas aufzusuchen. Chalfons Visite wurde als Reaktion auf Presseberichte und Protestversammlungen veranlasst, die die sanitäre Lage im Viertel und den Zustand der Wohnungen anprangerten und verurteilten. Der Krieg war zu Ende, seine Verheerungen jedoch waren in der Stadt noch deutlich sichtbar. Folgendes schrieb Chalfon in seinen »Besuchseindrücken und Beobachtungen«3:

»Ich verließ Haifa einige Wochen zuvor, und zu diesem Zeitpunkt war die Altstadt ein abgeschlossenes Areal, das einer gärenden Müllhalde glich, auf der in den Abwasserkloaken Abfallklumpen, Tierkadaver und Überreste von Hab und Gut – höchst unschön – verrotteten […]. Es war schwer vorstellbar, dass in diesen Straßen – zwischen Trümmerhaufen, von denen kein Mensch wusste, wann oder wie sie weggeräumt werden sollten, in Häusern mit herausgerissenen Fenstern und Böden, in Gebäuden, die zur Hälfte planmäßig abgerissen worden waren und deren Rest wie durch ein Wunder noch stand – Menschen wohnten. Aber Tatsache ist, dass man Immigranten hierher geschickt hat und dass sie diese Häuser okkupieren, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.«

Gegen Ende 1948 stellte Chalfon bestürzt und erstaunt zugleich fest, dass die Ödnis der Zerstörung, die er wenige Wochen zuvor gesehen hatte, pulsierend zu leben begann. Nach dem »großen Aufschrei« fing die Stadtverwaltung Haifas an, die »Abfall- und Fäulnishaufen« zu beseitigen, wobei die Ruinen der Altstadt stehen gelassen wurden. »Jetzt gehen wir durch Gassen, die von den Abfallhaufen freigeräumt wurden, doch der Gestank von Moder und Verwesung dringt noch immer aus den umliegenden Höfen«, schrieb Chalfon. »Manchmal sind wir gezwungen, uns durch die Trümmerreste zu winden, und manchmal müssen wir uns mit Wegen durch Höfe und zerstörte Häuser behelfen, um einen riesig aufragenden Klotz zu umgehen: die Ruine dessen, was einst ein großes Haus war.«