Monika Büchel (Hrsg.)

Liebe verschenkt sich

24 Weihnachtsgeschichten
mal besinnlich, mal heiter

Impressum

© 2017 Bibellesebund Verlag, Marienheide

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

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Autor: Monika Büchel (Hrsg.)

Coverbild: © ffphoto – Fotolia.com

Covergestaltung: Gisela Auth

ISBN 978-3-95568-406-8

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Inhalt

Titel

Impressum

Alle Jahre wieder

Die Hütte im Wald

Das Loch in der Jackentasche

Marthas Adventsweg

Fräulein Minka und das Fahrrad im Flur

Tannenbaum, oh Tannenbaum

Weihnachten so ganz anders

Noch einhundertachtundzwanzig Tage

Ein Krippenspiel mit Überraschungen

Es fehlt ein Stück Meer vor der Küste von Chile

Das geschenkte Herz

Ein Krippenspiel für Pfarrer Buchmann

Der Weihnachtsmarkt-Besuch

Ein Traum in Rot

Das beste Geschenk von allen

Der Krippenweg

Sieben alte Butterhörnchen

Die Versöhnung

Weihnachtsfreude im Haus an der Domstraße (Teil 1)

Weihnachtsfreude im Haus an der Domstraße (Teil 2)

Der Krippen-Gottesdienst

Der überraschende Weihnachtsbesuch

Heiligabend im Irish Pub

Rudis Geschenk

Hinweise für Gruppenstunden

Alle Jahre wieder

von Christel Brodbeck

Es war der erste Heilige Abend, den wir als kleine Familie miteinander erlebten. Der Baum war geschmückt und das Essen vorbereitet, die Geschenke verpackt. So machten wir uns auf den Weg zur Kirche. Vergnügt saß unser sechs Monate alter Sohn in seinem Babysitz, als wir am großen Einkaufszentrum vorbeifuhren. Es war vor Kurzem am Stadtrand eröffnet worden, natürlich noch rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft. Aber heute Abend waren die Parkplätze leer. Nein, nicht ganz leer. Eine gebückte, in schäbige Kleider gehüllte Gestalt schlurfte über den einsamen Parkplatz, schwer mit Plastiktüten bepackt. Es war offensichtlich, dass es sich nicht um einen verspäteten Kunden handelte, sondern einen Obdachlosen, der nach einem geschützten Plätzchen suchte, vielleicht in einem der Unterstände für die Einkaufswagen.

Mein Mann setzte gerade den Blinker, um auf die Hauptstraße abzubiegen, als ich rief: „Halt an!“

„Wegen diesem Menschen da auf dem Parkplatz?“, fragte er. Offensichtlich hatte er den Mann auch bemerkt.

„Wir können jetzt nicht einfach zur Kirche fahren, Weihnachten feiern und so tun, als hätten wir ihn nicht gesehen“, sagte ich.

„Ja, irgendwie hast du recht, das würde nicht zu Weihnachten passen“, stellte Ralf nachdenklich fest. „Du meinst also, wir sollen ihn mitnehmen ... Aber ob er mit uns geht? Ich habe gehört, dass sich Leute, die auf der Straße leben, eher zögerlich nach Hause einladen lassen.“

„Lass es uns wenigstens versuchen“, schlug ich vor.

Die Gestalt hatte sich, wie angenommen, unter dem Vordach für die Einkaufswagen in der hintersten Ecke ein Plätzchen gesucht.

„Hallo, wir sind Ralf und Silvi und wollten fragen, ob Sie Lust hätten, mit uns zur Kirche zu fahren und anschließend bei uns zu Hause Weihnachten zu feiern, so mit Essen und Tannenbaum?“, sagte ich.

Erstaunt schaute der Mann uns an – und traurig. Dann, nach einer kurzen Pause, stand er ruckartig auf. „Kann ich das hier mitnehmen?“, fragte er und deutete auf die vier prall gefüllten Plastiktüten.

„Natürlich, im Auto ist Platz genug“, antwortete mein Mann. Im Stillen war er überrascht über die positive Antwort des Mannes. Dann schauten wir uns unsicher an, als wir den etwas muffigen Geruch wahrnahmen, den unser ungewöhnlicher Gast verströmte.

„Ob das eine gute Idee war?“, flüsterte ich, als Ralf die Tüten im Kofferraum verstaute.

Durch diesen Zwischenfall kamen wir später als geplant an der Kirche an und waren ziemlich die Letzten, die den Raum betraten. Natürlich waren alle Plätze belegt, bis auf ein paar wenige in den beiden ersten Reihen. Immer das Gleiche, dachte ich, alle wollen sie zum Weihnachtsgottesdienst, aber lieber hinten stehen als ganz vorne sitzen. Wäre das hier ein Fußballspiel, würde das sicher ganz anders sein.

Wir schritten durch den Mittelgang zur ersten Reihe: Ralf mit Jonas auf dem Arm, ich und unser Gast. Ich glaube, die versammelte Gemeinde staunte an diesem Abend mehr über uns als über den prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum. Die Orgel setzte ein und wir sangen das erste Lied: „Ich steh an deiner Krippen hier.“ Ja, da waren wir also mit Manfred, so hieß unser Gast, zwischen all den gut gekleideten und gut situierten Menschen unserer Gemeinde.

Als wir später zu Hause waren, Manfred sich geduscht hatte und sich jetzt, bekleidet mit Ralfs Jogginganzug, das leckere Weihnachtsessen schmecken ließ, kamen wir ins Gespräch. Zaghaft zuerst, vielleicht weil er das Erzählen nicht mehr gewohnt war, berichtete Manfred aus seinem Leben, und wir hörten staunend zu.

Lehrer war er gewesen, als plötzlich seine Frau Ellen kurz nach der Hochzeit schwer erkrankte und verstarb. Manfred war danach nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen. Er ging nicht mehr zum Unterricht in die Schule, ging zu keinem Arzt mehr, um sich helfen zu lassen. Auch die Verwandtschaft ließ er nicht mehr an sich heran. Er wollte zu keiner Familienfeier mehr gehen – ohne Ellen. Konnte es nicht mehr aushalten in seiner Wohnung – ohne Ellen. Irgendwann packte er ein paar Sachen zusammen und ging. Seither war die Straße sein Zuhause. Schon dreißig Jahre lang.

Jonas war friedlich zwischen seinen neuen Spielsachen auf der Krabbeldecke am Boden eingeschlafen. Leise las Ralf die Weihnachtsgeschichte vor, um ihn nicht aufzuwecken. Dann tranken wir im Schein des Weihnachtsbaumes Rotwein und aßen selbst gebackene Plätzchen.

In die Stille hinein sagte Manfred plötzlich bewegt: „Ich möchte Ihnen von Herzen für diesen Abend danken. Ich habe mich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt. Es war fast so wie früher, als Ellen noch da war.“

„Sie können heute Nacht hier auf dem Sofa schlafen“, sagte ich und holte Kissen und eine warme Decke.

„Dürfen wir noch mit Ihnen beten, bevor wir zu Bett gehen?“, fragte Ralf.

Manfred nickte.

Im Licht der brennenden Kerzen begann er: „Danke, lieber Vater, dass du Jesus als Kind in diese Welt geschickt hast, weil du nicht willst, dass auch nur einer von uns verloren geht. So sehr liebst du uns, und das Kind in der Krippe ist der Beweis dafür. Wir danken dir für dieses Wunder. Amen.“

Tränen liefen über Manfreds Gesicht, und wir spürten etwas vom Wunder der Heiligen Nacht hier in unserem Wohnzimmer.

Am nächsten Morgen erwachten wir, weil Jonas in seinem Bettchen munter vor sich hin brabbelte. Schnell sprangen wir auf, als uns der Gast einfiel. Aber das Wohnzimmer war leer und auch in keinem anderen Raum der Wohnung war Manfred zu finden. Seine Kleider und Plastiktüten waren ebenfalls verschwunden. Er war weg. Warum war er so wortlos und heimlich gegangen? Da fiel mein Blick auf die einfache Weihnachtskrippe aus Holz. Sie war leer. Manfred hatte das Jesuskind mitgenommen. Wir schauten uns verwundert an.

„Vielleicht braucht er diese handfeste Erinnerung an Gottes Liebe“, meinte Ralf. Ich nickte.

Wir hofften und beteten in den folgenden Monaten, dass Manfred nicht nur die kleine Holzfigur, sondern den lebendigen Jesus bei sich tragen würde.

Es vergeht kein Weihnachten, ohne dass wir nicht von Manfred sprechen und sehr froh darüber sind, damals angehalten zu haben. Die fehlende Figur haben wir nie nachgekauft, denn die leere Krippe erinnert uns alle Jahre wieder an das, was damals geschah. Und dann singen wir das Lied, das wir auch mit Manfred im Gottesdienst gesungen haben:

Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen:

dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.

So lass mich doch dein Kripplein sein;

komm, komm und lege bei mir ein

dich und all deine Freuden.

Die Hütte im Wald

von Susanne Koch

Alexander fuhr durch den verschneiten Wald. Ob es noch weit war bis zur Hütte? Er hatte die Hauptstraße bereits vor über einer Stunde verlassen. Es begann wieder zu schneien und die Dämmerung setzte ein. Nach der nächsten Kurve sah er endlich einen Lichtstrahl durch die Bäume schimmern. Alexander atmete erleichtert auf. Dort musste die Hütte sein. Und wie es schien, wartete der Förster wie verabredet auf ihn, um ihm den Schlüssel zu übergeben.

Seit Wochen freute sich Alexander auf die freien Tage in der Einsamkeit. Nach vielen zähen Stunden am Computer und nervigen Nachfragen des Verlags, ob er den Abgabetermin für seinen neuen Roman einhalten könne, hatte er sich für diesen Tapetenwechsel entschieden. „Den braucht man als Autor manchmal, um wieder neue Ideen zu bekommen“, hatte er seiner Nachbarin erklärt, die sich während seiner Abwesenheit um Post und Pflanzen kümmern würde.

In gespannter Erwartung parkte Alexander sein Auto neben dem Jeep, der wohl dem Förster gehörte, und stieg aus.

Die Tür der Hütte öffnete sich und ein älterer Herr mit grauem Vollbart und freundlichen Augen begrüßte ihn lächelnd. „Da sind Sie ja. Willkommen in der Abgeschiedenheit!“

Alexander stapfte durch den Schnee und schüttelte dem stattlichen Mann die Hand. „Vielen Dank. Ja, ich dachte schon, ich hätte mich verfahren und hier käme nichts mehr.“

Der Förster lachte. „Wenn Sie damit die Zivilisation meinen, ist das auch so. Außer dieser Hütte und dem Forsthaus in der Nähe gibt es hier nur Bäume, Hasen und Rehe. Aber kommen Sie doch erst einmal herein.“

Alexander klopfte sich den Schnee von den Stiefeln und folgte seinem Gastgeber gespannt in die Hütte, die in den nächsten drei Wochen sein Zuhause sein würde.

Der kleine Vorraum mit der einfachen Garderobe hatte zwei Türen. Die rechte Tür führte in eine kleine Küche. „Seit einem Jahr haben wir hier sogar fließendes Wasser, das aus dem Brunnen im Garten kommt“, verkündete der Förster stolz. „Wenn die Temperatur nicht unter 10 Grad Minus fällt, friert die Wasserleitung nicht zu.“

Alexander hoffte, dass es so weit nicht kommen würde und folgte dem älteren Mann durch die linke Tür in einen großen Raum. Der Autor betrachtete interessiert die Geweihe, die über dem gemütlichen Sofa an der Holzwand hingen. Im Kamin knisterte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme.

„Lassen Sie das Feuer tagsüber nie ausgehen, sonst wird es in der Hütte sehr schnell kalt. Wir haben zwar Strom für Herd und Licht, aber geheizt wird ausschließlich über den Kamin. Durch den Schornstein gelangt die Wärme in die oberen beiden Schlafräume und das kleine Badezimmer. Im Schuppen nebenan finden Sie genügend Brennholz. Nehmen Sie sich, so viel Sie brauchen!“

Der Förster legte zwei Holzscheite nach, während Alexander sich einen kurzen Moment fragte, ob er sich für die kommenden drei Wochen nicht doch zu viel Komfort verwehrte. Aber dann besiegten die Abenteuerlust und die Freude, komplett abtauchen zu können, seine Bedenken.

„Wenn Sie wollen“, riss ihn der Förster aus seinen Gedanken, „dürfen Sie sich im Wald einen kleinen Weihnachtsbaum fällen. Meine Frau hat mir extra noch Kerzen und ein bisschen Weihnachtsschmuck mitgegeben.“ Er zeigte auf eine Schachtel in der Ecke. „‚Nicht, dass der junge Mann vergisst, dass in zwei Tagen Weihnachten ist‘, hat sie gesagt.“

Angenehm berührt von dieser Fürsorge bedankte sich Alexander und fügte lächelnd hinzu: „Meiner Mutter musste ich auch versprechen, mir an Heiligabend den traditionellen Kartoffelsalat mit Würstchen zu machen. Aber ansonsten bin ich wirklich froh, dem ganzen Weihnachtstrubel in diesem Jahr entfliehen zu können.“

„Bei uns wird es wohl ziemlich turbulent werden. Unsere Kinder kommen mit ihren Familien über die Feiertage zu uns. Wir freuen uns schon sehr darauf, aber ruhig wird es mit unseren acht Enkeln nicht werden.“

Die beiden Männer lachten. „Na, dann wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit hier. Und falls etwas sein sollte, finden Sie mich im Forsthaus, das Sie in etwa zehn Minuten erreichen. Fahren Sie diesen Weg einfach weiter. Wenn ich nach den Feiertagen die Futterkrippen in der Gegend auffülle, komme ich kurz bei Ihnen vorbei.“

Alexander schaute dem Jeep nach, der langsam in der Dunkelheit verschwand. Eine ungewohnte Stille breitete sich aus. An die muss ich mich erst noch gewöhnen, dachte er. Doch bevor ihn eine melancholische Stimmung erfassen konnte, gab er sich einen Ruck und trug sein Gepäck und die ganzen Essensvorräte in die Hütte. Nachdem alles verstaut war, ließ er sich erschöpft, aber zufrieden in den Sessel vor dem Kamin fallen. Jetzt fühlte er sich hier schon fast ein bisschen heimisch.

Am nächsten Morgen machte Alexander zuerst Feuer im Kamin. Das war in der Nacht ausgegangen und es war empfindlich kalt in der Hütte. An Joggen war bei dem einsetzenden Schneetreiben nicht zu denken. So machte er ein paar Gymnastikübungen, um warm zu werden. Nach einem guten Frühstück mit Spiegelei und gebratenem Speck setzte er sich an den kleinen Tisch vor dem Fenster und öffnete seinen Laptop. Er hatte sich vorgenommen, in den nächsten Tagen nur das bisher Geschriebene zu lesen und sich Notizen am Rand zu machen. Mit dem Schreiben wollte er erst nach Weihnachten beginnen.

Nachdem er fast zwei Stunden gelesen hatte, lehnte er sich zufrieden zurück. Einige Stellen mussten noch geschliffen und Charaktere geschärft werden. Aber die Spur stimmte. Zum ersten Mal seit Wochen freute er sich aufs Weiterschreiben. Er klappte den Laptop zu. Jetzt würde er sich erst einmal um einen Weihnachtsbaum kümmern.

Dick vermummt mit Wollschal, Mütze und Winterjacke ging er zum kleinen Schuppen neben der Hütte, in der sich eine Unmenge an Brennholz und verschiedenes Werkzeug befand. Alexander nahm eine große Säge vom Haken und trat wieder ins Freie. Unentschlossen blickte er sich um. Hier gab es zwar Hunderte von Bäumen, aber die, die ans Haus grenzten, waren eindeutig zu groß. Alexander hängte sich die Säge über die Schulter und stapfte tiefer in den Wald. Irgendwo musste es doch eine Schonung mit kleineren Tannen geben. Nach einiger Zeit wurde er fündig und entschied sich für einen schön gewachsenen Baum.

Während er ihn absägte, musste er immer wieder schmunzeln. Wenn ihn sein Vater jetzt sehen würde, wäre er bestimmt stolz auf ihn und gleichzeitig überrascht, dass diese zarten Autorenhände nicht nur zum Schreiben, sondern auch zu grober Arbeit fähig waren.

Der Heimweg mit dem Baum, den er hinter sich herzog, war anstrengender als gedacht. Alexander kam heftig ins Schwitzen. An der Hütte angekommen, lehnte er den Baum an die Holzwand. Aufstellen und schmücken würde er ihn erst morgen.

Am Spätnachmittag legte Alexander Holz im Kamin nach und wollte es sich gerade im Sessel mit einem Buch und einer Tasse Kaffee gemütlich machen, als er aus der Ferne ein Brummen vernahm. In der Stadt hätte er es nicht beachtet, aber in dieser stillen, verlassenen Gegend wirkte es fehl am Platz. Alexander überlegte, wer sich wohl hierher verirren konnte. Die Kinder des Försters auf dem Weg zum Forsthaus? Doch das immer lauter werdende Geräusch passte eher zu einem Motorrad als zu einem Auto. Er ging in die Küche. Von hier aus konnte man auf den Waldweg sehen. Aber draußen war es schon zu dunkel, um etwas erkennen zu können.

Plötzlich tauchte ein schwacher Lichtschein zwischen den Bäumen auf. Und das brummende Geräusch wurde immer lauter. Wer konnte das sein? Der Postbote? Aber zu dieser Uhrzeit? Und auf einem Motorrad – bei diesem Wetter? Auf einmal war es still, nur das Licht bewegte sich weiter auf die Hütte zu, bis auch das verschwand. Ob die Person wohl umgedreht war? Doch da nahm Alexander ein neues Geräusch wahr. Es hörte sich an, als ob jemand schwerfällig im Schnee ging und etwas neben sich herschob. Und dann klopfte dieser Jemand auch schon kräftig an die Eingangstür und eine Männerstimme rief: „Hallo! Hallo?“

Als Alexander öffnete, sah er sich einem jungen Mann mit einem vor Kälte geröteten Gesicht gegenüber.

„Äh, entschuldige, mein Motorrad hat kein Benzin mehr. Und zur nächsten Tankstelle wäre ich vier Stunden zu Fuß unterwegs … Äh, dürfte ich mich vielleicht aufwärmen?“

Etwas zwielichtige Gestalt, schoss es Alexander durch den Kopf. Er zögerte. Der junge Mann schien sein Zögern zu bemerken.

„Bitte! Ich bin völlig durchgefroren.“

„Ja klar, komm rein.“

„Danke, ich bin Tim.“

Alexander machte einen Schritt zur Seite, damit der Fremde eintreten konnte. „Am besten setzt du dich gleich vor den Kamin da drüben. Ich mache dir in der Zwischenzeit was Heißes zum Aufwärmen.“

Dankbar nickte Tim und schälte sich etwas unbeholfen aus seiner nassen Jacke. Alexander ging in die Küche und beobachtete unauffällig, wie sich der unerwartete Gast auf den Teppich vor dem Kamin setzte und sich zitternd die Hände rieb.

„Was willst du eigentlich hier im Wald“, fragte Alexander, nachdem er Tim eine Tasse mit dampfendem Tee gereicht hatte.

Tim räusperte sich verlegen. „Äh, ich war auf dem Weg zum Forsthaus, um meine Bewerbung beim Förster abzugeben. Ich konnte mich bis jetzt nicht entscheiden, ob ich wirklich die Ausbildung zum … äh … Forstgehilfen machen soll. Bewerbungsschluss war eigentlich schon am 20. Dezember.“

Alexander nickte langsam. „Ah, okay … und jetzt wolltest du keine Zeit mehr verlieren und bist deshalb noch so spät am Abend losgefahren.“

„Ja genau!“, pflichtete Tim ihm eifrig bei und lachte leicht gequält. „Und dann ist mir dummerweise kurz vor deiner Hütte das Benzin ausgegangen.“

Alexander sah Tim prüfend an. „Tja“, überlegte er laut, „im Dunkeln kommst du sowieso nicht mehr weiter. Du kannst in der Hütte übernachten. Und morgen läufst du entweder bis zum Forsthaus und fragst den Förster, ob er dir einen Kanister mit Benzin leihen kann, oder … oder du bleibst, bis der Förster nach Weihnachten hier vorbeikommt.“ Bevor Alexander begriff, was er Tim gerade ohne groß nachzudenken vorgeschlagen hatte, nahm der das Angebot mit einem überraschten Strahlen im Gesicht an.

„Dann würde ich tatsächlich noch über Weihnachten bleiben. Wow, vielen Dank für das Angebot!“

Alexander bereute sofort, was er gesagt hatte, ließ sich aber nichts anmerken. „Klar, kein Problem. Ist vielleicht auch ganz nett, an Weihnachten nicht allein zu sein.“ Auf jeden Fall würde es nicht langweilig werden. Und an seinem Roman wollte er sowieso erst nach den Feiertagen weiterschreiben.

Am nächsten Abend stellten sie den Weihnachtsbaum neben dem Kamin auf. Als sie bei Kerzenschein Kartoffelsalat mit Würstchen und Brot aßen, fragte Alexander: „Machen sich deine Eltern eigentlich keine Sorgen? Die wissen doch gar nicht, wo du bist. An Heiligabend bist du sonst bestimmt zu Hause, oder?“

Tim kaute auf seinem Brot herum. „Nee, die vermissen mich nicht. Ich wohne schon lange nicht mehr dort … und auch so … wir kommen nicht so gut miteinander klar.“

Alexander wollte nicht weiter nachbohren, weil Tim das Thema sichtlich unangenehm war.

„Hast du was dagegen, wenn ich jetzt die Weihnachtsgeschichte vorlese? Die gehört für mich an Weihnachten dazu.“

„Okay, mach mal!“

Alexander nahm seine Bibel zur Hand und begann: „Es begab sich aber zu der Zeit …“

Während er las, rutschte Tim immer unruhiger auf dem Stuhl hin und her, bis er es nicht mehr aushielt und Alexander unterbrach.

„Du, ich muss dir etwas sagen. Die Geschichte mit der Bewerbung stimmt nicht. Ich war zwar auf dem Weg zum Forsthaus, aber nicht, um dort eine Bewerbung abzugeben, sondern um ins Forsthaus einzubrechen.“ Tim schluckte. „Das war nicht meine Idee, sondern die meiner Freunde, die sagten, ich müsste erst beweisen, ob ich noch zu ihnen passen würde.“

Alexander hörte erschrocken zu, sagte aber nichts. Tims Worte überschlugen sich fast, als er weitersprach. „Eigentlich wollte ich ja einen Neuanfang machen, nachdem ich letzte Woche endlich aus dem Gefängnis rausgekommen bin. Aber dann habe ich Frank auf der Straße getroffen. Als meine Eltern mitbekamen, dass ich wieder Kontakt mit meinen Leuten von früher habe, haben sie mich rausgeworfen. ‚Du änderst dich nie!‘, hat mein Vater mir nachgerufen. Ist wahrscheinlich auch so“, stieß Tim heftig hervor.

Alexander musste erst einmal sacken lassen, was er gerade gehört hatte. Tim saß wie ein Häufchen Elend im Sessel.

„Jetzt wirfst du mich bestimmt auch raus, oder?“, fragte Tim vorsichtig und wollte schon aufstehen, als Alexander sich räusperte.

„Nein, ich werfe dich nicht raus.“ Und nach einer kleinen Pause fügte er an: „Ich denke, dass du eine zweite Chance verdient hast.“

„Wirklich?“, fragte Tim überrascht.

„Ja, letztendlich geht es an Weihnachten ja genau darum, dass wir Menschen noch eine Chance bekommen. Aus diesem Grund hat Gott seinen Sohn auf die Welt geschickt, denn alleine können wir unsere Schuld nicht loswerden und noch einmal neu anfangen. Gott wollte uns damit zeigen, wie sehr er uns liebt und dass jeder, der möchte, sein Leben mit ihm und anderen Menschen in Ordnung bringen kann.“

Tim blickte Alexander skeptisch an. Doch nach einer Weile verschwand die Härte aus seinem Gesicht.

Alexander lächelte. „Ich habe dieses Angebot von Gott schon vor einigen Jahren angenommen. Natürlich mache ich immer noch Fehler, aber es fällt mir viel leichter als früher, gute Entscheidungen zu treffen, weil Gott mir dabei hilft. Und ich weiß, dass er mich liebt, so wie ich bin.“

Alexander legte ein Holzscheit ins Feuer, das schon fast heruntergebrannt war. Dann sah er Tim wieder an. „Gott liebt auch dich. Er kann dir helfen, dein Leben in Ordnung zu bringen, wenn du das willst.“

Tim rang sichtlich mit sich und sagte dann mit rauer Stimme: „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Gott was mit mir zu tun haben will, aber wünschen würde ich mir so einen Neuanfang schon.“

Noch viele Wochen später musste Alexander an diesen besonderen Heiligen Abend denken. Weit weg von allem Weihnachtstrubel hatte er erlebt, wie kraftvoll und aktuell die Botschaft von Weihnachten auch heute noch ist.

Tim hatte dem Förster übrigens alles gestanden, als der nach Weihnachten zur Hütte kam. Tims Ehrlichkeit beeindruckte ihn so sehr, dass er nach kurzem Nachdenken sagte: „Ich suche tatsächlich noch einen Forstgehilfen. Wenn du magst, bekommst du die Ausbildungsstelle und kannst während dieser Zeit im Forsthaus wohnen.“

Tim hatte mit offenem Mund dagestanden. Und dann murmelte er: „Gott meint es tatsächlich gut mit mir und der zweiten Chance!“

Das Loch in der Jackentasche

von Stephanie Platte

Immer alles griffbereit haben, nur nichts verpassen, auch nicht das kleinste interessante Motiv außer Acht lassen – das hat er sich fest vorgenommen. Er tastet nach seiner Kamera und seinem Stativ auf dem Beifahrersitz. Heute, in dieser stillen, sternenklaren und kalten Dezembernacht, erscheint alles so überaus friedlich. Kein weiteres Auto weit und breit. Tiefer Friede liegt über dem Städtchen. Der Neuschnee liegt fein wie ein zarter Hauch auf den kahlen Zweigen der Bäume. Wie liebt er doch seinen Beruf. Oft sieht er Dinge, die anderen verborgen bleiben. Dafür steht er gern einmal früh auf. So wie heute. Was werden das für wunderschöne weihnachtliche Nachtaufnahmen werden! Man kann sie gut als Postkartenmotive verkaufen. Die meisten Kunden mögen so etwas.

Langsam rollt sein Auto über die verschneite Straße. Er überlegt. Dieser alte Schuppen auf der gegenüberliegenden Straßenseite eignet sich hervorragend, um den Stall von Betlehem abzugeben. Maria und Josef sollen doch auch in so etwas untergekommen sein. Dass damals in Israel sicherlich kein Schnee lag, spielt keine große Rolle. Fehlt nur noch der Stern, aber den kann er problemlos mit dem genialen Bildbearbeitungsprogramm einfügen. Hauptsache, es sieht romantisch aus. Er stoppt seinen Wagen an der Bushaltestelle und stellt den Motor ab.

Hoffentlich schlafen die Leute in dem anliegenden Wohnhaus tief und fest. Sie müssen nicht sehen, wie sich ein Fremder in ihrem Garten mit seiner Fotoausrüstung zu schaffen macht; man könnte ihn für einen Einbrecher halten. Wer sonst sollte sich weit nach Mitternacht in der Gegend herumtreiben? Aber – was tut man nicht alles für seinen geliebten Job. Und wenn heute Nacht noch etwas mehr Neuschnee fällt, sind seine Spuren am Morgen nicht mehr zu sehen.