Thomas Hoebel | Wolfgang Knöbl

Gewalt erklären!

Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

© 2019 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung und Grafik: Wilfried Gandras

Inhalt

1.Gewalt erklären? – Zur Einführung

Macron, die Gelbwesten und der Tod – oder: Die Alltäglichkeit und Problematik von Gewalterklärungen

Das Anliegen des Buches – und vier Thesen

Das wissenschaftstheoretische Desinteresse der Gewaltforschung …

… und seine Gründe

Die Gewaltforschung als Ökologie – und ihre Heuristiken

2.Konstruktion und Kausalität: Prämissen systematischer Rekonstruktion

Gegen eine vorschnelle Verabschiedung kausalen Erklärens

Für ein weites Verständnis von Erklären

3.Kausale Heuristiken der Gewaltforschung – und ihre Probleme

Motive – oder: Warum übt jemand Gewalt aus?

Situationen – oder: Wo und wann entsteht Gewalt?

Konstellationen – oder: Welche sozialen Bedingungen ermöglichen Gewalt?

Die Zirkularität der Heuristiken

4.Der Mikro-Makro-Link als Sackgasse

Mikro, Makro, Migräne

Sozialtheoretische Alternativen – gesucht, aber nicht gefunden

5.Temporalität und Timing: Grundzüge prozessualen Erklärens von Gewalt

Sensibilisierende Konzepte prozessualen Erklärens von Gewalt: Transitivität, Generalität, Indexikalität und Historizität

Voraussetzungen temporaler Analyse

Entdeckende Prozesssoziologie als Methode – oder: Gewaltsoziologie jenseits von Mikro und Makro

6.Gewalt erklären! Grenzen und Perspektiven

Literatur

Zu den Autoren

1.Gewalt erklären? Zur Einführung

Erklären gehört zur basalen Kommunikationsform des Alltags. Auf die Frage, warum wir etwas getan haben, erklären wir, warum. Auf die Frage, wie etwas funktioniert, folgt die Erklärung des Wie. Erklären umfasst Warum-, Wie- und Was-Fragen, und entgegen einer weit verbreiteten Ansicht sind Warum-Fragen nicht privilegierter als andere. Zudem können wir uns nicht auf ein bestimmtes Fragewort verlassen, um festzustellen, ob jetzt eine Erklärung gefragt ist. Was Erklärung meint und welche Aussagen als Erklärungen gelten, ist kontextbedingt und davon abhängig, mit welchen Problemstellungen die Beteiligten gerade befasst sind. Der Begriff des Erklärens hat also verschiedene Bedeutungshorizonte.1

Obwohl »Erklären« das Kerngeschäft wissenschaftlicher Disziplinen ist, bleibt in ihnen höchst umstritten, was damit genau gemeint sein soll. Nicht verwunderlich ist deshalb, dass sich auch die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung außerordentlich schwertut, ihren Untersuchungsgegenstand zu »erklären«. Dazu tragen nicht zuletzt bestimmte Besonderheiten dieses Forschungszweigs bei. Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung ist noch recht jung, auch wenn sie seit einigen Jahren geradezu einen Boom erlebt.2 Somit befindet sie sich gegenwärtig in einer Phase des Testens, Kritisierens und Sortierens seiner Argumente und Ansätze, in der vieles möglich und nicht weniges fragwürdig erscheint. So verfolgen die beteiligten Wissenschaftlerinnen3 ein breites Spektrum an Zielen, das von einem expliziten Erklärungsverzicht über die eher implizite Weigerung, Auskunft darüber zu geben, was mit »erklären« gemeint sein könnte, bis zu waghalsigen Konstruktionen reicht, die alle möglichen Aspekte sozialer Wirklichkeit in Haftung nehmen, um Gewalt zu »erklären« – vom Neoliberalismus über Diskriminierungsverhältnisse bis hin zu globalen Nord-Süd-Disparitäten.

Das zentrale Problem der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung sehen wir somit darin, dass sie sich zu wenig mit ihren theoretischen Prämissen, Problemen und Perspektiven befasst und dabei versäumt, zur Frage der Erklärung klar Stellung zu beziehen. Ihr zentrales Problem besteht dagegen nicht darin, dass Gewalt, was auch immer der Begriff bezeichnen soll, per se unerklärlich ist. Ganz im Gegenteil. Auch wenn sich Regionen der Welt darin unterscheiden, welches Gewaltniveau in ihnen jeweils zu beobachten ist, handelt es sich bei Gewalt um ein alltägliches Phänomen. Sie ist damit nicht grundsätzlich anders zu behandeln als andere Alltagsphänomene auch. Gewalt scheint freilich ein Geheimnis in sich zu tragen, weil sie zumindest den Bürgern westlicher Staaten als absolute Ausnahme, als exotisches Phänomen, entgegentritt, sodass die Beschäftigung mit ihr – zumindest in der Öffentlichkeit – oftmals »obsessive« Züge trägt.4 Das ist keine gute Basis für nüchterne Analysen. Gewalt als exotisch zu deklarieren, ist vielmehr Teil des Phänomens5, vermindert jedoch die Chancen, sie zu begreifen und zu erklären. Genau hier wollen wir ansetzen.

Es besteht unserer Auffassung nach sowohl die Notwendigkeit als auch der Bedarf, sich explizit und systematisch mit der Erklärung von Gewalt zu befassen. Dazu gehört, sich mit Kausalzusammenhängen und dem Begriff der Kausalität zu beschäftigen. Die Gewaltforschung hat die Güte und die Grenzen ihrer explanatorischen Behauptungen bislang nur allzu selten ausgelotet. Der Frage, wie sich diese Lücke schließen ließe, widmet sich das vorliegende Buch, womit es auch den Anspruch erhebt, der Debatte um Gewalt neue Impulse zu geben.

Macron, die Gelbwesten und der Tod – oder: Die Alltäglichkeit und Problematik von Gewalterklärungen

Im Herbst und Winter 2018/19 protestiert die Bewegung der gilets jaunes gegen Gesetzgebungspläne der französischen Zentralregierung.6 Die Pläne betreffen u. a. die Besteuerung von Kraftstoffen. An einem Samstag im November sind schätzungsweise 290000 Mitstreitende an über 2000 Orten aktiv, z. B. bauen sie Straßensperren. In Pont-de-Beauvoisin stirbt die 63 Jahre alte Demonstrantin Chantal bei einem Unfall an einer solchen Barrikade, als ein panisch reagierender Autofahrer sie überfährt. Nur wenige Stunden später beteiligt sich auch ihre Tochter Alexandrine, die zunächst nicht zu den Protestierenden gehört hat, an der Blockade. Auf Nachfragen von Journalisten erläutert sie, dass die französische Regierung Emmanuel Macrons mitverantwortlich sei für den Tod ihrer Mutter. Ohne »diese Politik« hätte Chantal gar nicht protestieren müssen und wäre nicht verunglückt.7

Alexandrine begründet ihre eigene Beteiligung an den Protesten mit einem Narrativ, das vier Ereignisse miteinander verkettet und kontrafaktisch angelegt ist:

(A) Wenn die französische Regierung nicht solch ablehnungswürdige Gesetzgebungspläne gehabt hätte, wäre Chantal nicht protestieren gegangen.

(B) Wäre Chantal nicht protestieren gegangen, hätte sie sich nicht an der Straßensperre in Pont-de-Beauvoisin aufgehalten.

(C) Hätte sie sich nicht an der Straßensperre in Pont-de-Beauvoisin aufgehalten, wäre sie dort nicht von einem Auto überfahren und getötet worden.

(D) Wäre sie dort nicht von einem Auto überfahren worden, würde sich Alexandrine nun nicht auch selbst an den Protesten beteiligen.

Das Narrativ gibt Aufschluss darüber, wie Alexandrine die Situation definiert, in der sie sich befindet, als sie von Journalistinnen befragt wird. Es ist zugleich eine alltagspraktische Erklärung (»account«), mit der sie sich und anderen erläutert, warum sie so handelt, wie sie es gerade tut.8 Sie gibt – einen kausalen Zusammenhang herstellend zwischen der Regierungspolitik und dem Tod ihrer Mutter – eine aus ihrer Sicht plausible Antwort, warum sie nun selbst zur Aktivistin geworden ist.

Es ist bemerkenswert, dass Alexandrines Account dieselbe temporale Struktur hat, die sich auch in wissenschaftlichen Argumenten findet, welche die kausale Transitivität von Ereignissen zu belegen versuchen, um einen bestimmten Vorgang oder einen bestimmten Sachverhalt zu erklären. Denn in beiden Fällen wird behauptet, dass die Verursachung eines Vorgangs bzw. eines Sachverhalts in der besonderen Sequenzialität eines Geschehens liegt. Die Erklärung besteht dann – abstrakt formuliert – darin, für eine Kausalkette zu argumentieren, die bei drei gegebenen Ereignissen a, b und c die Form hat, dass b ohne a nicht stattgefunden hätte und c nicht ohne b. In dieser Perspektive wäre dann – und das ist mit »transitiv« gemeint – a eine Ursache dafür, dass c passiert ist.9

Nehmen wir einmal gedankenexperimentell an, alles hätte sich tatsächlich so zugetragen, wie es Alexandrines Narrativ nahelegt. Sie würde sich nicht an den Protesten beteiligen, wäre ihre Mutter Chantal nicht an einer Barrikade gestorben (D), was wiederum nicht passiert wäre, hätte diese sich nicht an der Sperre aufgehalten (C), weil sie protestieren gegangen ist (B), da die Regierung Macron Pläne hat, deren Zielsetzung sie wie viele andere ablehnt (A). Wir haben hier nun allerdings nicht nur eine kausale Erklärung dafür vorliegen, dass Alexandrine zur Aktivistin geworden ist. Da das Argument auf einer transitiven Ereigniskette aufruht, haben wir zugleich noch miterklärt, warum ihre Mutter Chantal tot ist. Sie ist wegen der geplanten Gesetzgebung gestorben! Die Transitivität der Ereignisse vorausgesetzt, hätten wir somit eine Erklärung vorliegen, die es erlauben würde, den Tod der Demonstrantin als Resultat staatlichen Handelns zu deuten. Darüber hinaus hätten wir eine Erklärung, die in relativ eleganter Form an einem konkreten Fall auf gleich drei zentrale Herausforderungen reagiert, mit denen sich die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung seit Jahren herumplagt: Zu diesen Herausforderungen zählt erstens die Frage nach dem Zusammenhang von Kausalität und Erklärung. Sie wird, wie soeben beschrieben, in Alexandrines Narrativ durch die Annahme der Transitivität zwischen Ereignissen beantwortet, d. h. dadurch, dass bestimmte Ereignisse und Vorgänge wiederum ganz bestimmte andere Ereignisse und Vorgänge kausal bedingen. Dazu zählt zweitens die Frage nach dem Zusammenhang von gewaltsamen Mikroereignissen und Makroeinbettungen. Der Tod von Chantal, ein konkretes Gewaltereignis an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, ist durch seine Einbettung in einen großen gesellschaftsweiten Protest gegen die französische Regierungspolitik zu erklären. Schließlich und drittens zählt dazu die Frage, welchen Stellenwert die Zeitdimension des Sozialen für die Gewalterklärung hat. Stimmt Alexandrines Narrativ, dann sind sowohl der Tod ihrer Mutter als auch ihr eigenes politisches Engagement die Konsequenz einer besonderen Verkettung von Ereignissen, die in einem bestimmten zeitlichen Zusammenhang gesehen werden müssen, deren zeitliche Distanz also nicht beliebig sein kann.

Alexandrines Narrativ weist – das klang schon an – eine bestimmte Struktur auf, die derjenigen nicht unähnlich ist, die sich auch in sozialwissenschaftlichen Ansätzen findet, die beanspruchen Gewalt zu erklären. Und wie wir später noch sehen werden, lassen sich gegen nicht wenige dieser wissenschaftlichen Erklärungsansätze ähnliche Einwände vorbringen wie gegen den Account Alexandrines. Zwei solcher Einwände liegen ja nahe: (1) Die Erklärung von Chantals Tod als kausales Resultat staatlicher Gewalt unterstellt eine kausale Transitivität der Ereignisse, nimmt also gewissermaßen eine lückenlos geschlossene Ereigniskette zwischen der Regierungspolitik und dem tödlichen Vorfall an der Barrikade an. Eine derart transitive Verursachung ist aber in der sozialen Realität kaum zu belegen, zumal wir mit der Anforderung konfrontiert sind zu beweisen, dass C nicht aufgetreten wäre, hätte es A nicht gegeben – und zwar wenn alles andere so gewesen wäre, wie es war! Aber dieses »wenn alles andere so gewesen wäre« ist eben im realen Leben und außerhalb von Laborbedingungen kaum plausibel einzuholen.10 (2) Der von Alexandrine gegebene Account verwischt den Unterschied zwischen Verursachung (»causation«) und kausaler Abhängigkeit (»causal dependence«).11 Er besteht darin, dass wir, wenn C zu großer Wahrscheinlichkeit nicht passiert wäre, falls es A nicht gegeben hätte, zwar weiter an der Aussage festhalten können, dass die französische Regierungspolitik Chantals Tod verursacht habe. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass C von A kausal abhängig ist, es C ohne A also tatsächlich nicht gegeben hätte. Chantal hätte schließlich auch aus anderen Gründen an der Barrikade sein können, z. B. um ihren protestierenden Nachbarn im Sinne eines bloßen Freundschaftsdienstes Erfrischungen vorbeizubringen, womit deutlich sein sollte, dass C auch von einem anderen Ereignis als A kausal hätte verursacht werden können.

Wie sich zeigen wird, lassen sich ähnliche Kritikpunkte, wie wir sie hier gegen Alexandrines Account exemplarisch darstellen, durchaus auch gegen viele der derzeit verbreiteten wissenschaftlichen Erklärungsversuche von Gewalt formulieren. Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung – so nochmals unsere Ausgangsthese – leidet darunter, dass sie bislang zu wenig darüber reflektiert hat, was »Erklären« überhaupt heißen kann und soll und was als eine gute und überzeugende Erklärung firmieren kann und was nicht.

Das Anliegen des Buches – und vier Thesen

Erklärung ist das zentrale Stichwort zur Charakterisierung der Problemstellung, um die sich das vorliegende Buch dreht. Unsere erste und schon genannte These ist, dass es in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung einen zu »lockeren« Umgang mit Accounts gibt, die offen beanspruchen oder auch nur verkappt den Eindruck erwecken, gewaltgezeichnete Phänomene zu erklären, dabei aber oftmals vernachlässigen, Prämissen und Probleme eines solchen Erklärens zu erörtern. Zuspitzend formuliert: Es gibt keine nennenswerte wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit Prämissen, Problemen und Perspektiven der Erklärung von Gewalt. Einige Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie stehen jedoch vereinzelt und bilden keinen systematischen Debattenzusammenhang.12 Das Gros der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung tendiert also dazu, ihren Gegenstand so in den Blick zu nehmen bzw. das Phänomen der Gewalt so zu theoretisieren, dass dabei die zugrunde liegenden Kausalannahmen weitgehend im Dunkeln bleiben – mit negativen Folgen für die Überzeugungskraft und Plausibilität ihrer Argumente. Statt die eigenen wissenschaftstheoretischen Prämissen hinsichtlich ihrer Haltbarkeit zu reflektieren, verwenden die Beteiligten für gewöhnlich ihre Energie darauf, die materiellen Defizite konkurrierender Ansätze zu erläutern, um die eigene Position als überlegen darzustellen. Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings auch, dass wir in der jüngeren Gewaltforschung höchst unterschiedliche Aussagen finden, die ihre Urheberinnen und Urheber mehr oder minder umstandslos als valide Erklärungen von Gewalt ausflaggen, ohne dass der Status dieser Aussagen je geklärt worden wäre.

Damit verbunden ist unsere zweite These, nämlich dass die Rekonstruktion und Kritik von mehr oder weniger verkappten Kausalannahmen in sozialwissenschaftlichen Accounts über Gewalt sowohl theoretische als auch methodologische Potenziale für eine explizit erklärende Gewaltforschung erschließt. Das ist deshalb so wichtig, weil nach unserem Eindruck die soziologische Gewaltforschung gegenwärtig Gefahr läuft, theoretisch zu stagnieren. Die momentane Hegemonie eines recht heterogenen Situationismus, der mitunter durch eine interaktionszentrierte Mikrosoziologie der Gewalt dominiert ist,13 neigt sich ihrem Ende zu.14 Gleichzeitig ist keine ähnlich integrativ angelegte und in vieler Hinsicht inspirierende Perspektive mit allgemeintheoretischem Anspruch erkennbar, die darauf abzielt, zentrale Erklärungsprobleme der Branche zu bearbeiten.

Wichtige und theoretisch ambitionierte Arbeiten verweisen somit aktuell nicht wirklich aufeinander. Gewiss, ihre Autorinnen und Autoren, ihre Anhänger und Verteidigerinnen rezensieren und kritisieren sich wechselseitig. Unausgeleuchtet und somit nicht theoretisiert bleiben aber zentrale Fragen, denen sich eine jede empirische Forschung und nicht zuletzt die Gewaltforschung, stellen müsste. Dazu zählen maßgeblich solche, die sich in Alexandrines Account angedeutet finden, nämlich Fragen

(1)nach dem Zusammenhang von Kausalität und Erklärung,

(2)nach dem empirischen Verhältnis zwischen einzelnen Ereignissen und dem sie um- und übergreifenden Geschehen, das die Forschung für gewöhnlich mithilfe der Mikro-Makro-Semantik beschreibt,

(3)nach der explanatorischen Relevanz nicht nur von sachlichen Kalkülen und sozialen Beziehungen, sondern von Temporalität und Prozessualität.

Indem wir uns von diesen Fragen leiten lassen, beansprucht die vorliegende Schrift nicht, neue Theorien zur Analyse von Gewalt zu generieren. Auch glauben wir nicht, dass uns die Lösung explanatorischer Probleme in der aktuellen Gewaltforschung gelingt. Wir sind aber überzeugt, dass durch systematische Rekonstruktion bestehender gewaltsoziologischer Ansätze einige Schneisen durch die Forschungslandschaft geschlagen werden können, die trotz situationistischer Hegemonie recht unübersichtlich (geworden) ist. Ebenso sind wir überzeugt davon, dass wir über die Kritik bestehender Ansätze in plausibler Form für eine bestimmte Zugangsweise auf Gewaltphänomene plädieren können – für eine prozesssoziologische, wie wir zeigen möchten.

Wer hier jedoch erwartet, dass wir das mittlerweile recht groß gewordene Feld der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung bis in seine Verästelungen hinein untersuchen, den möchten wir an dieser Stelle bereits enttäuschen. Diese Aufgabe würde eine einzelne Autorin, auch ein Autorenduo, weit überfordern. Auch gehen wir nicht den Weg, die Gewaltforschung von einem bestimmten sozialtheoretischen Standpunkt aus zu rekonstruieren und zu bewerten, wie es einst Niklas Luhmann in ähnlich verfahrener Lage mithilfe der Theorie sozialer Systeme für die Verwaltungswissenschaft unternahm.15 Und ebenso wenig werden wir versuchen, den Leserinnen eine eigene idiosynkratische wissenschaftstheoretische Position zum Problemkontext von »Erklären« und »Kausalität« aufzudrängen. Der Leitgedanke unserer Darstellung ist ein anderer. Ausgehend von der Annahme, dass uns die Verursachung sozialer Sachverhalte und Vorgänge analytisch zugänglich ist, fragen wir danach, wie die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung sich gegenwärtig mit der Verursachung ihres Untersuchungsgegenstands befasst, welche Probleme hierbei auftreten – und was sie daraus lernen kann.

Das vorliegende Buch zielt somit im Kern darauf ab, der soziologischen Gewaltforschung ihre explanatorischen Abwege, Lücken und Leerstellen zu spiegeln, insbesondere mit Blick auf oftmals unausgesprochene Kausalannahmen, die einflussreichen Studien in der Gewaltforschung zugrunde liegen. Wir möchten durch exemplarische Analysen aufzeigen und plausibel machen, an welchen Stellen sich derzeit wissenschaftstheoretische Problemlagen der Gewaltforschung auffinden lassen und welche Lösungsstrategien sich abzeichnen, was nach einer Sackgasse aussieht und was nach einem aussichtsreichen Pfad. Das soll dann die Basis bilden, um Vorschläge für überzeugendere Erklärungen von Gewalt machen zu können – und mag im besten Falle dazu beitragen, die drohende theoretische und methodologische Stagnation in der gegenwärtigen Gewaltforschung zu überwinden.

Das Schlüsselkonzept, das wir einerseits nutzen, um einschlägige Ansätze der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung systematisch zu rekonstruieren, ist das der Heuristik – wobei wir maßgeblich von Andrew Abbott und John Levi Martin inspiriert sind.16 Mithilfe dieses Konzepts formulieren wir unsere dritte These, nämlich dass in der gegenwärtigen Gewaltforschung im Wesentlichen nur drei deutlich unterscheidbare Heuristiken, die wir mit den Stichworten »Motive«, »Situationen« und »Konstellationen« bezeichnen, zu finden sind, die alle beanspruchen, auf eine spezifische Weise erklärende Aussagen über ihren Gegenstand zu formulieren, auch wenn die betreffenden Autorinnen und Autoren ihr Tun selbst nicht immer klar explizieren. Jede dieser Heuristiken führt jedoch für sich genommen auf explanatorische Abwege, womit wir bei einer vierten These angelangt sind, nämlich dass die Alternative zu den drei genannten Heuristiken nicht in Mikro-Makro-Modellen, sondern in prozessualen Ansätzen liegt.

Doch der Reihe nach. In diesem Kapitel erörtern wir zunächst noch unsere Behauptung, dass die Gewaltforschung weitgehend wissenschaftstheoretisch desinteressiert ist – wofür wir drei Gründe sehen. Daraufhin erläutern wir, dass die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung maßgeblich um Heuristiken herum strukturiert ist, nicht um Begriffe, wie man vermuten könnte. Schließlich skizzieren wir zum Zweck einer ersten Annäherung die drei genannten Heuristiken, die im Kern kausale Heuristiken sind. Im Anschluss daran stellen wir den Aufbau des Buches vor, der sich wesentlich durch einen Fokus auf diese drei kausalen Heuristiken ergibt.

Das wissenschaftstheoretische Desinteresse der Gewaltforschung…

Methodologie sei zu wichtig, um sie den Methodologen zu überlassen, hat Howard S. Becker einmal treffend formuliert.17 Dieser Satz, der (wie Becker selbst einräumt) vordergründig nach einem abgedroschenen Klischee klingt, könnte für die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung wahrer nicht sein. Er umreißt in pointierter Form, was sie weitgehend versäumt. Das Maß an wissenschaftstheoretisch informierten Reflektionen über Art, Anspruch und Güte analytischer Aussagen ist hier recht gering.

Die Vermutung liegt nahe, dass das in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung weit verbreitete Desinteresse an wissenschaftstheoretischen Fragen damit zusammenhängt, dass sie eine recht junge Unternehmung ist. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man sich einigermaßen schwergetan, ambitionierte sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte und Gegenwart der Gewalt zu finden. Zwar war die Geschichtswissenschaft stets bestrebt und letztlich auch erfolgreich darin, bestimmte Formen von Gewalt zu erfassen – die Analyse von kriegerischen Auseinandersetzungen, ihrer Vor- und Nachgeschichte, zählte immer schon zum Kernbestand historiografischen Arbeitens. Gleiches gilt aber nicht für die sogenannten systematischen Sozialwissenschaften. Sie haben sich bis in die 1980er Jahre hinein kaum je ausführlicher mit Gewalt beschäftigt, sieht man ab von der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen, von der Soziologie abweichenden Verhaltens und von vereinzelten Monografien. Ein wesentlicher Grund hierfür lag darin, dass sogenannte Makrogewalt, d. h. Phänomene von unmittelbar politischer Bedeutung, die von gewaltsam verlaufenden Protesten über Pogrome bis hin zu Genoziden und Kriegen reichen, als Ausnahmen in einem letztlich reibungslos und deshalb irgendwie auf Gewaltlosigkeit hinstrebenden Modernisierungsgeschehen galt.18

Die Vernachlässigung von Gewalt, die in den Sozialwissenschaften lange vorherrschte, hat mittlerweile ein Ende gefunden. Zunächst einige wenige, dann immer zahlreicher werdende Forscherinnen aus Anthropologie, Politikwissenschaft und Soziologie haben das Thema Gewalt vor etwa drei bis vier Jahrzehnten für sich entdeckt, jüngere Generationen folgen inzwischen nach. Ein erster zentraler Wendepunkt liegt in den 1990er Jahren. Es handelt sich um die vor allem in der deutschsprachigen Diskussion zu beobachtende Wendung hin zur Phänomenologie oder zur Analyse der Situation, die sich in Studien und Programmschriften von Autorinnen und Autoren wie Birgitta Nedelmann, Heinrich Popitz, Wolfgang Sofsky und Trutz von Trotha sowie in verschiedenen Aufsätzen von Jan Philipp Reemtsma vollzog und heute als Beginn der »Neueren Gewaltsoziologie« bezeichnet wird.19 Die hierunter fallenden Arbeiten waren maßgeblich durch Heinrich Popitz’ Studie »Phänomene der Macht« inspiriert20 und forderten mit Nachdruck, Gewalt in ihrem konkreten Vollzug zu erforschen. Dazu zählen maßgeblich ihre jeweilige Situiertheit und ihre somatische Qualität.21 Die Neuere Gewaltsoziologie sah ihre Aufgabe darin, möglichst viele »mikrologische Studien«22 über Gewalt vorzulegen, geleitet durch die Frage, »was passiert«, wenn sich Menschen Gewalt »antun« und/oder diese Gewalt auch »erleiden«.23 »Was passiert im Massaker, in der Schlacht, beim Aufruhr usw.?«24 Damit wendeten sich die einschlägigen Autorinnen insbesondere gegen eine Forschungshaltung und -richtung, die Gewalt in erster Linie korrelationsstatistisch analysierte und die bis dato durchaus dominant war.

Jene vor allem in der Kriminologie und in der Soziologie abweichenden Verhaltens üblichen Korrelationsanalysen hatten es sich zur Aufgabe gemacht, das Vorkommen von (unterschiedlichen Formen von) Gewalt in Zusammenhang zu bringen mit bestimmten Variablen, etwa mit Armut, sozialer Ungleichheit, dem Geschlecht von Opfern und Tätern, rassistisch bedingten Mustern der Wohnsegregation etc. Mittels ausgefeilter statistischer Verfahren sollten Gewaltphänomene gewissermaßen immer genauer in bestimmte datengestützte soziale, ökonomische und kulturelle Kontexte gestellt werden. Dabei wurde stets auch – und zu Recht – behauptet, dass Korrelationen zwischen Gewalt einerseits und besagten Variablen andererseits noch nichts über Kausalitäten besagen. Wer als Forscherin etwa feststellen sollte, dass es in einem Stadtviertel einen engen Zusammenhang zwischen hohen Mordraten und der in diesem Viertel grassierenden Armut gibt, kann deswegen keinesfalls schon behaupten, dass Armut hohe Mordraten kausal verursachen würde. Es läge ein Fehlschluss vor, weil es empirisch gesehen viele arme Stadtviertel auf der Welt gibt, in denen die Mordraten jedoch höchst unterschiedlich sind. Der Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut ist viel zu kompliziert, als dass er durch eine derart simple Kausalaussage erklärt werden könnte.

Die Neuere Gewaltsoziologie zeigte sich gleichwohl misstrauisch. Kritisiert wurde erstens, dass aus den Korrelationsanalysen – notwendigerweise – keine besonders relevanten Einsichten über Wirkungszusammenhänge erwachsen, obwohl für gewöhnlich auch diejenigen, die mit solchen statistischen Verfahren arbeiten, zumindest insgeheim dann doch ätiologische Ambitionen hegen und in Wahrheit die Ursachen von Gewalt offenlegen wollen. Wozu würde man sonst diesen ganzen statistischen Aufwand mit der Einbeziehung von immer mehr und immer komplexeren Variablen in die Korrelationsanalysen betreiben, wenn man dem Gewaltphänomen nicht auch ätiologisch näherkommen wollte? Aber Erklärungen ergeben sich eben nicht schon automatisch aus der Feststellung von statistischen Zusammenhängen, was dann auch die zunehmende Frustration mit dieser Art der Forschungsausrichtung verständlich macht. Noch sehr viel stärker im Zentrum der Kritik stand aber, zweitens, ein ganz anderer Aspekt, der darauf abhob, dass mit diesen statistischen Verfahren merkwürdigerweise vor allem die abhängige Variable, die Gewalt, zunehmend in den Hintergrund rückte. Die statistischen Verfahren in der Gewaltanalyse hatten ja vor allem dazu geführt, dass man immer feiner und genauer die unabhängigen Variablen (eben Armut, Ungleichheit, Gender etc.) zu operationalisieren suchte, was durchaus auch gelang; was aber darüber vernachlässigt wurde, war ein genauer Blick auf die abhängige Variable, nämlich die je unterschiedlichen Formen von Gewalt. Wie Gewalt aussah, was genau in der Gewaltsituation passierte – darüber konnten diejenigen, die statistisch arbeiteten, kaum Auskunft geben.

Wer als Reaktion auf diese nach unserer Auffassung durchaus berechtigte Kritik jedoch das Erscheinen einer Vielzahl an empirischen Studien erwartete, die der phänomenologisch-mikrosoziologischen Programmatik folgen und zu einer allgemeinen soziologischen Theorie der Gewalt beitragen würden, sah sich jedoch enttäuscht. Die Neuere Gewaltsoziologie verharrte bis in die 2000er Jahre hinein in einer Art Ankündigungsmodus.25 Nur sporadisch und mit einiger Verzögerung entstanden empirische Studien, die sich das gewaltphänomenologische Forschungsprogramm mehr oder weniger explizit zu eigen machten.26 Zudem blieb die Resonanz der Neueren Gewaltsoziologie überwiegend auf den deutschsprachigen Raum beschränkt.27

Einen zweiten zentralen Wendepunkt gab es dann im Jahr 2008 mit dem Erscheinen der Monografie »Vertrauen und Gewalt« von Jan Philipp Reemtsma.28 Es handelt sich um eine Studie, in der Reemtsma zwar hauptsächlich der Frage nachgeht, wie die Moderne (als soziale Ordnung) trotz regelmäßiger Enttäuschungen das normative Postulat und die Selbstbeschreibung der Gewaltabstinenz reproduziert, die jedoch überwiegend aufgrund der von Reemtsma vorgeschlagenen Typologie von den drei Formen physischer Gewalt (lozierend, raptiv, autotelisch) rezipiert wird. Vergleichsweise wenig beachtet werden demgegenüber Reemtsmas kurze, aber prägnante Ausführungen zur Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Gewalterklärung – seine geradezu spektakulär daherkommende Abwehr des sozialwissenschaftlichen »Erklärungsbegehrens«, das seiner Meinung nach zumindest bei manchen Formen der Gewalt ganz prinzipiell ins Leere laufen muss. Die Neuere Gewaltsoziologie hätte daran anknüpfen müssen, legte Reemtsma es doch nahe, die wissenschaftstheoretischen Prämissen sozialwissenschaftlicher Erklärungsversuche zur Gewaltthematik grundlegend zu problematisieren. Genau dieser Schritt unterbleibt jedoch, weswegen Reemtsmas Buch zwar weithin zitiert und vielfach übersetzt, aber eben nicht nennenswert forschungsleitend wird.29

Ganz anders verhält es sich mit der Studie »Violence. A Micro-Sociological Theory« von Randall Collins30, die ebenfalls 2008 im US-amerikanischen Original die Buchläden erreicht (und 2011 als »Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie« auch auf Deutsch erscheint31). Collins argumentiert, dass die Erklärung von Gewalt im Mikrobereich des Geschehens liegt, also dort, wo sie konkret stattfindet. Es muss in der unmittelbaren Situation des Aufeinandertreffens von Akteuren einen kritischen Moment geben, in dem einer, mehrere oder alle der Antagonisten in der Lage ist bzw. sind, die in konfrontativen Interaktionen entstehende Anspannung oder sogar Angst zu umgehen, zu überwinden und/oder für eine Attacke auszunutzen. »Hintergrundfaktoren« wie Armut, Rassismus, familiäre Probleme, selbst erfahrene Misshandlungen oder Frustration seien demgegenüber höchstens zweitrangig, sofern sie überhaupt Erklärungswert für Gewalt beanspruchen können.32 Auch Collins wendet sich somit explizit gegen korrelationsstatistische Erklärungsstrategien, bietet aber im Gegensatz zu Reemtsma ein kausalanalytisches Modell zur Gewalterklärung an, das er wissenschaftstheoretisch freilich nicht explizit verortet. Es ist deshalb ebenso überraschend wie symptomatisch für den Zustand der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung, dass Collins’ »Dynamik der Gewalt« geradezu einen empirischen Forschungsboom auslöst.33 Es gab in der Folge kaum jemanden, der sich in soziologischer Perspektive ernsthaft mit Gewalt beschäftigte und nicht in irgendeiner Form zu Collins’ Monografie Stellung bezog – und sei es en passant mit einem passenden Zitat. Diverse Aufsätze von Collins flankierten diesen Boom.34 Aus »einer mikrosoziologischen Theorie« entwickelte sich recht zügig die (Collins’sche) Mikrosoziologie der Gewalt.

… und seine Gründe

Die relative Prominenz der erklärend angelegten Mikrosoziologie der Gewalt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüngere sozialwissenschaftliche Gewaltforschung sich gerade nicht um das Problem herum konstituiert, Gewalt zu erklären und gleichsam reflexiv Voraussetzungen und Grenzen eines solchen Erklärens auszuloten. Für sich genommen ist die Vermutung, dass das weitgehende wissenschaftstheoretische Desinteresse im Feld der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung mit ihrem Alter zusammenhängt, womöglich zu oberflächlich. Sie legt jedoch die richtige Spur. Denn beide Wendepunkte, die wir benannt haben, sind mit jeweils wissenschaftstheoretischen Blindstellen verknüpft, die seither die Gewaltforschung prägen sollten. Es handelt sich darum, dass (1) die Neuere Gewaltforschung gemeinhin zwar dezidiert ursachenkritisch argumentiert, das Problem des Erklärens jedoch umschifft, und (2) die insbesondere von Collins beeinflusste Mikrosoziologie der Gewalt zwar dezidiert erklären will, das Erklären selbst aber als unproblematisch behandelt. Damit jedoch nicht genug. An den beiden Wendepunkten hat sich zusätzlich ein bemerkenswertes Debattenmuster aufgebaut, nämlich (3) das Oszillieren zwischen einem engen und einem weiten Begriff von Gewalt. Die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung hält sich dadurch mit unfruchtbaren konzeptuellen Debatten auf, anstatt sich mit der wissenschaftstheoretischen Güte ihrer Analysen zu befassen.

Ad 1) Neuere Gewaltsoziologie vs. Ursachenforschung – Die Neuere Gewaltsoziologie profilierte sich mit ihrer Kritik an korrelationsstatistischen Gewaltstudien dezidiert als Antithese zu einer »Soziologie der Ursachen von Gewalt« oder – synonym – zu einer »Gewaltursachenforschung«. Einschlägig ist dabei Trutz von Trothas Aufsatz »Zur Soziologie der Gewalt« aus dem Jahr 1997, der zu einer Art Programmschrift der Neueren Gewaltsoziologie werden sollte. Von Trotha wendet sich darin mit Vehemenz dagegen, Gewalt »ursachenreduktionistisch« zu erklären. Er meint damit im Kern die von uns gerade schon skizzierte Variablensoziologie – eine »biedere Faktoren-Soziologie«, schreibt er provokant –, die mithilfe von statistischen Verfahren nach dem gewichteten Einfluss soziodemografischer Merkmale, biografischer Erfahrungen und mentaler Dispositionen auf das Verhalten von Gewalttätern und Tätergruppen sucht.

Von Trothas Formulierung »Ursachenreduktionismus« scheint auf den ersten Blick unproblematisch, ist jedoch exemplarisch dafür, dass er zwar wissenschaftstheoretisch argumentiert, ohne sich allerdings mit Positionen einschlägiger wissenschaftstheoretischer Autoren zu befassen. Die These, dass ätiologische Studien Gewalt ursachenreduktionistisch behandelten und behandeln, kann zweifellos Spontanplausibilität beanspruchen. Im Kern jedoch bleibt unklar, was von Trotha hier konkret unter Reduktionismus versteht. Er moniert an der betreffenden Stelle zwar eine »Entsubjektivierung des Handelnden«, der durch korrelationsstatistische Verfahren aus konkreten Situationen des Handelns und Erlebens gewissermaßen herausgeschnitten werde.35 Erläuternde Ausführungen sind jedoch Fehlanzeige. Verweise auf die klassischen und bis heute gleichsam einschlägig und kontrovers diskutierten Arbeiten von Ernest Nagel wären ja möglich gewesen, unterblieben aber charakteristischerweise.36 Wir können also nur spekulieren, was mit dem Vorwurf des Ursachenreduktionismus gemeint sein könnte. Vermutlich zielte von Trotha auf eine Art »methodologischen Reduktionismus«, weil die »Gewaltursachenforschung« eben den konkreten Vollzug von Gewalt ignoriert.37 Eher unwahrscheinlich ist, dass von Trotha eine Art ontologischer Reduktion auf eine einzige zentrale Ursache im Auge hatte und kritisierte. Schließlich charakterisierte er selbst die »Gewaltursachenforschung« zuvor als eine Suche nach Ursachenbündeln und multikausalen Erklärungen – wenngleich sie dann, so sein Vorwurf, oftmals mit grob verallgemeinernden Begriffen wie Individualisierung oder Desintegration operiere, um die Ursachenbündel auf eine zentrale Erklärung zuzuspitzen.38

Dieser Verzicht auf eine genauere und ausführlichere wissenschaftstheoretische Erörterung ist deshalb so problematisch, weil von Trotha einige Absätze weiter für »dichte Beschreibungen« plädiert, um Gewalt zu analysieren. Er bezieht sich dafür auf das Konzept des Anthropologen Clifford Geertz39, der damit eine möglichst mikroskopische Ethnografie bezeichnet, die auf der Basis eines semiotischen Kulturbegriffs wie ansonsten andere Ethnografien auch (1) interpretierend verfährt, (2) sich dabei für Deutungsmuster und ihren Wandel interessiert und (3) darauf abzielt, diesen Mustern ihre Vergänglichkeit zu nehmen und sie zu konservieren.40 In dieser Linie charakterisiert von Trotha dichtes Beschreiben maßgeblich als »deutendes Verstehen«, das nach den angemessenen Begriffen forscht, um den »relevanten Sinn« eines zu analysierenden Geschehens zu begreifen.41 Wiederum bemüht von Trotha das Reduktionsargument, behauptet er doch, dichtes Beschreiben sei vor allem »antireduktionistisch«. Es bleibt den Leserinnen und Lesern jedoch nur der Umkehrschluss, um zu erfahren, was »reduktionistisch« hier meinen könnte. So wird es sich vermutlich darum handeln, dass in den durch von Trotha kritisierten Arbeiten Gewalt eben nicht »anschauungsgesättigt«, nicht »mikroskopisch« und nicht »das soziale Geschehen bis in seine relevanten allgemeineren Zusammenhänge« verfolgend untersucht werde.42 Meint »antireduktionisch«, wie das nicht selten in der qualitativen Sozialforschung verfochten wird, aber auch, dass man es durch jenes einschlägige Sich-Stützen auf das Verfahren des dichten Beschreibens gleichsam ablehnt, Gewalt zu erklären, weil sich jedes menschliche Handeln, auch Gewalthandeln, der Erklärung entzieht? Von Trotha erinnert in einer Fußnote nur knapp an die Chicagoer Schule der Soziologie, die Erklärung und Ethnografie nicht als Gegensatz behandelte.43 Und so lässt sich wiederum nur vermuten, dass von Trotha Erklärungen von Gewalt nicht grundsätzlich anficht. Eine dezidierte, womöglich sogar wissenschaftstheoretisch elaborierte Position blieb er jedoch hier und in anderen Schriften schuldig.

Eine intensive und systematische Diskussion, ob der genaue Blick auf die Gewalt überhaupt mit klaren Erklärungsansprüchen einhergeht bzw. einhergehen darf und was in diesem Zusammenhang eigentlich »Erklärung« bedeutet, ist also 1997 durch von Trotha nicht geführt worden. Und sie ist bis heute ein Desiderat der Neueren Gewaltsoziologie geblieben. Symptomatisch hierfür ist die Rezeption von Reemtsmas Studie Vertrauen und Gewalt. Das Spektakuläre an seinem Buch ist nicht allein, dass er den maßgeblich von Zygmunt Bauman initiierten Diskussionsstrang über den Zusammenhang von Moderne und Massengewalt fortsetzt, wie es der Untertitel des Buches ausweist.44 Besonders bemerkenswert ist vielmehr, dass Reemtsma – wir haben es schon erwähnt – an zentralen Stellen seines Buches die Erklärungsfrage aufgreift, um sie sofort wieder abzuweisen. Er verwahrt sich deutlich gegen die in den Sozialwissenschaften zumeist übliche Ursachensuche und insofern dann auch gegen jenes zumeist vorhandene soziologische »Erklärungsbegehren«45, eine Position, die freilich nur dann plausibel ist, wenn man auf der Basis eines gewissermaßen orthodox-naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells bzw. Wissenschaftsverständnisses von invarianten Ursache-Wirkungs-Verhältnissen argumentiert. Wie immer man auch Reemtsmas Stellungnahme wertet, ob zustimmend oder eher kritisch, dieser bezog in wissenschaftstheoretischer Hinsicht jedenfalls klar Position, begab sich aber damit gewissermaßen ins Nirgendwo, weil niemand da war, der überhaupt bereit gewesen wäre, darüber ernsthaft und systematisch zu diskutieren. Obwohl Reemtsmas Buch vielfach rezipiert wurde, fand der hier angesprochene Aspekt keine allzu große Aufmerksamkeit, und zwar, so unser Eindruck, aufgrund fehlender Anschlussfähigkeit und Diskussionswilligkeit bei den im Felde der Gewaltforschung arbeitenden Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern.

Ad 2) Erklärung als unproblematisches Konzept – Reemtsmas Lauf ins Nirgendwo erwies sich umso misslicher, als fast zeitgleich Collins seine Studie Dynamik der Gewalt vorlegte. Was die Erklärung von Gewalt betrifft, bezog Collins eine ganz andere Position als Reemtsma, behauptete er doch, er wüsste, wie Gewalt zu erklären sei. Nur, Collins’ Buch kam aus den USA, den deutschen Diskussionskontext kannte Collins nicht wirklich, und auf Reemtsmas Einwände gegen das sozialwissenschaftliche Erklärungsbegehren konnte er schon deshalb nicht eingehen, weil beide Bücher fast gleichzeitig erschienen und nicht zueinander sprachen. Somit entstand die merkwürdige Situation, die derjenigen der beiden Königskinder ähnelte, die nicht zusammenkommen konnten, weder um sich zu lieben noch – und das wäre vermutlich im Falle von Collins und Reemtsma der Fall gewesen – um sich zu streiten.

Im Licht von Reemtsmas These eines (aus seiner Sicht) problematischen Erklärungsbegehrens betrachtet sticht insbesondere ins Auge, dass Collins Erklären als unproblematisches Konzept behandelt, was dann auch für die Studien gilt, die sich auf Dynamik der Gewalt stützen sollten. Collins problematisiert zwar sogenannte Hintergrunderklärungen von Gewalt, die sich nicht um ihren konkreten Vollzug scheren.46 Gleichzeitig sieht er es als gegeben an, dass bekannt ist, was eine Erklärung methodologisch auszeichnet. Collins bezieht wie viele andere keine Stellung zu der wissenschaftstheoretischen Frage, was als eine überzeugende Erklärung gelten kann und was nicht. Die zuvor schon von ihm in verschiedenen Publikationen ausgearbeitete und vorgestellte, maßgeblich emotionssoziologisch argumentierende Theorie der Interaktionsritualketten47 konnte er – zwar mit einigen Abstrichen, aber doch ohne allzu große Probleme – auf Gewaltphänomene beziehen, ohne dass er sich wissenschaftstheoretischen Fragen stellen musste, die Reemtsma energisch, aber vergeblich auf die Tagesordnung hatte setzen wollen. Und die von Collins beeinflussten und mikrosoziologisch arbeitenden Gewaltforscherinnen und -forscher fühlten und fühlen sich durch Reemtsma ebenso wenig herausgefordert.

Ad 3) Analytisch unfruchtbare Begriffsoszillation – Einen dritten Grund für das in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung weit verbreitete Desinteresse an wissenschaftstheoretischen Problemen sehen wir darin, dass die kritische Aufmerksamkeit zu sehr auf dem Sinn und Unsinn von Gewaltbegriffen liegt, nicht auf der Güte empirisch-analytischer Aussagen.48 Nachdem es in den vergangenen Jahren zunächst eine konzeptuelle Verschiebung hin zu einem engen, vornehmlich somatisch fundierten Gewaltbegriff gegeben hat, melden sich nun verstärkt wieder Stimmen, die monieren, dass dadurch strukturell und symbolisch vermittelte Phänomene der Gewalt unbedacht blieben.49 So hat Peter Imbusch jüngst dafür plädiert, das Konzept der »strukturellen Gewalt« wiederzubeleben,50 das der norwegische Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung bereits in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hatte.51 Imbusch hält strukturelle Gewalt für einen »unterschätzten« Begriff und schlägt deshalb vor, dass man ihn zu gesellschaftsanalytischen Zwecken »ordentlich ausbuchstabiert« und »empirisch präzisiert«.52 Er erlaube, über mikroskopische Studien körperlicher Attacken hinaus solche Formen von Gewalt zu analysieren, in denen sich indirekte und komplexe Kausalitäten offenbarten.53

Die Debatte ist jedoch zirkulär und führt zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Denn wirklich neue Argumente kann Imbusch nicht beibringen.54 Die längst bekannte Kritik am Begriff struktureller Gewalt trifft weiterhin zu. Wir konzentrieren uns auf drei Punkte.