Ich danke meiner Frau Sabine, meiner Tochter Claudia und meinem Schwiegersohn Claus, die mich zu diesem Buch ermutigt haben.

Uwe Drewes

Horst/Holstein 2020

Der Roman ist eine Fiktion. Personen und Ereignisse sind reine Erfindungen. Das gilt auch dann, wenn hinter den handelnden Personen Urbilder erkennbar sein sollten.

Inhaltsverzeichnis

  1. Einzug in die Universität
  2. Das Politbüro der SED
  3. Nacht der Entscheidung
  4. Stunde der Wahrheit
  5. Die Machtfrage
  6. Der neue Weg
  7. Am Meer
  8. Das Triumvirat
  9. Katharsis
  10. Der Vertrag
  11. Die Kommission
  12. Der erste Auftrag
  13. Das Komplott
  14. Vorwärts immer, rückwärts nimmer
  15. Anfang vom Ende oder Ende vom Anfang?
  16. Geld
  17. Das Projekt Urlaubsparadies
  18. Planwirtschaft mit Macht
  19. Der rote Koffer
  20. Der dritte Mann
  21. Das Finale

I. Einzug in die Universität

13. August 1988. Mühsam bahnte sich der betagte Wartburg den Weg durch die von unzähligen Autos verstopfte City. Prof. Dr. Heiner Stark wurde langsam ungeduldig. Es war kurz vor 8.00 Uhr. In wenigen Minuten sollte die Vollversammlung des Fachbereiches Geschichte der Hamburger Universität beginnen. Heiner Stark hatte auf diese frühe Stunde wert gelegt, obwohl es Sonnabend und damit arbeitsfrei war. Es sollte ein Signal für seine Arbeitseinstellung sein. Von Anfang an wollte er klarstellen, dass der bürgerliche Schlendrian mit ihm nicht zu machen war. Von wegen bis 10.00 Uhr pennen und keine Termine vor 14.00 Uhr.

Aber bis 8.00 Uhr war bei dem heutigen Verkehr der Weg nicht zu schaffen. Zu dumm, dass die Mobiltelefone kontingentiert worden waren. Er gehörte nicht zu der Nomenklatura, denen eins zur Verfügung gestellt wurde. Macht nichts, dachte er, alles Gute ist eben nie beisammen. Weshalb sollte er auch den Fachbereich anrufen und seine Verspätung ankündigen. Schließlich war er der Boss. Es geht los, wenn er da ist. Wichtiger wäre da schon ein zuverlässiger Wagen. Der Wartburg war 15 Jahre alt. Sein Verfallsdatum war lange überschritten. Die Wartelisten für neue Autos waren in der DDR länger als die chinesische Mauer. Er hatte vor zwölf Jahren einen LADA bestellt. Der könnte so langsam kommen. Ob der neue Lada allerdings besser sein würde als sein alter Wartburg, war noch fraglich. Darüber musste die Geschichte entscheiden. Leider war ihm untersagt worden, einen westdeutschen Wagen zu fahren. Die Genossen erwarteten von einem Mann seiner Position, dass er mit gutem Beispiel voran ging und ein Fahrzeug sowjetischer Produktion fuhr.

Endlich erreichte er das markante Gebäude, Philosophenturm genannt. Ihm blieb keine Zeit, einen der raren Parkplätze zu suchen. Er fuhr direkt bis vor den Haupteingang und ließ seinen Wartburg einfach auf dem Fußweg stehen. Vor dem Hochhaus hatten sich zahlreiche Studenten und Mitarbeiter der hier beheimateten Fachbereiche versammelt. Nur mit Mühe konnte sich Professor Stark einen Weg durch die Massen bahnen. Den Grund für den Menschenauflauf konnte er bald sehen. Zwei Polizisten hatten die Eingangskontrolle übernommen und ließen sich von jedem den Ausweis zeigen. Als sie Professor Stark sahen, standen sie stramm und salutierten. Er nahm das mit Genugtuung zur Kenntnis. Denn er hatte sich entschieden, heute seine Uniform als Oberst der Reserve anzuziehen. Diesen Dienstgrad hatte er erhalten, als er zum ordentlichen Professor berufen worden war. Für den Ernstfall war er als Stellvertretender Kommandeur eines Reserveregimentes der Rostocker Panzerdivision vorgesehen. Er bildete sich ein, dass ihn die Uniform gut kleidete. Trotzdem fühlte sich nicht wohl in diesem Aufzug. Aber die Verantwortlichen des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen hatten ihm dazu geraten, um unmissverständlich zu demonstrieren, wer hier und heute die Macht der Arbeiterklasse vertrat.

Hinter ihm lagen schicksalsschwere Monate. Seine Arbeit als Historiker im Fachgebiet neueste deutsche Geschichte wurde durch die aktuellen nationalen und internationalen Ereignisse stark beeinflusst. Die Weltwirtschaft war 1986 in eine abgrundtiefe Rezession geraten. Ökonomen sprachen von der größten Wirtschaftskrise aller Zeiten. Sie wurde in den kapitalistischen Staaten von einem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit und Verelendung der Massen begleitet. Zusätzlich wurden die sozialen Deformationen durch einen bis dahin unbekannten Virus belastet, der die Gesundheitssysteme überforderte. Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Die sozialistischen Staaten konnten sich auf Grund ihrer Abgeschlossenheit viel besser dagegen schützen. Im kapitalistischen Weltsystem kam es zu bis dahin unbekannten Massenprotesten. Die Regierungen waren nicht mehr Herr der Lage; das Volk wollte nicht mehr wie bisher regiert werden. Die Bundestagswahlen des Jahres 1987 in der BRD waren ein Spiegelbild dieser Krise. Eine Schwesternpartei der SED errang die absolute Mehrheit. Zum Bundeskanzler wurde Generalsekretär Honni gewählt.

Honni war von der Dimension der Verantwortung hoffnungslos überfordert. Die Krise verschärfte sich weiter. Aber innerhalb der SED gab es starke Reformkräfte. Sie inszenierten einen Putsch, in dessen Folge Honni abgesetzt wurde. Die Position des Bundeskanzlers wurde vorerst nicht wieder besetzt. Der Bundestag stellte wegen des Bestehens eines nationalen Notstandes seine Arbeit bis auf Weiteres ein. An die Spitze der Bundesrepublik trat ein Zentraler Reformationsrat mit drei Mitgliedern. Diese regierten mit Notverordnungen. Zu den Themen, denen ihre besondere Aufmerksamkeit galt, gehörte die personelle und inhaltliche Erneuerung des Hochschulwesen. Vorgesehen war, dass alle fest angestellten Mitarbeiter überprüft und die Stellen neu ausgeschrieben wurden. In der DDR scharrten schon die zweit- und drittklassigen Kader mit den Hufen, die nach einer internen Planung die Lehrstühle an den westdeutschen Hochschulen übernehmen wollten.

Professor Stark lief mit quietschenden Stiefeln die Treppe zur siebenten Etage hinauf, dynamisch immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ein Vorhaben, das seine Dynamik dokumentieren sollte. Was er nach dem 2. Obergeschoss jedoch bereute. Da er sich aber keine Blöße geben wollte, kam er ziemlich außer Atem im 7. Stock an.

Es war 8.12 Uhr, als eine neue Zeitrechnung für die Hamburger Historiker begann. Professor Stark wurde schon von seinem Wissenschaftlichen Sekretär und seinem ersten Oberassistenten erwartet. Beide hatten gestern den Rostocker Zug genommen, um pünktlich zu sein. Sie richteten ihm aus, dass er vom neuen Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät zu einem dringenden Gespräch erwartet wurde. Professor Stark gefiel das überhaupt nicht, denn er mochte diesen Dekan nicht. Man hatte ihm diesen Parteiphilosophen von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee (ZK) der SED vor die Nase gesetzt, ohne seine Meinung, geschweige denn seine Zustimmung zu dieser Personalie einzuholen.

Der Dekan gab ihm wortlos die Hand und forderte ihn mit einer Geste auf, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Professor Stark mochte diese Sitzposition nicht. Viel lieber wäre es ihm gewesen, wenn sich der Dekan mit ihm an den Beratungstisch gesetzt hätte. So auf einer Ebene. Das Sitzen auf dem harten Stuhl vor dem Schreibtisch bedeutete eine Subordination. So war es vom Dekan auch gemeint. Der Dekan kam ohne große Umschweife zum Kern: „Gestern Nacht hat es in Berlin große Veränderungen gegeben. Genosse Honni hat wieder die Macht übernommen. Gemeinsam mit Genossen Greif hat er unmissverständlich klar gestellt, wer der Herr Im Hause ist. Die Meuterer wurden entmachtet und vorerst unter Hausarrest gestellt.“

Professor Stark hatte wortlos zugehört. Ihm lief es eiskalt den Rücken runter. Ausgerechnet Honni. Dabei hatte er sich in der Öffentlichkeit als dessen Gegner positioniert. Die Schergen werden ihm das nicht verzeihen. War es nur eine Frage der Zeit, bis die Genossen von der Stasi bei ihm aufkreuzten? Hilflos sah er den Dekan an und fragte: „Was hat das für Konsequenzen für meine Arbeit. Bleibt es bei der Festlegung des Ministeriums, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter des Fachbereiches zu evaluieren sind und der Personalbestand um 50 Prozent erhöht wird?“

„Dazu kann ich in der jetzigen Situation gar nichts sagen“, erwiderte der Dekan, „ich empfehle dir, bis auf weiteres alles beim Alten zu belassen, bis wir neue Weisungen von ganz oben bekommen.“

„Soll ich denn die heutige Vollversammlung ausfallen lassen?“

„Nein, auf keinen Fall. Du musst mit derartigen Situationen zurechtkommen. Wir sind schließlich in einem historisch einmaligen Prozess der deutschen Geschichte. Geh in die Vollversammlung, stelle dich dort als neuer Fachbereichsleiter vor und mache den Herrschaften klar, wohin jetzt die Reise geht.“

Professor Stark war völlig verunsichert, als er das Zimmer des Dekans verließ. Auf dem Korridor warteten schon seine engsten Mitarbeiter. Sie sahen ihn fragend an. Professor Stark knurrte nur: „Jetzt nicht…“ und ging mit hängenden Schultern zum Hörsaal, in dem die Mitarbeiter des Fachbereiches schon auf ihn warteten. Er gab sich einen Ruck und schritt energisch schritt er durch die offene Tür. Er hatte sich wieder im Griff und blickte sich konzentriert im Raum um. Bei seinem Erscheinen in der Uniform ging ein Raunen durch den Saal. Einige kicherten, andere schimpften verhalten. Er ließ die Leute kichern und knurren. Nach wenigen Sekunden trat Ruhe ein. Man hätte hören können, wenn eine Kontaktlinse zu Boden gefallen wäre. Professor Stark nahm sein Redekonzept aus seiner geliebten alten schwarzen Aktentasche und legte es auf das Pult. Auf Grund der neuen Situation konnte er es nicht mehr verwenden, aber allein die vielfach ausgeführte Bewegung half ihm, sich zu konzentrieren. Er begann mit belegter Stimme zu sprechen: „Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Ich bin Professor Heiner Stark. Das Ministerium hat mich als Leiter ihres Fachbereiches eingesetzt. Ich kann ihnen heute noch nicht auf alle ihre Fragen eine erschöpfende Antwort geben. Dazu sind die Voraussetzungen noch nicht gegeben. Wir werden uns in den kommenden Tagen und Wochen einarbeiten und mit jedem einzelnen Kollegen persönlich sprechen. In der Hauptsache werden sie wissen wollen, ob sie ihre bisherigen Arbeitsstellen behalten. Das, wie gesagt, kann ich heute noch nicht beantworten. Vorgesehen ist, jeden Einzelnen im Rahmen eines Evaluierungsverfahrens zu überprüfen, damit wir uns einen Eindruck verschaffen können, ob er Willens und in der Lage ist, die neuen Verhältnisse im Sinne des sozialistischen Fortschritts in Deutschland parteilich und engagiert mit zu gestalten. Lassen sie mich als Motto für unsere zukünftige Arbeit die 11. Feuerbach – These von Karl Marx zitieren ´Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern`.“

Stille, keiner sagte ein Wort. Polternd fiel ein Kugelschreiber auf den Boden. Ein älterer Mitarbeiter stand auf und begann, ohne ums Wort gebeten zu haben, zu sprechen: „Verehrter Kollege Stark, ich befürchte, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Ich bin Professor Uert, der Leiter des Fachbereiches Geschichte. Ich glaube im Namen aller Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, wenn ich erkläre, dass wir ihre Ansprüche auf die Leitung des Fachbereiches nicht akzeptieren können. Wir…“ An dieser Stelle wurde er von Professor Stark unwirsch unterbrochen:

„Ich habe in meinen Händen einen Beschluss des Ministeriums, dass mit sofortiger Wirkung die bisherige Fachbereichsleitung abgesetzt wird und ich zum neuen Bereichsleiter ernannt werde. Die weiteren Leitungsfunktionen vergebe ich in den nächsten Tagen. Es werden Kolleginnen und Kollegen aus der DDR sein, so sieht es der Personalplan des Ministeriums vor.“ Damit beendete er die Diskussion und verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Zu seinem Verdruss stand ihm sein Büro noch nicht zur Verfügung. Der bisherige Leiter hatte es noch nicht frei gegeben. An der Tür befand sich noch dessen Namensschild. Professor Stark setzte sich trotzdem an den Schreibtisch und forderte seinen Wissenschaftlichen Sekretär auf, sich umgehend darum zu kümmern, dass sein Büro geräumt und mit seinem Namen versehen wurde. Nachdem der Wissenschaftliche Sekretär den Raum verlassen hatte, schloss Professor Stark die Tür und schaltete das Fernsehgerät ein, um die neuesten Nachrichten zu hören.

Der Nachrichtensender ddr 24 berichtete rund um die Uhr über die aktuelle Situation in Berlin. Im Augenblick lief ein Interview mit dem Mitglied des Politbüros der SED Wolf Erger. Er gehörte weder zu den Hardlinern noch zu den Reformern, sondern war bekannt als erfahrener Pragmatiker. Honni und Greif hatten ihn vorerst noch nicht abgesetzt, weil sie seine Sachkenntnisse als Wirtschaftsfunktionär benötigten. Auf die Frage des Fernsehmoderators, welche Veränderungen sich aus der Rückkehr von Honni und Greif an die Parteispitze für das Volk ergaben, wich Erger unkonkret aus: „Seitdem die SED in den Bundestagwahlen vor achtzehn Monaten die absolute Mehrheit erringen konnte, steht das Wohl des Volkes im Mittelpunkt der Politik der SED. Dem Volk ist durchaus bewusst, dass die Regierung aus Vertretern der Koalition von SED und DKP verhindert hat, dass die große Weltwirtschaftskrise zu einer umfassenden Verarmung des Volkes der BRD geführt hat. Wie alle wissen, kam es in den kapitalistischen Ländern zu einer wahnwitzigen Inflation, die fast das Ausmaß der Geldentwertung in Deutschland von 1923 erreichte. Das Volksvermögen der Westdeutschen wurde faktisch vernichtet. Viele konnten die Kredite nicht mehr bedienen und verloren auch noch ihre Häuser und Wohnungen. Erst mit der Übernahme von Bürgschaften durch die DDR für das Gebiet der BRD bekamen die Menschen wieder eine stabile Währung.“

Der Journalist fragte nach: „Dabei spielten die Reformkräfte in der SED – Führung um Egmont Zerk eine sehr positive Rolle, weil sie den wirtschaftlichen Prozess für die Bevölkerung der DDR mit einer Liberalisierung verbanden. Jetzt haben Honni und Greif wieder die Macht übernommen. Werden damit Demokratie und Freiheit wieder auf das Niveau von 1961 zurückgedreht?“

Erger konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen: „Meinen sie etwa, es würde eine Mauer um das gesamte Deutschland gebaut werden. Niemand hat diese Absicht, das können sie mir glauben.“

Professor Stark atmete tief ein. Von wegen, keiner will eine Mauer bauen, das kennen wir schon. Trotz der Materialknappheit wurde 1961 in wenigen Stunden die Grenze zu Westberlin zugemauert. Bei der heutigen Technik und den unerschöpflichen Ressourcen der BRD Wirtschaft ist es kaum ein größeres Problem, die Mauer um ganz Deutschland zu ziehen. Wie in der Sage von der Teufelsmauer am Harz. Das wären schlappe 3 ½ Tausend Kilometer Mauer. Der Kubikmeter Beton kostet 150 Mark, wenn der laufende Meter der Mauer mit Fundament und Arbeitskosten tausend Mark kostet, ergäbe das rund 3,5 Milliarden Mark. Und Honni hätte wieder seine alte Ordnung und könnte ruhig schlafen.

II. Das Politbüro der SED

12. August 1988, abends. Unsicher blickten die Mitglieder des Politbüros von SED/DKP zu ihrem Generalsekretär. Neben ihm hatte demonstrativ der Minister für Staatssicherheit Platz genommen. An der rechten Seite, sozusagen als rechte Hand Honnis. Seit dem Putsch der Reformkräfte war es das erste Mal, dass sich dieser Personenkreis traf. Honni genoss unübersehbar diesen Augenblick. Obwohl alle gespannt auf seine Rede warteten, ließ er einige Zeit verstreichen, um seine Macht zu demonstrieren. Dann begann er zu sprechen: „Genossen, es ist an der Zeit, dass die politische Führung Deutschlands wieder von uns erfahrenen und verantwortungsbewussten Kommunisten übernommen worden ist. Nun ja, den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Genosse Zerk noch ein anderer Esel auf.“

Genüsslich lächelnd wartete er ab, bis sich die Heiterkeit gelegt hatte und fuhr in seiner Rede fort: „Was sind nun unsere nächsten Aufgaben. An erster Stelle steht die Sicherung der Macht der Arbeiterklasse. Vor uns liegt kein einfacher Weg. Nicht alle Bürger der Gesamtdeutschen Demokratischen Republik werden damit einverstanden sein. Wir müssen verhindern, dass diese Nörgler und Pessimisten unserer Volkswirtschaft schaden. Ich plane deshalb eine Sicherung der Staatsgrenze ähnlich wie vor 27 Jahren.“ Spontaner Beifall brandete auf.

„Sehr gut, genauso ist es richtig“, stimmte ihm Günther Morgen, der Minister für Wirtschaft und Soziales beflissen zu. Als Honni ihn ermunternd ansah, traute er sich, seine Ansichten zu erläutern: „Genossen, wir leiden doch an der Geißel der Arbeitslosigkeit. Zerk und seine Vasallen haben es nicht verstanden, dieses Problem zu lösen. Durch die große Arbeitslosigkeit entstehen dem Staat immense Kosten. In Deutschland sind derzeit 25 Millionen Menschen ohne Arbeit. Jeder Einzelne kostet den Staat im Monat 1.000 Mark. Das sind jeden Monat 25 Milliarden. Im Jahr 300 Milliarden. Schuld daran ist dieses Streben nach einer hohen Arbeitsproduktivität. Wir müssen statt dessen die Arbeitsproduktivität der westdeutschen Region an das Niveau der DDR angleichen. Damit erreichen wir in kürzester Zeit Vollbeschäftigung.“

Honni nickte ihm wohlwollend zu: „Da sehen wir einmal mehr die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft. Natürlich können wir dieses humanistische Ziel nur erreichen, wenn wir auch das westdeutsche Lohnniveau dem Standard der DDR angleichen. Damit werden nicht alle einverstanden sein. Wir müssen verhindern dass die besten Fachkräfte unserer Republik der Arbeiter und Bauern den Rücken kehren. Wir brauchen deshalb, wie 1961, einen antifaschistischen Schutzwall.“

„Und wo sollen dann unsere Werktätigen Urlaub machen“, warf zögernd die Ministerin Bildung und Erholung Margot Dreist ein, „wenn wir die Grenzen schließen?“ Honni, von dieser Unterbrechung genervt, antwortete scharf: „Nirgendwo steht geschrieben, dass unsere Werktätigen auf diesem Marakuja, oder wie es sonst heißt, ihren Urlaub verbringen müssen. Schließlich haben wir die Ost- und Westsee und neuerdings sogar die Alben. Und für unsere Helden der Arbeit stehen nach wie vor die Traumstrände Bulgariens und Kubas zur Verfügung.“

Die Ministerien für Bildung und Erholung fühlte sich ermuntert, einen Vorschlag in dieser Angelegenheit zu machen: „Ich halte es für wichtig, den Reisedrang der Menschen nicht zu unterschätzen. Nach Mallorca können wir sie nicht mehr so einfach reisen lassen, die büxen uns nur aus. Statt dessen sollten wir von einem unserer Verbündeten Staaten auf dem afrikanischen Kontinent eine Insel mieten, damit unsere Werktätigen dort ihren verdienten Sonnenurlaub machen.“ Und schmeichelnd fügte sie hinzu: „ Wir könnten dieses Urlaubsparadies „HonniEiland“ nennen.“

An diese Stelle erwachte der Minister für Staatssicherheit aus seinem Nickerchen: „Jawoll, ich liebe doch alle, ich liebe doch alle Menschen! Genauso machen wir das. Und drumherum bauen wir einen Maschendrahtzaun, damit wir unsere Menschen vor den bösen Bonner Ultras schützen, ha, ha, ha.“

Der Generalsekretär war von diesem Abdriften der Diskussion in periphere Bereiche der Politik nicht begeistert: „Nun, Genossen, genug mit dieser Heiland – Insel. Wir sind schließlich Atheisten. Ich denke, wir haben Wichtigeres zu tun.“

Bei dem Wort ‚Wichtigeres‘ erwachte nun auch der Vorsitzende des gesamtdeutschen Gewerkschaftsbundes, der passionierte Jäger Harry Stuhl, aus seinem Kurzschlaf: „Wichtig ist für die Erhaltung unserer Kampfkraft vor allem, dass wir als Vertreter des Volkes unsere Jagdgebiete zurückbekommen. Wir müssen schließlich unsere Manneskraft regenerieren und dazu brauchen wir die Erholung und Stimulanz durch das Jagen.“

„Sehr richtig und sehr wichtig“, fand er spontane Unterstützung des Ministers für Landwirtschaft und Kleingartenidylle, „wir leisten damit auch einen wesentlichen Beitrag für die Versorgung unserer Menschen mit gesundem Fleisch.“

„Apropos gesundes Fleisch“, meldete sich der Minister für die Volksgesundheit zu Wort, „zu den dringendsten Problemen gehört für mich auch die Betreibung der Bordelle als Abteilungen der Kreiskulturhäuser. Das würde bedeuten, jeder Kreis hat nur einen Puff. Das ist zu wenig. Bei der damit verbundenen Belastung der dort tätigen Männer und Frauen kann ich nicht für deren Gesundheit garantieren.“

Bei diesem Thema erhitzten sich die Gemüter. Der Generalsekretär bemerkte davon allerdings nichts mehr. Er war eingeduselt und wurde erst zum Ende der Sitzung gegen 24.00 Uhr von seinem Fahrer geweckt, der ihn wohlbehalten mit seinem Citroen nach Hause bringen wollte. Unterwegs wandte sich der Generalsekretär vertrauensvoll an ihn: „Sagen sie doch mal, Genosse, wissen sie, wo das Bernauer Kreiskulturhaus ist. Ich würde denen gerne einen überraschenden Besuch abstatten. Um mal zu sehen, wie sich unser Kulturleben so entwickelt hat.“ Der Fahrer drehte sich fragend um: „Das Kreiskulturhaus ist jetzt bestimmt schon geschlossen. Nur die volkseigene Abteilung für erotische Bedürfnisse ist noch geöffnet.“

„Dann müssen wir damit zufrieden sein.“

Als der schwarze Citroen des Generalsekretärs das Kreiskulturhaus erreichte, blieb sein Erscheinen nicht unbemerkt. Die Leiterin der Abteilung Erotik, eine Genossin der SED mit 30 Jahren Parteierfahrung in der Führung sozialistischer Kollektive, eilte sofort zu der Limousine und öffnete persönlich die Autotür. Sie stieß vor Begeisterung einen spitzen Schrei aus und rief: „Dass ich das noch erleben darf, sie persönlich statten meiner Einrichtung einen Besuch ab. Wenn sie erlauben, stehe ich ihnen selber zur Verfügung. Sie werden begeistert sein. Ich kenne alles aus meiner Zeit als Betreuerin der Westkunden auf der Leipziger Messe. Und wenn Ilona sagt alles, dann meint sie auch alles.“

Erschrocken blieb der späte Besucher in der halb geöffneten Autotür stehen. Ein Bein auf der Straße, das andere noch im Wagen. Er wehrte die aufdringliche Dame ab: „Ich bin hier nicht zu meinem Vergnügen. Wir behandeln das Thema Kreiskulturhäuser im Politbüro gerade als zentrale Frage der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Deshalb muss ich mir einen gründlichen Eindruck von ihrem gesamten Angebot machen. Wie heißt es doch bei uns ‚Der Jugend Vertrauen und Verantwortung‘. Wie steht es denn bei ihnen mit dieser Forderung unserer Partei?“

„Ja, selbstverständlich“, antwortete ihm die Leiterin, „wir haben sofort eine Jugendbrigade der FDJ gebildet, die um höchste Ergebnisse im sozialistischen Wettbewerb kämpft. Unser Motto lautet ‚Meine Hand ist mein Produkt‘. Wir sind führend im Jahresvergleich aller Kreiskulturhäuser. Kommen sie doch in unsere Rote Ecke und überzeugen sie sich von unserem Leistungsvermögen.“

Zufrieden betrachtete der Generalsekretär die Wandzeitung. Genauso liebte er dieses bewährte Instrument des sozialistischen Wettbewerbs. Die Ziele und Ergebnisse im Wettstreit um beste Ergebnisse am Arbeitsplatz waren in Säulendiagrammen dargestellt. Fragend wandte er sich an die Leiterin: „Es gibt im Politbüro Auffassungen, dass wir im Bereich der erotischen Grundversorgung unserer Bevölkerung unterbesetzt sind. Einige Genossen halten es für falsch, dass wir pro Kreis nur eine erotische Abteilung in den Kreiskulturhäusern betreiben. Sie meinen, wir sollten hier mehrere Anbieter zulassen.“

Die Leiterin beeilte sich, ihm auf diese Frage eine kompetente Antwort zu geben: „Wie sind die Fakten, lassen wir doch mal diese sprechen. Wir sind schließlich nicht von gestern und haben eine Marktanalyse angestellt. Unser Kreis hat bekanntlich 240.000 Einwohner. Davon sind etwa 50 Prozent männlich, davon wiederum 80 Prozent im sexuellen Alter. Macht rund 96.000 potentielle Kunden. Wenn wir von der Vermutung ausgehen, dass sich davon 20 Prozent für unsere Dienstleistung interessieren, ergibt das zirka 20.000 Besucher pro Jahr. Wenn jeder zweimal kommt, wären das 100 pro Tag. Wir sind aber nur 5 Frauen und ein Mann. Damit können wir keine gründliche Dienstleistung im erotischen Bereich garantieren. Es muss alles immer rucki zucki gehen. Pro Nutzer sind das im Durchschnitt 20 Minuten.“

Der Generalsekretär war nicht mehr in der Lage, diesen komplizierten Kalkulationen zu folgen. Er hielt sich gähnend die Hand vor dem Mund und fragte: „Was heißt das nun, liebe Genossin, brauchen wir mehr Anbieter oder nicht?“

„Die Frage so zu stellen, heißt, dem Klassenfeind Tür und Tor zu öffnen“, gab ihm die Leiterin unverblümt zur Antwort, „wollen wir etwa unsere Werktätigen der Sex – Mafia ausliefern? Ich sage nein. In unserer Branche stecken große volkswirtschaftliche Potenzen, die wir selber erschließen können, ja ich traue mich zu sagen, erkämpfen müssen.“ Sie war richtig in Wallung geraten und setzte ihre Argumentation fort: „Jeder Gast bezahlt bei uns pro Behandlung im Durchschnitt 100 Mark. Das ergibt im Monat 200.000 Mark rein aus der sexuellen Dienstleistung. Hinzu kommen noch einmal 100.000 Mark Gewinn aus dem Barbeitrieb, Summa summarum erwirtschaften wir im Jahr 3 Millionen und 600.000 Mark.“

Der Generalsekretär hatte während dessen in einem der bequemen Sessel Platz genommen. Auf seinem rechten Oberschenkel saß eine gut proportionierte Mitarbeiterin, die ihm als Siegerin im erotischen Wettbewerb vorgestellt worden war. Durch diesen ungewohnten Kontakt war ihm das Blut in den Kopf gestiegen und setzte Energien frei für Phantasien und neue Ideen. Er wollte sich aber keine Schwäche erlauben sondern griff den Gedanken der Leiterin auf: „Ich verstehe dich doch richtig, wenn ich schlussfolgere, dass wir in eurem Dienstleistungsbereich mehr Personal brauchen, um die Gewinne im Interesse des Volkes zu erhöhen und zu nutzen?“

Die Leiterin hatte natürlich registriert, dass der Generalsekretär in Wallung geraten war. Nun wollte sie auch den ganzen Erfolg. Sie beugte sich zu ihm herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Meine geschickteste Dame würde dir jetzt gerne unser Leistungsangebot vorführen, selbstverständlich ginge das aufs Haus.“ Und laut sagte sie: „Das ist genau meine Meinung. Ich meine, wir brauchen deutlich mehr Personal, viel mehr Platz und Komfort und natürlich eine zentrale Behörde für diesen Bereich, ich dachte dabei an ein Ministerium des Intimen. Ich wäre bereit, dessen Leitung zu übernehmen.“

In diesem Augenblick klingelte das Funktelefon des Generalsekretärs. Es war seine Frau, die sich Sorgen um sein Wohlergehen machte. Ohne sich zu verabschieden sprang er in seinen Dienstwagen und wies den Fahrer an, ohne Umwege und zügig nach Hause zu fahren. Die Leiterin war enttäuscht, konnte aber als erfahrene Genossin mit Niederlagen umgehen.

III. Nacht der Entscheidung

Behutsam zog Professor Heiner Stark die Tür seines Hotelzimmers ins Schloss. Er war überarbeitet und sehnte sich nach erholsamem Schlaf. Um seinem Ärger Luft zu verschaffen, hätte er am liebsten die Tür zugeknallt. Doch die anderen Gäste sollten nicht darunter leiden, dass sein Stresssensor dunkelrot blinkte. Soweit hatte er sich noch in der Gewalt, schließlich war er nicht irgendwer. Das Personal kannte seinen Professorenstatus. Sie sollten ihn nicht schwach erleben. Er ließ sich in den einzigen Sessel seines mittelklassigen Hotelzimmers fallen, goss sich ein Glas Rotwein aus der angebrochenen Flasche in das schmutzige Glas und trank den warmen Burgunder mit kräftigen Schlucken. Sein gereizter Magen nahm ihm diese Attacke übel und reagierte prompt mit einem mehrstufigen Rülpser. Er ärgerte sich über sich selbst. Anstatt den hohen Stresspegel durch körperliche Aktivität abzubauen, saß er in diesem trostlosen Hotelzimmer und rülpste vor sich hin. Aber was konnte er in dieser lauten Großstadt schon unternehmen, er sehnte sich nach einem ausgedehnten Strandspaziergang mit seiner Frau. Sollte er jetzt noch alleine um die Innenalster laufen? Seine Gedanken wurden vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Der Dekan fühlte sich offensichtlich genauso einsam. Den Vorschlag, zusammen einen Sundowner in der Hotelbar einzunehmen, konnte Professor Stark schlecht ablehnen. Er bat um einige Minuten, duschte, zog ein frisches Hemd an und fuhr dann lustlos in die parterre gelegene Bar.

Professor Stark brauchte einige Sekunden, um in dem gut besuchten Lokal den Dekan zu entdecken. Der hatte einen der wenigen freien Tische erobert, wenn auch direkt an der Tür zu den Toiletten. Seine Frau Ursel hätte ihm das nicht verziehen, musste er schmunzelnd feststellen. Sie hasste Tische im Klovorbereich, wie sie es auszudrücken pflegte. Sie hätte für kein Geld der Welt an diesem Ort Platz genommen. Aber Ursel war in Rostock. Er konnte dem Dekan kaum Vorwürfe machen, deshalb winkte er ihm freundlich zu und begab sich durch das muntere Treiben zu dem freien Vierertisch. Mit wenigen Blicken erfasste er, in welcher Verfassung der Dekan war. Vor ihm standen ein halbvolles Glas mit Wodka und ein halbleeres Glas mit Milch. Er war für seine skurrilen Trinkgewohnheiten bekannt. Er schwor Stein und Bein, dass ihm nichts anderes bekommen würde und trank dieses Gemisch, unbeeindruckt von den Blicken und Bemerkungen der anderen Gäste. Sein Aussehen ließ vermuten, dass vor ihm nicht das erste oder zweite halbvolle Wodkaglas stand. Sei es drum, dachte sich Professor Stark, ist jetzt auch egal, lange bleibe ich heute ohnehin nicht.

„Ganz schön was los in diesem Laden“, der Dekan beugte sich zu Professor Stark, um gegen das Stimmengewirr anzukommen, „ich habe schon einige Bekannte aus dem Zentralkomitee getroffen. Das Hotel ist komplett ausgebucht. Es gibt viel zu tun für uns, um die neue Politik an der Basis zu etablieren. Ist wohl heute nicht so gut bei dir gelaufen. Kann ich total verstehen, wir wissen ja noch gar nicht, was auf uns zukommen wird, wo doch Honni und Greif wieder am Ruder sind.“ Stark winkte nur ab: „Wird schon nicht so schlimm kommen, die brauchen doch jeden einzelnen Fachmann mit einer DDR - Vita. Es steht ja 16 zu 62, oder anders ausgedrückt, auf jeden DDR - Fachkader kommen vier Flaschen aus dem Westen.“

Ihre Unterhaltung wurde ebenda von einem Mann mittleren Alters unterbrochen, der darum bat, mit seinem Freund die freien Plätze des Tisches besetzen zu dürfen. Für einige Minuten herrschte Schweigen. Die vier Männer musterten sich unauffällig auffällig. Professor Stark nahm für sich in Anspruch, eine gute Menschenkenntnis zu besitzen und versuchte zu erraten, um wen es sich bei den potentiellen Tischnachbarn handelte. Der eine war ein drahtiger Typ in den Dreißigern, gepflegter Maßanzug, korrekte Krawatte. Unverkennbar einer, der eine strenge Dress Ordnung verinnerlicht hatte. Der andere war wohl über fünfzig, dickleibig mit offener Jacke. Der Hosenbund konnte das verschwitzte Oberhemd nicht mehr kontrollieren. Erst jetzt wurde deutlich, dass zu den neuen Gästen zwei Damen gehörten, die mit einer Distanz zum Tisch warteten. Dieses Benehmen ließ eine gute Erziehung vermuten. „Entschuldigen sie, meine Damen“, Professor Stark wandte sich bedauernd an die beiden, „ich kann ihnen leider keinen Platz mehr anbieten. Vielleicht finden wir für sie ja noch an den Nachbartischen unbesetzte Stühle…“ „Papperlapapp“, mischte sich da der Dekan in das Gespräch, „wir können doch jeweils zwei Stuhlsessel zu einer Bank zusammen stellen, dann machen wir sechs aus vier.“ Er war von seiner Idee so angetan, dass er keinen Widerspruch duldete und die neue Sitzordnung so geschickt organisierte, dass zwischen ihm und Professor Stark die jüngere der beiden Frauen zu sitzen kam.

Professor Stark musste mit Erstaunen feststellen, dass ihn der unvermeidbare Körperkontakt mit der attraktiven Frau erregte. Das war ihm in seiner über zwanzigjährigen Ehe selten passiert. Er wusste nicht, wie er mit dieser Emotion umgehen sollte, wurde aber, ehe er sich dessen klar werden konnte, von dem älteren der beiden Männer angesprochen: „Erlauben sie bitte, dass wir uns vorstellen. Zu meiner Rechten sehen sie Herrn Dr. Müller, Direktor bei der Commerzbank. Neben ihm seine Prokuristin Frau Schneider. Weiterhin freue ich mich, ihnen Frau Gold vorzustellen, Büroleiterin meiner Kanzlei. Und ich bin Udo Bahrendorf, Unternehmens- und Steuerberater aus Pinneberg.“ Eine Pause entstand, offensichtlich warteten die neuen Bekannten darauf, dass sich die Anderen ebenfalls vorstellten. Der Dekan dachte nicht daran und nahm stattdessen einen Schluck aus seinem Milchglas, um gleich danach das halbvolle Wodkaglas zu leeren. Heiner Stark wurde die Sache peinlich. Es widersprach seiner Auffassung von Anstand, die Vorstellung nicht zu erwidern, und so übernahm er diese Aufgabe. Er war kaum fertig, da fiel ihm der Dekan ins Wort: „Da haben sie sich ja einen sehr speziellen Beruf ausgewählt“, sagte er zu dem Steuerberater, „das gesamte Steuersystem steht ja vor grundlegenden Veränderungen. Ich verstehe von diesem Thema so gut wie nichts, aber ich weiß so viel, dass ich nicht in ihrer Haut stecken möchte.“ Und an den Bankdirektor mit einem Blick auf dessen Zimmerschlüssel gewandt: „Und was machen sie in diesem Hotel, sie wohnen doch praktisch um die Ecke.“

Dr. Müller ließ sich von dieser arroganten Anrede nicht aus der Contenance bringen. Man sah ihm auch nicht die kleinste Gemütsregung an, als er antwortete: „Wir waren heute in Hamburg zu einem Vortrag bei der Industrie- und Handelskammer. Referent war ein Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium. Er sprach über die Pläne der Regierung für die Neugestaltung der Finanz- und Steuerpolitik.“ Die Frage nach den Gründen für seine Übernachtung im Hotel ließ er unbeantwortet. Für Professor Stark war das ohnehin kein Rätsel, wenn er sich die beiden hübschen Frauen betrachtete.

Der Steuerberater hatte unterdessen eine teure Flasche Rotwein bestellt, allen einschenken lassen und erhob nun sein Glas: „Der Staatssekretär hat uns heute aufgefordert, die sozialistische Umgestaltung der Finanz- und Steuerpolitik in Deutschland aktiv zu unterstützen. Unsere Kompetenz ist dabei sehr gefragt. Wir wollen deshalb ein überregionales Consultingunternehmen gründen, das den zahlreichen Betrieben in Westdeutschland helfen soll, diesen schwierigen Weg zu meistern. Das schaffen wir aber nicht allein. Wir brauchen dafür erfahrene Fachleute aus der DDR. Wir könnten uns vorstellen, dass sie uns dabei unterstützen. Wir benötigen einen gut vernetzten Key Account Manager. Ich will ihnen ja nicht zu nahe treten, schließlich sind sie hochqualifizierte Wissenschaftler. Aber ich weiß von den Planungen zur Neugestaltung der Gehaltsordnung im öffentlichen Dienst. Ich kann ihnen also in Aussicht stellen, dass ein Key Account Manager in unserer Sozietät mindesten doppelt so viel verdienen wird wie ein ordentlicher Professor an der Uni.“