Herzklopfen inklusive

Kaffee von Jake

Karin Lindberg

Karin Lindberg

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

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Prolog

Der Grösste Fehler, den man begehen konnte und am Ende vielleicht als einzigen bereute, war: die Jahre zu verschenken, ohne gelebt zu haben. Wenn man sich dessen endlich bewusst wurde, war es unter Umständen schon zu spät.

Madeleine hielt vor dem nächsten Bild inne und trat einen Schritt zurück, um das großformatige Werk ganzheitlich zu betrachten. Sie selbst hatte lange gebraucht, um zu begreifen, worum es wirklich ging. Und jetzt hatte sie es verdammt eilig, all das nachzuholen, was sie in vergangenen Jahrzehnten bewusst beiseitegeschoben oder schlichtweg verpasst hatte. Dennoch war sie kein Mensch, der kopflos handelte, und die Agentur Langham war ihr heilig. Schließlich war sie bis vor Kurzem ihr ganzer Lebensinhalt gewesen. Aber das sollte sich nun ändern.

Glücklicherweise hatte sie mit Viktoria eine fähige Mitarbeiterin in ihren Reihen, die ihr Lebenswerk weiterführen würde, wenn sie den Chefsessel in naher Zukunft räumen würde. Viktoria hatte in den letzten Jahren bewiesen, dass sie in der Lage war, Madeleines Posten zu übernehmen. Sie war jung, ambitioniert und äußerst fokussiert. Darin lag allerdings auch ihre größte Schwäche – Viktoria begriff nicht, dass es eine Sache war, in ihrer Arbeit aufzugehen, eine gänzlich andere jedoch, die Arbeit als Schutzschild zu benutzen. Die ehrgeizige junge Frau tat nämlich Letzteres und das bereitete Madeleine zunehmend Kopfzerbrechen.

Sie nippte an ihrem Champagner und vertiefte sich in das Kunstwerk vor ihr. Es hieß: Seelenqual. Wie passend. Ein einzelnes Wort im richtigen Moment konnte die Dinge treffend auf den Punkt bringen. Lag nicht darin sogar die Antwort auf ihre Frage? Madeleine war sich nicht sicher und hier war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, dem auf den Grund zu gehen.

Sie versuchte erneut, sich auf das Gemälde zu konzentrieren. Die Pinselstriche waren kräftig und die Farben schrill. Die junge Künstlerin hatte sicher eine große Zukunft vor sich, aber bis ihre Werke reif für den Durchbruch wären, würden noch Jahre vergehen. Manche Dinge brauchten einfach Zeit. Talent musste reifen, wie ein guter Wein. Aber Potenzial war da, das ließ sich nicht bestreiten.

»Was denken Sie über das Werk?«, unterbrach eine durchdringende männliche Stimme ihre Gedanken.

Madeleine blickte in ein markantes, durchaus attraktives Gesicht.

»Ich weiß nicht so recht. Ein wenig zu laut, würde ich sagen.« Sie lachte.

»Das sehe ich genauso.«

»Aber es ist auch nicht schlecht«, fügte sie hinzu.

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Werden Sie es kaufen?« Madeleines Lächeln wurde breiter.

»Ich überlege noch.« Ihr Gesprächspartner zuckte mit den Schultern und vergrub eine Hand lässig in der Hosentasche.

»Schlagen Sie zu. In ein paar Jahren wird die Künstlerin berühmt sein«, ermutigte Madeleine den Neuankömmling.

»Sie sind eine gute Verkäuferin.« Er grinste spitzbübisch, was ihn jünger wirken ließ, als er wahrscheinlich war.

»Und das, obwohl ich nicht mal hier arbeite«, scherzte sie.

»Das weiß ich doch. Darf ich mich vorstellen? Jake. Jake Carter.«

Der junge Mann reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war fest und selbstsicher.

Gott sei Dank. Es gab wirklich nichts Schlimmeres als einen wabbeligen, feuchten Handschlag. Diese erste nonverbale Kommunikation sagte häufig mehr über eine Person aus als ein ganzer Lebenslauf.

Sein Name kam ihr irgendwie bekannt vor.

»Freut mich. Madeleine Langham. Sind Sie …?«

»Ja, genau. Ein Sprössling aus dem Hause Carter«, bestätigte er ihre unvollendete Frage nickend.

Ihr gefiel seine Aufgewecktheit. Er war gut und gern fünfundzwanzig Jahre jünger als sie, schätzte Madeleine. Deutlich zu jung für sie also.

»Sehr schön. Freut mich, Mr Carter. Wie laufen die Geschäfte? Ach, nennen Sie mich bitte Madeleine. So viel Förmlichkeit haben wir doch gar nicht nötig.«

Natürlich kannte sie seine Familie. Sie war zwar nicht mit seinen Eltern befreundet, aber hin und wieder lief man sich bei gesellschaftlichen Anlässen über den Weg.

»Gern, Madeleine. Soviel ich weiß, läuft es sogar ganz ausgezeichnet. Ich habe meinen aktiven Posten aufgegeben. Mein Bruder Ryder macht das auch ohne mich sehr gut. Ich sehe mich gerade nach einem neuen Betätigungsfeld um.«

Madeleine hob eine Augenbraue. »Tatsächlich? Das ist ja interessant. Was schwebt Ihnen vor? Es imponiert mir, wenn jemand den Mut hat, neue Wege zu gehen. Ich hoffe, die Frage ist nicht zu indiskret?«

Wenn er überrascht war, ließ er sich nichts anmerken.

»Überhaupt nicht. Ich habe mich noch nicht festgelegt.«

»Ein Mann Ihres Kalibers wird sich ja quasi aussuchen können, wo er einsteigt.«

Oder wo er sich einkauft, ergänzte sie im Stillen. Geld war für einen Sohn aus dem Hause Carter sicherlich kein Thema. Wenn es ihn nach einer neuen Herausforderung gelüstete, konnte er ein bestehendes Unternehmen kaufen und sich selbst als CEO einsetzen.

Noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, schoss ihr eine ganz andere Idee durch den Kopf …

»Darf ich Ihnen noch ein Glas Champagner bringen?«, unterbrach er ihre Überlegungen.

»Natürlich, Jake. Sehr aufmerksam. Vielen Dank. Ich warte hier auf Sie.«

Der Gedanke reifte weiter in ihr, während sie auf Jake wartete.

Kapitel 1

Der Triumph war zum Greifen nah. Viktoria musste nur noch die Früchte ihrer Arbeit ernten. Und genau das würde sie heute tun.

Endlich, dachte sie, als sie ihren begehbaren Kleiderschrank betrat, um sich das passende Kostüm für ihren großen Tag auszusuchen. Barfuß schritt sie über den flauschigen Teppich und ging an den nach Farben sortierten Kleidungsstücken vorbei. Dabei fuhr sie mit den Fingerspitzen über die verschiedenen Stoffe.

Am Ende entschied sie sich für ein wenig spektakuläres Business-Kostüm in einem dezenten Grauton, dazu eine klassische weiße Bluse. Glänzende schwarze High Heels rundeten ihre Auswahl ab. Markennamen interessierten sie nicht besonders, trotzdem waren nur die besten und damit auch teuersten Designerstücke in ihrem Schrank zu finden. Qualität kostete nun mal.

Viktoria ging es auch bei ihrem Streben nach Erfolg nicht primär um Geld, sondern darum, ihr berufliches Ziel zu erreichen. Dass ihr Privatleben dabei zum größten Teil auf der Strecke blieb, interessierte sie nicht. Im Gegenteil: Je weniger Zeit zum Nachdenken übrig blieb, desto besser.

Auch wenn es ihr niemand anmerken würde, schlug ihr Herz höher, als sie eine Stunde später aus dem Aufzug stieg. Sie grüßte Lucy, die Empfangssekretärin der Agentur Langham, mit einem höflichen Kopfnicken. Viktoria war morgens meist eine der Ersten und abends eine der Letzten, die das Stockwerk verließen. Zu Hause wartete nichts und niemand auf sie – nur die Leere, die auch in ihrem Herzen wohnte. Aber heute war ein freudiger Tag und sie schüttelte die trüben Gedanken ab, bevor sie ihr das Glücksgefühl verderben konnten.

Schon in weniger als einer Stunde würde Madeleine Langham in der großen Managementrunde verkünden, dass sie, Viktoria, in Kürze die Agenturleitung übernehmen würde. Viktoria hatte lange und hart auf dieses Ziel hingearbeitet und sich diesen Posten redlich verdient. Sie hatte sich ihren Traum, Geschäftsführerin einer der größten und einflussreichsten Werbeagenturen des Landes zu werden, endlich erfüllt.

Die Absätze ihrer High Heels klapperten auf dem dunklen Parkett, als sie über den Flur zu ihrem Büro ging. Die Alltagsroutine half ihr, die Nervosität auf ein Minimum zu reduzieren. Wie üblich hängte sie als Erstes ihren cremefarbenen Trench an den Garderobenständer, klappte dann ihr Notebook auf und setzte sich an ihren Schreibtisch, um ihr Mailprogramm zu starten.

Der Londoner Skyline in ihrem Rücken schenkte sie an diesem Tag keine Beachtung. Dabei hatte sie eine Aussicht, für die andere morden würden. Aber Viktoria hatte sie oft genug genossen; mittlerweile rief das Panorama nur noch mäßige Begeisterung in ihr hervor, ihren Herzschlag trieb es schon lange nicht mehr in die Höhe.

Das Einzige, womit man sie in diesem Moment glücklich machen konnte, war Kaffee. Da Sarah, ihre Assistentin, sich heute freigenommen hatte, blieb ihr leider keine andere Wahl, als sich selbst darum zu kümmern.

Sie machte sich auf den Weg in die kleine Küche der Agentur, denn ohne den Muntermacher konnte sie nicht existieren. Mein beinahe einziges Laster, dachte sie, als sie die Kanne aus der Maschine zog und sich Kaffee eingoss. Koffein brauchte sie wie andere die Luft zum Atmen. Kein Wunder, üblicherweise schlief sie maximal fünf Stunden, um ihre gut gefüllten Tage noch effizienter zu gestalten.

Neben ihrem Job in der Agentur ging sie nur einem Hobby nach: Fitnesstraining. Dafür gönnte sie sich den Luxus einer Personal Trainerin. Als Ausgleich zu ihrer Tätigkeit am Schreibtisch brauchte sie etwas, bei dem sie sich hemmungslos auspowern und die angestaute Energie abbauen konnte. Nur wenn sie am Ende des Tages völlig erschöpft und ausgeglichen war, konnte sie einigermaßen sicher sein, dass die Albträume sie nicht heimsuchten.

Aus dem Augenwinkel nahm Viktoria wahr, wie jemand die Küche betrat. Sie drehte sich mit dem Kaffee in der Hand um und sah in ein markantes, sehr männliches Gesicht. Sie kannte ihn nicht, sie hatte ihn noch nie zuvor in der Agentur gesehen. Dass er sich verlaufen hatte, schloss sie aus. Er wirkte nicht wie jemand, der etwas suchte.

Der hochgewachsene Mann ließ seinen Blick unverhohlen über ihren Körper wandern, bis er schließlich bei ihren Augen angekommen war und sie anlächelte. Er wirkte ein bisschen steif. Typisch britisch, dachte sie, verzog aber keine Miene.

Sie nickte leicht und nahm die unverfrorene Musterung kommentarlos hin. Gleichzeitig nutzte sie die Zeit, um ihr Gegenüber einzuordnen.

Maßgeschneiderter Anzug, weißes Hemd, bei dem die oberen zwei Knöpfe nicht geschlossen waren. Er hatte zu seinem kurzen dunkelbraunen Haar einen leicht gebräunten Teint und war glatt rasiert. Auffällig waren seine breiten Schultern, die im Kontrast zu den schmalen Hüften standen. Er war gut gebaut, schlank, aber alles andere als hager. Wahrscheinlich trieb er wie sie selbst regelmäßig Sport, um sich fit zu halten.

Seine blaugrauen Augen ruhten nach wie vor auf ihr und feine Lachfältchen zeichneten sich um sie ab, während er nun grinste, ganz so, als wäre er immer für ein Späßchen zu haben.

»Oh, guten Morgen! Sind Sie so gut und bringen mir auch einen Kaffee? Mein Büro ist am Ende des Flurs«, unterbrach er schließlich das Schweigen mit seinem kräftigen Bariton.

Beinahe wäre Viktorias Kiefer nach unten geklappt. Gerade noch rechtzeitig fand sie ihre Fassung wieder und schluckte diesen Tiefschlag kommentarlos. Er hielt sie für eine der Sekretärinnen? Unglaublich.

Bevor sie etwas antworten konnte, war der arrogante Kerl wieder aus der Küche verschwunden. Als für sie einzig logische Reaktion knallte Viktoria die Schranktür zu. Er würde früh genug mitbekommen, wer sie war, und dann würde es ihm leidtun, sie zum Kaffeeholen degradiert zu haben. Garantiert.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Heute würde gar nichts, absolut nichts, ihre Stimmung trüben. Den Kaffee konnte er sich allerdings selbst holen. So weit würde es noch kommen!

Aber wieso hatte Madeleine ihr nichts von einem neuen Kollegen erzählt? Gestern Abend waren sie noch gemeinsam essen gewesen, da hätte sie die Gelegenheit gehabt, Viktoria über ein neues Teammitglied zu informieren. Schließlich hatten sie den Großteil der Zeit über die Agentur gesprochen. Oder hatte sie nicht richtig zugehört?

Sie ließ den Abend noch einmal Revue passieren. Einige seltsame Bemerkungen hatte Madeleine tatsächlich fallen gelassen, von wegen, sie müsse sich ein Leben neben der Agentur aufbauen und dürfe nicht all ihre Energie ausschließlich in ihre Arbeit stecken. Aber Viktoria hatte es als unwichtigen Small Talk abgetan, schließlich machte ihre Chefin ihr selbst etwas ganz anderes vor. Madeleine lebte für die Agentur Langham, seit ihr Mann verstorben war.

Nein, das konnte sie also nicht gemeint haben. Und außerdem – mit einem neuen Kollegen hatte das nichts zu tun. Viktoria und Madeleine unterhielten ein ausgesprochen gutes, beinahe freundschaftliches Verhältnis. Normalerweise würde die Chefin ihre Nachfolgerin informieren, wenn sie jemand Neuen für das Team einstellte. Es sei denn natürlich, derjenige füllte nur eine unwichtige Position aus. Aber so hatte der Brite nicht auf sie gewirkt, ganz und gar nicht. Die selbstsichere Ausstrahlung, die Kleidung, der Kaffeeauftrag … Und sein Büro, das direkt neben ihrem lag, war nicht gerade ein Sekretärinnenzimmer. Das passte irgendwie nicht zusammen und zum ersten Mal an diesem Morgen keimten leise Zweifel in ihr auf.

Es musste sein erster Tag sein – er trug vielleicht einfach ein bisschen dick auf und würde ein anderes Büro bekommen, schlussfolgerte sie und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sicher hatte er eine Position auf der Executive-Ebene bekommen, war also nur ein mittelgroßes Licht in der Agentur.

Viktoria fuhr unbewusst mit dem Zeigefinger über den Tassenrand, während sie überlegte, wo ein neuer Kollege sinnvoll eingesetzt werden könnte. Im Kreativ-Team brauchten sie dringend Unterstützung, derzeit gab es zu häufig Stau bei der Umsetzung ihrer Ideen. Das war plausibel, das Thema hatten sie mehrmals in Madeleines Büro diskutiert. Sicherlich hatte sie einfach vergessen, ihr den Neuzugang anzukündigen, und für den Moment war es Viktoria auch egal, wofür er eingestellt worden war. Nach der großen Verkündigung blieb genug Zeit, herauszufinden, in welchem Bereich er für die Agentur Langham tätig sein würde.

Viktoria atmete tief durch, verließ mit gestrafftem Rücken die Küche und machte sich auf den Weg zum Besprechungszimmer. Sie war eine der Ersten, aber das war nicht ungewöhnlich. Viktoria hasste Unpünktlichkeit, da es in ihren Augen ein Zeichen von Unprofessionalität war, Menschen, mit denen man verabredet war, warten zu lassen. Egal ob beruflich oder privat. Außerdem verurteilte die Chefin Zuspätkommen bei ihren Mitarbeitern aufs Schärfste. Allein deswegen waren eigentlich so gut wie immer alle zur rechten Zeit versammelt, denn ihren Zorn wollte niemand zu spüren bekommen.

Madeleine Langham verlangte mehr als andere. Einen Job bei ihrer Agentur zu haben, bedeutete aber auch, dass man in der Premier League der Werbung angekommen war. Und dafür zahlte man gern den Preis in Form von häufigen Überstunden, manchmal nahezu übermenschlichem Engagement und bedingungsloser Loyalität. Madeleine fackelte nicht lange, wenn sie der Meinung war, jemand passte nicht ins Team. Dann saßen die Betroffenen schneller auf der Straße, als sie sich umsehen konnten. Ihren Mitarbeitern war bewusst, dass ihre Chefin nichts über ihre Autorität gehen ließ, und sie verhielten sich dementsprechend.

Um die Wartezeit zu verkürzen, wechselte Viktoria ein paar Worte mit Jeff, dem Kreativdirektor der Agentur, bevor sie sich auf ihrem Stammplatz niederließ und noch einige Mails auf dem Smartphone bearbeitete. Er hatte nichts von einem neuen Kollegen gesagt, also hatte er kein neues Mitglied in seinem Team zu verzeichnen. Sehr merkwürdig. Aber ihr großer Moment rückte immer näher und sie wollte sich jetzt nicht über etwas Gedanken machen, das sie nicht unmittelbar betraf.

Nach und nach trudelten immer mehr Kollegen des Management-Teams im Besprechungsraum ein. Madeleine kam wie üblich als Letzte in den Raum. Dieses Verhalten unterstrich ihren autoritären Führungsstil. Sie konnte es sich erlauben, zu kommen, wenn alle bereits versammelt waren. Sie nutzte ihren Auftritt, um klarzumachen, wer hier das Sagen hatte.

Man sah ihr nicht an, dass sie die sechzig überschritten hatte, was wahrscheinlich auch an den regelmäßigen Botoxbehandlungen lag. Zudem hatte sie kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen und verkörperte Stil und Eleganz. Diese Ausstrahlung konnte man nicht erwerben. Entweder man hatte sie – oder nicht.

Heute trug Madeleine eine cremefarbene Schluppenbluse und einen fliederfarbenen Pencil Skirt, der sich ihren zarten Rundungen perfekt anpasste. Ihr kastanienbraunes Haar fiel in sanften Wellen über ihre schmalen Schultern.

Häufiger hielten Kunden Viktoria für Madeleines Tochter, denn sie hatten nicht nur ein ähnliches Gespür fürs Geschäft, sondern glichen sich auch äußerlich mit ihren langen Haaren und der schlanken Silhouette. Zusätzlich waren beide absolute Karrierejunkies, die ihren Job allem anderen voranstellten. Dass sie darüber hinaus eine Gemeinsamkeit hatten, wusste nur Viktoria. Beide wussten, wie schwer ein Verlust wog. Madeleine hatte die Agentur nach dem frühen Krebstod ihres Ehemannes vor fünfundzwanzig Jahren allein weitergeführt, und das sehr erfolgreich. Aber egal, wie viel Ähnlichkeit sie hatten, Viktoria war nicht Madeleines Abziehbild. Manchmal fühlte es sich dennoch so an, als wäre sie zumindest eine Ziehtochter, auch weil Madeleine ihr mit dem Job in der Agentur wieder einen Sinn im Leben gegeben hatte, als ihr alles leer und unwirklich erschienen war. Sie hatte diese Chance genutzt und jahrelang hart geackert, um die Position zu erreichen, die sie heute innehatte.

»Guten Morgen«, lächelte Madeleine erhaben, blieb vor dem ovalen Besprechungstisch stehen und legte ihre Hände flach auf die Tischplatte. Sie sah sich um, runzelte die Stirn und fuhr dann fort. »Wir sind beinahe komplett.«

Viktoria hob eine Augenbraue und überblickte die Runde. Sie vermisste niemanden. Da ging die Tür auf und der Neue kam – mit einer Tasse Kaffee in der Hand – eilig in den Besprechungsraum.

»Entschuldigen Sie bitte«, nickte er mit einem Augenzwinkern in die Runde, »ich kenne mich hier noch nicht ganz aus.«

In diesem Moment wuchsen Viktorias Zweifel meterhoch. Irgendwas stimmte nicht.

Sie nippte an ihrem mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffee und lehnte sich mit überschlagenen Beinen zurück, um sich ihr Befremden nicht anmerken zu lassen.

»Ah, da sind Sie ja endlich, Jake«, fuhr Madeleine etwas ungeduldig fort.

Jake hieß der Schnösel also. Viktorias Kopfhaut kribbelte.

»Kommen Sie an meine Seite, Junge.« Madeleine legte ihm eine Hand auf den Arm und strahlte Jake an.

Diese Vertraulichkeit war nicht gut. Gar nicht gut. Eine dunkle Vorahnung beschlich Viktoria.

Während sie noch mit sich rang, richtete Madeleine sich wieder ans Management: »Da wir nun endlich vollzählig sind, möchte ich die Gelegenheit als Erstes nutzen, um Ihnen Jake Carter vorzustellen. Dieser ehrgeizige Mann hier an meiner Seite wird die Position des Senior Vice President ausfüllen und Hand in Hand mit mir und Viktoria arbeiten.«

Einige Kollegen tauschten verstohlene Blicke, die alte Ziege aus der Buchhaltung grinste Viktoria sogar ganz unverhohlen an. Damit hatte anscheinend niemand gerechnet, am wenigsten Viktoria selbst. Ihr Mund fühlte sich trocken an und ihr Magen war ein einziger Knoten.

Das konnte doch nicht Madeleines Ernst sein! Was war hier los?

Nur am Rande nahm sie die kurze Vorstellung ihres neuen Kollegen wahr. Er strahlte in die Runde und erzählte über seinen bisherigen Werdegang. Außer »Cambridge« und »London School of Economics« hörte sie kaum etwas von dem, was er sagte. Zu tief saß der Schock. Viktorias Traum, die Agenturleitung am heutigen Tag übertragen zu bekommen, war nicht nur zerplatzt, schlimmer noch: Madeleine hatte ihr einen gleichgestellten Typen an die Seite geholt, der ihre bisherige Position sogar noch schwächte.

Übelkeit wallte erneut in ihr auf, aber sie hielt die Fassade aufrecht. Sie war zu geübt darin, ihre Empfindungen zu verbergen, als dass man ihr angesehen hätte, was sie dachte.


Bis zum Ende der Management-Runde hatte sie vergeblich gehofft, dass Madeleine sie doch noch wie ursprünglich abgesprochen zu ihrer Nachfolgerin ernennen würde, aber nichts dergleichen war geschehen. Viktoria fragte sich, was passiert war, dass Madeleine sie derart vor allen degradiert hatte. Als nichts anderes konnte man diese Aktion bezeichnen. Warum hatte sie sie vor vollendete Tatsachen gestellt? War ihre Chefin nicht mehr zufrieden mit ihrer Arbeit? Das war unmöglich, aber die einzig logische Erklärung für diese Wendung. Aber nein, erst gestern hatte sie sie überschwänglich gelobt.

Egal wie sie es drehte und wendete, es war einfach nicht logisch zu erklären und Viktoria verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte dringenden Gesprächsbedarf.

Nach dem Meeting – Viktoria hatte den Sitzungsraum als Erste verlassen – stapfte sie schnurstracks zu Madeleines Büro und trat ein. Sie lief unruhig auf und ab, bis ihre Chefin endlich eintraf.

»Viktoria«, tat Madeleine ganz erstaunt, obwohl sie damit gerechnet haben musste, dass Viktoria das Gespräch suchen würde, um eine Erklärung zu fordern. »Was kann ich für dich tun?«, fuhr sie mit nichtssagender Miene fort.

»Madeleine – was für eine Neuigkeit. Hättest du vielleicht die Freundlichkeit, mir zu erklären, aus welchem Grund du mich vor versammelter Mannschaft entgegen aller Abmachungen so mit dem neuen Kollegen … überrascht hast?«

Madeleine schritt auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen um den Designerschreibtisch herum und setzte sich mit einer eleganten Bewegung in ihren dunklen Chefsessel. Dabei ließ sie Viktoria keine Sekunde aus den Augen.

»Meine Liebe …«, fing sie an, als es kurz klopfte und Jake, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Büro trat.

Der Mann hatte vielleicht ein Timing!

Viktoria atmete tief durch und zählte innerlich bis fünf. Obwohl sie vor Wut kochte, ließ sie sich nichts anmerken. Sie kannte Jake gerade mal ein paar Minuten und er lag auf ihrer Popularitätsskala bereits weit unter ihrem Ex-Prof. Und das wollte was heißen.

»Jake«, kommentierte Madeleine sein unaufgefordertes Eintreten, »wie gut, dass ihr beide hier seid. Ich muss euch noch etwas mitteilen, das ich nicht in der Management-Runde zur Sprache bringen wollte …«

Aha. Madeleine hat also doch Hintergedanken. Sie hat es tatsächlich schon länger geplant, schoss es Viktoria durch den Kopf.

Gleichzeitig musterte sie Jake. Er stand lässig und selbstsicher, mit einer Hand in der Hosentasche, neben ihr. Wäre er ihr in einer Bar begegnet und nicht in ihrem Revier, hätte sie ihn sogar als attraktiv bezeichnet. Aber in diesem Fall war er ihr Konkurrent und alles andere zählte nicht. Er war der Feind und den galt es, zu eliminieren.

»In den kommenden Wochen sehe ich mir an, wie ihr arbeitet, und anschließend entscheide ich, wer die Leitung der Agentur übernimmt. Wie ihr beide wisst, habe ich vor, mich zur Ruhe zu setzen, und brauche einen Nachfolger – oder eine Nachfolgerin.«

Viktoria verstand die Worte, aber nicht den Sinn dieser Aktion. Woher der plötzliche Sinneswandel?

Schön, sie musste also einen Konkurrenten ausschalten, um an ihr Ziel zu kommen. Es war absurd und irgendwie fühlte Viktoria sich von Madeleine hintergangen. Sicher, es war ihre Firma, aber nach all den Jahren hatte sie doch etwas mehr Offenheit verdient. Oder hatte sie beim gestrigen Dinner doch etwas nicht gehört – oder hören wollen? Es sah ganz danach aus, anders konnte sie sich die Überraschung des heutigen Tages nicht erklären.

Viktoria sah Jake direkt an, dabei gab sie sich dieses mal keine Mühe, zu verbergen, dass sie von der Situation alles andere als begeistert war. Natürlich konnte sie den Kerl locker in die Tasche stecken, redete sie sich innerlich Mut nach diesem derben Tiefschlag zu.

In genau diesem Moment wandte er sich ihr zu, Viktoria fühlte sich ertappt und ihr Gesicht brannte. Seine klaren Augen ruhten weiterhin auf ihr und es fühlte sich beinahe so an, als könnte er direkt in ihre Seele blicken. Selten hatte sie sich so durchschaubar und damit angreifbar gefühlt. Das brachte sie aus dem Gleichgewicht und sie sah weg, bevor er womöglich etwas in ihr lesen konnte, was ihn absolut nichts anging.

Jake hatte etwas an sich, das ihr ganz und gar nicht behagte. Er strahlte diese unbändige Kraft und Stärke aus, wie man es von Alphas gewohnt war. Bisher war sie, nach Madeleine, die unangefochtene Nummer zwei in der Agentur Langham gewesen und nun stand er plötzlich neben ihr. Er hatte hier nichts zu suchen, ihr gebührte der Geschäftsführungsposten und sonst niemandem.

Sie spürte, wie Hass in ihr aufwallte.

»Was soll das, Madeleine?«, fragte Viktoria. Ihre Stimme klang glücklicherweise kühl und beherrscht und verriet nichts von dem Aufruhr in ihrem Inneren.

Madeleine zögerte einen Moment, schaute zuerst Jake und dann Viktoria mit nichtssagender Miene an, bevor sie antwortete: »Meine Agentur. Meine Entscheidung.«

Unfucking fassbar, schoss es Viktoria durch den Kopf.

Sie bemerkte, dass Jakes Mundwinkel zuckten, während er die Arme vor seiner breiten Brust verschränkte.

»Er ist nicht mal aus der Branche!«, protestierte Viktoria kleinlaut.

Zum einen hatte sie noch nie was von ihm gehört, zum anderen hatte sie ihn während der Sitzung gegoogelt. Ein Sprössling aus gutem Hause, keine nennenswerten Skandale oder Erfolge. Ein Niemand.

Ein millionenschwerer Niemand, korrigierte sie sich im Stillen. Wahrscheinlich bot er Madeleine Geld für die Agentur, dabei hatte sie immer wieder beteuert, dass es ihr genau darum nicht gehe. Elende Lügnerin!

»Genug davon«, sagte Madeleine gelangweilt und wedelte ungeduldig mit ihren manikürten Fingern. »Er hat großes Potenzial, Viktoria. Ihr habt beide eine faire Chance. Ich will mir absolut sicher sein, in wessen Hände ich meine Firma gebe.«

Viktoria holte gerade Luft für eine Antwort, aber Jake war schneller.

»Wenn ich sowieso keine Ahnung habe, brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen, Viktoria.«

Seine Stimme klang amüsiert. Er machte sich auch noch lustig über sie? Das war ja wohl die Höhe.

Viktoria presste ihre Kiefer aufeinander und straffte sich.

»Schluss jetzt!«, mischte Madeleine sich jetzt deutlich energischer ein. »Sobald ihr so weit seid, präsentiert ihr mir euer Konzept für unseren – hoffentlich – zukünftigen Kunden Wilken. Und … lasst euch nicht zu lange Zeit. Der Bessere von euch bekommt den Zuschlag. Und jetzt raus aus meinem Büro. Alle beide!«

Es war immer noch schwer für Viktoria, zu glauben, was in den letzten Stunden passiert war. Aber eines war klar: Sie befand sich im Krieg! Und mit Madeleine hatte sie auch noch ein Hühnchen zu rupfen, wenn sie diesen Blödmann Jake Carter losgeworden war.

Mit zusammengepressten Zähnen rauschte Viktoria aus dem Büro ihrer Chefin und unterdrückte den Fluch, der ihr auf den Lippen lag. Laut hallten ihre Absätze über den Boden des Gangs, während sie innerlich noch einmal langsam bis zehn zählte, um sich zu beruhigen. Die Methode wirkte normalerweise zuverlässig, nur heute wollte es ihr nicht so recht gelingen.

Auch für den Rest des Tages schaffte sie es kaum, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

Madeleine hatte ihr mit ihrer heutigen Aktion schlichtweg den Boden unter den Füßen weggerissen. Ihre Zukunft war perfekt geplant gewesen. Sie hatte sich jahrelang buchstäblich den Arsch für die Agentur Langham aufgerissen. Tag und Nacht. Am Wochenende, im Urlaub. Zu jeder Zeit. Und dann kam so ein dahergelaufenes Söhnchen, der ihr die Position streitig machen wollte?

Niemals! Dafür würde sie sorgen. Der Kerl würde nicht der Erste sein, der sich an ihr die Zähne ausbiss. Dafür hatte Viktoria schon zu viel erlebt, zu viel gesehen und zu viel mitgemacht, als dass sie sich so kurz vor dem Ziel die Butter vom Brot nehmen lassen würde.

Mit diesem Gedanken fühlte sie sich besser. Zuversichtlich öffnete sie den Browser ihres Laptops und atmete erneut tief ein und aus, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhr.