Keine Zeit zu sterben – oder doch?
Nachdem die unauffällige Assistentin Lena Kaufmann miterlebt hat, wie ihr Chef durch ein professionelles Killerkommando umgebracht wurde, kommt sie in Kontakt mit der geheimen europäischen Agentenorganisation A.R.G.O.S., für die ihr Chef offenbar arbeitete. Als Zeugin und im Besitz von wichtigen A.R.G.O.S.-Geheiminformationen ist nun auch Lena im Visier der Killer. Eine Gruppe um den Agenten Perseus übernimmt ihren Schutz. Gemeinsam folgen sie einer Spur, die ihr Chef noch vor seinem Tod für seine Kollegen gelegt hat. Auf der lebensgefährlichen Jagd entdeckt Lena nicht nur ihre Begeisterung und ihr Talent für das Agentenleben, sondern sie steht auch einem Gegner gegenüber, der nur ein Ziel kennt: die Welt, wie wir sie kennen, zu zerstören.
Die geheimste Geheimdienstorganisation ermittelt in ihrem ersten Fall.
Thomas Finn, geboren 1967 in Chicago, studierte Volkswirtschaft und war als Journalist und Autor für diverse deutsche Verlage und Magazine tätig, u. a. als Chefredakteur für das Phantastik-Magazin Nautilus. Seit 2001 arbeitet er als Roman-, Spiele-, Theater- und Drehbuchautor. Er ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u. a. mit der Segeberger Feder. Thomas Finn lebt und arbeitet in Hamburg.
Weitere Informationen über den Autor finden Sie auf seiner Homepage: http://www.thomas-finn.de.
A•R•G•O•S
NIEMAND
LEBT FÜR
IMMER
DIE GEHEIMSTEN
GEHEIMAGENTEN EUROPAS
IM EINSATZ
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2021 by Thomas Finn
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © Ensuper/shutterstock.com | © Colin Thomas, London
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0986-6
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für meine Mutter.
Sowie für Tanja, Dagmar, Wiebke, Flow und Loki alias Agentin Penelope, Agentin Kassandra, Agentin Atropos, Agent Iason sowie Agent Achilles.
Tut mir leid, dass eure Tarnungen jetzt aufgeflogen sind …
Europa stand vor dem Zusammenbruch.
Grund dafür waren nicht mangelnder Mut, Disziplin oder Entschlossenheit. Auch nicht die Vielzahl an Feinden, die sich längst in Stellung gebracht hatten. Verantwortlich war eine halluzinogene Substanz, die in ihren Adern wütete.
Die Geheimagentin blinzelte benommen und zog sich mühsam an einer Korridorwand empor, die sich im Schein der summenden Neonröhren mal klarer, mal trüber abzeichnete. Selbst der Boden schien zu schwanken, so als stünde sie auf einem Schiff, das hohem Wellengang ausgesetzt war. Nur war das hier kein Schiff. Sie befand sich tief im Innern eines Bergmassivs, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Längst hatte sie es aufgegeben, nach der Halle mit den Bergwerksmaschinen zu suchen, durch die sie vorgestern in die geheime Anlage eingedrungen war.
Oder vor vier Tagen?
Oder vor einer Woche?
Sie hatte ihr Zeitempfinden verloren. Es war auch egal. In ihrem Zustand wäre es ihr vermutlich eh nicht gelungen zu entkommen. Ihre Ausrüstung war fort, sie stolperte barfuß durch das unterirdische Tunnellabyrinth, und alles, was sie trug, war ein armseliges Krankenhaushemd, das ihr ihre Feinde zugestanden hatten. Und doch musste sie die Welt vor dem warnen, was hier vor sich ging.
Irgendwo in dieser Anlage musste es doch eine Kommunikationseinrichtung geben?
Europa stolperte den Korridor weiter entlang, einer sich verschwommen abzeichnenden Treppe entgegen, als hinter ihr eine dumpfe Detonation die Stille zerriss, die selbst die Grubenlampen zum Flackern brachte. Sie wusste, was das bedeutete. Ihre Häscher hatten die Stahltür, die sie so mühsam verriegelt hatte, aufgesprengt. Kommandos ertönten, denen aufgeregte Rufe und hallende Stiefelschritte folgten.
Benommen drehte sie sich um und versuchte, Schwindel und aufkommende Übelkeit abzuschütteln. Mangels Deckung, vornehmlich aber aus Erschöpfung, ließ sie sich flach zu Boden fallen, versuchte, ihren Herzschlag mittels einer tibetischen Atemübung unter Kontrolle zu bekommen, und brachte die erbeutete Waffe in Anschlag. Bei der Pistole handelte es sich um eine Glock 17. Ein Selbstlader aus leichtem Kunststoff mit Safe-Action-Abzugssystem. Bestehend aus bloß dreiunddreißig Teilen, was sie bei Sicherheitsdiensten und Armeeangehörigen in aller Welt beliebt machte. Wobei diese Waffe ganz sicher aus den Beständen des österreichischen Bundesheers stammte. Europa betete die technischen Details der Waffe wie ein Mantra herunter, um die bleierne Schwere in ihrem Schädel zurückzudrängen. Leider steckten in dem Stangenmagazin nur noch zwölf Patronen. Verzweifelt versuchte sie, die Waffe ruhig zu halten.
Es dauerte nicht lange, und hinter einer Gangbiegung tauchten die Umrisse zweier Männer auf, die bei ihrem Anblick lauthals brüllten und ihre Gewehre auf sie anlegten. Ein Schuss donnerte durch den Gang, und irgendwo schräg hinter ihr schlug die Kugel mit peitschendem Knall in die Korridorwand ein.
Europa feuerte ihrerseits dreimal und vernahm undeutliche Schmerzenslaute. Eine der Gestalten ging zu Boden, die andere wirbelte getroffen herum und wurde von Helfern in Sicherheit gezogen. Genaueres konnte sie nicht erkennen, da wieder Schlieren vor ihre Augen zogen.
»Nicht schießen, ihr Idioten!« Die Stimme des Anführers klang zornig.
Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung rollte sich Europa zur gegenüberliegenden Gangwand. Abermals ließ sich ein vorwitziger Schatten blicken, den sie mittels eines Schusses zu Boden streckte.
Noch acht Patronen. Wenn sie richtig gezählt hatte.
Eine bedrohliche Ruhe kehrte ein, und Europas Blick klarte sich allmählich wieder.
Verärgerte Rufe waren zu hören, und zwei weitere Bewaffnete rückten geduckt und im Schutz eines verstärkten Schutzschildes in den Korridor vor. Europa biss die Zähne zusammen, senkte den Lauf der Waffe, um so Beine und Füße ihrer Häscher anzuvisieren. Doch ihre Hände zitterten und waren kaum fähig, die Waffe still zu halten. Sie nahm daher die schräg gegenüberliegende Wand ins Visier, wartete, bis die Männer nahe genug herangekommen waren, und feuerte ihr halbes Magazin ab. Eine der an der Wand abprallenden Kugeln hämmerte gegen den Stahlschild, zwei der Querschläger fanden wie erhofft ihren Weg schräg an dem Schutz vorbei. Schmerzensschreie gellten auf, der Schild kippte, und mit zwei weiteren Schüssen streckte sie die Entblößten nieder. Sie hörte das Stöhnen von Verletzten.
»Beeindruckend. Aber wenn ich richtig gezählt habe, verfügen Sie jetzt nur noch über eine einzige Patrone?«, erklang hinten aus dem Gang eine kalte, irgendwie nasal klingende Stimme.
Europa blinzelte angestrengt, denn hinter den Toten und Verletzten kam eine Gestalt in tiefschwarzem Ledermantel hervor. Ein Kleidungsstück, das an die Mäntel einstiger Wehrmachtsoffiziere erinnerte. Der restliche Aufzug des Fremden ähnelte hingegen dem Wichs, also der traditionellen Kleidung von Burschenschaftlern. Angefangen bei einem schräg getragenen schwarzen Cerevis, wie die Verbindungsstudenten ihre eigentümlichen, runden Kopfbedeckungen nannten. Hin zu einer ebenfalls tiefschwarzen Uniformjacke samt schwarzen Handschuhen mit weißen Gamaschen. Der Kerl trug sogar eine Art Schärpe über der Jacke, die sich bei näherem Hinsehen als Patronengurt entpuppte. Am befremdlichsten jedoch war die schwarze Brille, mit der er sein Antlitz verhüllte. Das seltsame Ding erinnerte an die Paukbrillen schlagender Verbindungen, mit denen die Studenten bei der Mensur ihre Augen schützten. Ähnlich einer Halbmaske bedeckte sie Nase und komplette obere Kopfpartie und vermochte es doch nicht, die grässliche rote Narbe zu verbergen, die sich quer über das Gesicht des Mannes zog. Da die Sichtflächen für die Augen vergittert waren, ähnelte sein Blick mehr dem eines lauernden Insekts denn dem eines Menschen.
Europa wusste, wem sie gegenüberstand. Ihr Gegner wurde innerhalb der Organisation unter dem schlichten Aktenvermerk »UKSC-13« geführt. UK für Unknown, SC für Super Criminal. Da das Erscheinungsbild des bislang unidentifizierten Superverbrechers an eine irre Mischung aus Batman, Burschenschaftler und Wehrmachtsoffizier erinnerte, hatten Eingeweihte ihm einen markanten Namen verpasst: der Paukant.
Der Begriff war in Anlehnung an die Kontrahenten all jener schlagenden Verbindungen entstanden, die sich auf den Paukböden ihrer Verbindungshäuser Narben als Erkennungszeichen beizubringen versuchten. Wenn das tatsächlich der Grund für sein verunstaltetes Gesicht war, musste es den Paukanten einst ziemlich schlimm erwischt haben. Leider war es müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Relevant war ausschließlich, dass der geheimnisvolle Killer als Meister seines Faches galt und auch auf den Fahndungslisten anderer europäischer Geheimdienste stand. Interpol jagte ihn, ebenso die CIA sowie der russische Geheimdienst FSB. Dass ausgerechnet er hier vor ihr stand, ließ ihre Zuversicht schwinden.
»Eine … Kugel reicht völlig!«, sprach Europa mit schwerer Zunge. Zunehmend bereitete es ihr Mühe, die Waffe auszurichten. Unmöglich hatte sie eine Chance gegen den Kerl. Insbesondere nicht in ihrem jetzigen Zustand. Eine Erkenntnis, die umso demütigender war, als es ihr Gegner nicht einmal für nötig gehalten hatte, eine Waffe zu ziehen.
»Vielleicht.« Der Paukant schürzte spöttisch die Lippen unter der vergitterten Brille und winkte mit einer Kopfbewegung zwei weitere Bewaffnete heran, die sich neben ihm mit Maschinenpistolen aufbauten. »Bedauerlicherweise können Sie nur einen von uns erwischen. Ihre Flucht ist somit gescheitert.«
Europa stöhnte resigniert. Keinesfalls würde sie sich noch einmal in die Gewalt ihrer Peiniger begeben. Wenn das hier schon das Ende sein sollte, dann würde sie dafür sorgen, dass man sich an sie erinnerte. Vor allem würde sie stehend sterben.
Zittrig richtete sie sich wieder auf, kaum fähig, ihr Gleichgewicht zu halten. Noch immer zielte sie auf den Paukanten, richtete die Pistole dann aber unvermittelt gegen ihre Schläfe. Bunte Schleier wallten vor ihren Augen. »Lebend werdet ihr mich nicht …«
Etwas Dunkles schwirrte über den Korridor auf sie zu. Eine Minidrohne?
Europa versuchte noch, den Abzug ihrer Waffe zu betätigen, als das heransausende Etwas mit einem greller Lichtblitz explodierte und sie von einem erschütternden Knall nach hinten gerissen wurde. Sie stürzte, ihr Kopf schlug schmerzhaft gegen Gestein, die Glock wurde ihr aus der Hand geschlagen, dann wurde es schwarz um sie.
Als sie wieder erwachte, fühlte sie sich fast schwerelos.
Nein, die Bastarde trugen sie, und angesichts ihres dröhnenden Schädels wurde ihr erst allmählich bewusst, dass ihre Handgelenke auf dem Rücken zusammengebunden waren. Auf ihrer Zunge schmeckte sie Blut, durch das beständige Fiepen in ihren Ohren waren aufgeregte Stimmen zu vernehmen, und noch immer rang sie mit der Bewusstlosigkeit. Ohne Zweifel war sie Opfer einer Miniaturblendgranate geworden. Mühsam gelang es ihr, die Lider zu öffnen. Man schleppte sie durch eine Halle im Berg. Dicke Stromkabel lagen im Weg, außerdem glaubte sie, im Hintergrund Arbeiter zu erkennen, die respektvoll Platz machten. Nur berührten sie die Entdeckungen kaum. Ihr war so elend zumute, dass sie schlicht eines bereute: nicht die Gelegenheit gefunden zu haben, dem allen ein Ende zu bereiten.
Erneut fiel sie in die Finsternis.
Als sich das nächste Mal Licht in ihr Bewusstsein stahl, vernahm sie statt Männerstimmen … schwungvolle Marschmusik.
Europa blinzelte verwirrt.
Das war der »Radetzky-Marsch« von Johann Strauss.
War das bereits der Beginn der Folter?
Stöhnend richtete sie sich auf und spürte sofort die Fesselung. Man hatte sie auf einem Stuhl fixiert. Und dieser stand inmitten eines großen Raums, der angesichts der vielen Monitore an den Wänden wie eine Kommandozentrale wirkte. Auf den meisten Bildschirmen waren Gänge und Hallen mit Arbeitern und Bewaffneten zu erkennen. Auf anderen jedoch flimmerten Dokumentationen über Trachten- und Tanzgruppen, Sendungen über Schlösser und Barockbauten und ein TV-Bericht über einen Jagdverein. Sogar ein britischer Royalty-Streamingdienst war zugeschaltet, der irgendeinen belanglosen Beitrag über Meghan und Harry brachte.
Über allem lag weiterhin die Klangdecke des »Radetzky-Marsches«, zu der ein leicht korpulenter Mann mit gegelten, dunklen Haaren, lederner Kniebundhose und grauem Lodenjanker im Takt wippte. Er stand wenige Meter von ihr entfernt und hielt die Arme hinter sich verschränkt, während er durch ein großes Panoramafenster das Treiben in einer großen Berghalle verfolgte. Die dortigen Felswände waren mit Gerüsten bedeckt, auf denen Arbeiter Kabel verlegten, und es gab sogar einen Kran, der eigentümliche technische Gerätschaften zu einem Befestigungspunkt unter der Gewölbedecke beförderte.
Was genau ging da drüben vor sich?
Erst jetzt bemerkte Europa die zwei Bewaffneten in dunkler Kakiuniform samt ihren Maschinenpistolen. Die Männer hatten sich rechts und links vom Fenster aufgebaut und behielten sie misstrauisch im Auge – als ihr Kinn grob von einer weiteren Gestalt angehoben wurde, die nur auf eine Regung von ihr gewartet zu haben schien.
Der Paukant.
Der Killer fixierte sie durch seine vergitterte Brille, lächelte spöttisch und marschierte hinüber zu dem Mann vor dem Fenster, der ihm leicht den Kopf zuneigte, während er zu ihm sprach. Der Unbekannte drehte sich schließlich um, und Europa blickte auf eine grinsende Guy-Fawkes-Maske, mit der ihr Gegenüber sein Antlitz verbarg.
»Unsere kleine Ausreißerin ist also erwacht?« Überlegen sah der Dicke auf sie herab. Allerdings war seine Stimme angesichts der tönenden Marschmusik im Raum kaum zu verstehen. Er wandte sich daher kurz von ihr ab.
»Alexa, mach das aus!«
»Du möchtest ein anderes Lied von Strauss?«, fragte die freundliche Stimme des Voice-Services. Jäh erfüllten die heiteren Klänge der »Tritsch-Tratsch-Polka« den Raum. Die Bewaffneten warfen sich knappe Blicke zu, und selbst der Paukant sah kurz auf.
»Nein, das wollte ich nicht«, versuchte der Maskierte seine Contenance zu wahren. »Ich versuche hier ein Gespräch zu führen. Also Ruhe! Silence!«
»Enjoy the silence«, antwortete die freundliche Computerstimme. Die »Tritsch-Trasch-Polka« brach ab, stattdessen setzten die dumpfen Bässe von Depeche Mode ein.
Wütend zog der Unbekannte eine Pistole unter der Trachtenjacke hervor, richtete sie auf den Sprachassistenten und schoss so lange auf das Gerät, bis es vom Tisch kippte und die Musik im Raum verstummte. Eine unangenehme Ruhe kehrte ein.
Der Mann steckte die Waffe weg, rückte sichtlich beherrscht die Guy-Fawkes-Maske zurecht, verschränkte die Arme wieder hinter dem Rücken und nahm erneut mit leicht gegrätschten Beinen Haltung an. »Also, wo waren wir?«
»Ich glaube bei Ihrem seltsamen Musikgeschmack«, ächzte die Agentin. »Würde auch erklären, warum Sie sich nicht offen zeigen.«
Der Paukant trat mit zwei schnellen Schritten vor und verpasste ihr eine harte Ohrfeige. Europa stöhnte.
Der Maskierte beugte sich vor. »Normalerweise behandelt man Damen in meinem Reich wie Prinzessinnen. Nur befürchte ich, dass Sie dieses Recht durch Ihre Verstocktheit verwirkt haben.«
Europa beugte sich, soweit es ihre Fesselung zuließ, vor und spuckte vor ihm auf den Boden.
»Ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft macht all das nicht besser.« Ihr Gegenüber blickte zu jemandem in ihrem Rücken auf. »Was wissen wir über sie?«
Ein unterwürfiger, in Weiß gekleideter, hagerer Mann mit Brille trat in Europas Gesichtsfeld, in dem sie sofort den Arzt wiedererkannte, der sich ihrer bereits während der zurückliegenden Gefangenschaft angenommen hatte. Jetzt war seine Oberlippe aufgeplatzt, und er trug einen Kopfverband, was den Umständen ihrer Flucht zuzuschreiben war.
»Sie, äh, hat sich allen Befragungen widersetzt, bis ich es mit einem Drogencocktail versucht habe, der sie etwas gefügiger machte.« Der Arzt sah sie giftig an und reichte seinem Boss eine Mappe. »Hier finden Sie alles, was ich aus ihr herausholen konnte. Also … bis sie mich überlistet hat.« Er räusperte sich. »Offenbar ist sie Geheimagentin.«
Europa sah wütend zu dem Arzt auf und fragte sich, was sie unter dem Einfluss der Drogen alles preisgegeben hatte.
»BND? MI5? DGSE?« Ungehalten schlug der Maskierte die Mappe auf und studierte die darin befindlichen Papiere. »Sagen Sie schon – welcher dieser Vereine ist uns auf die Schliche gekommen?«
»Keiner von denen. Vielmehr handelt es sich um eine Organisation, von der ich noch nie gehört habe.« Der Mediziner nickte knapp in ihre Richtung. »Deren Agenten scheinen alle unter Codenamen zu operieren. Sie hier nennt sich Europa. Sie hat aber auch noch andere Namen erwähnt. Und doch bin ich mir sicher, dass sie allein gehandelt hat. Insbesondere aber scheint sie für jemanden zu arbeiten, der sich Poseidon nennt.«
Sein Boss studierte eine der Seiten genauer. »Und diese Organisation nennt sich AROS? Wie kann es sein, dass wir von der nichts wissen?«
»Könnte auch EROS gelautet haben«, korrigierte ihn der Arzt kleinlaut. »Das war etwas unverständlich …«
»Ich hasse diese Geheimdienste mit ihrer Heimlichtuerei.« Der Maskierte schüttelte unwillig den Kopf. »Diese ganzen Codenamen – das ist doch völlig lächerlich. Haben Piccolo-Nelli, Porsche-Kalle oder der Professor schon mal etwas von denen gehört?«
»Nicht, dass ich w…«
»Nicht AROS«, meldete sich plötzlich der Paukant zu Wort. Lauernd trat der Killer näher. »Sie dürfte A.R.G.O.S. gemeint haben.«
Europa sah zornig auf.
»A.R.G.O.S.?« Der Dicke ließ die Unterlagen sinken.
Der Paukant nickte unmerklich. »Ich hatte bereits vor zwei Jahren eine Begegnung mit einem ihrer Agenten. Diese Organisation operiert europaweit und ist sehr erpicht darauf, dass niemand von ihr Kenntnis erlangt. Inzwischen habe ich aber dennoch das eine oder andere in Erfahrung bringen können. Kleinigkeiten, trotzdem …«
Er nahm seinen Boss zur Seite, und Europa sah misstrauisch dabei zu, wie sich die beiden leise unterhielten. Irgendwann schnaubte der Maskierte und trat wieder vor sie.
»Sieht so aus, als wäre uns mit Ihnen ein interessanterer Fang gelungen, als ich ahnen konnte.« Er kam ihr samt der Guy-Fawkes-Maske so nah, dass sie den markanten Duft seines Haargels riechen konnte.
»Sehen Sie das?« Er machte etwas Platz, damit sie durch das Panoramafenster erneut einen Blick auf die benachbarte Berghalle samt den dortigen Bauaktivitäten erhaschen konnte. »Dort drüben nimmt die Zukunft dieses Kontinents Gestalt an. Wenn wir fertig sind, wird das ein Beben wie zuletzt in Nagasaki auslösen.«
»Was auch immer es damit auf sich hat, wir werden Sie stoppen!«, zischte Europa.
»Ach ja?« Ihr Gegenüber lachte unter der Maske. »Wenn Sie glauben, Ihre lächerliche Organisation könne uns aufhalten, muss ich Sie enttäuschen. Wir werden alles ausradieren, was uns im Weg ist. Und Sie werden uns dabei helfen.«
Er wandte sich dem Arzt zu. »Sie haben mich gehört. Quetschen Sie alles aus ihr raus, was machbar ist. Verpassen Sie ihr meinetwegen die dreifache Dosis. Völlig egal.« Er richtete das Wort nun an den Paukanten. »Und während ich dafür sorge, dass der Zeitplan weiter eingehalten wird, bereiten Sie alles wie abgesprochen vor. Geld spielt keine Rolle.« Die Augen unter der Maske blitzten. »Starten Sie Operation Götterdämmerung!«