Chaosküsse mit Croissant

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Planet Girl

Ich betrat das Eiscafé und hielt Ausschau nach Lucilla und Valentin. Lucilla ist meine beste Freundin und Valentin ihr Freund. Die beiden sind das absolute Traumpaar. Noch bevor Lucilla einen Wunsch äußert, hat Valentin ihn ihr schon von den Augen abgelesen und erfüllt. Und da saßen die beiden auch, hielten Händchen und sahen sich tief in die Augen. Es würde nicht einfach sein, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

»Ups, ’tschuldigung …« Ich war über einen Stuhl gestolpert und gegen ihren Tisch gestoßen. Der Inhalt ihrer Gläser schwappte über und Valentin rettete geistesgegenwärtig Lucillas Eisbecher, bevor er sich über den Tischrand stürzen konnte.

»Warum sagst du nicht einfach Hallo wie andere auch?«, tadelte mich Lucilla leicht.

Hey, immerhin hatte ich sie aus dem Lucilla-Valentin-Traumland zurückgebracht!

»Überhaupt, was machst du schon hier?« Lucilla blickte verwirrt auf die Uhr. »Ich dachte, du hättest noch so viel zu erledigen?«

»Hatte ich auch. Aber Tim bestand darauf, dass er mir das abnimmt, weil wir doch gerade so viele Arbeiten schreiben. Auf diese Art und Weise kann ich, während er meine Erledigungen erledigt, lernen. Und danach können wir Zeit miteinander verbringen. Gut, was?!«

Tim ist mein Freund. Und ich bin total in ihn verliebt.

»Und du meinst, das ist eine gute Idee?«, fragte Lucilla skeptisch.

Ihre Skepsis war angebracht. Tim ist ein absoluter Chaot. Fast noch chaotischer als ich. Da haben wir eine Gemeinsamkeit. Trotzdem konnte ich das natürlich nicht einfach so stehen lassen. »Tim gibt sich total viel Mühe«, sagte ich. »Ich hab ihm alles genau erklärt und zusätzlich noch aufgeschrieben. Es kann nichts schiefgehen«, fügte ich hinzu.

»Na dann …« Lucilla schien nicht wirklich überzeugt zu sein.

Der Ober sah inzwischen schon nervös zu uns rüber. So reagiert er immer, wenn ich ins Eiscafé komme. Muss wohl daran liegen, dass er sich mal ein Bein gebrochen hat und ich in diesen Vorfall irgendwie verwickelt war. Natürlich nicht mit Absicht.

»Okay, dann hol ich dir mal eine Cola.« Valentin war aufgestanden. Der Ober wird nämlich nicht nur immer nervös, wenn ich auftauche, er weigert sich auch, in meine Nähe zu kommen. Das letzte Mal musste ich meine Bestellung quer durch den Raum brüllen und er stellte meine Cola dann drei Tische entfernt von meinem ab. Dort musste ich sie mir holen.

»Ja, gerne«, nickte ich.

»Und für dich noch einen Pistazienmilchshake? Der passt so gut zu deiner Augenfarbe«, strahlte er Lucilla an.

Lucilla strahlte zurück und hauchte ein »Du bist zu süß!« in Valentins Richtung.

Puh, das triefte ja schon! Aber egal, die beiden waren glücklich. Genau wie Tim und ich. Und auch wie der Ober, der sehr erleichtert aussah und fast lächelte, als Valentin am Tresen bestellte und die Cola auch gleich selbst mitnahm.

Lucilla und Valentin sahen sich weiter tief in die Augen und gelegentlich redeten sie auch mal mit mir.

 

Etwas später kam Tim. »Alles erledigt!«, verkündete er gut gelaunt.

Valentin schnappte sich sicherheitshalber die Gläser und hob sie vom Tisch, als mein Freund sich uns näherte. Tim war bekanntlich noch tollpatschiger als ich.

»Was nicht in Ordnung damit?« Tim sah fragend auf die Gläser in Valentins Händen. »Soll ich sie zurückbringen?«

Valentin schüttelte nur den Kopf und wartete, bis Tim sich gesetzt hatte, bevor er die Gläser wieder auf den Tisch stellte. Valentin ist übrigens Tims bester Freund, was die ganze Sache wirklich perfekt macht: Meine beste Freundin ist mit dem besten Freund meines Freundes zusammen.

Nachdem Tim sich gesetzt hatte, stand Valentin auf. »Tim, einen Zitronensaft?«, fragte er.

Tim nickte und Valentin machte sich auf den Weg zum Tresen. Tim hatte nämlich auch einschlägige Chaoserfahrungen in dieser Eisdiele gemacht und der Kellner war leicht zusammengezuckt, als Tim reinkam. Unser Hausverbot war erst vor Kurzem aufgehoben worden.

»Ah, du trinkst eine Cola?«, versuchte sich Tim weiter in der Rolle des aufmerksamen Freundes. Wir waren heute wirklich gut als Paar.

»Jojo trinkt doch immer Cola«, mischte sich Lucilla ein.

Ich ignorierte das. »Und?«, lächelte ich, sah Tim erwartungsvoll an und hoffte auf ein ebensolches Kompliment, wie Valentin es zuvor Lucilla gemacht hatte, das mit der passenden Augenfarbe.

»Und was?« Tim schien etwas verwirrt.

»Und was meinst du, wozu das passt?«, half ich ihm auf die Sprünge und strahlte ihn an.

Tims Verwirrung steigerte sich. »Zu dem Mittagessen, das deine Mutter heute gekocht hat? Braucht dein Magen wohl etwas Hilfe?«

Das war zwar eine durchaus logische Antwort, denn meine Mutter würde sich eher im chinesischen Hinterland zurechtfinden als in einer Küche. Aber im Land der Romantik war das ganz sicher die falsche Antwort.

»Hier, Tim, dein Zitronensaft.« Valentin war zurückgekommen.

»Oh, danke, das ist ein toller Zitronensaft«, nahm Tim die Ablenkung dankbar an, strahlte Valentin an und bemühte sich, weiterhin supernett und aufmerksam zu sein. Als ich Tim darum gebeten hatte, besonders nett und aufmerksam zu sein, hatte ich allerdings nicht an Valentin gedacht.

»Hier ist dein Buch«, versuchte Tim wieder Boden gutzumachen und wühlte in seiner Tasche. Dann zog er ein Buch hervor.

Ich nahm es und sah es irritiert an. »Warst du nicht in der Bibliothek?«

»Doch, sicher«, meinte Tim. »Das sollte ich ja.«

»Und was hast du da gemacht?«, fragte ich skeptisch. Ich hielt nämlich das Buch in der Hand, das Tim in der Bibliothek zurückgeben sollte.

»Ich habe den Kuchen vorbeigebracht.«

»Aber der war doch für Oskars Tante!«

»Oh, das erklärt, warum sie so verblüfft war, als sie das Kleid gesehen hat.«

»Du hast ihr das Rokokokostüm gegeben?«, fragte ich ungläubig.

Tim nickte. »Ich glaube, sie fand es sehr schön. Allerdings meinte sie, dass sie wohl kaum Gelegenheit habe, es zu tragen.«

»Und was hast du dann ins Theater gebracht?«

»Na, das Fotoalbum, das ich bei Oskars Tante abholen sollte.«

»Das glaube ich einfach nicht! Du hast es geschafft, das Buch, das du abgeben solltest, wieder zu mir zu schleppen und den Kuchen, den du zu Oskars Tante bringen solltest, in der Bibliothek abzugeben! Und statt des Kostüms, das dringend ins Theater sollte, hast du denen ein Fotoalbum in die Hand gedrückt?!«

»Ups!«, meinte Tim. »Aber jeder hat sich über das, was er bekommen hat, gefreut.« Er überlegte kurz. »Na ja, mehr oder weniger.«

»Oh, Tim!«

»Sorry.« Tim sah leicht zerknirscht aus.

»Ich hab dir gleich gesagt, dass die Idee nicht so gut war«, mischte sich Lucilla ein.

Apropos Idee, das brachte mich auf etwas anderes. »Hast du denn den Zettel nicht gelesen, den ich dir extra geschrieben hatte?«

»Ich wollte ihn heute Abend zu Hause lesen.«

»Die Liste, was du erledigen solltest?!«

»Ach, das stand da darauf! Ich dachte, du hättest mir einen Brief geschrieben.«

Das war der Moment, wo ich in mich zusammenfiel.

»Vielleicht kann ich ja noch was retten«, schlug Tim vor. »Ich mach mich mal gleich auf den Weg.«

»Aber diesmal komme ich lieber mit«, seufzte ich.

»Ach was, ich hab doch den Zettel«, lächelte mich Tim an. »Du sollst heute doch nichts machen müssen.« Dabei fischte er in seiner Tasche herum. Nach kurzer Zeit zog er einen Zettel hervor und wedelte siegessicher damit herum.

»Zeig mal.« Ich griff danach.

»A + B = … – Was ist das denn?«

Tim nahm mir den Zettel aus der Hand und sah drauf. »Murks!«, meinte er. »Das ist der Mathespickzettel, den ich für Konstantin geschrieben habe. Er wird jetzt morgen mit deiner Erledigungsliste Mathe schreiben.«

»Ich komme mit!«, sagte ich mit Nachdruck.

»Okay, ist vielleicht besser«, gab Tim zu.

Wir brachen ziemlich überstürzt auf und verfolgten Tims Chaosspur zurück.

Wir brachten fast alles wieder in Ordnung. Nur Oskars Tante bekam ihren Kuchen nicht, weil die Leute in der Bibliothek ihn schon aufgegessen hatten. Allerdings musste ich auf diese Art und Weise wenigstens keine Strafgebühr zahlen, weil ich das Buch eigentlich schon vor einer Woche hätte abgeben müssen.

Tim kaufte dann noch ein paar Kekse für Oskars Tante, die wir gegen das Kostüm eintauschten. Oskars Tante schien fast erleichtert. »Weißt du, Kind, das hätte bei mir nur im Schrank gehangen. Und das wäre doch schade!«, meinte sie und biss in den ersten Keks.

Sie lud uns dann noch auf einen Keks und einen Saft ein und wir nahmen an, da wir von dieser Erledigungsrallye inzwischen selbst erledigt waren.

Ich nahm mir vor, in Zukunft auf Tims Hilfsangebote dankend zu verzichten. Dafür hatte ich wirklich nicht genug Zeit.

Okay, die Sache mit den Erledigungen war schiefgegangen, aber dafür rief Tim regelmäßig an. Na ja, mehr oder weniger regelmäßig. Also regelmäßig, wenn er daran dachte. Aber er gab sich wirklich viel Mühe.

Wir telefonierten also gerade und auf einmal wehte Lucilla ganz aufgelöst und in Endzeitstimmung herein.

»Leg auf, wir haben keine Zeit, um zu telefonieren!«, befahl sie.

»Ich schon«, widersprach ich. »Ich rede gerade mit Tim und …«

»Leg auf!«

»Warum?«

»Hallo, Jojo?«, mischte sich jetzt Tim auch noch ein.

»Lucilla ist hier«, erklärte ich kurz.

Der dauerte es inzwischen wohl zu lange. Sie nahm mir den Hörer aus der Hand und legte auf. Dann sah sie mich ganz ernst an. »Es ist vorbei«, erklärte sie mit einem an dramatischer Wirkung kaum zu übertreffenden Augenaufschlag.

»Ja, mein Telefonat mit Tim ist vorbei«, sagte ich leicht sauer und starrte auf den Hörer. Ich konnte kaum glauben, dass sie eben echt mein Gespräch unterbrochen hatte!

»Das ist das Geringste«, erwiderte Lucilla und sah waidwund in die Ferne.

»Lucilla, was ist los?!«

Lucilla atmete tief durch. »Aus zuverlässiger Quelle habe ich erfahren, dass der Schüleraustausch ansteht«, verkündete sie in einem Ton, als würde sie gerade erklären, dass die Welt von Marsmenschen erobert worden sei.

Ich hob einen Brief hoch, der neben dem Telefon lag. Wir lagerten nämlich dort gelegentlich auch unsere Post. Ein beliebter Kommunikationstreffpunkt. »Ist das die zuverlässige Quelle? Das ist ein Informationsschreiben, das jeder bekommen hat.«

»Ich hab ja auch nicht ›geheime‹, sondern ›zuverlässige Quelle‹ gesagt«, fauchte Lucilla zurück. Sie hasste es, wenn ihre dramatischen Auftritte durch die Realität sabotiert wurden.

Ich sah auf den Brief, der von unserem Direktor war. Das konnte man wohl als zuverlässige Quelle durchgehen lassen. Ich nickte. »Ja, stimmt. Und?«

»Und?! Siehst du nicht die weitreichende Bedeutung? Es wird ein Desaster von ungeahnten Ausmaßen«, sagte Lucilla dramatisch.

»Na ja, wenn man Zugfahren nicht mag, wird es vielleicht etwas unangenehm und das Essen ist möglicherweise ungewohnt. Aber wo ist dabei der Weltuntergang? Generationen von Schülern haben das vor uns gemacht und es haben alle überlebt. Ich denke, die Ausmaße werden sich in Grenzen halten.« Ich wusste immer noch nicht, worauf sie hinauswollte. »Außerdem war das doch schon lange geplant und der Termin stand fest.«

»Ach, Jojo!« Lucilla sah mich nachsichtig an und umarmte mich. »Ach, Jojo!«, wiederholte sie.

So langsam wurde es etwas viel. Selbst für Lucilla, die ja dramatische Auftritte besonders liebte. Ich befreite mich aus ihrer Umarmung, zog sie in mein Zimmer und platzierte sie auf meinem Bett.

»Also, was ist los?«, versuchte ich erneut herauszufinden, worum es ging.

»Wir werden getrennt sein«, sagte sie mit einem kleinen Schluchzer in der Stimme.

»Aber nein, Lucilla, wir fahren doch zusammen dahin. Okay, wir wohnen in unterschiedlichen Familien, aber …«

»Von Valentin«, unterbrach mich Lucilla bestimmt. »Ich werde von Valentin getrennt sein«, fügte sie sicherheitshalber noch hinzu.

Ich sah sie etwas verständnislos an. »Habt ihr so ein Gelübde, dass keiner von euch auf einen Schüleraustausch gehen darf?«

»Wir werden getrennt sein«, erklärte Lucilla geduldig. »Der Trennungsschmerz wird ganz fürchterlich werden.« Sie seufzte und ich hatte das Gefühl, dass sie diese Rolle bei allem Schmerz irgendwie genoss. Lucilla liebte alles, was romantisch oder tragisch war. »Ich werde nicht einschlafen können, weil ich an ihn denken muss.« Ein weiterer Seufzer. »Ich werde mich sicher in den Schlaf weinen.« Zwei Seufzer.

Ich verkniff es mir, sie darauf hinzuweisen, dass sie entweder nicht einschlafen oder sich in den Schlaf weinen könnte.

Lucilla kam gerade so richtig in Fahrt. »Ich werde in allem sein Gesicht sehen und ununterbrochen an ihn denken müssen. Hach, das wird so romantisch und tragisch!« Sie machte eine Pause, sah in die Ferne und seufzte noch ein bisschen. Das war mal wieder Lucilla in Bestform. Dramaqueen und unverbesserliche Romantikerin in einem. Manchmal eine echt anstrengende Mischung.

Ich überlegte gerade, wie ich ihr helfen konnte, ohne gegen allzu viele Romantikregeln zu verstoßen, als ihr plötzlich etwas einfiel. Sie kehrte aus ihrem Romantiknirwana zurück und sah mich an. »Was trägt man eigentlich in so einer Situation?«

»Beim In-den-Schlaf-Weinen?« Ich war ein wenig überfordert. »Ich schätze, ein Nachthemd oder so was.«

Lucilla überhörte das. Vermutlich war ihre Frage sowieso nur rhetorisch gemeint. »Ich habe gar keine passende Garderobe«, stellte sie fast entsetzt fest und war jetzt wieder ganz im Hier und Jetzt. Anscheinend wog das Kleidungsproblem noch schwerer als die ganze Getrenntsein-Geschichte. »Jojo, wir müssen unbedingt shoppen gehen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Okay, in zwei Stunden im Shoppingcenter.« Mit diesen Worten wehte sie wieder genauso stürmisch hinaus, wie sie hereingekommen war.

Manchmal könnte man sich fragen, ob das wirklich alles stattgefunden hatte. Aber wenn man Lucilla lange genug kannte, war die Antwort eindeutig ja.

Vermutlich saß sie jetzt erst mal noch über einschlägigen Zeitschriften, um sicherzustellen, dass sie auch genau die richtige Garderobe auswählte. Später würde sie mir dann erzählen, welcher Star wann und wie lange von seinem Freund getrennt war, wie sehr er oder sie gelitten hatte und was wer jeweils dagegen getan hatte. Und natürlich, was sie dabei getragen hatten.

Jetzt seufzte ich. Da ging gerade mein Nachmittag dahin. Aber hey, wenn es Lucilla half! Wofür hatte man schließlich eine beste Freundin!

Ich wählte wieder Tims Nummer, um mein Telefonat mit ihm fortzusetzen.

Mit Lucilla shoppen zu gehen war wieder mal ein echtes Überlebenstraining. Eigentlich sollte man sich einen Stuhl und Proviant mitnehmen, weil Lucilla sich nicht so leicht entscheiden kann. Von den Farben her hatte ich ja etwas Schwarzes oder zumindest etwas Dunkles erwartet, aber zurzeit scheint man in Hollywood bei zeitlichen Trennungen helle und bunte Farben zu tragen. Also kaufte Lucilla das, was sie immer kaufte. Heute allerdings mit etwas anderen Begründungen.

»Das erinnert mich an mein Picknick mit Valentin auf der Blumenwiese«, erklärte sie, als sie ein geblümtes Top hochhielt. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie süß es da war.«

Ich konnte es mir nicht nur vorstellen, sondern sogar nachspielen, so oft hatte sie es mir erzählt.

Als Nächstes hatte sie einen hellblauen Pullover in den Händen. »Der erinnert mich daran, als wir zusammen schwimmen waren. Das ist genau das Blau der Schwimmbadkacheln«, erläuterte sie mir.

Wow, das war wirklich Lucilla, wie sie leibt und lebt! Nur sie schafft es, hellblauen Schwimmbadkacheln etwas Romantisches abzugewinnen.

Ich stopfte den schwarzen Sweater, den ich für passend hielt, wieder ins Regal und ließ mich mit weiteren Farbkombinationen und damit verbundenen romantischen Geschichten überraschen. Zum Schluss entschied sich Lucilla für den Schwimmbadkacheln-Pullover, das pistaziengrüne Shirt, das sie daran erinnerte, dass Valentin ihr immer einen Pistazienshake bestellte, weil der doch so gut zu ihren Augen passte, und einen Rock in der Farbe von Valentins Haaren. Eines musste man Lucilla wirklich lassen: Sie hatte Fantasie!

Ich war also ziemlich erledigt, als ich wieder nach Hause kam.

Meine Familie befand sich gerade in der Küche beim Abendbrot, als ich eintraf. Oskar, der Freund und inzwischen auch Ehemann meiner Mutter, hatte gekocht. Ein echter Grund, sich hinzusetzen und zu essen. Oskar war wirklich das Beste, was meiner Schwester Flippi und mir passieren konnte. Er rettete nicht nur unsere Mägen vor den Kochversuchen unserer Mutter, sondern stand uns auch immer bei ihren verzweifelten Erziehungsversuchen bei, wenn sie mal wieder zu viele Ratgeber über den richtigen Umgang mit den eigenen Kindern gelesen hatte.

»Sorry, aber das Dramashopping mit Lucilla hat länger gedauert«, entschuldigte ich mich, während Oskar mir einen Teller mit leckerem Gemüseeintopf hinstellte.

»Ist was passiert?«, fragte meine Mutter sofort alarmiert.

»Ach wo!« Ich winkte ab. »Nur der Schüleraustausch, und weil sie Valentin doch dann nicht sehen kann. Deshalb musste sie sich etwas Passendes zum Leiden kaufen.«

»Ach ja, der Schüleraustausch!« Meine Mutter machte ein betroffenes Gesicht. »Ist der denn schon?«

Na toll, meine liebende Mutter hatte wieder mal keinen Schimmer! Interessierte sich denn hier niemand für mich?!

»Ja, nächste Woche«, nickte Oskar, wofür ich ihm einen dankbaren Blick schenkte.

Flippi horchte auf. »Darfst du da auch mit?«

»Wieso sollte ich denn nicht?«, bellte ich durch das Gemüse hindurch.

Flippi machte eine fragende Geste und verdrehte die Augen. »Du darfst ja noch nicht mal in Eiscafés und Einkaufszentren. Da ist ja wohl die Frage durchaus berechtigt, ob sich jemand traut, dich mehrere Tage ins Ausland mitzunehmen.«

Autsch, das war ein wunder Punkt! Ich hatte tatsächlich immer mal wieder in Geschäften, Restaurants, Bibliotheken und Cafés Hausverbot, weil mir da irgendwas Blödes passiert war. Dabei konnte ich so gut wie nie was dafür. Das Chaos war einfach schneller als ich.

Ich versuchte Flippi mit einem Blick zu erdolchen.

»Also was jetzt?«, wollte sie wissen und klang schon ein wenig ungeduldig. »Darfst du oder darfst du nicht?«

»Darfst du?«, fragte jetzt tatsächlich auch noch meine Mutter.

»Natürlich darf ich!«, antwortete ich empört.

»Okay, ich nehme dann so lange dein Zimmer. Meine Schneckenfarm braucht dringend ’ne Filiale«, verkündete Flippi.

»Nein!«, brüllte ich. »Mam, das kommt überhaupt nicht infrage. Sie betritt mein Zimmer nicht, wenn ich nicht da bin!«

»Hey, schon mal was von teilen gehört?«, fragte Flippi und zog eine Augenbraue hoch.

»Schon mal was von einer Verschickung zur Fremdenlegion gehört?«, knurrte ich.

Flippi zog die zweite Augenbraue hoch.

»Und du?«, fragte Oskar und sah mich verständnisvoll an.

»Was?!« Ich guckte verdattert.

»Beim Dramashopping, meine ich«, erklärte er. »Was hast du dir gekauft?«

»Oh, nur ein paar Lakritzschnecken.« Bitterböser Blick von Flippi und ich korrigierte sofort: »Lakritzkabelrollen.« Flippi hatte nämlich jüngst verkündet, dass es eine Verunglimpfung von Schnecken sei, eine Süßigkeit nach ihnen zu benennen.

Flippi nickte zufrieden, hielt mir ihre offene Hand hin und meinte: »Womit wir wieder beim Teilen wären.«

»Schon aufgegessen, sorry«, sagte ich und streckte ihr ansatzweise die Zunge raus.

»Tut es dir nicht auch leid, dass du Tim nicht siehst?«, sprang Oskar schnell dazwischen.

Alle sahen mich an, selbst Flippi, allerdings nicht, ohne ein angeekeltes Gesicht aufzusetzen.

»Ähm … na ja …« Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Bei dem ganzen Drama, das Lucilla veranstaltet hat, war das irgendwie untergegangen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich Tim ja dann auch lange nicht sehen würde. »Bei Tim und mir ist das kein Problem, wir nehmen das ganz locker«, sagte ich schnell und bemüht lässig. Ich konnte jedoch einen leicht schrillen Unterton nicht vermeiden. »Echt, die paar Tage. Daraus machen wir doch kein Drama!« Schon wieder dieses Quieken. In mir baute sich Panik auf. Ich würde Tim zwölf Tage nicht sehen!

Ein dicker Kloß formte sich in meinem Hals, mir war der Appetit vergangen. Ich legte meinen Löffel hin.

»Alles in Ordnung?«, fragte Oskar.

»Ach, ich hab nur keinen Hunger mehr.«

»Aber es hat dir eben doch noch so gut geschmeckt.«

»Die Lakritzschn… äh …kabelrollen«, fiepte ich.

»Hättest du mal lieber geteilt!«, belehrte mich Flippi.

»Und genau deswegen sollst du vor dem Abendessen auch nichts Süßes essen«, brachte meine Mutter völlig unnötigerweise eine Regel aus ihren Erziehungsratgebern an.

Ich nickte nur schwach und zog mich auf mein Zimmer zurück. Dort schloss ich die Tür und lehnte mich dagegen. Ich versuchte tief durchzuatmen. Aber irgendwie gelang es mir nicht so richtig. Ich war total in Panik. Zwölf Tage getrennt von Tim! Wie sollte ich das nur überleben?! Wir hatten uns zwar nicht täglich gesehen, aber wir hätten es tun können. Und demnächst lagen so viele Kilometer zwischen uns. Ich würde nicht schlafen können und mich jede Nacht in den Schlaf weinen. Außerdem würde ich in allem und jedem Tims Gesicht sehen. O mein Gott! Es würde furchtbar werden! Ich hätte auch shoppen und mir eine Tim-Trennungs-Garderobe zulegen sollen. Vielleicht ein ketchupfarbenes Shirt, das mich daran erinnert hätte, wie Tim und ich an der Würstchenbude standen und er seinen Ketchup aus Versehen über den weißen Kittel des Mannes hinterm Tresen spritzte. Oder eine grasgrüne Hose. Die würde mich dann daran erinnern, wie ich mit Tim Händchen haltend durch den Park gelaufen bin. Dabei hatten wir eine Absperrung übersehen und waren auf den Rasen gefallen. Die Grasflecken auf unseren Hosen waren noch Monate später zu sehen.

Ich warf mich erst mal aufs Bett und heulte.

Dabei wurden mir zwei Dinge klar:

  1. Ich würde niemals zugeben, dass so eine Trennung ein Problem für mich ist.
  2. Ich konnte unmöglich auf den Schüleraustausch mitfahren!