The Lie She Never Told

Laura Labas

Für Papa,

erster Geschichtenerzähler

und großer Held!

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Prolog

Einunddreißig Monate zuvor

Ich saß auf der Eingangstreppe der Highschool von Grayne Village und blickte auf die Notizen in meinem Schoß, ohne sie zu lesen. In Mathe war ich, wie in vielen anderen Fächern auch, Klassenbeste, aber seit Emmas Verschwinden und meinem Unfall konnte ich mich auf nichts mehr konzentrieren.

Seufzend gab ich jeden Schein auf und packte meine Notizen zurück in die Tasche. Die Sonne blendete mich, als ich mich erhob und auf die Fußball spielenden Kinder im Hof hinabsah. Der Frühling war in vollem Gange und hätte mir ein Lächeln entlockt, wenn nicht dieses schwarze Loch in meiner Brust gewesen wäre.

»Hey, Faith, kann ich mal mit dir reden?« David tauchte neben mir auf. Anscheinend war auch er noch länger in der Schule geblieben, um sich auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten. Mir graute es jetzt schon davor.

»Klar.« Ich lächelte ihn freundlich an. Er war schließlich einer derjenigen, die mich normal behandelten und ohne Mitleid ansahen. »Was ist los?«

»Ich …«, begann er, aber bevor er fortfahren konnte, wurde unser beider Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt.

Drei Polizeiautos fuhren in rasender Geschwindigkeit von der Straße ab und aufs Schulgelände hinauf. Die spielenden Kinder sammelten eilig Ball und Taschen ein, um Platz zu machen, da die Wagen direkt vor der Treppe, vor David und mir, hielten. Das Blaulicht war eingeschaltet und verhieß ebenso wenig etwas Gutes wie Officer Magnallys selbstzufriedenes Lächeln, als sie aus dem zweiten Auto stieg.

Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig und ich glaubte fast, in einem meiner Albträume gefangen zu sein. Warum wachte ich nicht auf? Warum verfolgte mich Magnallys lachendes Gesicht?

David distanzierte sich ein Stück von mir, als Magnally mit ihrem Partner, einem durchtrainierten Mann mittleren Alters, an mich herantrat. Da ich größer war als sie, konnte sie nicht auf mich herabblicken, aber ihr gelang es trotzdem, mir allein mit dem Ausdruck in ihren Augen einen Schauder über den Rücken zu jagen.

»Faith Rochester, Sie sind hiermit wegen des Mordes an Emma Bridges festgenommen«, verkündete sie lautstark, sodass jeder Schüler, jede Schülerin und vor allem die Eltern auf dem Parkplatz sie hören konnten. Sie packte mich am Arm, zerrte mich herum und riss meine Handgelenke nach hinten, um die Handschellen anzubringen. »Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Anwalt hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt.«

In meinen Ohren rauschte es. Ich war unfähig, etwas zu sagen, geschweige denn mich zu wehren. Um mich herum verschwamm die Welt. Die entsetzten und verurteilenden Gesichter meiner Mitmenschen vermischten sich mit Davids Rufen, dass ein Fehler vorliegen müsse, zu einem Meer aus Unwirklichkeit und Lügen.

Ich konnte nicht glauben, dass ausgerechnet mir so etwas zustieß.

»Ich bin unschuldig«, zwang ich mich dann doch zu sagen.

»Das sagt jeder«, grunzte Magnallys Partner, während er mich die Treppen hinunterzog und auf eines der Polizeiautos zusteuerte.

»Endlich wirst du deine gerechte Strafe erhalten«, zischte Magnally so leise hinter mir, dass ich nicht glaubte, jemand anderes würde sie hören. Diese Worte waren allein für mich bestimmt.

Tränen schossen in meine Augen.

Ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen als das hier.

Als die tuschelnden Eltern zu sehen, die ihre Kinder vor mir versteckten. Als die verurteilenden Blicke der Lehrer, die nichts taten, während ich ins Auto verfrachtet wurde.

Als festgenommen zu werden.


Wie sehr sollte ich mich täuschen.

Kapitel 1

Ich sah aus dem Zugfenster und nahm den Anblick der schneebedeckten Hügel und der in den Himmel ragenden Tannen in mich auf. Es gab nicht viel, das meine Aufmerksamkeit derart gefangen nehmen konnte, aber die Landschaft meiner Heimat vermochte es auch nach fast drei Jahren meiner Abwesenheit. Chicago, die Stadt, in der ich mir ein neues Leben aufgebaut hatte, war groß, magisch und beeindruckend. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken und ich fühlte mich nie von ihr gelangweilt. Trotzdem rief sie nicht die gleiche Faszination hervor, die nun wie Blut durch meinen Körper rauschte.

Die Zugdurchsage weckte mich aus meiner stillen Bewunderung. Ich sammelte seufzend meine Habseligkeiten zusammen und versuchte, den Fahrgast, der mir im Vierer gegenübersaß, nicht aufzuwecken. Sein Schlaf musste tief und fest sein, da er bisher nicht vom ständigen Husten seiner Sitznachbarin geweckt worden war. Dennoch gab ich mir Mühe, besonders leise zu sein.

Ich wickelte den selbst gestrickten Schal um meinen Hals, zog meinen Parka an und legte dann den Riemen meiner Handtasche über die Schulter. Eine Entschuldigung auf den Lippen, drängte ich mich an den ausgestreckten Beinen des Mannes vorbei und klammerte mich an einem Griff fest, als die Bremsen anschlugen. Beinahe wäre ich durch den Gang nach vorne katapultiert worden – und wäre das nicht eine hervorragende Art und Weise gewesen, in meine Heimatstadt Grayne Village zurückzukehren? Mit einer Platzwunde auf der Stirn und am besten noch einer gebrochenen Nase, damit ich dem Bild der grausamen Mörderin auch gerecht wurde, das die Stadtbewohner zweifellos von mir besaßen.

Mit meinen ein Meter zweiundsiebzig war ich nicht gerade klein, trotzdem musste ich mich auf Zehenspitzen stellen, um meinen Koffer von der Gepäckablage zu ziehen. Während der Fahrt war er weiter nach hinten gerutscht. Nach ein paar Sekunden bekamen meine Finger endlich das Schild zu fassen, auf dem mein Name stand – Faith Rochester. Danach gelang es mir, den Koffer neben mir in den Gang zu stellen.

Der Zug blieb endlich stehen, sodass ich problemlos hinter einer geschäftig wirkenden Frau mit kurzen Haaren und in einem viel zu großen Mantel zum Ausgang gehen konnte. Den braunen Lederimitatkoffer zerrte ich dabei unsanft hinter mir her, während ich durchgehend Entschuldigungen murmelte, als ich damit mehrmals einen ausgestreckten Fuß erfasste.

Konnten die Leute sich denn nicht kleiner machen? Sie waren nicht die einzigen Menschen, die in diesem Abteil saßen, Herrgott noch mal!

Ich begab mich schnellstmöglich vom Bahngleis, um mir noch vor den anderen Reisenden ein Taxi zu sichern. Grayne Village teilte sich den Bahnhof mit den benachbarten Städten Rosin und Kensington, weshalb sich hier mehr Menschen aufhielten, als es die Einwohnerzahl von Grayne Village gerechtfertigt hätte.

Da ich den Kopf gesenkt hielt, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, stieß ich mit der Schulter gegen eine breite Litfaßsäule, die wirklich nicht zu übersehen war. Seit Jahren war mir so etwas Peinliches nicht mehr passiert. In Chicago hieß es: friss oder stirb. Wenn man dort unaufmerksam war, lebte man bei dem Verkehr nicht lange.

Offensichtlich stieg in mir gerade wieder mein siebzehnjähriges Ich hoch. Oder die Furcht vor dieser verfluchten Stadt holte mich endlich ein.

Es war vorhersehbar gewesen. Ich hatte gewusst, dass meine Entscheidung, zurückzukehren, Konsequenzen nach sich ziehen würde. Nur war mir nicht klar gewesen, dass ich selbst diese Konsequenz sein würde.

»Verfluchter Mist«, murmelte ich und rieb meine schmerzende Schulter. Ich sollte mich besser zusammenreißen, sonst würde ich diesen Bahnhof vermutlich nie mehr verlassen, was – seien wir ehrlich – im Interesse von ganz Grayne Village gewesen wäre. Abgesehen von meinem Dad freute sich niemand über meine Ankunft. Ganz im Gegenteil.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?«

Ein Mann mittleren Alters sah mich freundlich an und wartete geduldig darauf, dass ich mich sammelte.

Ich begegnete seinem Blick mit einem kläglichen Lächeln. Gott, es gelang mir kaum, meine Mundwinkel anzuheben. Er hielt mich vermutlich für die schlecht gelaunteste Person, die jemals an diesem Bahnhof angekommen war.

»Danke, ich habe mich bloß gestoßen. Alles okay«, beschwichtigte ich ihn und hoffte, dass er nicht weiter den Samariter spielte. Dann müsste ich ihn nämlich vor den Kopf stoßen, was das Letzte war, was ich diesem netten Mann antun wollte. Aber ich brauchte Ruhe, um nachzudenken, bevor ich mich in die Hölle von Grayne Village begab.

Verfluchter Mist, wiederholte ich gedanklich, auch wenn es mir auf der Zunge lag.

Der Mann nickte mir noch einmal zu, ehe er sich abwandte und seinen Hut wieder aufsetzte. Das war wohl das letzte Mal, dass mir jemand mit Freundlichkeit begegnete. Für sehr lange Zeit.

Nur so lange, wie du brauchst, um das Geheimnis zu lüften.

Kopfschüttelnd riss ich mich zusammen und begab mich aus dem Bahnhof, dessen Fassade aus weißem Kalkstein bestand. In der Mitte ragte ein Turm in die Höhe und eine Uhr schlug gerade zur vierten Stunde. Allmählich ging die Sonne unter, doch ich wollte noch vor Einbruch der Dunkelheit das Haus meines Dads erreichen. Ich war mir nicht sicher, wann er sich von der Arbeit loseiste, aber ich wollte ihn überraschen.

Und wie überrascht er sein würde.

»Sind Sie noch frei?« Ich hatte die Fahrertür eines Taxis geöffnet und blickte nun ins abgedunkelte Innere. Der Fahrer rauchte gerade eine Pfeife.

»Hüpf rein«, forderte er mich auf, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

Ich zögerte einen kurzen Moment, bevor ich meine Zweifel über Bord warf. Was sollte schon passieren? Er würde sich wohl kaum gerade diesen Tag aussuchen, um mit mir in den Graben zu schlittern. Auch wenn der Schnee an diesem Tag die Wahrscheinlichkeit dessen um ein Vielfaches erhöhte.

»Kommen Sie oder machen Sie die Tür zu. Ich frier mir den Arsch ab, Miss.« Er nahm die Pfeife raus und schnalzte mit der Zunge. Warum beschwerte er sich eigentlich? Schließlich war ich diejenige, die von oben bis unten mit Schneeflocken vollgepudert wurde.

Trotzdem ließ ich mich nicht noch einmal bitten, verfrachtete mein Gepäck in den Kofferraum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Hinten wurde mir grundsätzlich übel und ich erinnerte mich noch zu gut an die gewundenen Straßen von hier bis ins Zentrum von Grayne Village.

»Nach Grayne Village bitte«, sagte ich gerade laut genug über die Bruce-Springsteen-Musik hinweg, damit er mich verstehen konnte.

»Wird gemacht.« Er löschte die Pfeife, steckte sie sich aber trotzdem wieder in den Mundwinkel. Ich nahm an, dass er damit höflich sein wollte, und so bedankte ich mich mit einem zaghaften Lächeln.

Oje, das sollte ich wirklich noch einmal im Spiegel üben. Kein Wunder, dass sich Susan bei unserem ersten Treffen vor mir gefürchtet hatte. Susan war meine beste Freundin und dazu noch meine Anwältin. Ich wusste, ich hätte mich von ihr in den Kurs Wie man erfolgreich soziale Kontakte knüpft einschreiben lassen sollen. Vielleicht hätte dann zumindest die geringe Chance bestanden, nicht mit Heugabeln wieder aus Grayne Village verscheucht zu werden. Eine geringe Chance wäre besser als gar keine.

Ich ließ mich tiefer in den Sitz sinken und richtete den Blick nach draußen in den aufkommenden Schneesturm.

Wer auch immer zuhört, etwas Unterstützung wäre nicht schlecht.

Niemand antwortete.

Natürlich nicht.

Während der Fahrt hielt ich meinen Blick geradeaus gerichtet, um mich innerlich auf die Konfrontation mit meinem Dad und der Stadt vorzubereiten, die ich damals mitten in der Nacht verlassen hatte. Seitdem war ich nicht zurückgekehrt. Mein Dad hatte meine Entscheidung trotz seiner Enttäuschung unterstützt und mich so oft wie möglich besucht. Er war der beste Dad, den man sich vorstellen konnte, aber manchmal reichte selbst das nicht aus.

»Sind Sie über die Feiertage in Grayne Village?«, erkundigte sich der Taxifahrer, der endlich die Pfeife abgelegt hatte. Ich spürte seinen Blick auf mir und betete, dass er sich einfach nur auf die rutschige Straße konzentrieren würde. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Vielleicht besaß ich eine neurotische Ader, aber war es denn zu viel verlangt, dass sich der Fahrer nicht ablenken ließ? Ich wollte nicht zu den traurigen Geschichten in der Zeitung gehören, in denen davon berichtet wird, wie eine Zwanzigjährige bei einem tragischen Unfall nahe Grayne Village ums Leben gekommen war.

»Vorerst«, antwortete ich daher knapp.

Joan Jett löste Bruce Springsteen ab. Der Fahrer drehte die Lautstärke auf und tippte mit den Fingern im Takt der Musik auf sein Lenkrad. Ich schloss für einen Moment die Augen.

Es gab keinen Grund, so nervös zu sein.

Okay, keinen Grund, jetzt schon so nervös zu sein.

Das Taxi würde mich direkt vor meiner Haustür rauslassen. Niemand würde mich sehen. Ich könnte erst meinen Dad überraschen, mich von ihm in den Arm nehmen lassen und durchatmen, ehe ich mich um den Grund meines Besuchs kümmerte.

»Eine sehr schöne Stadt, Grayne Village«, sagte der Fahrer gerade, als wir das Stadtschild passierten. Links und rechts säumten hochgewachsene Tannen die Straße, die aber schon bald den ersten Einfamilienhäusern wichen.

Ich blickte von den gelben Linien auf der Straße zu den frei geschaufelten Bordsteinen, auf denen schon jetzt wieder eine weiße Schicht lag. In Chicago war Schnee wegen des zuständigen Hausmeisters nie ein Problem für mich gewesen. Erst jetzt erinnerte ich mich wieder daran, wie viele Stunden im Jahr ich früher damit verbracht hatte, den Weg vor unserem Haus freizuräumen. Aufgrund der Arbeitszeiten meines Dads war diese Aufgabe an mir hängen geblieben.

Seit Moms Flucht aus der Stadt war viel an mir hängen geblieben.

»Kann schon sein«, murmelte ich unbestimmt, als ich bemerkte, dass er direkt auf die kleine, aber gut besuchte Einkaufsstraße zusteuerte. Alarmiert richtete ich mich auf und blickte zurück zur Kreuzung, an der wir nicht abgebogen waren. »Warum fahren Sie hier lang? Es wäre kürzer gewesen, wenn wir uns links gehalten hätten.«

»Ich dachte mir, Sie würden vielleicht die Weihnachtsbeleuchtung bewundern wollen. Bürgermeister Hallersmith hat sich dieses Mal wieder selbst übertroffen. Im Umkreis von mehreren Meilen redet man nur noch über die Beleuchtung«, erklärte der Fahrer, ohne meine ansteigende Panik zu bemerken.

»Weihnachtsbeleuchtung?«, echote ich atemlos und blickte mich hektisch um. Die Abenddämmerung musste bereits eingesetzt haben, doch da sich der Himmel zugezogen hatte, ließ sich das schwer bestimmen. Trotzdem leuchteten schon einige Lichterketten an den Häusern, Laternen und Bäumen, die die Straße säumten.

»Ich gebe zu, vielleicht sollten Sie es sich noch einmal bei Nacht ansehen.« Der Taxifahrer schmunzelte.

Wir erreichten die Einkaufsstraße und ich konnte mich selbst nicht davon abhalten, nach draußen zu sehen. Ich bemerkte sowohl neue als auch alte Geschäfte. Das Kino, das nur einen Film pro Woche zeigte, die Bibliothek und die Buchhandlung, einen neuen Friseursalon und der altbekannte Supermarkt. Es waren viele Leute auf der Straße, die sich nicht vom Schnee stören ließen. Manche von ihnen trugen dampfende Pappbecher in den Händen. Also musste es auch ein neues Café geben …

Ich wollte meinen Blick gerade senken und nur noch die Hände in meinem Schoß betrachten, als unmittelbar vor uns ein Mann auf der Fahrerseite aus seinem schwarzen Jeep ausstieg. Da er das Taxi gesehen oder gehört haben musste, schloss er eilig die Tür und presste sich rücklings an sein Auto, um uns vorbeizulassen.

Das war der Moment, in dem sich unsere Blicke trafen.

Meiner und der von Liam Bridges.

Liam Bridges.

Verdammte Scheiße!

Als er mich erkannte, riss er seine Augen auf, dann war das Taxi vorbei. Mein Herz schlug heftig gegen meinen Brustkorb und meine Handflächen wurden feucht. Ich blickte über den Seitenspiegel zurück und sah, dass Liam wieder in seinen Jeep gestiegen war. Furcht ergriff mich und verhinderte für mehrere Sekunden, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Fahren Sie bitte schneller. Ich muss zur Toilette. Dringend«, log ich, da ich hoffte, so eine Reaktion bei dem Fahrer hervorzurufen. Er wollte bestimmt nicht, dass ich mich auf seinem Sitz erleichterte.

»Natürlich, Miss«, antwortete er prompt und drückte aufs Gas.

Ich nahm die Lichter im Vorbeifahren nicht mehr wahr, blickte immerzu in den Seitenspiegel und hoffte jedes Mal aufs Neue, dass uns der Jeep doch nicht folgte. Noch befanden sich zwei andere Autos zwischen uns. Das war gut. Dadurch bekäme ich Zeit. Wenn ich nur schnell genug ausstieg und mein Gepäck aus dem Kofferraum holte, würde ich es vielleicht in mein Haus schaffen, bevor mich Liam Bridges erreichte.

Emmas Bruder. OGottoGottoGott.

»Wie viel schulde ich Ihnen?« Ich kramte bereits in der Handtasche nach meinem Geldbeutel und gab dem Fahrer anschließend den genannten Preis plus ein ordentliches Trinkgeld, da ich nicht auf das Wechselgeld warten wollte. Außerdem konnte ich es mir heutzutage leisten, etwas mehr zu geben. Früher hatte ich jeden Penny umdrehen müssen …

»Da ist es«, rief ich und zitterte beinahe vor Erleichterung, als ich das unscheinbare Holzhaus am Ende der Straße erkannte. Hier standen die Häuser weiter voneinander entfernt als im Zentrum der Stadt, sodass wohl niemand meine Schreie hören würde, sollte ich von Liam angegriffen werden. Vielleicht sollte ich den Taxifahrer doch besser aufhalten?

Nein, meine beste Chance war noch immer, schnell im Haus zu verschwinden.

Das Taxi hielt direkt vor den Treppenstufen der Veranda. Noch gab es einen geringen Vorsprung zum Jeep, also sprang ich aus dem Auto, rannte durch den Schnee zum Kofferraum und zerrte meine Tasche daraus hervor. Der Fahrer winkte mir noch einmal zu, aber ich war zu sehr auf die rettende Eingangstür fokussiert, um die Geste zu erwidern.

Meine Sohlen berührten gerade den Holzfußboden der Veranda, als ich das Geräusch von schlitternden Reifen und einer sich öffnenden Tür vernahm.

»Was zur Hölle hast du hier zu suchen, Faith Rochester?«, knurrte er mit so tiefer Stimme, dass ich ihn fast nicht verstand. Ich drehte mich nicht um, blickte stur auf die Tür und überlegte, ob ich es schaffen würde, sie aufzuschließen, bevor er mich erreichte. »Denk nicht mal darüber nach.«

Ich biss mir fest auf die Unterlippe, bevor ich einen Entschluss fasste. Obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug, legte ich die Taschen ab und drehte mich ganz langsam um.

Das Taxi war verschwunden und an seiner Stelle parkte der riesige Jeep. Vor ihm stand Liam in einem dunkelblauen Parka und einer grauen Wollmütze auf dem Kopf, die sein dunkelblondes Haar verdeckte. Ich wusste auch noch nach so langer Zeit, wie sich dieses Haar anfühlte; wie es aussah. In seinen blauen Augen spiegelte sich das Schneegestöber wider und seine Hände ballte er zu Fäusten, als würde er den Sturm in sich zurückhalten müssen. Er war vier Jahre älter als ich, würde in wenigen Monaten also vierundzwanzig werden. Heute sah er jedoch viel älter und ernster aus. Seinen Mund presste er zu einer schmalen Linie zusammen, aber ich bildete mir ein, dennoch die feine Narbe auf seiner Oberlippe zu sehen. Er hatte sie sich zugezogen, als er mit neun Jahren vom Fahrrad gefallen war. Es gab fast nichts, dass ich nicht über ihn wusste. Mega erbärmlich.

»Was willst du von mir?« Ich war stolz auf mich. Meine Stimme zitterte nicht so sehr wie erwartet.

Liam hatte die Zeit unseres Schweigens ebenso dazu genutzt, um mich von oben bis unten zu mustern. Als Antwort verzog er das mit der Zeit noch attraktiver gewordene Gesicht zu einer angewiderten Maske.

Wow. Das tut meinem Selbstbewusstsein richtig gut.

»Ich will wissen, was du hier machst.« Er presste jedes Wort durch seine zusammengebissenen Zähne, als wäre es schon bald mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Ich musste mich dazu zwingen, keinen Schritt zurückzuweichen, als er sich mir näherte, bis er beinahe direkt vor mir stand. Nur die drei Stufen der Holztreppe trennten uns voneinander. »Deinetwegen ist meine Schwester … Du wagst es, einfach so zurückzukehren? Was fällt dir ein?«

Ja, was fiel mir eigentlich ein?

Kapitel 2

Ich besuche meinen Dad«, erklärte ich möglichst ruhig und stopfte die Hände in meine Jackentaschen. »Hast du ein Problem damit?«

Natürlich, warum sonst ist er mir gefolgt?

»Als du vor drei Jahren abgehauen bist, hast du die beste Entscheidung deines Lebens getroffen.« Liam zeigte mit einem Finger auf mich. »Du hättest nicht zurückkommen sollen.«

Etwas verschob sich in mir. Ein Gedanke, ein Gefühl – ich konnte es nicht genau benennen, aber die Wut in mir wuchs. Ich hatte es satt, dass mir nicht einmal eine Minute der Ruhe vergönnt war. Ich hatte es satt, dass er mich ansah, als wäre ich das personifizierte Böse.

»Aber du hast das nicht zu entscheiden, Bridges«, fauchte ich und trat eine Stufe tiefer, sodass unsere Augen fast auf einer Höhe waren. Mit einem Finger stieß ich gegen seine Brust. »Nur weil du denkst, dass ich Emma etwas angetan habe, heißt das nicht, dass es stimmt. Falls du es vergessen hast, ich bin freigesprochen worden.«

»Nur weil es zu wenige Beweise gab.« Eine Schneeflocke verfing sich in seinen Wimpern, bloß um sofort zu schmelzen. Er blinzelte.

»Ist dir überhaupt ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass ich nichts mit ihrem Verschwinden zu tun habe? Dass ihr Verlust mich genauso schwer getroffen hat wie euch? Und ihr mir nicht eine Sekunde erlaubt habt, zu trauern?«

Etwas in seiner Mimik veränderte sich, aber ich wandte mich bereits ab. Ich wollte ihn nicht mehr ansehen. Ertrug es nicht. »Wenn du mich in Frieden lässt, lasse ich dich auch in Ruhe. Schönen Tag noch.«

Ich hob meine Tasche auf und kramte meinen Schlüssel raus. Mit zittrigen Fingern steckte ich ihn in das Schloss, während ich auf das Geräusch des Jeeps lauschte. Liam machte sich jedoch erst auf den Weg, als ich die Tür hinter mir zuschlug.

Mit pochendem Herzen verriegelte ich die Tür und lehnte mich atemlos gegen das Holz. Der Motor wurde gestartet, jaulte auf, Schnee knirschte. Die Fahrgeräusche wurden leiser, bis sie gänzlich verklangen. Erst dann erlaubte ich mir, mich zu entspannen.

Ich leckte mir über die Lippen, bevor ich den Mut fasste, mich von der Tür zu lösen. Der Flur lag dunkel und staubig vor mir. Obwohl mein Dad Hausmeister in der hiesigen Highschool war, hatte er noch nie viel davon gehalten, in seinem Zuhause genauso viel Ordnung zu halten wie auf seiner Arbeit. Trotzdem war ich überrascht, wie verschmutzt es hier war.

Meine Taschen ließ ich auf dem Boden liegen, als ich durch den Flur links in die Küche abbog. Ohne darüber nachzudenken, betätigte ich den Lichtschalter, doch es blieb düster. Verwirrt versuchte ich es ein weiteres Mal, aber es tat sich nichts. Anscheinend war die Glühbirne durchgebrannt. Vielleicht gerade erst heute Morgen und mein Dad hatte noch keine Zeit gehabt, sie zu wechseln.

Ich suchte in der Abstellkammer nach einer Ersatzbirne, aber da ich keine fand, begnügte ich mich mit dem Flurlicht. Ausgelaugt setzte ich mich an den Küchentisch und vergrub mein Gesicht in den Händen.

Meine Ankunft löste sofort eine Katastrophe aus. Liam berichtete mittlerweile sicherlich der ganzen Stadt von meiner Rückkehr und jeder wartete früher oder später auf seine Chance, mir den bösesten Blick zuzuwerfen.

War es wirklich richtig gewesen, zurückzukehren?

Ich zog den Parka aus, warf ihn über den Stuhl und holte aus meiner Hosentasche einen drei Jahre alten Zeitungsausschnitt hervor. Er war vom vielen Auseinanderfalten zerknittert und eingerissen, dennoch konnte ich das abgebildete Foto noch immer deutlich erkennen. Der Mann im Vordergrund, der seinen preisgekrönten Kürbis in die Kamera hielt, und die Menschen im Hintergrund, die sich in der Herbstsonne badeten. Einer von ihnen war ein Mädchen, dessen Blick direkt auf die Linse gerichtet war, als wäre es nicht fähig, sich von ihr zu lösen.

Ein Mädchen, das aussah wie Emma Bridges. Meine beste Freundin.

Das Mädchen, das ich angeblich vor drei Jahren getötet haben sollte, ohne mich daran zu erinnern. Das Mädchen, das vor seinem Tod … vor seinem Verschwinden niemals woanders gewesen war als im Staat New York und erst recht nicht in einer Kleinstadt in Idaho. Mitten im Nirgendwo.

Das Foto sollte nicht möglich sein, da es zwei Monate nach Emmas Verschwinden aufgenommen worden war. Einen Monat, nachdem man mich wegen Mordes angeklagt hatte.

Unmöglich und doch …

Ich blickte von meinen Händen auf, als ich meinen Dad ins Haus stapfen hörte. Für einen Moment zögerte ich und dachte darüber nach, mich nicht doch zu verstecken. Mein Dad nahm mir die Entscheidung ab, indem er sofort mit schweren Schritten in die Küche trat.

Ich erhob mich von dem Stuhl und blinzelte gegen das Licht aus dem Flur. Dad war schon immer ein großer, kräftiger Mann gewesen, das hatte sich auch mit den Jahren nicht geändert. Seine breiten Schultern berührten fast den Türrahmen, als er bei meinem Anblick stehen blieb. Das Blau seiner Augen wirkte in dem fahlen Licht beinahe schwarz. Es fiel mir schwer, den Ausdruck in seinem Gesicht zu lesen und so wartete ich unentschlossen darauf, dass er den ersten Schritt tat.

»Es stimmt also. Du bist zurück«, sagte er schließlich, bevor er eine Hand hob. »Wieso?«

Nicht ganz die Begrüßung, die ich mir erhofft hatte.

»Es gibt ein paar Gründe«, antwortete ich unbestimmt und zwang mich zu einem Lächeln. »Freust du dich nicht?«

Er sah mich lange an. »Du hättest nicht zurückkommen sollen, Faith.«

»Dad.« Ein Wort, das so viele Gefühle in sich schloss. Ich kämpfte mit den Tränen. Wieso freute sich nicht einmal mein eigener Dad, mich wiederzusehen?

Er war das letzte Mal vor einem halben Jahr in Chicago gewesen, um mich zu besuchen, und dort war noch alles in Ordnung gewesen. Wie immer waren wir durch den Millennium Park spaziert, hatten die Enten gefüttert und ich hatte ihn auf ein leckeres Abendessen eingeladen.

»Ach Faith«, murmelte er unglücklich.

Als er seine Arme ausbreitete, zögerte ich keine Sekunde und suchte Geborgenheit dort, wo ich sie schon immer gefunden hatte. Er küsste mich auf die Stirn, während ich den altbekannten Geruch seines Eau de Cologne einatmete. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich ihn vermisste. Ihn und dieses Haus, in dem ich mutterlos und trotz Geldproblemen recht glücklich aufgewachsen war.

Als er mich schließlich losließ, strich er sich durch sein struppiges braunes Haar, das bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Er trat an mir vorbei und begann, einige Kerzen zu entzünden, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte.

»Kam noch nicht dazu, die Glühbirne auszuwechseln«, murmelte er, obwohl ich keine Andeutung dahingehend machte. »In letzter Zeit kann ich mich nach der Arbeit kaum noch zu etwas aufraffen.«

Mein Herz zog sich bei diesen Worten zusammen, aber noch mehr schmerzte die Abneigung in seiner Stimme und sein offensichtlicher Widerwille, mich anzusehen.

»Warum willst du mich nicht hierhaben?« Ich setzte mich zurück auf den Stuhl und beobachtete meinen Dad, bis er sich ebenfalls niederließ. Das Holz knarzte unter seinem Gewicht.

»Du weißt wieso.« Er legte seine Hände auf die Tischplatte, faltete sie zu Fäusten und legte sie aneinander. Raue Knöchel an raue Knöchel.

»Nur weil die Leute reden werden?« Ich presste die Lippen aufeinander.

»Sie reden bereits. Liam hat jedem, der ihm begegnet ist, von deiner Rückkehr berichtet und niemand freut sich darüber.« Er schüttelte den Kopf. Wie er so dasaß, die Schultern nach innen gekrümmt, den Blick auf den Tisch gerichtet … Mitleid regte sich in mir. Mit dem Mann, der mich allein aufgezogen hatte; der zusehen musste, wie ich unter den Anschuldigungen der ganzen Stadt litt; der mich hatte gehen lassen, damit ich ein normales Leben führen konnte. Jahr für Jahr bat ich ihn, zu mir nach Chicago zu ziehen, doch jedes Mal antwortete er mir mit fadenscheinigen Ausreden. Jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, ob er nur meinetwegen geblieben war. Verteidigte er Tag um Tag meinen Ruf? Bot er den Bewohnern von Grayne Village die Stirn, weil er als Einziger an meine Unschuld glaubte?

»Es ist mir egal, was sie denken, Dad«, beschwichtigte ich ihn, obwohl ich mich dabei einer Lüge bedienen musste. »Und ich lasse mich nicht wieder aus der Stadt ekeln, nur weil sie glauben, die Wahrheit zu kennen.«

»Warum bist du hier, Faith?« Er rieb mit dem Daumen über meinen Wangenknochen. »Du hast dir in Chicago ein neues, tolles Leben aufgebaut. Bist glücklich dort.«

»Ich habe die Stadt vermisst.« Dieses Mal sagte ich sogar die Wahrheit. »Und es wird Zeit, dass ich mich der Vergangenheit stelle. Auf die eine oder andere Weise. Hast du Hunger?«

Er blinzelte, ganz offensichtlich verwirrt über meinen abrupten Themenwechsel.

»Ein bisschen. Ich weiß aber nicht, ob noch etwas Brauchbares da ist.«

»Lass mich nur machen.«

Während ich die letzten Lebensmittelreste aus den Schränken kramte, verließ mein Dad die Küche, um sich zu waschen. Ich spürte die Berührung noch an meiner Wange und es fiel mir schwer, nicht sofort in Tränen auszubrechen. Die Ankunft in Grayne Village und die Konfrontation mit Liam hatten mir mehr abverlangt, als ich zu geben bereit gewesen war. Vielleicht sollte ich den morgigen Tag nutzen, um mich auszuruhen und meine Kräfte für das Kommende zu sammeln.

Vollkommen in Gedanken versunken merkte ich nicht einmal mehr, dass die Küche nur durch ein paar Kerzen erhellt wurde. Meine Hände wussten genau, was sie tun sollten und wo was zu finden war. Ich bereitete uns Nudeln mit einer gemischten Soße zu, die aus Ketchup, Wurst und Gemüseresten bestand, die ich im Kühlschrank gefunden hatte. Der Geruch, der in meine Nase stieg, war gar nicht mal so übel und als mein Dad einen ganzen Teller in Rekordzeit verschlang, lehnte ich mich zufrieden zurück.

»Hast du noch Ersatzglühbirnen im Haus?«, fragte ich und griff nach dem schmutzigen Geschirr, um es in die Spüle zu stellen.

»Vielleicht in der Abstellkammer. Ich geh noch mal aus, Faith, schließ die Tür bitte ab, ja?« Er beugte sich zu mir und küsste meine Wange, bevor er seine gefütterte Jacke von der Stuhllehne nahm. Er hatte das Haus so schnell verlassen, dass ich nicht mal fragen konnte, wohin er so spät noch verschwinden musste.

Seufzend erledigte ich den Abwasch. Anschließend sah ich erneut in der Abstellkammer nach, aber abgesehen von Krimskrams, dem Staubsauger und einem Kehrblech war der Raum leer. Ich starrte eine Minute ins Nichts, ehe ich entschlossen nickte. Ganz egal, was aus meinem Besuch wurde, es war gut, dass ich zurückgekehrt war. Mein Dad brauchte eindeutig Hilfe und vielleicht auch einfach etwas Gesellschaft.

Nachdem ich das Türschloss überprüft hatte, suchte ich mein altes Zimmer auf. Es befand sich im ersten Stock und ging zur Rückseite hinaus. Ich erinnerte mich noch daran, wie ich Stunden damit verbracht hatte, die Holzdielen an den Wänden mit Lack zu bestreichen, damit sie schön glänzten, wenn ich die Lichterkette über meinem Bett anschaltete.

Fast drei Jahre waren vergangen, seit ich meinen Rucksack gepackt und die Tür hinter mir geschlossen hatte. Soweit ich wusste, betrat mein Dad das Zimmer danach nie wieder. Auch bat ich ihn nie, mir etwas von meinen Sachen zu schicken. Ich war mir sicher gewesen, mit meinem alten Leben abgeschlossen zu haben.

Wie sehr ich mich getäuscht hatte …

Vor der Tür mit dem Messingknauf atmete ich tief durch, dann nahm ich meinen Mut zusammen und ging hinein.

Abgestandene Luft kam mir fast wie eine undurchdringliche Wand entgegen und ich musste mehrmals husten, um nicht daran zu ersticken. Die Tür ließ ich geöffnet, als ich das Licht einschaltete und mich in meinem unveränderten Zimmer umsah. Die Holzpaneele an den Wänden, der kleine Heizofen unter der Dachschräge, das riesige Fenster, so breit wie mein Bett, das ihm gegenüber positioniert war, und der einfache Schreibtisch mit dem daran anschließenden Bücherregal.

Ich legte meine Taschen auf dem Bett ab, das ich noch neu würde beziehen müssen, und ging ans Fenster, um einen Blick nach draußen zu werfen. Da es jedoch schon dunkel war, sah ich nichts weiter als mein Spiegelbild. Seufzend nahm ich den Anblick meines verknoteten kupferroten Haares zum Anlass, es zu einem Zopf zu flechten.

Den restlichen Abend verbrachte ich damit, mein Zimmer zu säubern, das Bett zu machen und ein Bad zu nehmen. Irgendwann kehrte mein Dad von seinem Ausflug zurück und verabschiedete sich ins Bett. Ich wünschte ihm eine gute Nacht und ließ mich noch einmal von ihm in den Arm nehmen. Das war der erste Moment, in dem ich wirklich fühlte, dass er froh war, seine Tochter bei sich zu haben.

»Ich hab dich lieb, Faith«, sagte er leise, bevor er den Gang hinunter in sein eigenes Zimmer schritt.

»Ich dich auch«, flüsterte ich, ohne dass er es hören konnte. Erschöpft drehte ich mich um und legte mich in mein Bett. Es war Zeit, diesen Tag endgültig hinter mich zu bringen.

Kapitel 3

Der Schlaf wollte nicht kommen. Ganz egal, wie ich mich drehte und wie viele Schäfchen ich zählte, der Schlaf war Meilen entfernt. Irgendwann, als bereits weiße Eiskristalle an meiner Scheibe emporwuchsen, trat ich die Decke weg. Ich zog dicke Wollsocken an und legte mir eine Strickjacke um, da ich sonst in meinem Harry-Potter-Pyjama erfrieren würde.

Um meinen Dad nicht zu wecken, wanderte ich besonders leise durch das Haus. Ich zögerte nur einen Moment, bevor ich den Schlüssel seines dunkelblauen Chevys nahm. Es gab nur einen Ort, den ich sehen wollte.

In Chicago kam man ohne Auto gut zurecht, da man mit der Hochbahn und notfalls einem Taxi überall hinkam. Seit ich Grayne Village verlassen hatte, war ich also nicht mehr selbst gefahren, sodass mir die Angst davor Schweiß auf die Stirn trieb. Mein Dad würde mich umbringen, wenn ich seinen alten Pick-up gegen einen Baum fuhr.

Ich setzte mich ins Auto, startete den Motor und schaltete sofort die Heizung an, um mir nicht den Tod zu holen. Dann erst schnürte ich mir die Stiefel zu.

Nach zwei Versuchen gelang es mir, den Chevy Pick-up von der Einfahrt runterzufahren.

Da es in den letzten Stunden weiter geschneit hatte, waren die Straßen für meinen Geschmack ziemlich unsicher, aber das hielt mich nicht von meinem Vorhaben ab. Also begnügte ich mich damit, tief über das Lenkrad gebeugt und sehr langsam zu fahren.

Vielleicht war dies eine dumme Idee. Ganz sicher sogar, aber der innerliche Drang war übermächtig.

Entgegen meiner Befürchtung entspannte ich mich schon sehr bald, als ich mich an die verschiedenen Straßenkreuzungen erinnerte und daran dachte, wie oft ich diesen Weg bereits gefahren war. Es gab nichts, das mich überraschen würde.

Ich sah das Tanzen einzelner Flocken im Licht der Straßenlaternen, betrachtete die Weihnachtsbeleuchtung, von welcher der Taxifahrer so geschwärmt hatte, und bewertete innerlich die dekorierten Schaufenster der Einzelhändler – so wie Emma und ich es vor Weihnachten stets getan hatten.

Dann fuhr ich aus dem Zentrum auf die verlassene Straße, die zu dem Teil der Stadt führte, in dem die Wohlhabenden in ihren riesigen Häusern wohnten. In einem von ihnen hatte in jener verhängnisvollen Nacht eine Party stattgefunden und ich wollte Emma nach Hause fahren. Sie hatte einiges getrunken und sich gerade erst von ihrem Freund getrennt. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, sie auf dieser Party zurückzulassen. Aber nicht zum ersten Mal überlegte ich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich sie nicht mitgenommen hätte. Niemals wäre ich dann des Mordes beschuldigt worden. Niemand hätte mich vor Gericht gezerrt. Und sie würde vielleicht noch leben. Tut es vielleicht noch …

Hier wurde die gewundene Straße allein von den Scheinwerfern des Chevys erhellt, weshalb ich das Licht anließ, als ich aus dem Auto stieg. Nur eine Meile hinter dem letzten Wohngebäude war der Unfall passiert.

Lange Zeit verdrängte ich jeden Gedanken daran, aber seit ich das Foto besaß, kamen einzelne Erinnerungen zurück zu mir. Wie Lichtblitze schossen sie durch meinen Verstand und verlangten nach meiner Aufmerksamkeit. Auch jetzt jagte ein Bild das nächste und ein heftiger Kopfschmerz setzte sich hinter meiner Stirn fest. Ich blickte von links nach rechts. Erinnerungen über Erinnerungen. Konnte es sein, dass ich damals nicht wegen der Regennässe die Kontrolle verloren hatte, sondern weil … Licht. Ein Knall. Plötzlich sah ich etwas in meiner Erinnerung, das mir bisher verborgen geblieben war. Ein weiteres Paar Scheinwerfer …

Blinzelnd blickte ich die Straße herunter und schloss ganz langsam die Fahrertür. Was war damals geschehen? War mir ein Auto entgegengekommen? Waren wir frontal zusammengekracht?

Meine Sohlen knirschten auf dem Schnee, während ich mich langsam von dem Auto wegbewegte und zu dem Straßengraben schritt. Dahinter erstreckte sich ein quadratisches Stück Land, hinter dem sich der Fichtenwald anschloss. Der schwarze Cadillac, meine erste größere Investition, hatte sich mehrmals überschlagen und war dann im Graben stecken geblieben. Minuten oder Stunden später war ich mit stechenden Kopfschmerzen erwacht, aber Emma war verschwunden.

Ein Kreuz war in den Boden geschlagen, auf dem Emmas Name und Todesdatum geschrieben standen. Ein paar Kerzen leuchteten in der Nacht, als wäre erst am Abend zuvor jemand da gewesen, um sie zu entzünden.

Obwohl sich die Kälte bereits in meine Knochen biss, ging ich vor dem Kreuz in die Hocke und befreite das Holz von dem Schnee. Mein Herz wog schwer, wenn ich an meine beste Freundin zurückdachte. Es war ihre Gabe, mich mit ihrem Lachen zu berühren und aus jedem Tief herauszuziehen. Mit Emma an meiner Seite war weder meine Armut schlimm gewesen noch die Tatsache, dass meine Mom mich verlassen hatte.

»Ich vermisse dich, Ems«, murmelte ich. Mein Blick wanderte von dem Kreuz zum schneebedeckten Feld.

In jener Nacht kämpfte ich mich irgendwie aus dem Wrack und kletterte den Graben hoch, um Emma zu suchen. Immer wieder rief ich ihren Namen. Immer wieder stolperte ich, fiel hin und stand wieder auf.

Ich schaffte es bis in den Wald. Ihr Schal hatte sich an einem Ast verfangen und ich war mir sicher, dass sie lediglich verwirrt gewesen und deshalb fortgegangen war. Womöglich hatte sie an einer Gehirnerschütterung gelitten …

Irgendwann setzten mir jedoch Kälte und die schweren Verletzungen zu und ich verlor das Bewusstsein. Das Nächste, woran ich mich erinnerte, waren Stimmen. Viele Stimmen. Sie führten mich an einen Ort, der wärmer und heller war.

Danach hatte der wahre Albtraum erst begonnen.

Seufzend erhob ich mich und zog die Strickjacke enger um meine Mitte, als ein zweites Paar Scheinwerfer die Straße hinter mir erhellte.

Ich runzelte die Stirn, überlegte, wer zu so später Stunde noch unterwegs sein könnte, als ich die Art des Autos erkannte – einen Moment, bevor der Polizist das Blaulicht einschaltete.

Hervorragend. Genau das habe ich jetzt gebraucht.

Am liebsten wäre ich einfach in den Chevy gestiegen und davongefahren, wenn ich nicht genau wüsste, dass es mir nur weiteren Ärger einhandeln würde.

Der Polizist ließ sich Zeit mit dem Aussteigen, als ahnte er bereits, dass ich nicht weglaufen würde. Und warum auch? Ich hatte schließlich nichts Falsches getan.

Er trat um den Polizeiwagen herum und direkt auf mich zu. Ich verengte die Augen, um ihn besser sehen zu können. Er trug eine dunkle Mütze und die übliche Polizeiunform samt Jacke, sodass ich nicht viel von seiner Statur ausmachen konnte. Das Gesicht war jedoch das eines jungen Mannes. Jemand, der damals vielleicht noch kein Gesetzeshüter gewesen war.

»Miss«, begrüßte er mich, lächelte aber nicht.

»Guten Abend«, sagte ich ruhig und verfluchte innerlich mein klopfendes Herz. Kein Grund zur Sorge.

»Das ist Mr Rochesters Pick-up.« Er deutete mit einem Daumen über seine Schulter auf den Chevy. »Darf ich fragen, warum Sie damit unterwegs sind?«

Theoretisch konnte er nicht beweisen, dass ich ihn gefahren hatte, aber da ich keinen Streit anzetteln wollte, beschloss ich, bei der Wahrheit zu bleiben. Es war besser, diese Sache so schnell wie möglich zu klären und wieder nach Hause zurückzukehren.

»Ich bin seine Tochter. Faith Rochester.« Ich zwang mich zu einem freundlichen Lächeln. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister …?«

»Officer Thomsen«, antwortete er sofort, doch der argwöhnische Blick blieb. »Können Sie sich ausweisen?«

»Natürlich, ich muss nur …« Ich stockte. Dreifach verfluchter Mist. Ich hatte beim Verlassen des Hauses nicht daran gedacht, meine Handtasche mitzunehmen. Es war ja nicht so gewesen, als hätte ich damit rechnen müssen, um Mitternacht einem Polizisten zu begegnen. »Ich fürchte, dass ich vergessen habe, meine Tasche mitzunehmen.«

Officer Thomsen nickte einmal abrupt, als hätte er bereits damit gerechnet, bevor er eine Hand an seinen Gürtel legte.

»Dann bleibt mir leider keine andere Wahl, als Sie festzunehmen.«

»Was?«, rief ich aus, vollkommen perplex. »Das soll wohl ein Scherz sein! Wir können doch einfach meinen Dad anrufen und …«

»Tut mir leid, Miss Rochester. Heben Sie bitte die Hände hoch und drehen Sie sich um«, wies er mich mit gefühlskalter Stimme an. Das Herz rutschte mir in die Hose.

Ich hätte eindeutig im Bett bleiben sollen.

Ganz langsam gehorchte ich und zählte lautlos bis fünf, dann packte er meine Hände und zog sie nach hinten, wo er sie mit Handschellen fesselte.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.