Cover

Timon Krause

Kennen wir uns?

Eine Anleitung zur Menschenkenntnis

Campus Verlag

Frankfurt / New York

Über das Buch

Was die moderne Psychologie erst seit Kurzem entdeckt, wissen Mentalisten schon lange: Menschen sind vorhersehbar. Timon Krause nimmt dich mit auf eine Reise durch die geheimnisvolle Methodik des Cold Reading: die Kunst, scheinbar aus dem Nichts alles über dein Gegenüber zu wissen. Leicht verständlich erklärt er, wie man auf authentische Weise unmittelbares Vertrauen bei seinen Gesprächspartnern weckt. Auf dem Weg berichtet er von aberwitzigen, spannenden und manchmal gruseligen Ereignissen aus dem Leben als Mentalist. Mit Cold Reading öffnest auch du privat und beruflich mit Leichtigkeit neue Türen!

Vita

Timon Krause, Gedankenleser, Philosoph und Trainer für Menschenkenntnis, ist jüngster »Best European Mentalist«. Mit seiner Show ist er bereits durch alle Kontinente gereist, veranstaltet weltweit Seminare und bietet persönliche Coachings an.

Inhalt

Vorwort: Sturzflug von Hamburg nach Auckland

Kapitel 1: Was ist Cold Reading – oder: Von Eselsohren und Lachfalten

Dein(e) Lehrer

Was ist Cold Reading?

Kann jeder Cold Reading lernen?

Wieso sollte ich überhaupt Cold Reading lernen?

Was ich dir beibringe (und in welcher Reihenfolge)

Wie du das meiste aus diesem Buch rausholst

Kapitel 2: Die Psychologie des Wahrsagens – oder: Von Möpsen und Dinosauriern

Im Klassenzimmer mit Dr. Bertram Forer

Der Forer-Effekt und Barnum-Statements

Der MSDMT

Forers 13 Statements

Was in meiner Hand geschrieben stand

Warum Dr. Forer auch Wahrsager war

Was wir mittlerweile über den Forer-Effekt gelernt haben

Der Forer-Effekt ist replizierbar

Der Forer-Effekt ist universell

Jede Person kann erfolgreich Barnum-Statements vermitteln

Kapitel 3: Stützpfeiler des Forer-Effekts – oder: Ode an die Menschlichkeit

Unser Lieblingsthema sind wir selbst

Wir möchten verstanden werden

Im Kleinen sind wir verschieden, im Großen sind wir gleich

Wir geben der Welt durch Muster eine Bedeutung

Kapitel 4: Die 13 originalen Statements – oder: Der Teufel steckt im Detail

Forers 13 Barnum-Statements

Statement 1: »Du bist auf die Zuneigung und Bewunderung anderer angewiesen.«

Statement 2: »Du hast eine Neigung zur Selbstkritik.«

Statement 3: »Du hast beträchtliche Fähigkeiten, die du noch nicht zu deinem Vorteil nutzt.«

Statement 4: »Deine Persönlichkeit weist einige Schwächen auf, die du aber allgemein auszugleichen weißt.«

Statement 5: »Deine sexuelle Entwicklung hat dir Schwierigkeiten bereitet.«

Statement 6: »Nach außen hin bist du diszipliniert und kontrolliert, innerlich neigst du dazu, dich besorgt und unsicher zu fühlen.«

Statement 7: »Manchmal zweifelst du stark an der Richtigkeit deines Tuns und an deinen Entscheidungen.«

Statement 8: »Du bevorzugst ein gewisses Maß an Abwechslung und Veränderung und bist unzufrieden, wenn dich Regeln und Verbote einengen.«

Statement 9: »Du bist stolz auf dein unabhängiges Denken und nimmst die Aussagen anderer nicht ohne Beweis hin.«

Statement 10: »Du hast die Erfahrung gemacht, dass es unklug sein kann, dich anderen allzu bereitwillig zu öffnen.«

Statement 11: »Manchmal verhältst du dich extrovertiert, redselig und aufgeschlossen, dann wieder introvertiert, auf der Hut und zurückhaltend.«

Statement 12: »Einige deiner Hoffnungen sind ziemlich unrealistisch.«

Statement 13: »Sicherheit ist eines deiner größten Ziele im Leben.«

Bedeutet das, dass wir alle auf diese 13 Statements zu reduzieren sind?

Kapitel 5: Gedächtnisstütze 1 – oder: Dein erster Bungee-Sprung

Mit Köpfchen oder mit Herzchen?

Nicht zu viel und nicht zu wenig

Geschichtenerzähler und Auswendiglerner

Gruppe 1: Der Absprung

1. Komfort ist schön, aber manchmal braucht es ein Abenteuer im Leben. Heute springst du Bungee. — (Barnum-Statement: Du bevorzugst ein gewisses Maß an Abwechslung und Veränderung und bist unzufrieden, wenn dich Regeln und Verbote einengen.)

2. Das sollen deine Freunde und Follower unbedingt bewundern. Livestream! — (Barnum-Statement: Du bist auf die Zuneigung und Bewunderung anderer angewiesen.)

3. Safety first: Die Bungee-Schlaufe muss richtig festgemacht werden. — (Barnum-Statement: Sicherheit ist eines deiner größten Ziele im Leben.)

4. Du hoffst, dass du beim Sprung für die Kamera die perfekte Figur hinlegst. — (Barnum-Statement: Du hast eine Neigung zur Selbstkritik.)

5. Als du an den Rand der Klippe trittst, fragst du dich: Ist das wirklich so eine gute Idee? Vielleicht doch lieber einen Rückzieher machen? — (Barnum-Statement: Manchmal zweifelst du stark an der Richtigkeit deines Tuns und an deinen Entscheidungen.)

6. Obwohl dir die Knie zittern, unterdrückst du deine Angst und springst ab. — (Barnum-Statement: Deine Persönlichkeit weist einige Schwächen auf, die du aber allgemein auszugleichen weißt.)

7. Im Flug merkst du plötzlich: Du bist ein Naturtalent! Mühelos legst du drei Saltos hin. — (Barnum-Statement: Du hast beträchtliche Fähigkeiten, die du noch nicht zu deinem Vorteil nutzt.)

8. Deine Gefühle wandeln sich: Obwohl du grade noch angespannt und nach innen gekehrt warst, bist du nach dem Sprung aufgedreht und begeistert. — (Barnum-Statement: Manchmal verhältst du dich extrovertiert, redselig und aufgeschlossen, dann wieder introvertiert, auf der Hut und zurückhaltend.)

Kapitel 6: Praxis des Cold Reading – oder: Wie du in nullkommanichts ein Experte im Wahrsagen wirst

Der Drei-Zahlen-Test: Wie du deinen Freunden scheinbar die Karten liest (oder die Hand oder die Aura oder mit ihrem Spirit-Animal sprichst)

Ein typisches Szenario

Wie du Cold Reading im Alltag einsetzt

Sprachmuster #1: Umschreibung eigener interner Erfahrungen

Sprachmuster #2: Rettung durch Faszination

Kapitel 7: Interview mit Richard Webster – oder: Sieben Kühe im Gras

Kapitel 8: Gedächtnisstütze 2 – oder: Dein Tinder-Date

Gruppe 2: Das Blind-Date

1. Du traust den spektakulären Tinder-Profilen nicht, sondern brauchst den Beweis im echten Leben. Zeit für dein Date! — (Barnum-Statement: Du bist stolz auf dein unabhängiges Denken und nimmst die Aussagen anderer nicht ohne Beweis hin.)

2. Dein Date verschlägt dir sofortig den Atem. Ist das vielleicht die große Liebe? — (Barnum-Statement: Einige deiner Hoffnungen sind ziemlich unrealistisch.)

3. Du würdest deinem Date gerne näherkommen, fühlst dich aber inkompetent, wenn es um Romantik geht. — (Barnum-Statement: Deine sexuelle Entwicklung hat dir Schwierigkeiten bereitet.)

4. Deshalb bist du ein bisschen nervös. Nach außen hin versuchst du aber, cool zu bleiben. — (Barnum-Statement: Nach außen hin bist du diszipliniert und kontrolliert, innerlich neigst du dazu, dich besorgt und unsicher zu fühlen.)

5. Du hast gelernt, zu den meisten Menschen eine emotionale Distanz zu halten. Doch deinem neuen Date möchtest du dich sofort voll und ganz anvertrauen! — (Barnum-Statement: Du hast die Erfahrung gemacht, dass es unklug sein kann, dich anderen allzu bereitwillig zu öffnen.)

Kapitel 9: Werkzeugkasten 1 – oder: Die Schlüssel zur Tür des Vertrauens

Vertrauensmuster

Teilen interner Erfahrungen

Umschreiben des Gegenübers

Auf der Situation basiertes Einfühlungsvermögen

Empathie: Interne Projektion plus Barnum-Statement

Komplimente und Schmeicheleien

Erst negativ, dann positiv

Zauberwort »weil«

Begründungsmuster #1

Formulierung als Frage

Zauberwort »du«

Kapitel 10: Werkzeugkasten 2 – oder: Dein Wille geschehe

Hypnotische Kette

Begründungsmuster #2: Hypnotische Kette mit Begründung

Je mehr du … , desto …

Modernes Pacing

Geschichtenerzähler: Externe Projektion plus Barnum-Statement

Mein weiser Freund Dr. Forer

Fokussierung auf spezifische Eigenschaften

Kapitel 11: Werkzeugkasten 3 – oder: Knapp daneben ist nicht vorbei

Rettung durch Faszination

Rettung durch Metapher

Rettung durch Verlagerung

Rettung durch Gewichtung

Kapitel 12: Gefahren des Barnum-Effekts – oder: Was Nazis mit Astrologie zu tun haben

Mein Problem mit Astrologie & Co.

Was Nazis mit Astrologie zu tun haben: Das Problem der kognitiven Dissonanz

Wie Horoskope zu Rassismus führen (können): Das Problem unbegründeter Vorurteile durch falsche Kausalität

Barnum-Statements in der öffentlichen Kommunikation

Kapitel 13: Interview mit Ian Rowland – oder: Wahrsagerei beim FBI

Interview mit Ian Rowland

Kapitel 14: Die vier Lebensthemen – oder: Die Weisheit des Autodiebes

Die vier Lebensthemen im Cold Reading

Ziele

Beziehungen

Gesundheit

Sicherheit

Veränderung und die vier Themen

Die Lebensthemen im Cold Reading nutzen

Kapitel 15: Dantes’ Lebensphasen – oder: Wie du dein Leben leben wirst

Dantes’ Reading der Lebensphasen

Modernes Cold Reading und Dantes’ Lebensphasen

Die fünf Lebensphasen

Phase 1: 0 bis 12 Jahre

Phase 2: 13 bis 21 Jahre

Phase 3: 22 bis 35 Jahre

Phase 4: 35 bis 60 Jahre

Phase 5: 60+ Jahre

Auf dem Las Vegas Strip

Kapitel 16: Moderne Barnum-Statements – oder: Was mich Instagram über das Cold Reading lehrte

Das Instagram-Cold-Reading-Experiment

Die Instagram-Barnum-Statements

Kapitel 17: Entwicklung neuer Statements – oder: Zehn Formeln für Erfolg im Cold Reading

Sprechen wie ein Orakel: Qualifikatoren und Komplimente

Formeln zur Entwicklung

Formel 1: Entwicklung auf Basis eines Lebensthemas

Formel 2: Entwicklung auf Basis der individuellen Situation

Formel 3: Entwicklung auf Basis der jeweiligen Lebensphase

Formel 4: Entwicklung auf Basis von Statistik

Formel 5: Extrem A und Extrem B

Formel 6: Nicht negativ A, wohl positiv B

Formeln zur Modifikation

Formel 7: Klassisches Barnum-Statement umformulieren

Formel 8: Modifikation aufgrund von Lebensthema

Formel 9: Modifikation aufgrund von individueller Situation

Formel 10: Modifikation aufgrund von Lebensphase

Kapitel 18: Interview mit Rainer Mees – oder: Anleitung, kein Arschloch zu sein

Kapitel 19: Der 10-Sekunden-Persönlichkeitstest – oder: Orakel in den Bergen Israels

Eitans 10-Sekunden-Persönlichkeitstest

Phase 1: Verspieltheit/Offenheit für neue Erfahrungen

Phase 2: Geben/Nehmen

Phase 3: Ego

Phase 4: Kontrolle

Kapitel 20: Interview mit Mick Wilson – oder: Davon, Magie zu geben

Kapitel 21: Das Umkehrprinzip – oder: Der menschliche Spiegel

Gedanken beeinflussen den Körper … und umgekehrt

Schritt 1: Bewusstwerdung

Schritt 2: Bewusste Änderung

Schritt 3: Bewusst die Körpersprache anderer kopieren

Schritt 4: Denke dich in deine Mitmenschen hinein

Kapitel 22: Interview mit Enrique Enriquez – oder: Was uns Toffifee über das Schicksal lehren – oder: Wie man mit den Vögeln spricht

Der Mann, der mit den Vögeln spricht

Kapitel 23: Die Kunst der Bibliomantie – oder: Pro captu lectoris habent sua fata libelli

Die Kunst der Bibliomantie

Zufällige Bibliomantie

Intuitive Bibliomantie

Längerfristige Bibliomantie

Nachwort

Wir kennen uns

Quellen

»give magic.«

Vorwort: Sturzflug von Hamburg nach Auckland

2020, Hamburg, Deutschland

Das Erste, was mir auffällt, sind die Paare. Gegenüber sitzt ein langhaariger Typ, Bart, kariertes Hemd, Arm lässig auf die Lehne des Sofas gelegt, ein Bein seitlich auf die Sitzfläche geworfen. Neben ihm eine junge Frau, ihre Dreadlocks im Pferdeschwanz schimmern im unterbelichteten Raum. Sie hat ihren Körper leicht gedreht, wendet sich ihm zu, Handflächen offen, Hals leicht entblößt. Die Profile der beiden zeichnen sich im starken Kontrast gegen die nackte Wand dahinter ab. Das Gemurmel der anderen Barbesucher und die laute Musik (ich frage den Barkeeper, was das sei – »Dark Jazz« –, der leicht zur Seite gezogene Mundwinkel deutet an, dass ich das doch bitte hätte wissen müssen) verhindern, dass meine neugierigen Ohren am Gespräch gegenüber teilhaben können. Trotzdem würde ich in diesem Moment meine linke Hand darauf verwetten, dass dort ein erstes Date stattfindet, und meine rechte darauf, dass der Abend noch lange nicht gelaufen ist.

Ein Sofa weiter sitzt eine zweite Mann-Frau-Konstellation. Von meinem Aussichtspunkt aus prognostiziere ich den beiden weniger hoffnungsvolle Aussichten. Statt zueinander gewandt blicken sie in dieselbe Richtung, Mimik vergleichsweise starr, sie schaut ab und zu auf ihr Handy, er formt mit seinem Bein (vermutlich unbewusst) eine Grenze zwischen ihnen. Ich würde auch hier auf ein Date tippen (seien wir ehrlich: Das gedimmte Licht in der »Möwe Sturzflug« sowie die gemütlichen Sofas in Kombination mit dem langsamen Dark Jazz bieten sich dafür einfach an), nur stimmt ihre Chemie nicht so ganz. Ich würde ja gerne hingehen und fragen, aber das wäre irgendwie komisch, und außerdem kommt da grade mein Drink: Virgin Strawberry Colada – weil ich keinen Alkohol trinke, aber trotzdem genau weiß, wie man das Leben in vollen Zügen genießt …

»Danke, Vierauge«, sage ich. Henning boxt mir gegen den Oberarm und lässt sich neben mir aufs Sofa fallen. Wir schauen uns in die Augen, stoßen an, trinken, blicken zusammen in den Raum. Henning zeigt mit seinem Strohhalm auf das zweite Pärchen: »Läuft nicht so gut da, oder?«

»Nope«, sage ich, während ich eine Erdbeere vom Rand meines Glases fische. Eigentlich ist Henning der Bandleader meiner Theatershows, weil er sowohl unfassbar gut Piano spielt als auch komponiert – aber außerhalb der Bühne sind wir einfach beste Freunde. Dieses Wochenende haben wir uns zusammen freigenommen.

»Da vorne läuft’s wohl«, sagt er, auf Dreadlocks-und-Pferdeschwanz weisend, ihre Hand mittlerweile auf seinem Knie. »Jap«, sage ich und beiße in die Erdbeere. Henning hat eine verdammt gute Beobachtungsgabe für Menschen entwickelt. Wir blicken nach links, noch ein Pärchen, augenscheinlich schon weit am ersten Date vorbei, und dann zum Tisch direkt neben uns, an dem sich grade zwei Typen umständlich umarmen. »Schön, dich kennen zu lernen«, schwappt es rüber. Noch mehr Dates.

»Eigentlich möchte jeder doch nur geliebt werden«, philosophiere ich. Henning schaut mich an. Seine Brille funkelt, ein bisschen gefährlich, ein bisschen weise. Er setzt zu einem Schluck von seiner Colada (nicht Virgin) an, hält inne, lässt seinen Blick erneut durch die Bar schweifen. Dann stellt er sein Glas ab, lehnt sich nach vorne und antwortet: »Nee. Nicht geliebt. Eigentlich möchte jeder bloß verstanden werden.«

Und er hat Recht.

2010, Auckland, Neuseeland

Irgendwo zwischen aufgeregt und nervös steige ich aus dem Auto. In meinem Kopf dreht sich immer wieder dieselbe Frage: »Was, wenn der Club das rausfindet?«

»Der Club«, das ist der Waikato Sunrise Rotary Club Hamilton, der mich für mein Austauschjahr in Neuseeland als Gastkind angenommen hat. Wirklich nette Menschen, aber zum Großteil hochchristlich, was zur Folge hat, dass sie von meinen jugendlichen Hypnoseexperimenten nicht allzu begeistert sind. Hypnose, heißt es, komme vom Teufel, und was vom Teufel kommt, wirft bekanntlich (?) kein gutes Licht auf den Club. Es wird bestimmt, dass ich während meines Jahres in Neuseeland keine Hypnose mehr praktizieren darf. Strafe bei Brechen dieser Regel: Mein Auslandsjahr wird abgebrochen und ich verfrüht nach Hause geschickt.

Die Entscheidung war fast einstimmig getroffen worden.

Aber eben nur fast. Maria, eine Buchverlegerin, spricht mich an. Sie ist von meiner Leidenschaft für den menschlichen Geist angetan und findet das Hypnoseverbot sei – Zitat – complete and utter bullshit. Maria kennt einen Mentalisten in Auckland, dem sie mich gerne vorstellen möchte. Seit einem gemeinsamen Buchprojekt weiß sie, dass er auch Hypnose lehrt. Seine Spezialität ist allerdings das Handlesen. ›Handlesen?‹, denke ich, ›ist das nicht alles Quatsch? Aber hey, besser als nichts.‹

Maria macht einen Termin aus, an dem wir zusammen nach Auckland fahren. Ich muss ihr versprechen, dass der Club nichts davon erfährt – offiziell zeigt sie mir bloß Neuseelands Hauptstadt.

›Was, wenn der Club das rausfindet?‹, denke ich zum gefühlt hundertsten Mal, als die Autotür ins Schloss fällt. Vor uns erhebt sich ein großes, nein, ein gigantisches Haus hinter einem langen Rasen. Mehrere üppige Feijoa-Bäume in voller Blüte säumen den Backsteinweg hinauf zu zwei hölzernen Flügeltüren. Was dieser ominöse Mentalist wohl neben seiner Handleserei betreibt, um sich diese Festung leisten zu können?

Marias Sohn, Alex, drei Jahre jünger als ich, ist auch dabei. Er rennt voraus und ist kurz davor, einen der beiden metallenen Türklopfer zu bedienen, als seine Mutter ihn rufend auf die Klingel weist. Er klopft trotzdem (und wer kann es ihm verdenken? Wer die Wahl zwischen Klingel und Klopfer hat, der sollte stets den Klopfer wählen – für den Stil, für das Feeling und für die Magie, die damit einhergehen).

Hinter dem kleinen Fenster in einer der Türen regt sich etwas. Ich bin gespannt, wie ein echter neuseeländischer Mentalist wohl aussieht. Meine Erfahrung mit lebensechten Mentalisten hält sich bislang in Grenzen, doch aus dem Fernsehen weiß ich, dass sie tunlichst viel Schwarz tragen sollten, Ketten und Ringe, am besten mit Pentagramm drauf, oder einen gemusterten Anzug, gerne in Kombination mit Fedora und Taschenuhr.

Die Flügeltüren öffnen sich. In einem Spiegel gegenüber dem Eingang reflektiert kurz die Sonne und blendet mich. Gegen das Licht kommt eine schwarze Silhouette auf uns zu. Dann tritt sie aus der Spiegelung: »Hi. I’m Richard. Would you like some tea?« Vor uns steht ein älterer Herr in Kaki-Shorts, einem kurzärmligen, gestreiften Hemd und, Himmel hilf, grünen Crocs.

Wenige Minuten später sitzen wir, flankiert von zwei gewaltigen Bücherschränken, jeder mit einer Tasse Tee in der Hand auf einem Sofa. Richard sitzt uns gegenüber und beobachtet uns. Es ist merkwürdig: Er sollte alt sein, alles Äußere weist darauf hin, doch er wirkt irgendwie jung. Neugierig. Wach.

»Maria sagt, du möchtest Mentalist werden?«, fragt er nach einer Weile.

Im Brustton der Überzeugung, den nur sehr junge und sehr naive Menschen beherrschen, antworte ich wie aus der Pistole geschossen: »Ich bin Mentalist.« Richard lächelt sanft – ein echtes, warmes Lächeln, welches ich über die nächsten Jahre mehr und mehr zu schätzen lernen werde.

»Dann weißt du bestimmt auch, was Cold Reading ist?«, fragt er weiter und nimmt einen Schokokeks vom Tisch.

»Klar«, sage ich, »alles Barnum-Statements. Man muss nur vage genug sprechen, und dann kauft einem der Gesprächspartner alles ab.«

Richard setzt an, von seinem Keks abzubeißen, dann hält er inne, hält seine Hand auf und fragt: »Darf ich mal deine Handfläche sehen?« Skeptisch strecke ich ihm meine Hand entgegen. Er studiert eindringlich die Linien. Er dreht und wendet meine Hand in diese, dann in jene Richtung. Er drückt gegen meinen Daumen und tastet das Kissen auf meiner Handfläche ab.

Dann liest er mich. Akkurat. Genau. Zu 100 Prozent korrekt. Spezifisch.

»Jetzt ich!«, ruft Alex und streckt Richard begeistert beide Hände entgegen. Das Schauspiel wiederholt sich, erst mit Alex, dann mit Maria. Richard liest souverän unseren Charakter. Ich bin zutiefst verblüfft, auch begeistert, doch am meisten bin ich überrascht. Ist vielleicht doch etwas am Handlesen dran?

Als Maria und Alex sich wenige Zeit später verabschieden, um einen Familienfreund in Auckland zu besuchen, bleibe ich alleine mit Richard zurück. »Are you psychic? Kannst du wirklich aus der Hand lesen?«, frage ich ihn. Er lacht, sanft, schüttelt den Kopf, füllt unsere Tassen wieder auf. »Nein. Auch wenn es so aussieht, als würde ich die Linien deiner Hand lesen, ist eigentlich alles, was ich mache, Cold Reading. Wenn du willst, bringe ich es dir bei.« Ich verschlucke mich fast an meinem Tee, als ich begeistert nicke. Richard lässt seinen Blick durch sein Wohnzimmer schweifen, entlang der Bücherregale, hin zur Tür, beinahe verschwörerisch, als würde er sichergehen wollen, dass uns niemand bespitzelt. Dann stellt er seine Tasse ab, lehnt sich nach vorne, und meine Ausbildung beginnt.

»Lektion eins. Eigentlich möchte jeder bloß verstanden werden.«

Kapitel 1: Was ist Cold Reading – oder: Von Eselsohren und Lachfalten

Herzlich willkommen in Kennen wir uns?, meinem buchförmigen Kurs zur intuitiven Menschenkenntnis. Zuallererst: Danke für dein Vertrauen und für die Zeit, die du schon jetzt mit diesem Buch verbringst. Das ist nicht selbstverständlich. Ich verspreche dir im Gegenzug, mein Bestes zu tun, dir mein System der Menschenkenntnis so effektiv wie möglich nahezubringen. Nach dem Lesen von Kennen wir uns? sollte es dir möglichst leichtfallen, dich in andere Menschen hineinzuversetzen, sie zu verstehen und (das ist besonders wichtig) ihnen auch das Gefühl geben, dass du sie tatsächlich verstehst. Der Drang, verstanden und gesehen zu werden, ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, die wir alle miteinander teilen. Wer anderen das Gefühl geben kann, sie wirklich verstanden zu haben, dem werden sich privat, im Alltag und im professionellen Bereich ohne viel Aufwand eine Vielzahl neuer Türen öffnen.

Bevor wir in wenigen Seiten damit beginnen, uns umfassend mit den Themen Menschenkenntnis und Cold Reading auseinanderzusetzen, möchte ich dir an dieser Stelle einige Wegweiser für deine Arbeit mit meinem Buch geben. Sieh dieses Kapitel als eine Art Briefing, welches dir eine Übersicht über das, was dich erwartet, verschafft.

Dein(e) Lehrer

Vielleicht hast du eine ungefähre Vorstellung davon, wer hier grade zu dir spricht (oder schreibt). Falls nicht, dann wirf ganz kurz einen Blick aufs Cover – das bin ich. Darunter steht mein Name, Timon Krause (weil man das bei Büchern so macht). Falls du meine Arbeit noch nicht kennst, erlaube mir, mich dir hier kurz vorzustellen: Den Großteil meiner Arbeitszeit verbringe ich als Mentalist auf der Bühne. Ich ziehe mit meiner Show durch verschiedene Theater. Menschen können sich dann Tickets kaufen (ich bin immer wieder dankbar und etwas überrascht, wenn da eine Vielzahl an Leuten sitzt, die an diesem Abend auch etwas anderes hätten tun können) und verbringen dann einen Abend mit mir (und meistens zwei Live-Musikern), während ich die PINs ihrer Bankkarten errate, Freiwillige hypnotisiere und versuche, subtil ihre Handlungen zu beeinflussen. Mir macht das unbeschreiblichen Spaß, dem Publikum hoffentlich auch.

Meinen Weg zum Mentalisten habe ich mit 12 Jahren begonnen, als ich eine Hypnose-Show besuchte und das Gesehene unbedingt selbst lernen wollte. Die meisten Ausbilder befanden mich allerdings für zu jung, um an einem Seminar teilzunehmen. Störrisch wie ich war (bin?), machte ich mich auf, die Kunst der Hypnose auf eigene Faust zu erlernen. Dabei lief einiges sehr gut, einiges sehr schief, und vier Jahre später fand ich mich auf einem Auslandsjahr in Neuseeland mit einem religiös motivierten Hypnoseverbot wieder. Wenn du das Vorwort gelesen hast (ich gestehe zu meiner tiefen Schande, dass ich Vorworte selber häufig überspringe), weißt du, dass ich dort einen Handleser namens Richard Webster kennen lernte.

Richard ist Experte im sogenannten Cold Reading – einer Technik, die oft von Wahrsagern, Handlesern und Astrologen genutzt wird, um es so aussehen zu lassen, als hätten sie tiefe Einblicke in dein Leben und deine Psyche. Ich verbrachte das Jahr in Neuseeland als Lehrling von Richard, der mir die psychologischen Techniken des effektiven Cold Reading beibrachte und mir half, zum Ende meines Aufenthalts im Alter von 16 mein erstes Buch für andere Mentalisten zu veröffentlichen.

Einer meiner Kampfsportlehrer sagte mir einmal, dass du nur dann richtig gut in etwas wirst, wenn du das Mindset eines Anfängers behältst: offen, neugierig, Neues wie ein Schwamm aufsaugend. Sobald du dich als Meister siehst, stehst du still, und Stillstand ist tödlich für jede Entwicklung. Ich handhabe das seitdem genauso und freue mich, immer weiter lernen zu dürfen. Richard sehe ich immer noch als meinen Mentor.

Heute bin ich 25 (bei Erscheinen dieses Buches 26). Nach meiner Rückkehr aus Neuseeland bin ich nach Amsterdam gezogen, habe dort vier Jahre lang Theater studiert und erst einen Bachelor, dann einen Master in Philosophie erworben und weitere Bücher geschrieben und Shows entwickelt. Manchmal trete ich als Speaker auf und lüfte ein wenig den Schleier meiner Mentalistentechniken. Ab und zu mache ich Musik auf einer meiner Handpans. Wenn du mir irgendwo über den Weg läufst, dann stehen die Chancen gut, dass ich grade in einem Café sitze, lese oder schreibe und obszöne Mengen Kaffee zu mir nehme. Einige Künstlerklischees entsprechen eben einfach der Wahrheit.

Dass ich 25 bin, bedeutet, dass ich mehr als die Hälfte meines Lebens damit verbracht habe, mich dem menschlichen Geist und seinen Prinzipien zu widmen. 13 Jahre sind immerhin 13 Jahre. Es bedeutet aber auch, dass es Menschen gibt, die mehr als dreimal so viel Zeit hatten, über eben jene Themen nachzudenken – zum Beispiel Richard Webster.

Manche von ihnen schreiben Bücher oder lehren in Kursen, manche halten sich aber auch eher bedeckt; ein bekanntes und weit verbreitetes Symptom unter Mentalisten. Ich weiß zwar einiges über Cold Reading und Menschenkenntnis, aber noch lange nicht alles (ich glaube und hoffe, dass das für immer so bleibt – wer seine Neugier verliert, steht still). Deshalb ist es mir eine absolute Ehre, in diesem Buch Cold-Reading-Experten aus aller Welt als deine und meine Gastlehrer willkommen heißen zu dürfen. In mehreren Interviews stellen sie ihre eigenen Techniken und Ansätze vor und teilen großzügig ihre besten Tipps und Tricks zur angewandten Menschenkenntnis. Du hast also nicht nur mich als Lehrer, sondern eine Vielzahl noch erfahrenerer Lehrer, die dir ihre persönlichen Erfahrungen mitgeben.

Was ist Cold Reading?

Jetzt aber mal zur Sache! Cold Reading, Cold Reading, Cold Reading – gefühlt tausendmal habe ich das Wort benutzt, dir aber noch keine Definition geliefert. Das hole ich jetzt nach. Cold Reading bedeutet in direkter Übersetzung das »kalte« Lesen einer Person.

Kalt verweist dabei nicht auf etwaige Temperaturverhältnisse, sondern auf das Fehlen vorheriger Informationen. Unter Mentalisten umschreibt »Hot Reading« nämlich das Lesen einer Person mit Vorabinformationen. Diese Informationen können zum Beispiel über Körpersprache, Aussehen oder Reaktionen der zu lesenden Person erlangt werden. Es kann sich dabei aber auch um handfeste Fakten handeln. Weiß ich zum Beispiel, dass mein Gegenüber männlich ist, als Bäcker arbeitet und leidenschaftlich gerne Saxophon spielt, so habe ich beim Lesen dieser Person schon einen Vorsprung. Meine Analyse, oder mein Reading, dieser Person ist jetzt warm oder »hot«, weil ich schon etwas über sie weiß.

Der Clou bei den Techniken des Cold Reading ist, dass sie auch dann funktionieren würden, wenn wir überhaupt keinen direkten Kontakt zu der anderen Person hätten. Trotzdem ist das gegebene Reading akkurat. Das funktioniert, weil wir beim Cold Reading auf universelle menschliche Erfahrungen zurückgreifen, die wir alle miteinander teilen. Die angewandten Prinzipien liefern uns Menschenkenntnis in seiner reinsten Form. Keine Sorge, wenn das jetzt erstmal verwirrend klingt. Wie solche Techniken genau aussehen und funktionieren, besprechen wir in den nächsten Kapiteln.

Kann jeder Cold Reading lernen?

Das Schöne am Cold Reading ist, dass es in seiner reinsten Form sehr einfach zu lernen und anzuwenden ist. Die einfachsten Techniken verlangen nichts weiter als, verzeih, stumpfes Auswendiglernen (keine Sorge, ich helfe dir dabei, und so stumpf wird es nicht) und erzielen trotzdem schon einen großen Effekt beim Gegenüber. Darüber hinaus gibt es vielseitige Anwendungsmöglichkeiten und Chancen, die Basistechniken des Cold Reading auszuweiten und noch wirkungsvoller zu machen. Es kann also jeder Mensch Cold Reading lernen: garantiert und zu 100 Prozent.

Wieso sollte ich überhaupt Cold Reading lernen?

Gute Frage! Die Vorteile des Cold Reading sind äußerst vielfältig. Im Grunde bietet dir das Cold Reading die Möglichkeit, jederzeit und überall sofort mit deinen Mitmenschen auf eine Wellenlänge zu kommen. Cold Reading lehrt dich zum einen zu verstehen, was in deinen Mitmenschen vorgeht, und zum anderen, wie du deinen Mitmenschen auch zeigst, dass du sie verstehst. In einer Zeit, in der sich viele von uns trotz der immer stärkeren Verbindung über Social Media stets isolierter fühlen, wird es ungemein wertgeschätzt, wenn du deinem Gegenüber das Gefühl geben kannst, es wirklich und innig verstanden zu haben.

Cold Reading hilft dir sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld. Wir alle möchten uns instinktiv mit Menschen umgeben, die ein bisschen wie wir selbst ticken. Die Menschen, die uns verstehen, sind meistens die, die ähnlich denken wie wir. Wenn du lernst, deine Mitmenschen authentisch zu verstehen, dann wird man wiederholt deine Nähe suchen. Die Vorteile der hier beschriebenen Cold-Reading-Techniken erstrecken sich also vom mühelosen Knüpfen neuer Freundschaften bis zum reibungslosen Beginn geschäftlicher Beziehungen (manchmal wird Cold Reading sogar im Polizeiverhör benutzt, um schnell und effizient die Tür zum Vertrauen des Verdächtigen zu öffnen. Später im Buch treffen wir einen Experten, der regelmäßig der Polizei und dem FBI Kurse in dieser Technik gibt).

Je intensiver du dich mit dem Cold Reading beschäftigst, desto besser werden deine Menschenkenntnis sowie deine zwischenmenschlichen Fähigkeiten werden. Wie die anderen Mentalistentechniken (zum Beispiel das Lernen von Hypnose) lehrt dich Cold Reading obendrein viel über dich selbst und dein eigenes Innenleben. Die Erkenntnisse, die du über andere gewinnst, kannst du immer auch auf dich selbst beziehen.

Was ich dir beibringe (und in welcher Reihenfolge)

In Kennen wir uns? zeige ich dir die Basis des Cold Reading, meine Variationen dieser psychologischen Technik und wie ich diese Kommunikationstaktik in den Alltag einbinde, um elegant zwischenmenschliche Türen zu öffnen. Ich werde dir dabei helfen, sogar fortgeschrittene Techniken des Cold Reading in so kurzer Zeit wie möglich zu meistern. Obwohl Cold Reading an sich sehr praxisbezogen ist, ist es manchmal nötig, dass wir uns eine Weile mit Psychologie und der Theorie hinter den verschiedenen Techniken beschäftigen. Mein persönliches Ziel ist es, dir nicht nur zu zeigen, dass Cold Reading funktioniert, sondern auch wie und warum es funktioniert. So erlangst du ein tieferes und intuitives Verständnis der Technik und kannst sie mit größtmöglicher Flexibilität nutzen. Von Zeit zu Zeit gebe ich dir Praxisübungen und lade dich ein, das Gelernte direkt auszuprobieren. Über diese Übungen wirst du zu eigenen Einsichten finden und erkennen, was für dich besonders gut funktioniert.

Außerdem werde ich dir einige Randgebiete des Cold Reading zeigen, insbesondere wie du diese Techniken nutzt, um dich selbst zu lesen. Es geht dabei um Selbsterkenntnis und Selbstreflexion. Du wirst Übungen kennen lernen, mit denen du dein eigenes Unterbewusstsein entschlüsseln kannst, um interne Konflikte zu lösen.

Die vollständige Quellenangabe zu allen wissenschaftlichen Untersuchungen, auf die ich in Kennen wir uns?  verweise, findest du am Ende dieses Buches.

Wie du das meiste aus diesem Buch rausholst

Du könntest dieses Buch einfach lesen, schließen und seinen Inhalt dann wieder vergessen. Du könntest es auch als Türstopper benutzen oder um deinen wackligen Tisch zu stabilisieren. Das wäre, meiner Ansicht nach, alles sehr schade. Dieses Buch ist, wie schon mein erstes Buch, als Gebrauchsgegenstand gedacht. Mach dir Notizen, klebe kleine Zettelchen rein, nimm es mit auf Reisen, gib ihm Eselsohren (Eselsohren an Büchern sind wie Lachfalten bei Menschen), mal einen Schnurrbart auf mein Gesicht. Aber vor allem: Probiere das, was du lernst, aktiv aus! Mentalismus und Cold Reading sind keine exakten Wissenschaften. Manchmal funktioniert eine Sache für mich gut, die für andere gar nicht funktioniert, oder umgekehrt. Teste die hier gezeigten Techniken in deinem Umfeld, im Alltag und im Beruf. Wenn du dich traust, dann spring direkt ins kalte Wasser. Du wirst dich vielleicht selbst damit überraschen, wie gut Cold Reading für dich funktioniert und wie schnell sich deine Menschenkenntnis verbessert. Wenn du es lieber langsam angehen möchtest, dann lass mich dich Schritt für Schritt in die Praxis leiten. Egal, ob du direkt reinspringst oder lieber langsam immer weiterpaddeln möchtest: Verlass dich nicht nur auf mich, sondern probiere es immer selbst.

Und jetzt, wo wir uns ein kleines bisschen kennen: Vorhang auf für Kennen wir uns? !

Kapitel 2: Die Psychologie des Wahrsagens – oder: Von Möpsen und Dinosauriern

Der Geruch gebrannter Mandeln liegt in der Luft, Kinder rennen lachend mit Zuckerwatte durch die Gegend (und, zack, legen sich hin – irgendwo lacht eine böse Seele), vor dir erhebt sich ein bunt gestreiftes Zelt in schwindelerregende Höhen: Der Zirkus ist in der Stadt. Die Massen strömen zum baldigen Showanfang in das Hauptzelt (sie erinnern dich an eine Armee popcornknabbernder Lemminge), doch dein Blick wird von einem bescheidenen Schild neben einem unauffälligen Zelt am Rande des Zirkusplatzes angezogen. Während du nonchalant pfeifend hinüberspazierst, liest du die geschwungenen Buchstaben auf dem Schild davor: »Der Krause – Wahrsager – Liest deinen Charakter – 100 % akkurat – 50 cent«

Du greifst in deine Tasche und, oh Wunder, findest eine 50-Cent-Münze. Schicksal? Zufall? Wie dem auch sei, ziehst du die Klappe am Eingang des Zeltes zur Seite, duckst dich hinein — und findest dich im Reich des Wahrsagers wieder. Dir gegenüber sitzt ein (auffallend gutaussehender) junger Mann. Gekleidet ist er ganz in Schwarz, um seinen Hals hängt eine Mala, an seinen Händen glänzen zahlreiche Ringe, die meisten davon zeigen das Pentagramm. »Sei gegrüßt, Wanderer, lass mich dir dein Schicksal offenba …«, beginnt er, doch in diesem Moment schlägt dir die geballte Ladung der zwanzig im Raum verteilten Räucherstäbchen entgegen (du meinst noch zu erkennen, dass es sich um den Geruch von Magnolia und Sandelholz handelt), und du bekommst einen sofortigen, kettenraucher-gleichen Hustenanfall.

Der Wahrsager seufzt. Er zieht sich seinen Turban vom Kopf, deutet auf vier auf dem Tisch liegende Tierbildchen und setzt neu an: »Scheiß drauf, ist ja auch egal. Such dir halt einfach das Tier aus, mit dem du dich am meisten identifizierst, und ich sag’ dir, wie du tickst. Bist du ein Mops, ein Dinosaurier, eine Schildkröte oder ein Murmeltier?«

Und du, der du dich jetzt in einem Wahrsagerzelt irgendwo am Rande der Welt befindest, aber ja auch zugleich irgendwie dieses Buch liest, darfst dir unten eine der vier kurzen Charakteranalysen durchlesen. Entscheide dich, ob du dich in diesem Moment am ehesten mit einem Mops, mit einer Schildkröte, mit einem Dinosaurier oder mit einem Murmeltier identifizierst, und lies dir den kurzen Text darunter mit einem offenen Mindset durch. Überspringe für den Moment die anderen drei Analysen, du kannst sie dir später noch anschauen.

Sobald du deine persönliche Analyse gelesen hast, geht es unten, hinter der vierten Analyse, für dich weiter.

Typ »Mops«

Du bist auf deine Erfolge stolz und zeigst das auch. Ab und an kann das falsch bei anderen Leuten rüberkommen. Dabei bist du dein eigener größter Kritiker und erwartest vergleichsweise viel von dir selbst. Du versuchst, dich jeden Tag zu entwickeln und zu verbessern. Weil du weißt, dass du nicht perfekt bist, tust du dein Bestes, um deine Schwächen auszugleichen. Kompliment! Manchmal fühlst du dich aber trotzdem, als würden die Leute um dich herum nicht erkennen, wie viel Mühe du dir gibst.

Typ »Schildkröte«

Noch hast du nicht all deine Fähigkeiten und Talente zur vollen Blüte gebracht. Du neigst dazu, so sehr über das Hier und Jetzt nachzudenken, dass du vergisst, wie viel da eigentlich noch in dir steckt! Deine Freunde sind manchmal frustriert, weil sie dein Potenzial viel stärker erkennen als du selbst. Das liegt vielleicht daran, dass es dir manchmal schwerfällt, wichtige Entscheidungen schnell zu treffen. Vielleicht weil du das Gefühl hast, in der Vergangenheit hier und da die falsche Entscheidung getroffen zu haben? Deine Freunde sehen in dir eine Schulter zum Anlehnen, manchmal wünschst du dir aber, dich auch selber mal an eine Schulter lehnen zu können. Deine eigenen Gefühle kommen nicht immer zum Zuge, weil du zu sehr damit beschäftigt bist, für deine Lieben da zu sein.

Typ »Dinosaurier«

Du bist schon immer ein bisschen unkonventionell gewesen, manchmal sogar auf eine Art, die Leute um dich herum nicht sofort erkannt haben. Deine persönliche Freiheit ist dir extrem wichtig. Du kannst es nicht haben, wenn man dir sagt, was du tun sollst. Deine unabhängige Denke lässt dich manchmal stur erscheinen, dabei ist es dir einfach wichtig zu wissen, was wirklich Sache ist (auch, wenn du damit hier und da in unangenehme Situationen gerätst). Du hast gelernt, dass es nicht immer eine gute Idee ist, dich neuen Menschen gegenüber zu offen zu zeigen. In der Vergangenheit hast du es schonmal bereut, Menschen zu schnell in den engen Kreis deines Vertrauens zu lassen.

Typ »Murmeltier«

Deine Freunde schätzen dich für deine Unabhängigkeit. Du lässt diese Unabhängigkeit allerdings nie zwischen dich und deine Lieben kommen! Obwohl du dir selbst stets hohe Ziele steckst, hast du gemerkt, dass deine Freunde und Familie manchmal einfach Priorität haben müssen. Trotz deiner unabhängigen Natur hast du private und berufliche Stabilität im eigenen Leben schätzen gelernt.

Du trägst eine leidenschaftliche Ader in dir. Dennoch fällt es dir manchmal schwer, deine Emotionen richtig zum Ausdruck zu bringen. Dein Bedürfnis, begehrt und geliebt zu werden, hat manchmal die falsche Person in dein (Liebes-)Leben gebracht.

HIER GEHT ES WEITER! Hast du dir die Analyse zu deinem Typen durchgelesen? Es handelt sich hierbei natürlich nur um eine grobe Skizzierung einiger weniger deiner Charaktereigenschaften. Du darfst dir jetzt mental eine Notiz davon machen, wie passend du die Analyse auf einer Skala von 0 bis 5 findest. Eine 0 bedeutet dabei »gar nicht zutreffend«, und eine 5 bedeutet »trifft voll zu«.

Als du das Zelt wieder verlässt, räuspert sich hinter dir der vermeintliche Wahrsager.

»Das macht dann 50 Cent …«

Im Klassenzimmer mit Dr. Bertram Forer

Hättest du 1948 in der Los Angeles Veteran’s Administration, einer Klinik für US-amerikanische Veteranen, studiert, dann hättest du dich für das einleitende Psychologieseminar von Dr. Bertram Forer (1914 bis 2000) einschreiben können. Als Student in Forers Seminar hättest du deinen Professor irgendwann, ganz beiläufig, den »Diagnostic Interest Blank Test« erwähnen hören: einen psychologischen Test, der es erlaubt, über eine Reihe von Fragen die charakterlichen Dynamiken des Testsubjekts detailliert und akkurat zu bestimmen. Vielleicht hättest du, wie viele andere Studenten damals auch, darum gebeten, dass Dr. Forer den Diagnostic Interest Blank Test bei dir abnimmt. In der nächsten Woche hätten du und deine Mitstudenten jeder ein individuelles D. I. B.-Formular bekommen. Ihr würdet die darauf gestellten Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantworten und eine weitere Woche auf die Ergebnisse warten. Seinem Versprechen treu bleibend würde Dr. Forer dir und deinen 38 Klassenkameraden dann während des nächsten Unterrichts jeweils eine kurze, persönliche Charakteranalyse von ungefähr einer DIN-A4-Seite aushändigen.

Ihr würdet euch im Stillen eure jeweilige Analyse durchlesen. Dr. Forer würde euch danach bitten, auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 5 (perfekt) zweierlei zu bewerten: erstens, wie effektiv der D. I. B.-Test eurer Meinung nach darin ist, Charakteranalysen generell zu erstellen und zweitens, inwiefern die vorliegende Analyse euren eigenen Charakter beschreibt. Eure Tests würden wieder eingesammelt werden, und Forer bäte euch darum, die Hand zu heben, wenn ihr den Test als akkurat empfandet. Beinahe alle Hände würden in die Luft schießen.

Erst dann offenbart euch Dr. Forer, was du jetzt, beim Lesen dieses Buches, vielleicht schon ahnst: Ihr alle habt genau dieselbe Analyse bekommen. Herzlich willkommen zum Forer-Effekt.