Inhalt

Bevorwörter

Kapitel 1

„… aber sonst ist noch alles okay!“

Kapitel 2

Was Silver Liner still ertragen

Kapitel 3

Giselher, Chef im Altenpuff

Kapitel 4

Man(n) ist so alt, wie man sich fühlt?

Kapitel 5

Der alte Mann und das Mehr

Kapitel 6

Jürgen, der Pfandraiser

Kapitel 7

Rente sich, wer kann

Kapitel 8

Josef engagiert sich jetzt

Kapitel 9

Emanzipiert? Wovon? Wohin?

Kapitel 10

Karl. Und was zum Glück nicht fehlt

Kapitel 11

Und? Was machen die Kinder?

Kapitel 12

Uwes Aufschieberitis und Zeitgefühl

Kapitel 13

Wie Du wieder aussiehst! Körper und Sex

Kapitel 14

Religiöser im Ruhestand?

Kapitel 15

Wozu ist der Opa gut?

Anmerkungen

Bevorwörter

Versaute Witze heißen „Altherrenwitze“, langweilige Talkshows „Altherrenrunde“, schlechte Fußballmannschaften sind eine „Altherrenriege“ und Schmiergelder werden in korrupten Runden am „Altherrenstammtisch“ verabredet.

Die „Herrenhandtasche“ am Handgelenk und das „Herrengedeck“ in der Eckkneipe sind noch nicht so antiquarisch wie der „Herrenreiter“ in Omas Fotoalbum und die „Herrentorte“ auf ihrem Kaffeetisch, aber der klassische Strandliegen-Reservierer in Karikaturen und Humorbüchern ist immer noch ein Mann. Mindestens 55 plus, mit Anglerhütchen in den Nationalfarben, Bierwampe, arthritischen Knien und weißen Frotteesocken in Sandalen.

Enthielte unser Sprachgebrauch ähnlich viel Geringschätzung für die Frau ab 55 – es würde Gleichstellungsbeauftragte und Genderforscherinnen in noch mehr Lohn und Brot bringen. Der Begriff „Altweibersommer“ gleicht den Sprachspott ja nicht aus, denn er – also eigentlich sie – ist eine der schönsten Jahreszeiten. Mildes Septemberlicht, klare Luft, warme, aber nicht heiße Tage.

Seit 2011 der damals 62-jährige ehemalige Präsidentschaftskandidat Frankreichs und Direktor des Internationalen Währungsfonds IWF, Dominique Strauss-Kahn, vor laufenden Kameras verhaftet wurde wegen versuchter Vergewaltigung; seit 2018 Filmproduzent Harvey Weinstein, 67, von insgesamt 80 Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde, die weltweite #MeToo-Bewegung ausgelöst hatte und man ihn im Februar 2020 zu 23 Jahren Gefängnis verurteilte; seit US-Präsident Donald Trump, 75, mit rassistischen und sexistischen Sprüchen, offenkundigen Lügen und haarsträubenden Fehlentscheidungen sein Land an den Rand eines Bürgerkriegs und die Welt in einen Wirtschaftskrieg bugsierte – seitdem stehen „alte weiße Männer“ in der öffentlichen Wahrnehmung unter Generalverdacht. Die sind nicht lächerlich, die sind gefährlich, sagt der Argwohn. In Machtpositionen sogar brandgefährlich.

Rund 40 Millionen Deutsche sind männlich. Am 31. 12. 2019 waren 26,2 % von ihnen älter als 60. Alle Nichtmächtigen, Nichtreichen und Nichtnotgeilen unter ihnen – was brauchen die jetzt?

Als Hörfunkjournalist für ARD-Sender und Buchautor werde ich oft eingeladen, Referate zu halten, Diskussionen zu moderieren oder Lesungen zu gestalten. Bildungseinrichtungen, Vereine, Stiftungen, Kulturveranstalter und Kirchengemeinden buchen mir manchmal kein Hotelzimmer sondern fragen, ob ich auch bei einem Mitarbeitenden der Veranstaltung einquartiert werden dürfe. Privat, zu Hause! Für „richtige“ Geschäftsreisende mag das eine Schreckensvision sein. Für mich ist der nächtliche Absacker bei gastfreundlichen Leuten eine Quelle interessanter Biografien, Ehe- und Familiengeschichten, Meinungen und Lebenserfahrungen. Die Gastgeber sind meist so um die 60. Weil sie „Zimmer frei haben, seit die Kinder aus dem Haus sind“.

Ob die wirklich aus dem Haus sind oder so anhänglich wie eh und je, ist meist schon das erste Gesprächsthema. Ob es ein „Empty-Nest-Syndrom“ bei Müttern gibt, wie stark sie als Pflegerin ihrer hochbetagten Altvorderen oder als Oma ihrer Enkel gefordert sind – darüber reden viele Frauen gern.

Ob sie ihren erwachsenen Kindern noch etwas bedeuten; ob Macht und Ansehen im Beruf schwinden und welche Gefühle eine bevorstehende oder gerade vollzogene Pensionierung auslöst – darüber schweigen viele Männer lieber. Von den Träumen nach Aufbruch und Veränderung reden beide besser gar nicht.

So kam ich drauf. Auf die Idee, Fakten zu sammeln und von Begegnungen zu berichten aus einer Lebensphase, die Frauen zu kennen glauben und Männer selten zu erkennen geben. Nicht als Ratgeberonkel, der wohlfeile Tipps zu vergeben hätte. Aber als ein Reporter, der hartnäckig daran glaubt, dass Sie, die Leserinnen und Leser, Ihre eigenen hilfreichen Schlüsse ziehen können und sich an einigen Stellen vielleicht sogar wiedererkennen. Und wenn Sie am Ende Befürworter geworden sind, Ihres Alters und Ihrer Lebenslage, würde es mich freuen.

Andreas Malessa

Kapitel 1

„… aber sonst ist noch alles okay!“

Was haben Sie vor diesem „aber sonst“ gesagt? Das ist doch ein verräterischer Nachsatz, finden Sie nicht? Verdächtig wie die berühmte Urlauberbeteuerung „Aber sonst hat Mallorca auch ruhige Ecken.“ Aha? Also nicht nur den Ballermann? Na dann.

Die gängige Begrüßungsfloskel „Und? Alles gut?“ erwartet ja als einzig mögliche Antwort ein markiges „Yep, alles im grünen Bereich“. Fragt jemand noch ganz altmodisch „Na, wie geht’s?“, ermöglicht das eine zwar auch nicht ehrlichere, aber zumindest differenziertere Antwort: Sie können erst mal mit den Achseln zucken und ein tiefes „Och …“ einatmen.

Beendet der oder die Fragende den Wortwechsel jetzt nicht mit einem „Muss ja, ne? Also, ciao“, dann – ja dann könnten Sie jetzt eine kurze Zusammenfassung der aktuellen Beschwernisse, der Sorgen und Leiden Ihres Lebens jenseits der 60 erzählen. Könnten Sie. Tun’s aber nicht. Denn noch während Sie sprechen, kommen Ihnen Bedenken, das höre sich jetzt aber allzu wehleidig an. Deshalb schnell hinterhergeschoben: „… aber sonst, also im Großen und Ganzen …“ Pause. „… können wir nicht klagen.“ Ihr Gegenüber lächelt beruhigt. „Und überhaupt und im Grunde muss man noch froh sein.“ Soso.

Aber kommen Ihnen folgende Beobachtungen denn völlig fremd vor?

Wenn Sie aus einem tiefen Sessel aufstehen, aus der Hocke hochkommen oder aus Ihrem Auto aussteigen, stöhnen Sie „Ah!“ Und wenn andere dabei sind, nehmen Sie sich vor, jetzt nicht „Ah“ zu stöhnen.

Ihr Namensgedächtnis mag auch früher schon schlecht gewesen sein. Aber die Zeitspanne, bis „der Groschen fiel“, war kürzer. Jetzt fällt Ihnen vom Beginn bis zum Ende der zweistündigen Jubiläumsveranstaltung ums Verrecken nicht ein, wie diese Frau dort drüben, ja genau, die da in der zweiten Reihe, wie hieß die gleich, die hat mir doch damals … Nichts. Null. Blackout. Hinterher, beim Sekt-mit-Small-Talk im Foyer, könnte diese Bekannte aber auf Sie zukommen und von genau jenem „damals“ plaudern wollen … Und übermorgen, völlig zusammenhanglos, wird Ihnen ihr Name wieder einfallen. Plötzlich und glasklar. Wenn es niemand mehr braucht.

Sie vergessen jetzt auch häufiger, was Sie wem gesagt oder schon mal erzählt haben. Das führt bei den Zuhörenden normalerweise zu geduldig-gelangweiltem Lächeln oder artigem Lachen (ein Gentleman ist jemand, der jeden Witz noch nie gehört hat). Schlimmstenfalls führt es zu Peinlichkeiten („Also mir gegenüber hat er das aber ganz anders …“), im besten Falle führt es zu mehr Faktencheck. Manche bauen deshalb ein kleines Frühwarnsystem ein, einen Bremsimpuls wie die Asphalt-Erhebungen in den Spielstraßen der Wohnviertel: „Und da sagt doch dieser Taxifahrer zu mir … oder hab ich Euch das schon erzählt?“

Die Glitschigkeit einer Duschkabine – im Hallenbad, im Hotel, in der Ferienwohnung – und den Haltegriff über der Badewanne haben Sie ein halbes Leben lang nicht mal bemerkt. Jetzt achten Sie drauf. Denn kurzes Stolpern kann lange Rückenschmerzen bedeuten. Von Muskelzerrungen oder gar einem Bandscheibenvorfall ganz zu schweigen.

Wer will schon als Humpelstilzchen zum Frühstück erscheinen.

Wenn Sie unbedacht und hastig etwas trinken, bei einem angeregten Tischgespräch zu schnell atmen, reden, kauen und sich plötzlich verschlucken – dann ist das nicht wie in Kindertagen mit zwei Klapsen auf den Rücken getan. Nein, Sie glauben zu ersticken. Sie werden puterrot, Ihre Stimme versagt. Die Luftröhre ist wie zugeschnürt. Sie entschuldigen sich röchelnd, flüchten ins Badezimmer und sind erst nach zehn Minuten wieder gesellschaftsfähig an der Tafel zurück. Dort haben inzwischen die anderen Gäste ihre eigenen Verschluckungs-Erlebnisse ausgetauscht: Mit Nuss-Schokolade, Krokantplätzchen, Pinienkernen, mit Rucola-Salat und scharfen Thaisuppen zum Beispiel. Alle haben vollstes Verständnis, aber ja doch! Trotzdem: Warum ist das im Alter so ein Drama, verdammt noch mal?!

Es war Ihnen jahrzehntelang schnurzegal, wo bitte schön Sie im Großraumwagen eines ICE Platz nahmen. Schülerhorden oder verliebte junge Paare merken ja nicht mal, dass sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel reisen. Sie aber – Sie achten seit Neuestem darauf, dass es von der Tür her nicht zieht (Rücken!), dass Sie nicht am Fenster sitzen, wo die grelle Sonne flackert (nervöse Augenrötung!), und dass Sie in Fahrtrichtung sitzen (leichte Kopfschmerzen!). Wenn nämlich der „Franken-Sachsen-Express“ mit Tempo 180 und Neige-Technik von Nürnberg nach Dresden rast, reagiert Ihr Magen wie bei einer Achterbahnfahrt rückwärts.

Wenn Ihre Lesebrille wieder mal „gottweißwo“ liegen geblieben ist, können Sie sich die Speisekarte ja vom Kellner vorlesen oder in Auszügen zitieren lassen. Das hört sich für die Restaurantgäste an den Nachbartischen manchmal an wie eine Theaterprobe: „Kann ich noch mal diese Stelle weiter vorne hören, bitte? Ab ‚Carpaccio‘ etwa?“

Wenn Sie aber ohne Lesebrille am Bankschalter oder auf einer Behörde etwas unterschreiben sollen, dann müssen Sie dran glauben. Also dran glauben, dass schon alles seine Richtigkeit haben wird, was Sie da halb blind mit Ihrem Namenszug bestätigen.

Wenn Sie in den finanziell klammen Jugendjahren eine Strecke von, sagen wir, 350 Kilometern auf der Autobahn zu fahren hatten, dann lautete die wichtigste Frage: „Wie weit reicht die Tankfüllung noch?“ Die war nämlich von Papa gesponsert. Heute lautet Ihre wichtigste Frage: „Wie weit noch bis zur nächsten Sanifair-Toilette?“ Und: „Können wir Deine und meine Pinkelpausen bitte so koordinieren, dass wir nicht an jeder Raststätte halten müssen?!“

Zu Terminen und Veranstaltungen kommen Sie neuerdings lieber zu früh als pünktlich. Beginnt in der Seniorenresidenz ein Vortrag um acht Uhr, ist um sieben der Saal voll. Im Festzelt sitzen die ersten Alten schon, wenn die letzte Bierbank noch nicht steht. Garderobenfrauen und Platzanweiserinnen in Opern- und Konzerthäusern rechnen mit bis zu 60 Minuten Rentner-Vorlauf. Nur Hip-Hop-Solisten, Rapper und Jungrocker können bis kurz vor Konzertbeginn Soundcheck und Lichtprobe machen – ihre Klientel unter 20 trödelt notorisch zu spät in die Location.

Woher kommt diese alterstypische Sorge vor dem Zu-spät-Sein? Sie sitzen im Auto, haben was vergessen und müssen noch mal zurück ins Haus. Bei Abfahrt Nr. 2 fällt Ihrem Mann ein, was er vergessen hat … Außerdem hassen Sie es, gehetzt und genervt irgendwo zu erscheinen und ganze Stuhlreihen für sich aufstehen zu lassen. Und schließlich die simple Rechnung: Eine halbe Stunde Hinfahrt plus zwei Stunden Kinofilm ohne Pause – da gehen wir sicherheitshalber vorher noch kurz …

„Wissen Sie, was Essensreste nachts zwischen Ihren Zähnen anrichten?“, fragt der Zahnarzt. „Ich weiß es nicht“, sagt der Patient, „wir schlafen getrennt.“

Selbst wenn es bei Ihnen noch nicht so weit ist: Das in Jahrzehnten entstandene und teuer zusatzbezahlte Mit- und Nebeneinander von Füllungen, Jacketkronen, Brücken und Implantaten hat im Mund ein alterstypische Folge: Nahrungsreste bleiben hinterhältig und hartnäckig zwischen den sogenannten Zähnen hängen. Nisten sich ein, krallen sich fest, kleben und haken und hängen so penetrant in den Spalten und Klüften, dass kein Zahnstocher mehr etwas ausrichten kann. Auch hinter vorgehaltener Hand nicht. Zum Dessert gibt es Apfelkuchen mit Mandelsplittern? Na, danke schön.

Was also werden Sie tun? Sie lächeln nur noch mit geschlossenem Mund und – versuchen es mit der Zunge. Die ausgebeulte Wange ist ein Erkennungszeichen älterer Menschen beim Nachtisch. Dass da im Verborgenen eine hyperaktive Naturbürste ihre akrobatische Schwerstarbeit verrichtet, kann manchmal sogar intellektuell wirken: Wenn Ihr Gegenüber einen Satz beendet hat, ziehen Sie staunend die Augenbrauen hoch, schauen nachdenklich ins Weite und befehlen Ihrem Höhlenbohrer im Mund einen abrupten Stopp in der Hamsterbacke. Sieht aus, als würden Sie gleich den ontologischen vom kausalen Gottesbeweis unterscheiden und Aristoteles gegen Immanuel Kant verteidigen. Ist in Wahrheit aber nur der Moment, in dem Sie spüren: „Sie hat ihn! Diesen elenden Essensrest!“

Sie werden neuerdings von Rührung und Sentimentalität überfallen. Bei der Taufe Ihrer Patentochter oder Enkelin ging’s ja noch. Aber jetzt, wenn Sie bei der Konfirmation eines süßen Teenagers eine Tischrede halten sollen? Wieso steigt Ihnen das Heulen ins Gesicht, woher dieses Zucken der Unterlippe, wie kriege ich den Kloß im Hals raus und Festigkeit in die Stimme rein? Meine Güte! Reiß Dich doch zusammen!

Dass ein Vater zwischen 50 und 65 mit Tränen in den Augen seine brautkleidgeschmückte Tochter durch den Mittelgang zum Traualtar führt, wo Mutter und Schwiegereltern, Omas und Opas in blumendekorierten Kirchenbänken längst die Taschentücher zücken – geschenkt! Versteht jeder. Darf sein. Ist doch klar.

Aber unvermittelt mit den Tränen kämpfen an einem werktägigen Vormittag in der Küche, nur weil NDR Kultur oder Klassik Radio die „Pathétique“ von Beethoven spielt?! Die „Kinderszenen“ von Robert Schumann oder „Thais“ von Massenet mit Anne-Sophie Mutter an der Violine? Der Vorstandsvorsitzende im dicken Daimler, die Chefärztin auf dem Parkplatz des Klinikums müssen ihre Telefonate unterbrechen, weil Gary Brooker von „Procol Harum“ mit kehliger Stimme gerade die erste Zeile von „A Salty Dog“ intoniert: „All hands on deck / we run aflow / I heard the captain cry ….” – dieser plötzliche Kloß im Hals hat ja weder mit irgendeiner konkreten Erinnerung noch mit Traurigkeit zu tun. Nicht mal mit Sehnsucht nach dem Meer. Es ist die reine Melancholie. Oder alberne Sentimentalität. Oder ist es nicht mal das, sondern schlicht eine alterstypische Gemütsschwäche?

Als die Kinder noch klein waren und es an Ihrer Arbeitsstelle brummte, fielen Sie abends wie tot ins Bett und hörten nach sechs oder sieben Stunden Erschöpfungsschlaf das Piepen des Weckers wie die Glocken zum Jüngsten Gericht. Genussvoller Luxus war es, draufzuhauen und satte zwei Stunden weiterzuschlafen. Jetzt – die Kinder sind aus dem Haus, die Fima hat Sie frühpensioniert oder wurde nach China verkauft – wachen Sie ungewollt um fünf zum ersten Mal auf, ganz ohne Wecker um sechs schon wieder, stehen um halb sieben endgültig auf und werden ab 14 Uhr bleiern müde. Sie schlafen mehr als früher – aber in kürzeren Häppchen. Sie sind seit Tau und Tag auf den Beinen, Schwager und Schwägerin kommen zum Mittagessen, der verregnete Sonntagnachmittag am Kaffeetisch zieht sich in die Länge – und Sie stemmen sich gegen die Tonnage Ihrer Augenlider. Kämpfen um Ihr Gleichgewicht im Sitzen. Und gegen den Grauschleier im Hirn. Mü-dig-keit. Lähmend wie ein Vollrausch. Was gäben Sie drum, einfach aufstehen zu dürfen und schlafen zu gehen!

„Aber sonst“, beenden Sie den kurzen Small Talk auf der Straße, „aber sonst ist noch alles okay!“

Kapitel 2

Was Silver Liner still ertragen

Wer spürt es insgeheim zuerst – er oder sie? Das Etikett „alter Sack“. Nie ausgesprochen, versteht sich. Aber im Bruchteil einer Sekunde von Mitfahrenden im Stadtbus und von Kassiererinnen im Supermarkt über die Altherrenglatze hinweg in die Luft gebeamt: alt. Opa. Etwas unbeholfen. Meistens mürrisch. Im schlimmsten Fall „herrisch“(!), in guten Momenten „irgendwie süß“. Merken es die Damen und verschweigen es höflich? Oder merken es auch die Herren, ignorieren es aber tapfer?

Es mag daran liegen, dass „heutzutage in einer U-Bahn, besetzt mit zugestöpselten, Röntgenblicke durch die Wände schickenden Gelegenheits-Autisten es ja sowieso oberstes Gebot ist, dass man einander für unsichtbar hält, dass man sich nicht sieht und nicht hört“1 – aber für Männer über 60 scheint dieses Gebot in verschärfter Form zu gelten.

Gar nicht ablehnend, aber auch nicht interessiert, entscheidet sich zwischen zwei Lidschlägen, zu welcher Gruppe man(n) gezählt, gerechnet und abgeschrieben werden kann. Bei den jungen Geschniegelten an der Hotelrezeption und den jungen Strubbeligen am Fast-Food-Counter „schaffen wir Alten es nur noch bis zu ihrer Netzhaut. Der Raum dahinter, wo das Sehen anfängt, bleibt uns verschlossen. Wir werden unsichtbar. Wir sind ihnen wie Laternen, Litfaßsäulen und Hydranten. Gegenstände, die man bemerkt, um ihnen auszuweichen.“2 „Frisch gebackene“ Rentnerinnen und Rentner (ein unfreiwillig komisches Wort. Rentner kommen nicht ausgebrannt und schlapp, sondern frisch und knusprig aus der Hitze des Arbeitslebens …) schwärmen in den Wochenendbeilagen der Tageszeitungen davon, wie fit, wie aktiv, wie gesellig sie sind. Beschreiben begeistert, wie lustvoll (ganz wichtig!) und genussvoll sie Möbel restaurieren, Tango tanzen lernen, Malkurse besuchen, Halbmarathon laufen, Berge erklimmen und Weltmeere durchkreuzfahren. Wo sie ja jetzt „endlich nicht mehr arbeiten müssen“, „endlich ihr eigener Herr sind“, „alle Zeit der Welt für was Sinnvolles haben“! (War ihre Berufstätigkeit also mehrheitlich sinnlos?)

Die Texte platzen vor Lebensfreude und strotzen nur so von Vitalität. Aber seltsam: Direkt neben und zwischen all den Erfolgsberichten stehen Anzeigen der Pharmaindustrie. Empfehlen Salben gegen Gelenkschmerzen, Tabletten gegen Harndrang, Treppenlifte für Gehbehinderte! Wem also darf ich als Leser glauben: den redaktionellen Texten oder den Anzeigen?

Hat ein Mann jenseits der 60 an einem Zeitungskiosk oder in der Bahnhofsbuchhandlung es schon mal bemerkt oder gar beklagt, dass jeden Monat mehrere Tausend Seiten schönster Hochglanzmagazine davon handeln, was Frauen nach der Berufs- und Familienarbeit machen? Kochen, Festtafeln dekorieren, Stoffe drapieren, Kleider schneidern, sticken, häkeln, batiken, malen, töpfern, Gärten anlegen, Gemüse ziehen, Rosen züchten, Blumen stecken, Schmuck löten, schminken, frisieren, gesund bleiben, und-überhaupt-wie-in-einem-Rosamunde-Pilcher-Roman-leben? Toll. Glückwunsch.

Und was machen Männer nach der Erwerbstätigkeit so? Wenn Herr Rentner nicht zufällig angelt, jagt, segelt, Zierfische züchtet oder Oldtimer repariert, kann kaum ein Fachmagazin von seinen Hobbys leben. Mal abgesehen von sommerlich sich wiederholenden Grilltipps. Männer-Lifestyle jenseits der 60? Nicht der Rede wert, jedenfalls nicht der auflagenstark gedruckten.

Ein Paar, sichtbar weit jenseits der Silberhochzeit, betritt das „Herren“-Stockwerk eines Kaufhauses. Von der Werbung als „Best Ager“ oder „Silver Liner“ umschmeichelt, sollte ein Hemd-und-Hose-suchender Mann geduldig darüber hinwegsehen, dass die Verkäuferin über ihn hinwegsieht. Und intuitiv zuerst mit seiner Frau spricht. Über ihn, versteht sich. Über seine Bundweite z. B., seine Lieblingsfarben und welche Stoffe er verträgt. „So einen Hals“ darf man(n) auch nicht bekommen, wenn die Damen über seine Halsweite parlieren. Tun sie ja freundlicherweise, damit ihm nicht der Kragen platzt.

Nun gut, an dieser zeitsparenden Ignoranz des Verkaufspersonals ist er auch selbst mit schuld, bzw. sein glasiger Blick ist es: Betäubt von der Musikdusche uralter Discohits, verwirrt vom Geschnatter der Massen, verschwitzt von der feuchtwarmen Luft der Klimaanlage, sacken manche Männer in Kaufhäusern schlagartig in eine Art willenlose Trance. Werden seltsam antriebslos und unentschlossen, obwohl es doch um ihre Interessen geht. Aber zig Dutzend gleich aussehender blaugrauschwarzer Sakkos, Hunderte folienverpackter Hemden voller versteckter Nadeln, Tausende säuberlich gefaltete T-Shirts und Hunderttausende winzige Zettel mit Markennamen, Nummern, Maßen und Preisen können das Hirn und Herz eines Mannes in schafsblöde Apathie versetzen. Oder sich zu einem explosiven Gefühlsgemisch verdichten: „Raus hier! Luft! Hilfe!“

Steht der „stark gebaute Herr in bestem Alter“ noch halb nackt in der Umkleidekabine und seine Frau reißt mit einem lauten „Und?“ den Vorhang zur Seite – dann sollte er tunlichst verschweigen, an welcher empfindlichen Stelle der Hosenstoff besonders juckt. Ein schüchternes „Also, ich weiß nicht …“ genügt völlig. Er wird unisono von Ehefrau und Verkäuferin hören, das Material sei ganz edel und außerdem „trägt man das heute so!“

Warum erträgt er, was man(n) heute so trägt? Weil er leider nicht zu jener seltenen Sorte Männer gehört, die ohne langes Weh und Ach irgendwann alleine in die Stadt gehen und mit Hemden, Hosen, Jacketts und Pullovern wiederkommen, die ihnen passen, die ihnen stehen und die keine Privatinsolvenz verursachen. Und weil seine Gemahlin wiederum nicht zu jener Sorte Frauen gehört, die jederzeit und eigeninitiativ Klamotten für ihre Männer kauft. Diese zielführende, zweckmäßige, zeit- und nervensparende Arbeitsteilung funktioniert ja nur, wenn der Mann hochzufrieden jahrelang trägt, was sie ihm da so alles mitbrachte oder bestellte.

Alte Männer beklagen ihren Bedeutungsschwund im öffentlichen Leben nicht. Wer will schon in lächerlicher Selbstüberschätzung einen Laden betreten, wie es Loriot in „Papa ante portas“ zum Klassiker stilisiert hat: „Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein!“ Nein, dass man ihn übersieht, höflich nicht beachtet oder fürsorglich infantilisiert, gefährdet seine psychische Stabilität nicht stark genug, um vernehmbar darüber zu meckern.

Für dieses „Schweigen der Männer“ mag es viele Gründe geben, rund 10 Millionen wahrscheinlich. Zu den Ritualen intellektueller Redlichkeit in der Postmoderne gehört es ja, immer vorneweg zu beteuern, dass es „den“ im Folgenden beschriebenen Typen sowieso nicht gibt. Und dass auf jede vermeintlich symptomatische Beobachtung hundert Ausnahmen und Gegenbeispiele lauern. Schon recht. Darf ich trotzdem ein paar Vermutungen zur Diskussion stellen und den Paaren fürs gemeinsame Gespräch empfehlen, nachdem wir vorher einen kleinen Ausflug an den Bodensee gemacht haben?