Jessie Burton
Die Magie
der kleinen Dinge
Roman
Aus dem Englischen
von Karin Dufner
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Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »The Miniaturist« bei Picador, London.
Der Limes Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.
Erste Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2014 Peebo & Pilgrim Limited
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Abbildung Rijksmuseum, Amsterdam
Umschlagillustration und -gestaltung: www.buerosued.de
unter Verwendung einer Vorlage von Katie Tooke
Modellbau und Fotografie: www.andersenm.com
Figurenillustrationen: Dave Hopkins
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15783-8
V002
www.limes-verlag.de
Für Linda, Edward & Pip
Petronella Oortmans Schrankpuppenhaus,
Rijksmuseum, Amsterdam.
So raubet nun Silber! Raubet Gold!
Denn hier ist der Schätze kein Ende und
der Menge aller köstlichen Kleinode.
Nahum 2:9
Als Jesus den Tempel verließ, sagte einer
von seinen Jüngern: Meister, sieh was für Steine und was für Bauten!
Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese großen
Bauten? Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, alles wird niedergerissen.
Markus 13:1-2
(in der Familienbibel der Brandts
angestrichene Passagen)
Die Oude Kerk, Amsterdam
Dienstag, 14. Januar, 1687
Eigentlich hätte die Beerdigung in aller Stille stattfinden sollen, denn die Verstorbene hatte keine Freunde. Doch in Amsterdam sind Worte wie das Wasser. Sie rinnen den Menschen in die Ohren, bis die Fäulnis einsetzt, und so ist der östliche Teil der Kirche voll besetzt. Vom sicheren Chorgestühl aus beobachtet sie, wie Mitglieder der Gilden und ihre Frauen sich dem klaffenden Grab nähern. Eine Prozession von Ameisen zum Honigtopf. Bald gesellen sich die Kontoristen der Ostindien-Kompanie VOC, die Schiffskapitäne, die Direktorengattinnen und die Konditoren hinzu – und er, der wie stets seinen breitkrempigen Hut trägt. Sie versucht, Mitleid für ihn zu empfinden. Im Gegensatz zu Hass kann man Mitleid abkapseln und beiseiteschieben.
Die bemalte Kirchendecke – das Einzige, was die Bilderstürmer hier unversehrt gelassen haben – erhebt sich über ihr wie der umgedrehte Rumpf eines prachtvollen Schiffes, das Spiegelbild der Seele der Stadt. Jesus sitzt, Schwert und Lilie in der Hand, zu Gericht. Ein goldener Frachter durchschneidet die Wellen. Die Jungfrau ruht auf einer Mondsichel. Als sie die alte Misericordie neben sich aufklappt, beben ihre Finger auf dem ins freigelegte Holz eingeschnitzten Symbol. Es ist das Relief eines Mannes, der einen Beutel Münzen scheißt. Ein gleichzeitig schmerzerfülltes und hämisches Grinsen spielt um seine Lippen. Hat sich irgendetwas verändert?, denkt sie.
Und dennoch …
Selbst die Toten haben sich heute versammelt, die Grabplatten verbergen Leichen über Leichen, Knochen und Staub, geschichtet bis dicht unter die Füße der Trauergäste. In diesem Boden liegen die Kiefer von Frauen, das Becken eines Kaufmanns, die hohlen Rippen eines dickwanstigen Grande. Auch kleine Leichen gibt es dort unten, einige davon nicht länger als ein Laib Brot. Sie stellt fest, dass die Menschen den Blick von so viel geballter Tragödie, von all den winzigen Grabplatten, abwenden, und kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen.
Mitten in der Menschenmenge entdeckt sie die Person, deretwegen sie hier ist. Die junge Frau wirkt erschöpft und eingefallen vor Trauer, als sie da vor dem Loch im Boden steht. Sie nimmt die Bürger kaum zur Kenntnis, die gekommen sind, um sie anzugaffen. Die Sargträger schreiten das Kirchenschiff entlang. Sie balancieren den Sarg auf ihren Schultern wie einen Kasten, der lediglich eine Laute enthält. Nach ihren Mienen zu urteilen, möchte man meinen, dass einige von ihnen ihre Vorbehalte gegen diese Beisetzung haben. Sie nimmt an, dass dies Pellicorne zu verdanken ist, der den Leuten wieder einmal Gift ins Ohr träufelt.
Für gewöhnlich folgen solche Prozessionen einer festen Ordnung. An der Spitze gehen die burgermeester, dann folgt das gemeine Volk. Heute jedoch hat man sich das gespart. Wie die Frau annimmt, ist noch in keinem Gotteshaus innerhalb der Stadtgrenzen je der Leichnam einer Frau wie dieser beigesetzt worden. Ihr gefällt die trotzige Haltung, die dahintersteht. Amsterdam, einst gegründet auf dem Mut zum Risiko, sehnt sich nun nach Gewissheit und geordneten Verhältnissen und bewacht in dumpfem Gehorsam seine Bequemlichkeit verheißenden Reichtümer. Ich hätte abreisen sollen, denkt sie. Der Tod ist mir zu nahe gekommen.
Die Menge teilt sich vor den Sargträgern. Als der Sarg ohne viel Federlesens in das Loch hinabgelassen wird, tritt die junge Frau an den Rand. Sie wirft ein Blumensträußchen in die Dunkelheit. Ein Star flattert die weiß gestrichene Wand der Kirche hinauf. Überrascht wenden die Menschen die Köpfe, doch die junge Frau zuckt nicht mit der Wimper.
Auch die Frau im Chorgestühl rührt sich nicht, und sie beobachten beide den bogenförmigen Flug der Blütenblätter, während Pellicorne das letzte Gebet anstimmt.
Als die Sargträger die neue Grabplatte an ihren Platz schieben, kniet sich ein Dienstmädchen vor den schmaler werdenden dunklen Streifen. Sie fängt zu schluchzen an, und als die erschöpfte junge Frau keine Anstalten macht, das Schauspiel zu unterbinden, wird dies vom Publikum mit missbilligendem Zungenschnalzen quittiert. Zwei in schwarze Seide gewandete Frauen, die neben dem Chorgestühl stehen, beginnen zu tuscheln. »Ein Benehmen wie dieses ist der Grund, warum wir überhaupt hier sind«, raunt die eine.
»Wenn sie sich in der Öffentlichkeit schon so aufführen, gebärden sie sich zu Hause sicherlich wie die wilden Tiere«, erwidert ihre Freundin.
»Gewiss. Was würde ich dafür geben, bei denen einmal die Fliege an der Wand sein zu dürfen. Bzz-bzz.«
Die beiden müssen sich ein Kichern verkneifen. Die Frau stellt fest, dass sich ihre Fingerknöchel auf der symbolbehafteten Misericordie weiß verfärbt haben.
Als das Loch im Boden wieder verschlossen und der Tod in seine Schranken gewiesen ist, löst sich die Trauergemeinde rasch auf. Die junge Frau, die an eine aus der Buntglasscheibe gestürzte Heilige erinnert, nimmt die nicht eingeladenen Heuchler endlich wahr, die nun plaudernd auf den Ausgang und die verwinkelten Straßen der Stadt zusteuern. Nach einer Weile straffen sich die junge Frau und ihr Dienstmädchen und gehen, wortlos und Arm in Arm, das Kirchenschiff entlang und nach draußen. Die meisten Männer kehren nun an ihre Schreibtische und Ladentheken zurück, denn nur unermüdlicher Fleiß verhindert, dass Amsterdam untergeht. Harte Arbeit hat uns Ruhm gebracht, heißt es, doch Müßiggang wird uns zurück ins Meer spülen. Und in letzter Zeit scheint das Hochwasser immer näher zu rücken.
Sobald die Kirche leer ist, verlässt die Frau das Chorgestühl. Sie beeilt sich, weil sie unentdeckt bleiben will. »Die Dinge können sich ändern«, sagt sie, dass ihre Stimme von den Wänden widerhallt. Als sie vor der neu gelegten Grabplatte steht, erkennt sie, dass hier hastig zu Werk gegangen wurde. Der Granit ist noch wärmer als der auf den anderen Gräbern, an der eingemeißelten Inschrift haftet Staub.
So weit hätte es eigentlich nicht kommen dürfen.
Sie kniet nieder und greift in ihre Tasche, um zu Ende zu bringen, was sie angefangen hat. Das hier ist ihr ganz persönliches Gebet, ein Miniaturhäuschen, klein genug, um in ihre Handfläche zu passen. Neun Zimmer mit fünf menschlichen Figürchen darin, ein kleines Kunstwerk, bei dessen Vollendung die Zeit keine Rolle spielte. Vorsichtig legt die Frau ihre Gabe dorthin, wo sie hingehört, und segnet den Granit mit schwieligen Fingern.
Als sie die Kirchentür öffnet, sieht sie sich unwillkürlich nach dem breitkrempigen Hut und dem Gewand von Pellicorne und nach den Frauen in ihren Seidenkleidern um. Sie sind alle verschwunden, und die Frau könnte ganz allein auf der Welt sein, wenn da die Geräusche des eingesperrten Stars nicht wären. Obwohl es Zeit ist zu gehen, hält die Frau dem Vogel kurz die Tür auf. Er bemerkt zwar ihre Absicht, flattert aber hinter die Kanzel.
Sie schließt die Tür zum kühlen Kircheninneren, wendet sich der Sonne zu und geht, fort von den ringförmig angelegten Kanälen, in Richtung Meer. Star, denkt sie, wenn du dich in diesem Gebäude sicherer fühlst, will ich nicht diejenige sein, die dich befreit.
EINS
Mitte Oktober, 1686
Herengracht, Amsterdam
Wünsche dir nichts von seinen feinen Speisen;
denn es ist falsches Brot.
Sprüche 23:3
Verkehrte Welt
Nella Oortman steht auf der Vortreppe des Hauses, hebt den delphinförmigen Türklopfer an, lässt ihn fallen und zuckt unter dem lauten Geräusch verlegen zusammen. Nichts rührt sich, obwohl sie doch erwartet wird. Der Zeitpunkt wurde vereinbart, Briefe wurden gewechselt. Das Briefpapier ihrer Mutter war so dünn, verglichen mit dem teuren Pergament der Brandts. Nein, das ist keine schöne Begrüßung, wenn man bedenkt, dass die Trauung erst letzten Monat stattfand, denkt sie. Keine Girlanden, kein Hochzeitstrunk, keine Hochzeitsnacht. Nella stellt ihren kleinen Koffer und den Vogelkäfig auf die Treppe. Sie weiß schon jetzt, dass sie die Szene für die Daheimgebliebenen wird ausschmücken müssen, wenn sie endlich oben in einem Zimmer ist und an einem Schreibtisch sitzt.
Als sich am anderen Ufer das Gelächter von Kahnführern erhebt, dreht Nella sich um. Ein magerer Junge hat eine Frau angerempelt, die einen Korb voller Fische an der Hüfte trägt. Nun rutscht ein halbtoter Hering den weiten Rock der Fischhändlerin hinab. Ihre raue bäuerliche Stimme fährt Nella bis ins Mark, als sie zu schimpfen anfängt. »Idiot! Idiot!«, kreischt die Frau. Der Junge ist blind. Seine flinken Finger tasten ohne Scheu die Erde ab. Rasch hebt er den entflohenen Hering vom Boden auf wie einen silbrigen Glücksbringer und rennt, hämisch lachend und den freien Arm suchend ausgestreckt, mit seiner Beute den Kanal entlang.
Nella beglückwünscht ihn insgeheim und dreht sich zu der für den Oktober ungewöhnlich warm scheinenden Sonne hin, um sie so lang wie möglich zu genießen. Dieser Teil der Herengracht wird auch der Goldene Bogen genannt. Die Häuser, die über dem schlammfarbenen Kanal aufragen, sind wahre Wunderwerke. Beeindruckend und prachtvoll, bestaunen sie das Spiegelbild ihrer eigenen Schönheit im Wasser. Juwelen, die das Zentrum der Stadt schmücken. Über ihren Dächern tut die Natur ihr Bestes, um mitzuhalten. Safrangelbe und aprikosenfarbene Wolken wetteifern mit den bunten Fassaden.
Nella wendet sich wieder der Tür zu, die nun einen Spalt offen steht. War das vorhin auch schon so? Sie ist nicht sicher. Sie schiebt die Tür auf und späht in die Dunkelheit, während kühle Luft vom Marmor aufsteigt. »Johannes Brandt?«, ruft sie – laut und ein wenig ängstlich. Soll das ein Scherz sein?, fragt sie sich. Dann stehe ich ja im Januar noch hier. Peebo, ihr Wellensittich, reibt die Spitzen seines Gefieders an den Käfigstäben. Sein leises Zwitschern wird vom Marmor verschluckt. Selbst der inzwischen stille Kanal hinter ihnen scheint den Atem anzuhalten.
Eines weiß Nella genau, als sie weiter in die Dunkelheit starrt. Sie wird beobachtet. Los, Nella Elisabeth, sagt sie sich und tritt über die Schwelle. Wird ihr Mann sie nun umarmen und küssen oder ihr wie einem Geschäftspartner die Hand schütteln? Während der Trauung, bei der nur ihre kleine Familie und kein einziges Mitglied von seiner anwesend war, hat er nichts von alldem getan.
Um zu zeigen, dass auch Mädchen vom Land gute Manieren haben, bückt sie sich und zieht die Schuhe aus – zierlich, aus Leder und natürlich ihre besten. Allerdings ist sie nicht sicher, warum sie sie überhaupt angezogen hat. Würde, meinte ihre Mutter, aber Würde ist so unbequem. Sie knallt die Schuhe auf den Boden, in der Hoffnung, dass das Geräusch Aufmerksamkeit erregen oder vielleicht jemanden verscheuchen wird. Eine blühende Phantasie hat das Mädchen, pflegt ihre Mutter zu sagen, Nella-guck-in-die-Luft. Jetzt liegen die Schuhe reglos da und haben den Schwung verloren. Nella kommt sich einfach nur albern vor.
Draußen rufen zwei Frauen einander etwas zu. Nella dreht sich um, kann aber durch die offene Tür nur die eine Frau von hinten sehen. Sie trägt keine Haube, hat goldenes Haar und ist hochgewachsen. Sie schreitet in die untergehende Sonne hinein. Nellas Frisur hat sich auf der Reise von Assendelft hierher aufgelöst. In der leichten Brise haben sich Strähnchen gelockert. Sie zu richten würde sie nur noch nervöser machen, was sie nicht ertragen könnte. Darum lässt sie sich weiter von ihnen im Gesicht kitzeln.
»Wird hier demnächst eine Menagerie eröffnet?«
Nella bekommt eine Gänsehaut. Sie sieht, dass eine Gestalt aus den Schatten auf sie zugleitet. Eine Hand hat sie ausgestreckt – ob abwehrend oder zur Begrüßung, ist schwer festzustellen. Es ist eine Frau, schlank mit kerzengerader Haltung. Sie ist tiefschwarz gekleidet, die Haube auf ihrem Kopf ist gestärkt und mit dem Bügeleisen zu einem weißen Meisterwerk geglättet. Kein Haarsträhnchen ist verrutscht, und es haftet ihr ein ganz leichter und sonderbarer Hauch von Muskatduft an. Ihre Augen sind grau, ihr Mund ist schmal. Wie lange beobachtet sie sie schon? Peebo krächzt wegen der Störung.
»Das ist Peebo«, erwidert Nella. »Mein Wellensittich.«
»Das sehe ich selbst«, entgegnet die Frau und mustert sie. »Und hören kann ich es auch. Muss ich davon ausgehen, dass Sie noch mehr Tiere mitgebracht haben?«
»Ich habe einen kleinen Hund, aber der ist zu Hause …«
»Sehr gut. Der würde hier nur Unordnung machen. Und die Möbel zerkratzen. Außerdem sind diese Hündchen etwas für affektierte Franzosen und Spanier«, stellt die Frau fest. »So frivol wie ihre Besitzer.«
»Und sie sehen aus wie Ratten«, ruft eine zweite Stimme irgendwo im Flur.
Die Frau runzelt die Stirn und schließt einen Moment die Augen. Während Nella sie betrachtet, fragt sie sich, wer sonst noch dieses Gespräch beobachtet. Ich bin bestimmt zehn Jahre jünger als sie, denkt sie, auch wenn ihre Haut sehr glatt ist. Als die Frau an Nella vorbei zur Tür geht, um sie zu schließen, sind ihre Bewegungen anmutig, selbstbewusst und raumgreifend. Sie wirft einen kurzen beifälligen Blick auf die ordentlich an der Tür abgestellten Schuhe und mustert dann mit fest zusammengepressten Lippen den Käfig. Peebo sträubt ängstlich das Gefieder.
Nella beschließt, sie abzulenken, indem sie ihr die Hand schüttelt, doch die Frau zuckt bei der Berührung zusammen. »Kräftige Knochen für siebzehn«, sagt sie.
»Ich bin Nella. Und ich bin achtzehn«, erwidert Nella und zieht die Hand zurück.
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Eigentlich heiße ich ja Petronella, aber zu Hause nennen mich alle …«
»Ich habe Sie schon beim ersten Mal verstanden.«
»Sind Sie die Haushälterin?«, fragt Nella. Aus dem dunklen Flur ist ein kaum unterdrücktes Kichern zu hören. Die Frau achtet nicht darauf und blickt an Nella vorbei in die flirrenden Schatten. »Ist Johannes da? Ich bin seine Frau.« Die Frau schweigt weiter. »Wir haben vor einem Monat in Assendelft geheiratet«, beharrt Nella. Offenbar die einzige Methode, die bei dieser Frau wirkt.
»Mein Bruder ist nicht zu Hause.«
»Bruder?«
Wieder ein Kichern aus der Dunkelheit. Die Frau schaut Nella direkt in die Augen. »Ich bin Marin Brandt«, verkündet sie, als wolle sie Nella etwas damit mitteilen. So hart Marins Gesichtsausdruck auch sein mag, hört Nella aus ihrer Stimme ein leichtes Zittern heraus. »Er ist nicht da«, wiederholt sie. »Wir hatten es eigentlich anders geplant, aber er ist nicht da.«
»Wo ist er denn?«
Als Marin nun mit der linken Hand wedelt, treten zwei Gestalten aus den Schatten neben der Treppe. »Otto«, sagt sie. Ein Mann nähert sich. Nella schluckt und stemmt die kalten Füße in den Boden. Ottos Haut ist überall dunkel. Am Hals, der aus dem Kragen ragt, an den Handgelenken und Händen, die aus seinen Ärmeln schauen – nichts als dunkelbraune Haut. Seine hohen Wangenknochen, sein Kinn, seine breite Stirn, jeder Zentimeter. Noch nie im Leben hat Nella so einen Mann gesehen.
Offenbar will Marin sie auf die Probe stellen. Dem Ausdruck in Ottos großen Augen ist nicht zu entnehmen, ob er Nellas unverhohlene Neugier bemerkt hat. Als er sich verbeugt, macht sie einen Knicks und beißt sich auf die Lippe, bis der Geschmack nach Blut sie mahnt, die Ruhe zu bewahren. Nella stellt fest, dass seine Haut glänzt wie poliertes Nussholz und dass sein schwarzes Haar von der Kopfhaut absteht. Es erinnert an eine Wolke aus weicher Wolle und ist nicht glatt und fettig wie bei anderen Männern. »Ich …«, setzt sie an.
Peebo fängt an zu zwitschern. Als Otto die Hände ausstreckt, liegt ein Paar Pantoffeln auf seinen breiten Handflächen. »Für Ihre Füße«, sagt er.
Er hat einen Amsterdamer Akzent, rollt die Wörter aber so, dass sie warm und fließend klingen. Als Nella die Pantoffeln entgegennimmt, berühren ihre Finger seine Haut. Unbeholfen streift sie sich die Schuhe über die angehobenen Füße. Sie sind zu groß, doch sie wagt nicht, das anzumerken. Wenigstens trennen sie ihre Fußsohlen von dem kalten Marmor. Die Lederbänder wird sie später schließen, wenn sie oben ist. Das heißt, falls man ihr jemals gestatten wird, diese Vorhalle zu verlassen.
»Otto ist der Diener meines Bruders«, sagt Marin und durchbohrt Nella weiter mit Blicken. »Und das hier ist Cornelia, unser Hausmädchen. Sie wird sich um Sie kümmern.«
Cornelia tritt vor. Sie ist ein wenig älter als Nella, vielleicht zwanzig oder einundzwanzig, und ein Stückchen größer. Cornelia bedenkt sie mit einem verkniffenen Lächeln. Ihre blauen Augen wandern über Nellas Körper und bemerken wohl auch ihre zitternden Hände. Nella lächelt. Das unverfrorene Starren des Hausmädchens empfindet sie als kränkend, und sie zermartert sich das Hirn nach einer unverfänglichen Dankesfloskel. Als Marin nun wieder die Initiative ergreift, ist sie gleichzeitig erleichtert und beschämt.
»Ich zeige Ihnen das Obergeschoss«, verkündet Marin. »Sicher wollen Sie Ihr Zimmer sehen.«
Als Nella nickt, funkeln Cornelias Augen belustigt. Das klägliche Zirpen aus dem Käfig bricht sich an den hohen Wänden. Marin weist Cornelia mit einer Handbewegung an, den Vogel in die Küche zu bringen.
»Aber die Küchendünste«, protestiert Nella, während Marin und Otto sich bereits abwenden. »Peebo braucht Licht.« Cornelia nimmt den Käfig und schwingt ihn wie einen Eimer. »Seien Sie bitte vorsichtig«, sagt Nella, und Marin wirft Cornelia einen Blick zu. Begleitet von Peebos dünnem, kläglichem Trillern, verschwindet diese in der Küche.
Oben angekommen, ist Nella wie erschlagen vom Prunk in ihrem neuen Zimmer. Marin verzieht nur missbilligend das Gesicht. »Cornelia hat zu viel gestickt«, stellt sie fest. »Allerdings hoffen wir, dass Johannes nur einmal heiraten wird.« Die Kissen tragen ein Monogramm, der Bettüberwurf ist neu, und die Vorhänge wurden kürzlich aufgearbeitet. »Der schwere Samt hält die Feuchtigkeit vom Kanal ab«, stellt Marin fest. »Das war früher mein Zimmer«, fügt sie hinzu, tritt ans Fenster und schaut hinaus zu den ersten Sternen, die sich am Himmel zeigen. Sie legt die Hand an die Scheibe. »Es hat die beste Aussicht, deshalb haben wir es Ihnen gegeben.«
»Oh, nein«, sagt Nella. »Dann müssen Sie es behalten.«
Sie stehen einander gegenüber, umzingelt von Massen bestickten Stoffes und unzähligen Wäschestücken. Sie sind übersät mit dem B für Brandt – der Buchstabe umrankt von Weinblättern, eingebettet in Vogelnester und Blumenbeete. Das B mit seinem dick geschwollenen Bauch hat Nellas Mädchennamen verschluckt. Trotz ihrer Beklommenheit streicht Nella aus Pflichtgefühl mit dem Finger über diese Stoffberge, die ihr inzwischen aufs Gemüt schlagen.
»Und ist es im altehrwürdigen Herrensitz Ihrer Vorfahren in Assendelft warm und trocken?«, fragt Marin.
»Es kann manchmal feucht sein«, erwidert Nella, während sie sich bückt, um die zu großen Pantoffeln an ihren Füßen zu richten und zu verschnüren. »Die Deiche halten nicht immer. Aber es ist kein Herrensitz …«
»Unsere Familie mag keinen so alten Stammbaum haben wie die Ihre, doch was bedeutet das schon im Vergleich mit einem warmen, trockenen und gut gebauten Haus«, unterbricht Marin.
»Richtig.«
»Afkomst seyt niet. Der Stammbaum zählt nicht«, fährt Marin fort und schlägt bei dem Wort auf ein Kissen, wie um ihre Worte zu untermalen. »Das hat Pastor Pellicorne letzten Sonntag gesagt, und ich habe es auf das Deckblatt unserer Bibel geschrieben. Wenn wir nicht vorsichtig sind, steigt das Wasser. Ihre Mutter hat geschrieben«, fügt sie wie in Gedanken versunken hinzu. »Sie hat darauf bestanden, für Ihre Reise hierher zu bezahlen. Das konnten wir nicht annehmen. Wir haben das zweitbeste Boot geschickt. Sie sind doch hoffentlich nicht gekränkt?«
»Nein, nein.«
»Gut. Das zweitbeste ist in diesem Haus immerhin ein frischer Anstrich und eine mit bengalischer Seide ausgestattete Kabine. Johannes benutzt gerade das andere.«
Nella fragt sich, wo ihr Mann ist, in seinem besten Boot unterwegs und nicht rechtzeitig zurück, um sie zu begrüßen. Sie denkt an Peebo, der allein in der Küche ist, in der Nähe des Feuers und der Pfannen. »Haben Sie nur zwei Dienstboten?«, erkundigt sie sich.
»Das genügt«, entgegnet Marin. »Wir sind Kaufleute, keine Müßiggänger. In der Bibel steht, dass der Mensch nicht mit seinem Wohlstand protzen soll.«
»Natürlich nicht.«
»Das heißt, wenn er noch etwas besitzt, um damit protzen zu können.« Marin starrt Nella so lange an, bis diese den Blick senkt. Allmählich wird es dunkel im Raum, und Marin zündet die Kerzen an. Sie bestehen aus billigem Talg. Nella hat auf welche aus duftendem Bienenwachs gehofft und wundert sich, warum die Wahl auf diese qualmenden, nach Fleisch riechenden Dinger gefallen ist. »Offenbar hat Cornelia auf alles Ihren neuen Namen gestickt«, sagt Marin über die Schulter.
Das hat sie wirklich, denkt Nella und erinnert sich an Cornelias unfreundliche Musterung. Bestimmt hat sie sich die Finger blutig genäht, und an wem wird sie sich nun wohl rächen? »Wann kommt Johannes zurück, und warum ist er nicht hier?«, fragt sie.
»Ihre Mutter sagte, Sie freuen sich schon sehr auf Ihr neues Leben als Ehefrau in Amsterdam«, erwidert Marin. »Stimmt das?«
»Ja, nur dass man dazu einen Ehemann braucht.«
In dem nun folgenden frostigen Schweigen fragt sich Nella, wo wohl Marins Ehemann ist. Vielleicht hat sie ihn ja im Keller versteckt. Sie muss ein Kichern unterdrücken und lächelt stattdessen in Richtung Kissen. »Es ist alles wunderschön«, sagt sie. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Cornelia hat alles gemacht. Ich bin bei Handarbeiten zu nichts zu gebrauchen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Ich habe meine Bilder abgehängt. Diese hier entsprechen vermutlich eher Ihrem Geschmack.« Marin weist auf ein Bild an der Wand, auf dem ein Schwarm erlegter Vögel, einschließlich Federn und Krallen, an einem Haken baumelt. Ein Stück weiter prangt ein aufgeschlitzter Hase, ebenfalls eine Jagdbeute. Ein drittes Bild zeigt einen Berg Austern auf einem Teller mit chinesischem Muster, daneben ein umgekipptes Weinglas und eine Schale mit überreifem Obst. Die Nacktheit der aufgeklappten Austern hat etwas Beunruhigendes an sich. Zu Hause hat Nellas Mutter die Wände mit Landschaftsbildern und Bibelszenen geschmückt. »Die gehören meinem Bruder«, erklärt Marin und weist auf eine überquellende Blumenvase, übernatürlich grell und in schrillen Farben gehalten. Am unteren Bildrand ist ein aufgeschnittener Granatapfel zu sehen.
»Danke.« Nella überlegt, wie lange sie wohl brauchen wird, um die Bilder vor dem Schlafengehen mit dem Gesicht zur Wand zu drehen.
»Sicher möchten Sie heute Abend hier oben essen«, sagt Marin. »Sie haben eine lange Reise hinter sich.«
»Ja, das stimmt. Sehr aufmerksam von Ihnen.« Beim Anblick der blutigen Vogelschnäbel muss Nella ein Schaudern unterdrücken. Die glasigen Augen kündigen die Verwesung an. Die Bilder lösen in ihr Appetit auf etwas Süßes aus. »Haben Sie vielleicht Marzipan da?«
»Nein. Wir verwenden kaum Zucker. Davon wird der Mensch krank an der Seele.«
»Meine Mutter hat es zu Formen geknetet.« Es gab immer Marzipan in der Speisekammer, das einzige Laster, das Madame Oortman mit ihrem Mann gemeinsam hatte. Meerjungfrauen, Schiffe und Ketten aus zuckrigen Perlen, die, weich und nach Mandeln duftend, im Mund zergingen. Ich gehöre nicht mehr zu meiner Mutter, denkt Nella. Und eines Tages werde ich Zuckerfigürchen für andere klebrige Händchen kneten, während Kinderstimmen um Leckereien betteln.
»Ich werde Cornelia bitten, Ihnen etwas herenbrood und Gouda zu bringen«, reißt Marin Nella aus ihren Gedanken. »Und ein Glas Rheinwein.«
»Danke. Wissen Sie vielleicht, wann Johannes wiederkommt?«
Marin reckt die Nase. »Was ist das für ein Geruch?«
Unwillkürlich fährt Nellas Hand hoch zum Schlüsselbein. »Bin ich das?«
»Sind Sie das?«
»Meine Mutter hat mir ein Parfüm geschenkt. Lilienöl. Meinen Sie das?«
Marin nickt. »Ja«, erwidert sie. »Lilie.« Sie hüstelt. »Wissen Sie, was man über Lilien sagt?«
»Nein.«
»Früh erblüht, früh verwelkt.«
Mit diesen Worten schließt Marin die Tür.
Der Mantel
Um vier Uhr morgens liegt Nella noch immer wach. Ihr seltsames neues Zuhause, alles blitzblank und bestickt und in den Geruch qualmenden Talgs gehüllt, lässt sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Die Bilder in ihren Rahmen sind weiterhin sichtbar, weil sie nicht gewagt hat, sie umzudrehen. Und so liegt sie da und lässt die Ereignisse, die zu diesem Moment geführt haben, Revue passieren.
Bei seinem Tod vor zwei Jahren hieß es in Assendelft, Seigneur Oortman sei ein Mann gewesen, der Brauereien zeugte. Obwohl Nella die Vorstellung gar nicht gefiel, ihr Papa sei nichts als ein ständig betrunkener Frauenheld, entsprach es leider der Wahrheit. Ihr Vater hatte ihnen einen Berg Schulden hinterlassen. Die Suppe wurde zunehmend dünner, das Fleisch zäher, die Dienstboten verschwanden nach und nach. Er hatte nie eine Arche gegen das ansteigende Meer gebaut, wie man es von einem guten Holländer erwartete. »Du musst einen Mann heiraten, der sein Geld nicht aus dem Fenster wirft«, hatte ihre Mutter deshalb verkündet und zum Federkiel gegriffen.
»Aber ich hätte ihm doch nichts zu geben«, wandte Nella ein.
Ihre Mutter schnalzte mit der Zunge. »Schau dich nur an. Was haben wir Frauen wohl zu bieten?«
Diese Äußerung hatte Nella vor den Kopf gestoßen. Dass ihre eigene Mutter sie so geringschätzte, löste eine bislang unbekannte Form von Bestürzung in ihr aus, und die Trauer um ihren Vater wich einer Trauer um sich selbst. Carel und Arabella, ihre jüngeren Geschwister, durften weiter draußen herumtollen und Kannibalen oder Piraten spielen.
Zwei Jahre lang übte Nella, eine Dame zu sein. Sie legte sich eine neue Art zu gehen zu, obwohl es, wie sie sich oft beklagte, daheim nichts gab, wo man hätte hingehen können. Zum ersten Mal hatte sie das Bedürfnis, dem Dorf zu entfliehen, achtete nicht mehr auf den weiten Himmel und sah nur noch ein ländliches Gefängnis. In einem neuen, enger geschnürten Korsett feilte sie an ihrem Lautespiel und zupfte mit geschickten Fingern die Saiten. Aber sie langweilte sich. Nur die Sorge um die Nerven ihrer Mutter verhinderte, dass sie sich auflehnte. Und im Juli dieses Jahres fielen die Bemühungen ihrer Mutter, unterstützt vom letzten ihnen verbliebenen Gönner ihres Mannes, endlich auf fruchtbaren Boden.
Ein Brief traf ein. Die Handschrift auf dem Umschlag wirkte ordentlich, flüssig und selbstbewusst. Ihre Mutter ließ sie den Brief nicht lesen, doch eine Woche später fand Nella heraus, dass sie einem Mann vorspielen sollte. Einem Kaufmann namens Johannes Brandt, der aus Amsterdam anreisen würde. Während die Sonne über den verdorrten Ebenen von Assendelft unterging, saß der Fremde schließlich in ihrem langsam verfallenden Haus und hörte ihrem Lautespiel zu.
Nella hatte den Eindruck, dass er bewegt war, und als sie geendet hatte, sagte er, er habe es genossen. »Ich liebe die Laute«, sagte er. »Ein wundervolles Instrument. Ich habe zwei an der Wand hängen, doch sie sind seit Jahren nicht mehr gespielt worden.« Und als Johannes Brandt – neununddreißig, ein echter Methusalem!, wie Carel johlte – um ihre Hand anhielt, beschloss Nella anzunehmen. Es wäre undankbar und eindeutig leichtfertig gewesen abzulehnen.
Nach der Trauung in Assendelft im September wurden ihre Namen ins Kirchenbuch eingetragen. Darauf folgte ein kurzes Abendessen im Haus der Oortmans, und dann reiste Johannes ab. Er habe persönlich Waren nach Venedig zu liefern, sagte er. Nella und ihre Mutter nickten. Johannes war so charmant mit seinem schiefen Lächeln und der Macht, die er ausstrahlte. Und so hatte die frisch verheiratete Nella in ihrer Hochzeitsnacht genauso geschlafen wie schon seit Jahren: Kopf an Fuß mit ihrer zappelnden Schwester. Aber nun würde alles gut werden, dachte sie und malte sich aus, wie sie sich als Phönix aus der Asche von Assendelft erhob. Als neue Frau – als Ehefrau mit einer glänzenden Zukunft …
Das Geräusch von Hunden auf dem Flur reißt sie aus ihren Gedanken. Nella hört einen Mann – die Stimme von Johannes, da ist sie sicher. Ihr Mann ist hier in Amsterdam. Ein wenig verspätet zwar, aber hier. Nella setzt sich in ihrem Bett auf und übt schlaftrunken die Begrüßungssätze. Ich freue mich ja so. Hattest du eine gute Reise? Ja? Ich bin sehr glücklich.
Aber sie wagt sich nicht nach unten. Die Nervosität und die Aufregung, ihn endlich wiederzusehen, sind einfach zu stark. Also wartet sie mit Schmetterlingen im Bauch ab und fragt sich, wie sie es anfangen soll. Schließlich streift sie doch die Pantoffeln ab, legt sich ein Umschlagtuch über die Schultern und pirscht sich auf den Flur hinaus.
Die Hunde laufen mit klackernden Krallen über die Fliesen. Ihr Fell riecht nach Meeresluft, und ihre Schweife schlagen gegen die Möbel. Marin hat Johannes bereits abgefangen, und Nella hört sie reden.
»Das habe ich nie behauptet, Marin«, sagt Johannes. Seine Stimme ist dunkel und sonor.
»Vergiss es, Bruder. Ich bin froh, dich zu sehen. Ich habe dafür gebetet, dass du wohlbehalten zurückkommst.« Als Marin aus dem Schatten tritt, um ihn zu betrachten, flackert und tanzt die Flamme ihrer Kerze. Nella beugt sich übers Treppengeländer und mustert den so gar nicht vertrauten Umriss seines Reisemantels und die erstaunlich klobigen Finger. »Du wirkst erschöpft«, fährt Marin fort.
»Ich weiß, ich weiß. Und der Londoner Herbst …«
»Ist ein Graus. Ach, dort warst du. Lass mich mal.« Mit der freien Hand hilft Marin ihm aus dem Mantel. »Oh, Johannes, du bist mager geworden. Du warst zu lange weg.«
»Ich bin nicht mager.« Er tritt zurück. »Rezeki, Dhana!«, ruft er, worauf die Hunde ihm folgen wie Schatten. Nella lässt den seltsamen Klang dieser Namen auf sich wirken. Rezeki, Dhana. In Assendelft hat Carel ihre Hunde Schnauzi und Schwarzauge genannt, nicht sehr phantasievoll, doch ihrem Wesen und Aussehen entsprechend.
»Bruder«, sagt Marin. »Sie ist hier.«
Johannes bleibt stehen, dreht sich aber nicht um. Er lässt die Schultern hängen, und sein Kopf sinkt ihm auf die Brust. »Aha«, erwidert er. »Ich verstehe.«
»Du hättest bei ihrer Ankunft hier sein sollen.«
»Du hast das sicher auch ohne mich geschafft.«
Schweigen liegt schwer zwischen ihrem bleichen Gesicht und dem abweisenden breiten Rücken ihres Bruders. »Vergiss nicht, du bist verheiratet«, meint sie.
Johannes fährt sich mit den Fingern durchs Haar. »Wie könnte ich?«, antwortet er. »Wie könnte ich?«
Marin scheint noch etwas hinzuzufügen wollen, verschränkt aber lediglich die Arme vor der Brust. »Es ist so kalt«, sagt sie.
»Dann geh zu Bett. Ich muss noch arbeiten.«
Er schließt seine Tür. Marin legt sich den Mantel ihres Bruders über die Schultern. Nella beugt sich vor und beobachtet, wie Marin das Gesicht in den Stofffalten vergräbt. Als das Geländer knarzt, reißt sich Marin den Mantel von den Schultern und späht in die Dunkelheit. Nella erstarrt. Doch als Marin einen Schrank im Flur öffnet, pirscht sie sich zurück in ihr Zimmer, um zu warten.
Kurz darauf schließt sich die Tür von Marins Schlafzimmer am Ende des Flurs. Nella schleicht die Haupttreppe hinunter. Im Flur bleibt sie am Schrank stehen und rechnet eigentlich damit, dort den Mantel hängen zu sehen. Doch er liegt auf dem Boden. Sie bückt sich und hebt ihn auf. Er riecht feucht, nach einem müden Mann und nach den Städten, die er gesehen hat. Nachdem sie den Mantel aufgehängt hat, nähert sich Nella der Tür, hinter der ihr Mann verschwunden ist, und klopft an.
»Herrgott«, schimpft er. »Wir reden morgen weiter.«
»Ich bin es. Petronella. Nella.«
Kurz darauf öffnet sich die Tür, und Johannes steht vor ihr. Sein Gesicht liegt im Schatten. Er ist so breitschultrig. In der halbleeren Kirche in Assendelft hat er auf Nella nicht so beeindruckend gewirkt. »Esposa mía«, sagt er.
Nella versteht nicht, was das heißt. Als er in den Lichtkegel der Kerze tritt, sieht sie, dass sein Gesicht von der Sonne verbrannt ist. Seine Augen, grau wie die von Marin, sind fast durchscheinend. Ihr Mann ist keine Schönheit. Das fettige Haar klebt ihm stumpfgrau am Kopf. »Ich bin hier«, sagt sie.
»Das sehe ich.« Er weist auf ihr Nachthemd. »Du solltest schlafen.«
»Ich wollte dich begrüßen.«
Als er einen Schritt vorwärts macht und ihre Hand küsst, sind seine Lippen weicher als erwartet. »Wir sprechen morgen, Nella. Ich bin froh, dass du gut angekommen bist. So froh.« Sein Blick irrlichtert hin und her, ohne an etwas hängen zu bleiben. Während Nella noch rätselt, wie jemand gleichzeitig so erschöpft sein und eine solche Energie verströmen kann, nimmt sie einen moschusartigen Geruch wahr. Eindringlich und verstörend. Johannes zieht sich in den gelblich erleuchteten Raum zurück, der offenbar sein Arbeitszimmer ist, und schließt die Tür.
Nella verharrt noch einen Moment und späht die Treppe in die pechschwarze Finsternis hinauf. Marin schläft bestimmt, denkt sie. Ich schaue nur kurz nach, ob es meinem kleinen Vogel gut geht. Sie schleicht die Treppe hinunter in die Küche, wo der Vogelkäfig neben dem offenen Kochherd hängt. Die ersterbende Glut beleuchtet sanft die Gitterstäbe. »Alle Dienstmädchen sind gefährlich«, pflegte ihre Mutter zu sagen. »Doch die in der Stadt sind am schlimmsten.« Wie sie zu dieser Ansicht kam, hatte sie nicht näher ausgeführt. Aber wenigstens lebt Peebo. Er sitzt mit gesträubtem Gefieder auf seiner Stange und hüpft und zirpt, als er Nella bemerkt. Wie gerne würde sie ihn mit nach oben nehmen, doch dann denkt sie daran, was Marin tun könnte, wenn sie ihr nicht gehorcht. An Cornelia, wie sie einen Teller mit zwei winzigen Keulen, garniert mit grünen Federn, anrichtet. »Gute Nacht, Peebo«, flüstert sie.
Durch ihr Schlafzimmerfenster sieht sie die Nebel von der Herengracht aufsteigen. Der Mond erinnert an eine verblasste Münze. Sie öffnet die Vorhänge, zieht ihr Umschlagtuch fester zusammen und setzt sich in eine Ecke. Sie fürchtet sich noch immer vor dem riesigen Bett. Ihr neuer Gatte ist ein wichtiger Mann. Er genießt viel Einfluss in Amsterdam und beherrscht selbst die Meere und fremde Länder mit all ihrem Reichtum. »Das Leben ist hart, wenn eine Frau nicht verheiratet ist«, hatte ihre Mutter verkündet. »Warum?«, fragte Nella. Nachdem sie miterlebt hatte, wie ihre Mutter sich erst ständig über ihren Vater ärgerte und dann angesichts der von ihm geerbten Schulden in Aufruhr geraten war, verstand sie nicht ganz, warum sie ihre Tochter einem ähnlichen Risiko aussetzen wollte. Doch ihre Mutter hatte sie gemustert, als hätte sie den Verstand verloren. Zumindest ließ sie sich diesmal zu einer Erklärung herab. »Weil Seigneur Brandt ein Schäfer aus der Stadt ist, während dein Vater nur ein Schaf war.«
Nella betrachtet den silbernen Krug neben sich, den Schreibtisch aus poliertem Mahagoni, den türkischen Teppich, die prachtvollen Gemälde. Eine wunderschöne Pendeluhr misst stetig die Zeit. Auf ihrem Zifferblatt sind Sonnen und Monde abgebildet, die Zeiger sind ziseliert. So eine prachtvolle Uhr ist Nella noch nie untergekommen. Alles sieht neu aus und spricht von Wohlstand. Nella hat diese Sprache nie gelernt, glaubt aber, dass sie damit zurechtkommen wird. Sie hebt die heruntergefallenen Kissen auf und legt sich auf die Überdecke aus tiefroter Seide.
Als sie mit zwölf Jahren zum ersten Mal geblutet hat, hat ihre Mutter ihr erzählt, das Blut diene »der Sicherheit der Kinder«. Nella hatte nicht den Eindruck, dass es viel Grund gab, sich in Sicherheit zu wiegen. Schließlich hatte sie oft genug die Schreie der Frauen, die in den Wehen lagen, durchs Dorf hallen gehört. Und häufig gesehen, wie kurz darauf die Särge zur Kirche getragen wurden.
Die Liebe war so viel weniger greifbar als Flecken auf Leinenlappen. Für Nella bestand kein Zusammenhang zwischen den monatlichen Blutungen und dem, was sie hinter der Liebe vermutete – der körperlichen und der, die darüber hinausging. »Das ist Liebe, Petronella«, sagte Madame Oortman, als sie zusah, wie Arabella den kleinen Schwarzauge so fest an sich drückte, dass sie den Welpen beinahe erstickte. Wenn Musikanten im Dorf von der Liebe sangen, ging es in diesen Liedern tatsächlich um Schmerz, der sich hinter dem Glück verbarg.
Madame Oortman hatte stets geklagt, dass es im Umkreis von vielen Kilometern keinen passenden Bräutigam für Nella gab. »Bauerntölpel« nannte sie die Jungen aus dem Dorf. Die Stadt und Johannes Brandt, das war die Zukunft ihrer Tochter.
»Aber Liebe, Mutter. Werde ich ihn lieben?«
»Das Mädchen sehnt sich nach der Liebe!«, rief Madame Oortman, mit großer Geste an die bröckelnden Mauern von Assendelft gewandt, aus. »Sie will die Pfirsiche und die Sahne.« Sie nahm ihre Tochter bei den Schultern und beteuerte, es sei richtig, dass Nella Assendelft verließ, und Weggehen war weiß Gott auch das, was Nella selbst wollte. Sie war es leid, mit Carel und Arabella Schiffbruch zu spielen. Allerdings ändert das nichts an ihrer Enttäuschung, als sie nun in Amsterdam neben ihrem leeren Ehebett sitzt wie eine Krankenschwester neben einem Patienten. Wozu ist sie hier, wenn ihr Ehemann sie nicht einmal richtig begrüßt? Sie kriecht auf die unbenutzte Matratze und wühlt sich zwischen die Kissen. Cornelias abfällige Miene, Marins spitzer Tonfall und Johannes’ Gleichgültigkeit haben ihr noch den letzten Rest Gewissheit genommen. Ich bin das Mädchen, denkt Nella, das noch keinen einzigen Pfirsich abbekommen hat, geschweige denn die Sahne.
Trotz der unchristlichen Stunde scheint das Haus wach zu sein. Sie hört, wie die Eingangstür geöffnet und geschlossen wird. Dann öffnet sich über ihr noch eine Tür. Es wird geflüstert, und Schritte tappen über den Flur, bevor sich plötzlich eine undurchdringliche Stille über die Räume legt.
Sie lauscht verzweifelt. Ein hauchdünner Streifen Mondlichts beleuchtet den Hasen und den verrotteten Granatapfel auf dem einen Bild. Es ist eine trügerische Ruhe, so als atmete das Haus selbst. Doch sie wagt es nicht, schon wieder das Bett zu verlassen, nicht in der ersten Nacht. Die Gedanken an das Lautespiel des letzten Sommers sind verflogen. Inzwischen hallen Nella nur noch die Worte der Fischhändlerin in den Ohren – Idiot!, Idiot!