Martin Reichert
DIE KAPSEL
Aids in der Bundesrepublik
Suhrkamp
Der »Schreck von drüben«
Im Bermudadreieck
I. Die Inkubationszeit
Von der Emanzipationsbewegung zur AIDS-Hilfe
»Mitten im Kampf«: Bruno Gmünder
Die Kosten der Freiheit: Jan Feddersen
Wenn die Scheinwerfer aus sind: Wieland Speck
II. Präventionspolitik
»Kondome schützen!«
Der Sieg der Vernunft: Rita Süssmuth
Die Rettung der Lust: Martin Dannecker
The Joy of Dialogkommunikation: Hans Hütt
III. Der medizinische Fortschritt
Überleben dank Therapie
Besuch aus Österreich
Das medizinische Versorgungszentrum: Hans Wesselmann
Was Neues aus Dresden: Frank Buchholz
IV. Das Neue Aids
Entdeckung der Zukunft
»Bilder von Aids«
Aids im Archiv: Axel Schock
Die Mauer als Kondom
V. Gegenwart
Das Ende von Aids denken
Ein Schloss für Schwule
Unsichtbarkeiten
Das Warnzeichen W009
Sternenkinder
Der Friedhof St. Matthäus
Anmerkungen
Bildnachweise
Für jüngere Schwule um die zwanzig ist Aids ungefähr so weit weg wie der Zweite Weltkrieg, so weit, dass sie die Infektion zum Teil gar nicht mehr ernst nehmen. Doch für mindestens eine Generation von schwulen Männern waren die achtziger und frühen neunziger Jahre eine Zeit, die schwere Traumatisierungen hinterlassen hat. Ihre Erlebnisse haben die meisten von ihnen jedoch fest in einer Kapsel verschlossen, die sie mit sich herumtragen, samt all den Erinnerungen an jene dunkle Zeit. Aids ist auf der einen Seite also längst Geschichte, und doch leben noch immer rund 80000 Infizierte in Deutschland, ein großer Teil schweigend. Im Rahmen dieses Buches soll versucht werden, mit einigen von ihnen ins Gespräch zu kommen – und mit Menschen, die selbst nicht infiziert sind, aber bereit waren zu erzählen, woran sie sich erinnern. Dass die meisten Positiven, die in diesem Buch zu Wort kommen, ihren Namen nicht nennen möchten, spricht für sich.
Es war eine bewusste Entscheidung, die Geschichte von Aids in Deutschland anhand der Erfahrungen und biografischen Erlebnisse schwuler Männer zu erzählen, waren und sind sie doch die Hauptbetroffenen. Aids wurde zu einem Teil ihrer Geschichte, ist wie der Paragraf 175 gleichsam eingeschrieben in ihre DNA. Um mich dem Thema anzunähern, habe ich mit Betroffenen, Angehörigen, Aktivisten, Wissenschaftlern und Politikern gesprochen, Menschen, die mit HIV/Aids zu tun hatten und haben und so freundlich waren, sich zu öffnen. So war ich willkommen bei der Akademie Waldschlösschen in Göttingen und bei den »Positiven Begegnungen« in Hamburg.
Nicht immer war es möglich, die Kapsel zu öffnen. Manches Mal aber doch. Auffällig erscheint mir bei einem Großteil der Zeitzeugen eine gewisse Abwehr von Mitleid und Empathie gegenüber dem, was sie erlitten haben. Zu monströs erscheint den meisten, was ihren einstigen Weggefährten widerfahren ist, als dass man selbst Anspruch hätte auf Anteilnahme. »Welches Leid, ich lebe doch noch?«, so könnte man die Reaktionen zusammenfassen. Die Beschädigungen aber, die Ängste und Verluste, der Schmerz und die Trauer, die diese Männer erleben mussten, all das verdient Respekt. Einige waren gezwungen, über sich hinauszuwachsen. Andere haben sich zurückgezogen. Erst neulich sagte ein schwuler Aktivist – er war um die fünfzig – bei einer politischen Abendveranstaltung sinngemäß: »Unsere Toten sollten uns ermutigen, weiter für unsere Rechte zu kämpfen angesichts der wachsenden Bedrohungen durch den Rechtspopulismus.« Der Satz stand etwas sperrig im Raum, als ob die meisten im Saal nichts mit ihm anfangen konnten. Aber hatte er nicht recht?
Nach meinem eigenen Coming-out im Jahr 1996 hatte ich immer das Gefühl, mich in ein gemachtes Bett zu legen – die Schwulenbewegung hatte ihren Kampf gekämpft und eine beeindruckende Infrastruktur aufgebaut. Es war das Jahr von Vancouver, in dem das Sterben aufhörte. Kurz darauf hatte ich Amsterdam besucht, in den achtziger Jahren die schwule Hauptstadt in Europa. Die legendären Szeneläden waren noch da, und doch war es, als hätte eine Neutronenbombe eingeschlagen. Nur vereinzelte »Ledermänner« saßen in den Bars, es herrschte eine eher melancholische Stimmung. Wo waren all die Leute? Was war passiert?
Dann war da ein schwules Straßenfest im Westen Berlins, es waren noch immer die Neunziger. Baccara sangen »Yes Sir, I can Boogie«, ihren Hit aus dem Jahr 1977, und im fahlen Licht des Spätnachmittags sah man viele schwule Männer in ihren Vierzigern und Fünfzigern mit Fettverteilungsstörungen, Nebenwirkungen der HIV-Medikamente. Viele von ihnen trugen Lederkleidung und Piercings, Tätowierungen und Fetischaccessoires. Als junger Mann in meinen Zwanzigern begriff ich zwar, dass HIV und Aids zum Schwulsein irgendwie dazugehörten, gleichzeitig wollte ich auf Distanz bleiben und war erleichtert, zu der Generation zu gehören, die nicht mehr von dem großen Sterben betroffen war; was da eigentlich geschehen war, hatte ich nicht verstanden. Die Älteren erzählten in der Regel nichts, und ich habe auch nicht nachgefragt. Als würde es sich um ein dunkles Familiengeheimnis handeln, über das man ungern spricht …
Am Anfang war Aids nichts als ein »Schreck von drüben«, wie der Spiegel im Mai des Jahres 1982 schrieb.1 In New York, Los Angeles und San Francisco litten plötzlich junge Männer zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren unter sogenannten Kaposi-Sarkomen, einer seltenen Krebsart, die bislang nur bei wesentlich älteren Patienten vorgekommen war und nun in einer besonders aggressiven, auf die inneren Organe übergreifenden Variante grassierte. Blaurote Knoten, die sich auf der Haut abzeichneten, begleitet von schweren Infektionskrankheiten, Lungenentzündungen, Pilzbefall.
Es war bereits das Jet-Zeitalter, nicht wenige schwule Männer aus der westdeutschen Mittelschicht konnten es sich ab Mitte der siebziger Jahre leisten, in die Vereinigten Staaten zu fliegen, um sich in der New Yorker Leder- und Fetischbar Mineshaft auszutoben, sich die Sonne auf Fire Island auf den Bauch brennen zu lassen oder sich für ein paar Tage in den Bars, Saunen und Darkrooms in San Franciscos Castro-Viertel zu verlieren. Hier gab es die muskulösen Männer aus den Pornofilmen und Bildbänden tatsächlich, und auch ein breites Angebot an Drogen – von Cannabis über Kokain bis Meskalin. New York und San Francisco, das waren die schwulen Welthauptstädte, und den Soundtrack zu dieser früh globalisierten Szenerie lieferten unter anderem die Village People mit »YMCA«, »In the Navy« oder »Macho Man«. Auch bei den großen Unterhaltungsshows im deutschen Fernsehen war die Formation gern gesehen, der homosexuelle Kontext der Songs wurde jedoch stets verschwiegen.
In den besser unterrichteten Kreisen der deutschen Großstädte hatte man zum Zeitpunkt der Spiegel-Veröffentlichung schon von den Problemen aus den USA gehört.2 Wer hoffte, die Angelegenheit werde insgesamt eine amerikanische bleiben, sah sich allerdings enttäuscht. Der Spiegel berichtete bereits von Kaposi-Fällen in Barcelona und Kopenhagen. »Die nächsten Erkrankungen erwarten Experten in den Ballungsräumen der Homosexualität: Athen, Rom, London und Berlin.« Wenig später wurden tatsächlich die ersten deutschen Fälle bekannt, in Frankfurt am Main und München.
Die ersten Fälle – von was eigentlich? Zu Beginn wusste niemand, um was für eine Krankheit es sich handelt. Da ausschließlich Homosexuelle betroffen schienen, sprachen amerikanische Wissenschaftler zunächst von einer »Gay Related Immune Deficiency« (GRID). Bevor es irgendwelche verlässlichen Informationen gab, begann man schon, die Krankheit in ein Raster einzuordnen. Später, im Juni 1982 – man hatte erkannt, dass auch Frauen und heterosexuelle Männer betroffen waren, Drogenabhängige, die intravenös Substanzen konsumierten, und Bluter –, setzte sich die Bezeichnung »Acquired Immune Deficiency Syndrome« (erworbenes Immunschwächesyndrom) durch, kurz: AIDS.
Das Kürzel mit den vier Buchstaben, das die Welt in Angst und Schrecken versetzen sollte, wird im ersten Spiegel-Artikel noch nicht genannt. Dort ist von einer »Reihe geheimnisvoller, nicht selten tödlicher Krankheiten« die Rede, die womöglich mit den Lebensgewohnheiten der Homosexuellen zusammenhingen. Liegt es am regelmäßigen Cannabiskonsum? Am häufigen Gebrauch von Cortisonsalben? Am Schnüffeln von »Poppers«, einer nitrithaltigen Substanz, die sexuell anregend wirkt und von der der Spiegel annimmt, die Homosexuellen versprächen sich davon einen Superorgasmus? Man weiß nichts Genaues, weder über die Ursachen der Erkrankungen noch über die Homosexuellen und ihr Verhalten. Eine Haltung aber hat man schon beim Spiegel in Hamburg, sie schwankt irgendwo zwischen höhnischer Distanzierung (»›Manchen Freunden‹, sagt ein Berliner Professor, ›sitzt der Schrecken schon in allen Gliedern, in allen«) und alttestamentarischer Verdammnis: »Vielleicht ist das die Lustseuche des 20. Jahrhunderts, nur nicht so harmlos«, lässt sich der Berliner Bakteriologe Franz Fehrenbach zitieren: »Für die Homosexuellen hat der Herr immer eine Peitsche bereit.«3
Mit diesen Sätzen nahm Fehrenbach den Sound der kommenden Spiegel-Berichterstattung vorweg, die zwischen Bestrafungsfantasien und apokalyptischen Seuchenängsten changierte – was die Bedrängnis, in der sich die Homosexuellen befanden, nicht eben besser machte. Eine Minderheit, die sich gerade erst im Gefolge der Studenten- bzw. Bürgerrechtsbewegungen einigermaßen emanzipiert hatte, wurde ganz konkret von dieser neuen »Pest« bedroht und sollte jetzt für den künftigen Niedergang der Menschheit verantwortlich sein.
Die Krankheit sei wie »ein Schuß ins stille Glück« gefallen, schrieb der Mediziner Stefan Hinz 1984 in dem von ihm herausgegebenen Band AIDS. Die Lust an der Seuche.4 Damit meinte er auch die relative Freiheit, mit der sich Homosexuelle in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt bewegen konnten. In den Großstädten gab es eine ausdifferenzierte Szene, allein in Westberlin mehr als fünfzig Kneipen, zwei schwule Verlage und mehrere Saunen. Frank Ripplohs legendärer, auch international erfolgreicher Film Taxi zum Klo (1980) vermittelt etwas von der damaligen Atmosphäre. Im Zentrum stehen Frank und Bernd, ein schwules Paar zwischen Verliebtheit und Verdruss – erstmals wurden hier Homosexuelle nicht in einem Problemzusammenhang dargestellt, sondern in ihrer alltäglichen, manchmal eben auch banal anmutenden Normalität zwischen Beruf, Tuntenball und Abendbrot.
Der Titel des Films bezieht sich auf eine Szene, in der Frank mit einer Hepatitis im Krankenhaus liegt und sich von dort aus ein Taxi nimmt, um Sex auf einer öffentlichen Toilette (Klappe) zu haben. Später zu dieser Szene befragt, gab Ripploh an, er habe damals geglaubt, dass Hepatitis nur ansteckend sei, »wenn einem das Gelbe ins Gesicht schießt«, also die »Gelbsucht« ausgebrochen ist.5
Von Infektionswegen hatte man in diesen Tagen wenig Ahnung. Und auch keine Angst vor sexuell übertragbaren Erkrankungen wie »Tripper« (Gonorrhoe) oder »Feigwarzen« (Condylomata acuminata), die seit den fröhlichen Siebzigern virulent geworden waren. Es war die Zeit nach der nunmehr gut behandelbaren Syphilis – und vor Aids.
Im Café Berio haben wir uns verabredet, weil es fürs Tom’s noch zu früh ist und es das Café Central schon lange nicht mehr gibt. Als es das Café Central in Berlin-Schöneberg noch gab, Mitte der achtziger Jahre, waren Maja Zogg und Udo Hartmann beste Freunde und zogen gemeinsam um die Häuser, gerne hier im »Bermudadreieck« um die Motzstraße herum, damals wie heute ein schwules Ausgehviertel – auch wenn der Kiez mittlerweile gern als »schwules Altenheim« verspottet wird. Die Zeit der schwulen Gettos scheint vorbei, ob in Berlin, München oder Frankfurt am Main; klassische Szeneviertel sind vom Aussterben bedroht. Der Nachwuchs, heißt es, tummelt sich lieber im Internet – oder geht gleich »hetero« aus.
Wenn man sie so am Tisch sitzen sieht in der Geborgenheit des Café Berio mit seinen Kitschbildern und Sahnetorten, könnte man sie für ein altes Ehepaar halten: eine elegant angeschrägte Dame in ihren Fünfzigern, die eine riesige Puck-Brille mit getönten Gläsern trägt, und ein distinguierter älterer Herr um die sechzig mit kleinem Bauch.
»Wir wollten ja heiraten damals, Udo, erinnerst du dich?«, sagt Maja mit ihrem Schweizer Akzent, »hheirraten«. – »Ja«, lacht Udo, »du in einem weißen Lederkleid und ich im schwarzen Lederanzug mit Nieten.« Seit Jahren haben sich die beiden nicht gesehen, und eigentlich ist es total unwahrscheinlich, dass Udo überhaupt hier sitzt: Er ist ein sogenannter Langzeitpositiver, seine Diagnose bekam er 1985, im ersten Sommer, in dem HIV-Tests möglich waren: In den USA war der »Elisa«-Suchtest entwickelt worden.
Ein Jahr zuvor waren Maja und Udo in Berlin gelandet; einer der größten Hits des Jahres war »Forever Young« von Alphaville. Kennengelernt hatten sie sich in Hannover: Udo war Schauspieler an der Landesbühne, Maja machte eine Ausbildung zur Theatermalerin. »Du warst so süß, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wie du mit einem Schirmchen über die Brücke gegangen bist«, sagt Maja. In den Herrenhäuser Gärten war das. »Die Bremer Stadtmusikanten haben wir gegeben, im Sommertheater. Ich spielte einen fetten Koch.« Udo hat einige Mühe, sich zu erinnern, es ist lange her, seinen Beruf als Schauspieler hat er mit dreißig an den Nagel gehängt, aus gesundheitlichen Gründen.
Schon in Hannover waren die beiden viel unterwegs, »nie in einer Schwulenbar, das wüsste ich«, sagt Maja. Gab es die damals in Hannover überhaupt? »Natürlich, in der Nähe des Bahnhofs, eine sogar mit ›Dunkelraum‹«, erinnert Udo sich, »Klappen waren sowieso überall, in Paderborn sogar direkt unter dem Dom.« Man habe zu dieser Zeit nichts zu befürchten gehabt als schwuler Mann. Tripper, Syphilis und Filzläuse waren lästig, aber gut behandelbar. »Maja war damals die schlimmste Frau von allen – sie hat den anderen gezeigt, wie man Männer abschleppt.« Es ist ihr überhaupt nicht peinlich – warum auch? »Ich wollte eine freie, unabhängige Sexualität«, sagt sie. Zunächst nahm sie die Pille, mit sechsundzwanzig ließ sie sich sterilisieren, Kinder wollte sie keine. Ihr langes Haar hat sie seinerzeit abgeschnitten, um sich die Kavaliere älterer Schule vom Leib zu halten. »Das hat funktioniert, für die war ich nicht mehr interessant – und konnte mich auf die Männer konzentrieren, die ich haben wollte. Das war schön. Unabhängig, das bedeutete auch, dass ich gesagt habe, was ich möchte. Damals haben viele Frauen ja einfach nur die Wünsche der Männer erfüllt, und wenn dazu gehörte, sich vom Regisseur oder Intendanten in den Arsch ficken zu lassen.« Kondome haben beide nicht benutzt. Dafür gab es einfach keinen Grund.
Das Jahr 1985 hat für Udo alles verändert. Es begann mit einem Autounfall. Als er auf einer großen Ausfallstraße links abbiegen wollte, raste ein entgegenkommendes Fahrzeug in die Beifahrertür. Neben ihm saß ein guter Freund – er war sofort tot, sein Kopf lag auf Udos Schulter, das Genick gebrochen. Udo überlebte knapp und musste 4000 Mark Strafe zahlen wegen fahrlässiger Tötung. Im Virchow-Klinikum wurde er dann zu einem »interessanten Fall«: komplett lädierte linke Körperhälfte, notoperierte Leber, Hepatitis. Und HIV.
Das war so viel auf einmal, dass es ihn womöglich gerettet hat. »Jahre später, es ging mir beschissen, stand ich wieder auf dieser Brücke am Kaiserdamm und dachte: ›Du hast diesen Unfall überlebt, jetzt überlebst Du auch HIV.‹ Gesprungen bin ich nicht.« In seinen Beruf ist er nie mehr wirklich zurückgekommen, zunächst wegen der unfallbedingten Verletzungen, später aufgrund der Aids-Erkrankung – Wunden, die nicht heilen wollten, eine Blutvergiftung, Lungenentzündungen, diverse Klinikaufenthalte. Maja hat ihn damals regelmäßig im Krankenhaus besucht, »wir haben uns weiter umarmt und geküsst«. Sie hat dann auch einen Aids-Test machen lassen. Negativ.
Wir verlassen das Café Berio und ziehen weiter in den Hafen. Maja hätte gern ein Bier, Udo trinkt nicht mehr. Er hat auch mit dem Rauchen aufgehört, aber nichts dagegen, in der »Raucher-Lounge«, einem kleinen Separee im hinteren Teil der schwulen Traditionsbar, Platz zu nehmen. Tom’s Bar, einer der ältesten und bekanntesten Darkroom-Läden, ist gleich nebenan, zwei Etagen darüber eine HIV-Schwerpunktpraxis – unten im Keller, heißt es in der Szene sarkastisch, holt man sich das Virus und im zweiten Stock die Tabletten. Als das Rauchverbot in der Gastronomie eingeführt wurde, gab es hier eine Kontrolle des Berliner Ordnungsamts: im Darkroom, mit Taschenlampen – der Aufschrei in der »Community« war groß, die Erinnerungen an Razzien und andere Schikanen sind bei älteren Schwulen stark.
Udo zeigt auf seinem Smartphone ein Porträtfoto von sich, aus dem Jahr 1985. Ein schöner junger Mann mit schwarzem Haar, kokett anmutenden Lippen und feinen Zügen. Maja verlor in diesem Jahr ihre erste große Jugendliebe, einen Italiener, der gefixt hatte. »Aber ansonsten wähnten sich die Heteros meist in Sicherheit – das Ganze galt als Angelegenheit von Schwulen und Drogenabhängigen. Man frönte weiter«, erinnert Maja sich, »dem alten und heute abgedroschen wirkenden Spruch aus den Siebzigern, ›Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment‹.« Und die Schwulen? »Da gab es, wie bei Heteros, die komplett Hysterischen und die Besonnenen«, sagt Udo. »Die Hysterischen hatten dann lange gar keinen Sex mehr, überhaupt nichts. Die anderen sagten sich: Okay, es kommt nicht aus der Poppersflasche oder aus der Luft, es ist ein Virus, und man kann sich davor schützen.« Im Tom’s zum Beispiel habe es sicher anfangs Umsatzeinbrüche gegeben, »aber das Leben ging weiter, auch dort«. Für die Sicherheit sorgten von nun an »Cruising Packs«, Kondome mit Gleitgel.
Nachdem Udo nicht mehr als Schauspieler arbeiten konnte, versuchte er sich erfolgreich in der Gastronomie; später war er Aufnahmeleiter bei Film- und Fernsehproduktionen, unter anderem mit Manfred Salzgeber, der 1994 an den Folgen von Aids starb.
Der Hafen wird nun voll, immer mehr Menschen kommen in den kleinen Laden. Auch die Musik wird lauter, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Maja drängt zum Aufbruch. Außerdem wollen die beiden etwas essen. Ein Schawarma am Winterfeldtplatz soll es sein, den Laden gab es in den Achtzigern schon, ebenso wie das Slumberland zwei Häuser weiter, eine Eckkneipe mit Sand auf dem Boden, Spezialität Cocktails.
Wir sitzen am Tisch und essen, Soße tropft aus den Fladenbroten. Udo erinnert sich an die frühen neunziger Jahre. Damals bekam er AZT, »in niedriger Dosierung«, lange das einzige effektive Mittel, allerdings mit starken Nebenwirkungen, Udo hatte unter anderem Probleme mit seinen Thrombozyten. Heilung brachte es nicht, es ging eher darum, die Lebensdauer zu verlängern. Regelmäßig Pillen schlucken, Blutabnahmen, Helferzellen zählen, das bestimmte nun Udos Alltag. Ebenso wie die Aussicht, bald sterben zu müssen. »Bei jedem Sonnenuntergang dachte ich: Es könnte dein letzter sein. Wenn ich am Mittelmeer war, dachte ich, dass ich es vielleicht nie wiedersehe. Das hat mein Leben intensiviert. Es war nicht so, dass es eine einzige Katastrophe war. Es war alles dabei – inklusive heftiger Phasen des Exzesses. Ich wollte mich spüren. Spüren, dass ich noch lebe.«
Immer wieder quälten ihn gesundheitliche Probleme. Schließlich ließ er sich berenten, zog in eine Sozialwohnung. Er engagierte sich ehrenamtlich für die Aids-Hilfe, machte unter anderem Telefonberatung. Aids gehörte nun zu ihm. Wurde vielleicht sogar übergroß, nahm zu viel Raum ein. Und Maja ging ihre eigenen Wege, es hat sich so ergeben. Sie lernte ihren jetzigen Lebensgefährten kennen, Klaus, einen Tierarzt aus dem Wendland, arbeitete in Kanada als Bühnenmalerin und Requisiteurin.
Wir ziehen weiter, überlegen, in eine Stricherbar um die Ecke zu gehen, weil es dort vielleicht leiser ist. Fehlanzeige. Vor der Tür tummeln sich ein Dutzend Stricher, die meisten von ihnen aus Bulgarien und Rumänien. Drinnen alte, dicke Männer. Als wir uns an einem runden Tisch dazusetzen wollen, wird unsere höfliche Frage, ob wir stören, bejaht. Maja ist als Frau erst recht unerwünscht.
Die jungen Männer, die hier ihr Geld verdienen, sind höchst gefährdet, sich mit HIV zu infizieren. Für dreißig bis fünfzig Euro gehen sie mit in eines der benachbarten Stundenhotels. Viele sind heterosexuell. Sie vermieten ihren Schwanz und, wenn es keiner der Kollegen mitbekommt, auch ihren Arsch, aber sie wissen eigentlich nicht, was sie tun. »Ohne Gummi« bringt mehr Geld. Udo macht das wütend. Ungeheuer wütend. Helene Fischer singt »Atemlos«. Wir gehen.
Schließlich landen wir in der Bar eines Hotels. Maja bestellt noch ein Bier, Udo einen Ananassaft. Das mit dem Alkohol hat er vor vier Jahren aufgegeben, damals war es fast wieder so weit, er hatte über dreißig Kilo abgenommen und lag wie ein kleiner weißer Geist in einem Krankenbett der Berliner Charité, bevor er sich auf wundersame Weise, wie immer, wieder hochrappelte. Doch das bislang größte Wunder ist ihm 1996 widerfahren: »Ich war in Italien, in der Toskana, in einem Haus von Freunden oben in den Bergen. Die Welt ist dort oben ziemlich weit weg. Dann kam ein Freund mit dem neuen Spiegel, wenig später riefen mich andere Freunde aus Deutschland an, weil sie in den Zeitungen gelesen hatten, dass es einen sensationellen Durchbruch bei der Bekämpfung von Aids gegeben hatte. Das war HAART, die Dreifachkombinationsprophylaxe.« Udo wirkt noch heute gerührt, wenn er von diesem Ereignis spricht. »Es war ein Triumph. Plötzlich war da wieder Hoffnung.«
Berechtigte Hoffnung, wie sich zeigen sollte. Nach Einnahme des neuen Medikamentencocktails stieg bei den Patienten die Zahl der Helferzellen (weiße Blutkörperchen, die unverzichtbar sind für die Immunabwehr), Kaposi-Sarkome verschwanden einfach, »man bekam nicht mehr diese ständigen Lungenentzündungen, und die Nebenwirkungen waren weniger grauenhaft«.
Erst zwei Jahre später begriff Udo, was geschehen war. Und er, der eigentlich Todgeweihte, fiel in ein tiefes Loch. »Lazarus-Phänomen, so nennt man das, wenn jemand, der eigentlich schon für tot erklärt wurde, doch wieder Lebenszeichen aufweist. Ich stand plötzlich da und begriff, dass ich wieder eine Perspektive hatte. Aber was hatte ich in Händen?« Er war Rentner, ohne Beruf, seine Karriere war beendet. »Ich hatte das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr kann. Gar nichts.« Gerettet hat ihn schließlich sein Hund, den er kurz zuvor angeschafft hatte, »dem hatte ich ja versprochen, dass ich mich kümmere, Verantwortung übernehme«.
In der Hotelbar ist es wie in einem Transitraum, wir könnten überall auf der Welt sein, gehören genauso wenig hierher wie die anderen Gäste. Ein bisschen verloren in der Zeit, weil wir den ganzen Abend über die Vergangenheit gesprochen haben, sitzen wir auf den roten Kunstledersesseln, an diesem kalten Märztag in Berlin. Aids ist für Udo wieder kleiner geworden, hat nicht mehr dieselbe Bedeutung. Vielleicht ist er damit wieder näher an Maja. »Ihr wart ja nie so richtig betroffen.« Udo sagt das ohne Vorwurf. »Ihr«, das sind die Heteros. Das »Wir«, es bleibt am Ende. »Wir sind ja nicht in die sexuelle Revolution reingeboren, wir haben sie mit entwickelt«, sagt Udo, und Maja ergänzt: »Wir sind die Nachzügler der Achtundsechziger, die hatten viele Freiheiten erkämpft, aber wir haben das dann ausgelebt. Es war ein großes Gefühl von Freiheit, bevor der Aids-Schock kam.«
Könnte es nicht sein, dass viele schwule Männer seiner Generation diese schreckliche Zeit vergessen möchten und nicht können? Dass sie nicht darüber reden wollen? Das ständige Sterben, die Stigmatisierung, dieser abscheuliche Mix aus Schuld, Scham, Angst und Tod. »Ja«, sagt Udo, »das kann sein.«
Wir verabschieden uns voneinander. Maja muss morgen nach Istanbul, sie hat dort beruflich zu tun. Udo arbeitet wieder im Kino Babylon in Berlin-Mitte, und allmählich muss er sich auch um seinen neuen Hund kümmern, der zu Hause auf ihn wartet. Doch die beiden reden einfach weiter, draußen in der Kälte, können gar nicht aufhören zu reden. Was ist denn mit dem Jetzt? Und über das Morgen haben wir noch gar nicht gesprochen, immer nur über das Gestern. In die Hand versprechen sich die beiden, dass sie sich von nun an wieder regelmäßig sehen wollen.