Ein Unfall mit tödlichem Ausgang. Ein geheimnisvolles Satzzeichen. Ein aufdringlicher Besucher. Ein plötzlicher Herzstillstand: Es sind die unterschiedlichsten Dinge und Ereignisse, die Hilary Mantels Figuren aus der Lebensbahn werfen – mal für kurze Zeit, mal für immer. Gemein ist ihnen, dass sie tief ins Fleisch des Daseins schneiden. Mit einem untrüglichen Gespür für die Balance zwischen subtiler Andeutung und zielsicher gesetzten Schockeffekten entlarvt »die größte englische Schriftstellerin« (die Jury des Booker-Preises) die Abgründe, über denen das Leben wie ein dünner Teppich liegt.
Diese hintersinnigen, pointiert und mit lakonischem Humor erzählten Stories sind der Beweis, dass die Großmeisterin des üppigen historischen Romans in der kurzen Form – und im Hier und Jetzt – nicht weniger heimisch ist.
Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹ (DuMont 2013), dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, erhielt Hilary Mantel 2012 erneut den Booker-Preis.
HILARY
MANTEL
DIE ERMORDUNG
MARGARET
THATCHERS
Erzählungen
Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence
Von Hilary Mantel sind im DuMont Buchverlag außerdem erschienen:
Wölfe
Brüder
Der riesige O’Brien
Falken
Von Geist und Geistern
eBook 2015
DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
© Tertius Enterprises Ltd. 2014
Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
›The Assassination of Margaret Thatcher‹ bei Fourth Estate, London.
Die englische Originalausgabe der Erzählung ›Englisch lernen‹ erschien erstmals
2015 unter dem Titel ›The School of English‹ in The London Review of Books.
© 2014 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © Handtasche Launer ›Diva‹, www.launer.com
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook: 978-3-8321-8818-4
www.dumont-buchverlag.de
Der Besucher
In jenen Tagen klingelte es bei uns nicht oft, und wenn, dann zog ich mich in die Tiefe der Wohnung zurück. Nur wenn jemand nicht nachgeben wollte, schlich ich über die Teppiche hinweg zur Tür und sah durch den Spion. Wir waren bestens mit Riegeln und Rollläden, Schlössern und Sicherheitsketten ausgestattet, die Fenster lagen hoch und hatten Gitter. Durch den Spion sah ich einen aufgelösten Mann in einem zerknitterten, silbergrauen Anzug, gut dreißig Jahre alt und Asiat. Er war von der Tür zurückgetreten und ließ den Blick zur verschlossenen Tür gegenüber und die staubige Marmortreppe hinauf schweifen. Er befühlte seine Taschen, holte ein zerknülltes Taschentuch hervor und rieb sich damit über das Gesicht. Der Mann wirkte so angespannt, dass er sich statt Schweiß auch Tränen hätte abwischen können. Ich öffnete die Tür.
Er hob gleich die Hände, als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet sei. Das Taschentuch fiel wie eine weiße Flagge zu Boden. »Madam!« Ich muss in dem Licht, das die gekachelten Wände mit hin- und herfahrenden Schatten überzog, entsetzlich blass ausgesehen haben. Aber dann holte er Luft, zog an seinem zerknitterten Jackett, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und zauberte eine Visitenkarte hervor. »Muhammas Ijaz. Import/Export. Es tut mir so leid, Ihren Nachmittag zu stören. Ich habe mich verlaufen. Würden Sie mir die Benutzung Ihres Telefons gestatten?«
Ich trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Zweifellos lächelte ich. Angesichts dessen, was folgen sollte, muss ich annehmen, dass ich es tat. »Natürlich. Falls es heute funktioniert.«
Ich ging voraus, und er folgte mir, wobei er sich erklärte: ein wichtiges Geschäft, fast abgeschlossen, ein Besuch des Kunden sei nötig, doch die Zeit – er schob den Ärmel hoch und sah auf seine gefälschte Rolex –, die Zeit werde knapp, und die Adresse – wieder befühlte er seine Taschen – nun, das Büro sei nicht da, wo es sein sollte. Er sprach schnell ins Telefon, sein Arabisch war fließend, aggressiv, die Brauen schossen in die Höhe, und am Schluss schüttelte er den Kopf, legte auf und sah bedauernd auf den Hörer. Säuerlich lächelnd hob er den Blick. Ein schwacher Mund, dachte ich. Fast ein gut aussehender Mann, doch nein: schmal, farblos, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Ich stehe in Ihrer Schuld, Madam«, sagte er. »Jetzt muss ich laufen.«
Ich wollte ihm anbieten … was? Das Bad zu benutzen? Sich auszuruhen? Ich hatte keine Ahnung, wie ich es formulieren sollte. Die absurden Worte »sich waschen und frisch machen« kamen mir in den Sinn, doch er war schon wieder in Richtung Tür unterwegs, obwohl ich angesichts der Art, wie der Anruf geendet hatte, annahm, dass sie ihn dort, wo er hinwollte, nicht so dringend sehen wollten wie er sie.
»Diese verrückte Stadt«, sagte er. »Ständig reißen sie die Straßen auf und verlegen sie. Es tut mir so leid, Ihre Ruhe gestört zu haben.« Vor der Tür ließ er ein weiteres Mal den Blick schweifen und sah die Treppe hinauf. »Es sind immer nur die Briten, die einem helfen.«
Er schlitterte durch den Hausflur, stemmte die Tür mit ihrem schweren Eisengitter auf und ließ einen Moment lang den dumpfen Verkehrslärm der Medina Road herein. Die Tür schwang wieder zu, er war verschwunden.
Ich schloss leise die Wohnungstür und verschmolz mit der drückenden Stille. Die Klimaanlage ratterte wie eine alte Verwandte mit einem sich lösenden Husten. Die Luft hing voller Insektenspray. Manchmal versprühte ich es im Herumgehen, worauf es sich wie heller Nebel, einem Schleier gleich, auf mich herabsenkte. Ich wandte mich wieder meinem Sprachführer und dem Kassettengerät zu. Lektion fünf: Ich wohne in Dschidda. Ich habe heute zu tun. Gott gebe Ihnen Kraft!
Als mein Mann nach Hause kam, erzählte ich ihm: »Es war jemand hier, der sich verlaufen hatte. Ein Pakistaner. Geschäftsmann. Ich habe ihn telefonieren lassen.«
Mein Mann schwieg. Die Klimaanlage hackte vor sich hin. Er stellte sich unter die Dusche, nachdem er die Kakerlaken vertrieben hatte. Kam wieder heraus, tropfend, nackt, legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Am nächsten Tag warf ich die Visitenkarte in den Abfall.
Nachmittags klingelte es wieder. Ijaz war gekommen, um sich zu entschuldigen, alles zu erklären und mir dafür zu danken, dass ich ihn gerettet hatte. Ich kochte ihm einen löslichen Kaffee, und er setzte sich und erzählte mir von sich.
Es war der Juni 1983. Ich war seit sechs Monaten in Saudi-Arabien. Mein Mann arbeitete für eine in Toronto ansässige geologische Beratungsfirma und war ans Rohstoffministerium versetzt worden. Die meisten seiner Kollegen wohnten in »Familienanlagen« unterschiedlicher Größe, aber die alleinstehenden Männer und ein kinderloses Paar wie wir mussten nehmen, was wir bekamen. Es war unsere zweite Wohnung. Der amerikanische Junggeselle, der vor uns hier gewohnt hatte, war in aller Eile an einem anderen Ort untergebracht worden. Es gab vier Wohneinheiten im Haus, über uns wohnte ein saudischer Beamter mit Frau und Baby, und die vierte Wohnung stand leer. Der pakistanische Buchhalter uns gegenüber im Erdgeschoss kümmerte sich um die persönlichen Finanzen eines Regierungsministers. Wenn unser Vorgänger, der Junggeselle, eine der beiden Hausbewohnerinnen – die eine von Kopf bis Fuß in Schwarz, die andere nur teilweise verschleiert – im Flur oder auf der Treppe angetroffen hatte, dann hatte er ihnen ein aufmunterndes »Hallo!« oder vielleicht auch ein »’n schönen Tag auch!« zugerufen.
Auf weitergehende Unverschämtheiten deutete nichts hin, doch es war eine Beschwerde eingegangen; er verschwand, und wir zogen ein. Nach saudischen Maßstäben war unsere Wohnung klein. Die Räume waren mit beigen Teppichen ausgelegt, die Wände gebrochen weiß tapeziert, mit einem feinen, fast nicht zu erkennenden Kräuselmuster. Vor den Fenstern ließen sich schwere hölzerne Rollläden herunterkurbeln, aber selbst wenn sie oben waren, musste ich die Neonröhren den ganzen Tag brennen lassen, so düster blieb es sonst. Die einzelnen Räume waren mit Doppeltüren aus dunklem Holz ausgestattet, schwer wie Sargdeckel. Man kam sich vor wie in einem Beerdigungsinstitut, umgeben von Holzmustern, und auf den Lampen ließen sich opportunistische Insekten braten.
Er habe einen Abschluss von einer Wirtschaftsschule in Miami, sagte Ijaz, und handle im Moment hauptsächlich mit Tafelwasser. Hatte er das Geschäft gestern zu einem Abschluss bringen können? Er antwortete ausweichend, offenbar war das alles ganz und gar nicht einfach. Er winkte ab, das braucht Zeit, das braucht Zeit.
Ich hatte in der neuen Stadt noch keine Freundschaften geschlossen. Das sogenannte gesellschaftliche Leben konzentrierte sich auf private Wohnungen und Häuser. Es gab keine Kinos, Theater oder Vortragssäle, und zu den wenigen Sportanlagen hatten Frauen keinen Zutritt: »Gemischte Zusammenkünfte« waren nicht erlaubt. Die Saudis gaben sich nicht mit ausländischen Arbeitern ab. Sie betrachteten sie als notwendiges Übel und sahen auf sie herab, wobei wir als hellhäutige, Englisch sprechende Ausländer noch an der Spitze der Hackordnung saßen. Andere, Ijaz zum Beispiel, gehörten zu den »Bürgern aus Drittländern«, was sie zu Opfern aller möglichen Trotzigkeiten, Beleidigungen und immer neuer Komplikationen machte. Inder und Pakistaner arbeiteten in Geschäften und Kleinunternehmen, Filipinos auf Baustellen. Thailänder reinigten die Straßen, und vor kleinen Läden saßen bärtige Jemeniten auf der Erde, das Gewand hochgezogen, die haarigen Beine vorgestreckt. Nur Zentimeter vor ihren Flip-Flops zischten die Autos vorbei.
Ich bin verheiratet, sagte Ijaz, mit einer Amerikanerin, Sie müssen sie kennenlernen. Vielleicht, sagte er, vielleicht können Sie etwas für sie tun, wissen Sie? Was ich voraussah, war bestenfalls das übliche Dschidda-Arrangement aneinandergeketteter Paare: Frauen vermochten sich in dieser Stadt nicht selbstständig zu bewegen, sie hatten keinen Führerschein, und nur die reichen verfügten über einen Fahrer. Also machten Paare ihre Besuche gemeinsam, und ich glaubte nicht, dass Ijaz und mein Mann sich anfreunden würden. Ijaz war zu unruhig und nervös. Er lachte über nichts, zog ständig an seinem Kragen, verdrehte die Füße in seinen abgetretenen Oxfords und trommelte immer wieder auf seiner falschen Rolex herum. Ständig entschuldigte er sich. Unsere Wohnung ist unten am Hafen, sagte er, mit meiner Schwägerin und meinem Bruder wohnen wir da, aber der ist gerade wieder in Miami, dafür ist meine Mutter zu Besuch, und meine amerikanische Frau ist natürlich da, mein Sohn und meine Tochter, sechs und acht Jahre alt. Er griff nach seiner Brieftasche und zeigte mir einen merkwürdig aussehenden Jungen mit einem langen, spitz zulaufenden Kopf. »Saleem.«
Als er ging, dankte er mir ein weiteres Mal, dass ich ihm getraut und ihn in meine Wohnung gelassen hätte. Er hätte ja sonst wer sein können, sagte er, aber es sei nun einmal nicht britisch, von hilfsbedürftigen Fremden schlecht zu denken. An der Tür schüttelte er mir die Hand. Das war’s dann, dachte ich. Und ein Teil von mir dachte, dass es besser so wäre.
Denn man wurde ständig beobachtet: gesehen, ohne tatsächlich gesehen oder erkannt zu werden. Wenn meine pakistanische Nachbarin Yasmin zwischen unseren Wohnungen hin und her wechselte, warf sie ein Tuch über ihr gekräuseltes Haar und linste um die Ecke, um schließlich mit nervösen, ruckenden Bewegungen über den Marmor zu huschen, den Kopf von einer Seite zur anderen wendend, für den Fall, dass sich gerade in jenem Moment jemand durch die schwere Haustür drängte. Manchmal, wenn mich der Staub ärgerte, der unter der Tür hindurchwehte und sich auf dem Marmor sammelte, ging ich mit einem langen Besen hinaus. Kam dann mein saudischer Nachbar auf dem Weg zu seinem Auto aus dem ersten Stock, stieg er ohne einen Blick zu mir über den Besen und hielt den Kopf abgewandt. Er gestand mir Unsichtbarkeit zu, als Zeichen des Respekts vor der Frau eines anderen Mannes.
Ich war nicht sicher, ob Ijaz mir diesen Respekt ebenfalls zollte. Unsere Situation war unnormal und rief geradezu nach Missverständnissen: Ich hatte nachmittäglichen Besuch. Ijaz dachte wahrscheinlich, dass nur Frauen, die große Risiken eingingen, Fremde in ihre Wohnung ließen. Aber nein, ich konnte nicht sagen, was er dachte. Durch seine Zeit an der Wirtschaftsschule in Miami und überhaupt im Westen, erschien ihm mein Verhalten doch sicher eher normal als unnormal? Jetzt, da er mich kannte, redete er entspannter und machte lahme Witze, über die vor allem er selbst lachte. Aber er zappelte immer noch mit den Füßen, zupfte am Kragen und trommelte mit den Fingern. Mir war beim Abhören meiner Kassetten aufgefallen, dass seine Situation in Lektion neunzehn vorausgesehen worden war: Ich gab meinem Fahrer die Adresse, doch als wir ankamen, stand dort kein Haus. Ich hoffte, durch meine forsche Freundlichkeit klarzumachen, was der Wahrheit entsprach, nämlich, dass unsere Situation sehr einfach sein konnte – verspürte ich doch so wenig Anziehung zu ihm, dass es mir schon beinahe ein schlechtes Gewissen bereitete. Und genau da begann die Sache schiefzulaufen: mit meinem Gefühl, dass ich seinem Bild von den Briten gerecht werden sollte, ihn nicht zurücksetzen oder ihm meine Freundschaft versagen durfte, da er sonst hätte denken können, es liege daran, dass er Bürger eines Drittlandes sei.
Sein zweiter und sein dritter Besuch kamen ungelegen, waren fast schon ein Ärgernis. Da mir in dieser Stadt keine Wahl blieb, hatte ich mich dazu entschlossen, meine Isolation zu schätzen und zu pflegen. Ich war in jenen Tagen krank und einem strikten Medikationsregime unterworfen, das mir fürchterliche Kopfschmerzen bereitete, mich leicht taub machte und dafür sorgte, dass ich trotz allen Hungers nicht essen konnte. Die Medikamente waren teuer und mussten per Kurier aus England eingeflogen werden, was die Firma meines Mannes übernahm. Etwas davon sickerte durch, und die Frauen der Kollegen meines Mannes beschlossen, dass ich Fruchtbarkeitspillen nahm, wovon ich wiederum nichts wusste, und dieses Unwissen ließ unsere Gespräche oft sonderbar und für mein Gefühl leicht bedrohlich wirken. Warum redeten diese Frauen bei den Gelegenheiten erzwungener Firmengeselligkeit ständig über Bekannte, die Fehlgeburten gehabt hatten, aber heute springlebendige Babys in ihren Buggys umherschoben? Eine der älteren vertraute mir an, ihre Kinder seien beide adoptiert. Ich sah sie an und dachte, Himmel, woher, aus dem Zoo? Meine pakistanische Nachbarin stimmte in das Gurren über meine bald schon zu erwartende Nachkommenschaft ein – sie hatte von den Gerüchten gehört, doch ich führte ihre Andeutungen auf die Tatsache zurück, dass sie gerade selbst zum ersten Mal schwanger war und sich Gesellschaft wünschte. Ich sah sie meist morgens auf einen Kaffee und einen Schwatz und brachte sie lieber dazu, über den Islam zu reden, was mir nicht schwerfiel. Sie war eine gebildete Frau und wollte mich nur zu gern belehren. Ein Tagebucheintrag vom 6. Juni: »Habe zwei Stunden mit meiner Nachbarin verbracht und die kulturelle Kluft zwischen uns ausgeweitet.«
Am nächsten Tag brachte mein Mann die Flugtickets und mein Ausreisevisum für unseren ersten Heimaturlaub mit, der in sieben Wochen stattfinden sollte. Donnerstag, 9. Juni: »Habe ein weißes Haar auf meinem Kopf gefunden.« Zu Hause gab es Parlamentswahlen, und wir saßen bis in die frühen Morgenstunden da und lauschten den Ergebnissen im BBC World Service. Als wir das Licht ausschalteten, hüpfte die Tochter des Lebensmittelhändlers zu den Klängen von »Lillibullero« durch meine Träume. Der Freitag war ein Feiertag, und wir schliefen ungestört, bis der Ruf zum Mittagsgebet ertönte. Der Ramadan begann. Mittwoch, 15. Juni: »Die Twyborn-Affäre gelesen und mich sporadisch übergeben.«
Am 16. begaben sich unsere Nachbarn von gegenüber auf eine Pilgerreise, ganz in Weiß gekleidet. Bevor sie aufbrachen, klingelten sie noch an unserer Tür: »Gibt es etwas, das wir Ihnen aus Mekka mitbringen können?« Am 19. Juni sehnte ich mich verzweifelt nach Veränderung und stellte die Möbel im Wohnzimmer um. »Keine große Verbesserung«, schreibe ich, und dass ich das Opfer »unangenehmer und zudringlicher Gedanken« sei, sage jedoch nicht, was ich dachte. Ich vermerke nur, dass mir »heiß und übel« war und ich mich »mürrisch« fühlte. Bis zum 4. Juli muss sich meine Laune gebessert haben, weil ich da beim Bügeln die Eroica hörte. Aber als ich am Morgen des 10. Juli als Erster aufstand, die Kaffeemaschine einschaltete und ins Wohnzimmer ging, stellte ich fest, dass die Möbel versucht hatten, sich zurück an ihre alten Orte zu rücken. Ein Sessel neigte sich nach links, als vollführte er ein angeheitertes Tänzchen. Mit der einen Seite stand er auf dem Teppich, auf der anderen ragte einer der Füße in die Luft, und mit dem zweiten balancierte er auf dem Rand eines wenig stabilen Papierkorbs. Mit offenem Mund schoss ich zurück ins Schlafzimmer. Es war das Ramadanfest, und mein Mann döste noch vor sich hin. Ich redete auf ihn ein, und er erhob sich stumm, setzte seine Brille auf und folgte mir. In der Tür stehend, erklärte er mir ohne ein Zögern, das alles habe nichts mit ihm zu tun, und ging dann ins Bad. Ich hörte, wie er die Tür schloss, die Kakerlaken verfluchte und die Dusche aufdrehte. Später sagte ich, dass ich wohl schlafwandeln müsse. Denkst du, das ist es? Denkst du, ich habe es getan? 12. Juli: »Hatte wieder den Hinrichtungstraum.«
Das Problem war, dass Ijaz wusste, ich wäre zu Hause. Wie sollte ich irgendwo hingehen? Trotzdem ließ ich ihn eines Nachmittags im Flur stehen, während er wieder und wieder klingelte. Und das nächste Mal, als ich ihn hereinließ und er mich fragte, wo ich gewesen sei, und ich sagte: »Ah, tut mir leid, da muss ich bei meiner Nachbarin gewesen sein«, konnte ich sehen, dass er mir nicht glaubte. Er wirkte so betrübt, dass ich Mitleid mit ihm bekam. Dschidda quälte und ärgerte ihn maßlos, er vermisse, sagte er, Amerika, er vermisse seine Besuche in London und müsse bald wieder einmal hin und sich eine Auszeit nehmen. Wann flögen wir, vielleicht könnten wir uns ja treffen? Ich erklärte ihm, dass ich nicht in London wohnte, was ihn überraschte. Er schien es für ein Ausweichmanöver zu halten, so wie auch die Tatsache, dass ich nicht an die Tür gekommen war. »Ich könnte nämlich ein Ausreisevisum bekommen«, sagte er wieder. »Und wir könnten uns dort treffen. Ohne all das …« Er machte eine Geste zu den Sargdeckeltüren und dem schweren, eigensinnigen Mobiliar hin.
An dem Tag brachte er mich zum Lachen, als er mir von seiner ersten Freundin erzählte, seiner amerikanischen Freundin, deren Spitzname »Patches« war. Es fiel mir leicht, sie mir vorzustellen, wie sie ihn eines Tages, keck und sonnenbraun, damit überraschte, dass sie ihr Oberteil auszog, die nackten Brüste vor ihm schwingen ließ und seiner blassen Jungfernschaft ein Ende setzte. Der Schrecken, den er empfand, die Angst, sie zu berühren … seine blamable Leistung … die Erinnerung ließ ihn seine Stirn mit den Knöcheln bearbeiten. Ich nehme an, das bezauberte mich. Wie oft gesteht einem ein Mann schon solche Dinge? Später erzählte ich die Geschichte meinem Mann und hoffte, auch ihn damit zum Lachen zu bringen, doch ohne Erfolg. Oft saugte ich, um ihm zu helfen, vor seiner Rückkehr aus dem Ministerium die Kakerlaken weg. Er zog sich aus und wandte sich ab. Ich hörte das Plätschern der Dusche.
Neunzehnte Lektion: Sind Sie verheiratet? Ja, meine Frau ist auch hier, sie steht dort in der Ecke. Ich stellte mir die Kakerlaken vor, dunkel und im Staubsaugerbeutel mit den Beinen rudernd.
Ich ging zurück zum Esstisch, an dem ich einen humoristischen Roman schrieb. Ich tat es heimlich, verriet den Frauen der Kollegen nichts davon und gestand es mir selbst kaum ein. Im Neonlicht schriftstellerte ich dahin, bis es Zeit war, Lebensmittel einkaufen zu fahren. Man musste zwischen Sonnenuntergangsgebet und Abendgebet einkaufen. Kalkulierte man es falsch, wurde man im Laden eingesperrt oder saß draußen in der feuchten Hitze des Parkplatzes, wenn die Rollläden beim ersten Gebetsruf heruntergerissen wurden. Freiwillige des Komitees für die Mehrung von Tugend und Beseitigung des Lasters patrouillierten durch die Einkaufszentren.
Ende Juli brachte Ijaz seine Familie zum Tee mit. Mary-Beth war eine kleine Person, die unter der Haut aber geschwollen wirkte. Sie war ohne jeden Schwung, sommersprossig, matt, ein ausgeblichener, in sich zurückgezogener Rotschopf, der es offenbar nicht gewohnt war, sich zu unterhalten. Eine stumme Tochter mit Augen wie dunklen Sternen war für den Besuch in ein weißes Rüschenkleid gezwängt worden. Der spitzköpfige Saleem war sechs, hatte seinen Babyspeck verloren und bewegte sich äußerst zögerlich, als könnten seine Gliedmaßen zerbrechen. Er hatte aufmerksame Augen. Mary-Beth sah mich kaum an. Was hatte Ijaz ihr erzählt? Dass er sie zum Besuch bei einer Frau mitnahm, die in etwa so war, wie er sich auch sie wünschte? Es war ein unglücklicher Nachmittag. Ich kann ihn nur durchgestanden haben, weil ich von Vorfreude getragen wurde, waren die Taschen für unseren Heimflug doch bereits gepackt. Tags zuvor war ich, als ich ins Gästezimmer kam, wo ich meine Kleider aufbewahrte, mit einem weiteren erschreckenden Anblick konfrontiert worden. Jemand hatte die Türen des Einbauschranks, groß und massiv wie die übrigen Sargdeckel, aus den Angeln gehoben und nur unten wieder eingehängt, sodass die oberen Hälften wie die Flügel einer klapprigen Flugmaschine hin und her wackelten.
Am 1. August hoben wir bei Gewitter vom King Abdul Aziz International Airport ab, und es wurde ein unruhiger Flug. Ich war neugierig, wie Mary-Beth lebte, und hoffte, sie wiederzusehen, obwohl ein Teil von mir wünschte, dass sie und Ijaz einfach verschwanden.
Ich kehrte erst Ende November nach Dschidda zurück, nachdem ich mein Buch einem Agenten gegeben hatte. Kurz vor unserer Abreise nach London hatte ich auch meine saudische Nachbarin kennengelernt, eine junge Mutter, die einen Teilzeit-Literaturkurs an der Frauen-Universität belegt hatte. Bildung für Frauen wurde als schmückender Luxus betrachtet, als Möglichkeit für den Ehemann, mit seiner Großzügigkeit anzugeben. Munira war völlig unfähig, ihre Hausaufgaben zu machen, und so gewöhnte ich es mir an, am späten Vormittag zu ihr hinaufzugehen und sie an ihrer Stelle zu erledigen, während sie im Negligé auf dem Boden vor dem Fernseher hockte, sich ägyptische Soaps ansah und Sonnenblumenkerne aß. Wir drei Frauen wurden Vormittagsfreundinnen. So können sie mich noch besser studieren, dachte ich, dann haben sie etwas zu reden, wenn ich nicht da bin. Es war einfacher, dass Yasmin und ich nach oben gingen, denn um nach unten zu kommen, hätte Munira sich in Schleier und Abaya hüllen müssen. Dieser heimtückische, schwebende Moment in der Öffentlichkeit des Treppenhauses, wenn ein Mann von der Straße hereinplatzen und »Hallo!« rufen mochte. Yasmin war eine zarte Frau, wie eine Prinzessin aus einer persischen Miniatur, jünger als ich, gepflegt, makellos und mit besten, zurückhaltenden Umgangsformen. Die neunzehnjährige Munira hatte dagegen etwas Derbes, Begieriges, sah aber gut aus, mit heller Haut und einer Haarmähne, die elektrisch knisterte und ein kraftvolles eigenes Leben zu führen schien. Ihr Lachen war ein heiseres Gackern. Sie und Yasmin setzten sich auf Kissen und überließen mir den Stuhl, sie bestanden darauf. Zu meiner Ehre servierten sie Nescafé, obwohl ich das örtliche schlammige Gebräu bevorzugt hätte. Ich hatte die primitive Wirkkraft von Koffein gegen Migräne schätzen gelernt und schlingerte manche Nacht schlaflos an den Wänden entlang, bis mich der morgendliche Gebetsruf ins Bett schickte, wo ich immer noch voller Grimm über Bücher nachdachte, die ich hätte schreiben können.
Ijaz klingelte am 6. Dezember an der Tür. Er war so erfreut, mich nach der langen Zeit wiederzusehen, strahlte und sagte: »Jetzt sehen Sie noch mehr wie Patches aus.« Besorgnis flammte in mir auf. Nichts, aber auch gar nichts war bisher in dieser Richtung gesagt worden. Ich sei schlanker, sagte er, und sähe gut aus – meine Medikamente waren reduziert worden, ich hatte einiges Tageslicht genossen und nahm an, dass das den Unterschied machte. Aber er sagte: »Nein, etwas an Ihnen ist anders.« Eine der Kollegenfrauen hatte das Gleiche gesagt. Sie glaubte zweifellos, dass ich endlich ein Baby in mir trug.
Ijaz folgte mir mit seinen Komplimenten ins Wohnzimmer, und ich kochte Kaffee. »Vielleicht ist es mein Buch«, sagte ich und setzte mich. »Ich habe ein Buch geschrieben, wissen Sie …« Meine Stimme versiegte. Das war nicht seine Welt. Niemand in Dschidda las Bücher. In den Geschäften konnte man alles kaufen bis auf Alkohol oder ein Bücherregal. Obwohl sie einen englischen Universitätsabschluss hatte, sagte meine Nachbarin Yasmin, sie habe seit ihrer Heirat kein Buch mehr gelesen. Sie hatte zu sehr damit zu tun, jeden Abend eine Essensparty zu veranstalten. Ich hatte einen kleinen Erfolg, erklärte ich Ijaz, oder hoffe auf einen. Ich habe einen Roman geschrieben, und er wurde von einem Agenten angenommen.
»Ein Geschichtenbuch? Für Kinder?«
»Es ist ein Buch für Erwachsene.«
»Das haben Sie in Ihrem Urlaub gemacht?«
»Nein, ich habe schon länger daran geschrieben.« Ich fühlte mich wie eine Betrügerin. Auch als ich ihn vor der Tür stehen ließ, hatte ich daran gearbeitet.
»Ihr Ehemann wird dafür bezahlen, dass es veröffentlicht wird.«
»Nein, mit etwas Glück wird jemand mich dafür bezahlen. Ein Verleger. Der Agent hofft, er kann es verkaufen.«
»Dieser Agent, wo haben Sie ihn kennengelernt?«
Ich konnte schlecht sagen, im Jahrbuch für Schriftsteller & Künstler. »In London. In seinem Büro.«
»Aber Sie wohnen doch nicht in London«, sagte Ijaz, als spielte er ein Ass aus. Er war darauf aus, eine Ungereimtheit in meiner Geschichte zu finden. »Wahrscheinlich ist er nicht gut. Er könnte versuchen, Ihr Geld zu stehlen.«
Ich begriff natürlich, dass der Begriff »Agent« in seiner Welt weitläufigere, zweifelhafte Kategorien umfasste. Aber was war mit dem »Import/Export« auf seinen Visitenkarten? Das klang für mich auch nicht gerade wie der Inbegriff von Rechtschaffenheit. Ich wollte streiten, der Hinweis auf Patches brachte mich immer noch auf. Ohne Vorwarnung schien Ijaz die Bedingungen unseres Verhältnisses geändert zu haben. »Das glaube ich nicht. Ich habe ihm kein Geld gegeben, und seine Agentur ist bekannt.« Wo hat er sein Büro?, schnüffelte Ijaz weiter, und ich hielt dagegen und versuchte, auf meinem Standpunkt zu beharren. Aber warum dachte ich, dass die Adresse in der William IV Street eine Garantie für moralische Aufrichtigkeit war? Ijaz kannte London gut. »An der U-Bahn-Linie Charing Cross?« Er wirkte immer noch erzürnt. »In der Nähe des Trafalgar Square?«
Ijaz grunzte. »Waren Sie allein bei ihm?«
Er ließ sich nicht beschwichtigen. Ich gab ihm einen Keks. Ich erwartete nicht, dass er verstand, was ich anstrebte, doch es schien ihn zu kränken, dass ein anderer Mann in mein Leben getreten war. »Wie geht es Mary-Beth?«, fragte ich.
»Sie hat eine Nierenkrankheit.«
Ich erschrak. »Etwas Ernstes?«
Er hob die Schultern. Es war kein Achselzucken, mehr ein Winden der Gelenke, als suchte er Linderung gegen einen alten Schmerz. »Sie muss zur Behandlung zurück nach Amerika. Das macht nichts. Ich will sie sowieso loswerden.«
Ich wandte den Blick ab. Das hatte ich nicht gedacht. »Es tut mir leid, dass Sie unglücklich sind.«
»Wissen Sie, ich begreife wirklich nicht, was mit ihr nicht stimmt«, sagte er gereizt. »Sie fühlt sich ständig elend und ist immer so trübsinnig.«
»Sie wissen schon, dass das hier nicht der einfachste Ort für eine Frau zum Leben ist?«
Wusste er es tatsächlich? Verärgert sagte er: »Sie wollte einen großen Wagen, also habe ich einen gekauft. Was sonst will sie noch von mir?«
6. Dezember: »Ijaz blieb zu lange«, sagt das Tagebuch. Am nächsten Tag kam er schon wieder. So wie er von seiner Frau gesprochen und mich mit der guten alten Patches aus seinen Tagen in Miami verglichen hatte, dachte ich nicht, dass ich ihn wiedersehen sollte. Aber er hatte einen Plan ausgeheckt und wollte nicht davon lassen. Ich sollte mit meinem Mann zu einer Dinnerparty kommen, bei ihm zu Hause, mit seiner Familie und einigen Geschäftspartnern. Davon hatte er schon vor meiner Abreise gesprochen. Ich wusste, welch großen Wert er darauf legte, und wollte ihm, wenn möglich, etwas Gutes tun. Er würde vor seinen Kunden eher als Mann von Welt dastehen, wenn er ein internationales Zusammentreffen zu arrangieren vermochte, wenn er – sagen wir es unverblümt – ein paar weiße Freunde vorzuweisen hatte. Und jetzt war es so weit. Seine Schwägerin koche bereits, sagte er. Ich wollte sie kennenlernen, ich bewunderte diese Diaspora-Asiaten, ihre polyglotten Unternehmungen und die Art, wie sie Rückschläge wegsteckten. Mich interessierte, ob sie eher westlich, östlich oder was sonst war. »Wir müssen den Transport organisieren«, sagte Ijaz. »Ich komme am Donnerstag, wenn Ihr Mann wieder hier ist. Um vier Uhr. Um ihm den Weg zu erklären.« Ich nickte. Es hatte keinen Sinn, eine Karte zu zeichnen. Vielleicht verlegten sie die Straße wieder.
Das Treffen am 8. Dezember war kein Erfolg. Ijaz kam zu spät, ohne dass es ihm bewusst zu sein schien. Mein Mann beschränkte sich auf die knappeste Gastgeberhöflichkeit und setzte sich dann unverzüglich in seinen Sessel, denjenigen, den ich hatte zum Schweben bringen wollen. Sein aufmerksames Schweigen schien darauf hinzudeuten, dass er bereit war, jedweder Art von Unsinn ein Ende zu setzen, ob es um das Mobiliar, Gäste oder sonst etwas ging. Auf der Kante des Sofa sitzend, krümelte sich Ijaz sein Baklava auf den Schoß, jonglierte mit seiner Gabel und wackelte mit der Kaffeetasse. Er sagte, er müsse nach unserer Dinnerparty, fast schon am nächsten Tag, geschäftlich nach Amerika. »Ich fliege über London. Nur um mich etwas zu erholen, zur Entspannung. Drei, vier Tage.«
Mein Mann muss sich dazu aufgerafft haben, ihn zu fragen, ob er dort Freunde habe. »Einen sehr alten Freund«, sagte Ijaz und wischte die Krümel auf den Teppich. »Er wohnt am Trafalgar Square. Kennen Sie den?«