KOSMOS
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© 2017, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15768-8
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Celfie rang nach Luft. Sie stand in einem mit schwarzen Marmorplatten ausgekleideten Eingang eines Wolkenkratzers und stützte die Hände auf ihre Knie. Ihr war speiübel vom Rennen. Mühsam richtete sie sich auf und sah die Straße entlang.
Es half alles nichts. Das war ihre Gegenwart – hier auf der Erde. Hier musste sie überleben. Jedenfalls so lange, bis sie wusste, was Glenn Despott vorhatte und wie sie den Weg zurück nach Hause fand.
Noch immer nahm sie in ihrer Nähe keine Bewegung wahr außer dem Regen. Für einen Moment blieb ihr Blick an den Tropfen hängen. Sobald sie am Boden ankamen, vereinigten sie sich zu einem grauen Fluss über den Bürgersteig, der von dort rasch in die Rinnsteine lief und schließlich gurgelnd durch das eckige Metallgitter eines Gullys in die Tiefe stürzte.
Wasser, kaltes Wasser, es war überall. Von den Bildern der Erdbewohner aus Farbek wusste sie, dass man sich hier erkälten und krank werden konnte. Die Vorstellung machte ihr Angst. Schon wieder. In so vielen Dingen lauerte diese Angst.
Suchend sah sie sich um. Sie brauchte einen trockenen und sicheren Ort, wo sie zur Ruhe kommen konnte. Ob sie einen Menschen um Hilfe bitten sollte?
Bisher hatte sie nur zwei Menschen kennengelernt. Neben Glenn Despott war es ein kleiner, dicker Mann mit Glatze gewesen, der immer um Glenn herumwieselte.
Sein Name war Hugo Gelbstift. Angeblich war Hugo ein freier Maler. Aber Celfie hielt ihn eher für einen Sklaven von Glenn.
Als sie den kleinen Glatzkopf das erste Mal gesehen hatte, war er ihr noch sympathisch vorgekommen. Das mochte daran gelegen haben, dass Celfie es nicht gewohnt war, andere nach ihrem Äußeren zu beurteilen.
In ihrer Welt gab es so etwas nicht. Im Gegenteil, je verrückter und verrenkter die Wesen in Farbek aussahen, umso lustiger und freier bewegten sie sich. Meist lag ihr Schwerpunkt nämlich irgendwo, aber ganz sicher nicht in der Körpermitte. Das hatte zur Folge, dass sie wild umhertrudelten, schwankten und durch die Welt gondelten, sobald sie sich von der Stelle rührten.
Ein Körper mit drei ungleich langen Armen, einem rechteckigen Kopf, einem Bein aus Eisen und einem aus einem Bündel Tentakeln, von denen zwei noch dazu in raketenangetriebenen Rollschuhen steckten, verhielt sich natürlich anders als ein ausbalancierter Seilartist in völligem Gleichgewicht. Doch genau deshalb waren diese Wesen wiederum oft die besten Akrobaten. Viele von ihnen waren lustige Gesellen und liefen so umwerfend komisch, dass man bei ihrem Anblick aus dem Lachen nicht mehr herauskam.
Auch Hugo Gelbstift sah lustig aus. Er wirkte wie ein rundliches Nagetier mit kräftigen, kurzen Beinen. Auf seinen schmalen, etwas hängenden Schultern saß ein eiförmiger haarloser Kopf. Hinzu kamen eine riesige Nase und Segelohren, die im Gegenlicht rötlich aufschienen, denn sie waren so dünn wie Fledermausflügel. Seine Augen hingegen waren klein und verkniffen und lagen fast verborgen in großen blauen Ringen und noch dickeren Tränensäcken darunter.
Doch obwohl er, all dies zusammengenommen, doch wirklich eher wie ein sehr fröhliches Wesen aussah, hatte Celfie erkennen müssen, dass das nicht zutraf. In der Menschenwelt konnten verkniffene Augen tatsächlich auf einen engen Geist hinweisen. Und ein kaltes Lächeln auf eine kalte Seele.
In Farbek waren die Wesen so, wie sie schienen. Erdenwesen aber konnten Masken tragen oder Lügengesichter.
Hugo Gelbstift hatte die ganze Zeit versucht, Glenn Despott zu gefallen. Der kleine Maler schwänzelte, so häufig er nur konnte, um seinen Chef herum. Celfie hatte schließlich verstanden, dass er sich nach nichts mehr sehnte als nach Glenns Anerkennung.
Wenn Glenn ihm diese verweigerte, zogen sich Hugos Augen zu schmalen, böse funkelnden Schlitzen zusammen. Wenn Glenn ihn aber anlächelte, glänzten Hugos Wangen sofort.
Hier in der Menschenwelt schienen wenige Mächtige den Ton anzugeben. Und außerdem schienen die weniger Mächtigen danach zu trachten, diesen Mächtigen zu gefallen. Denn sie fürchteten sie und hatten Angst, weil sie ihnen gehorchen mussten.
In Farbek gab es natürlich auch Gesellen, mit denen nicht gut Kirschen essen war. Das war normal in einer Welt, in der jedes Wesen der Fantasie eines anderen Wesens irgendwo aus dem Universum entstammte.
Es gab zum Beispiel Gestalten, die ununterbrochen jemanden schubsen wollten. Doch da es so etwas wie Schubsen in Farbek nicht gab, schubsten sie nichts weiter als die Luft vor sich her und taten niemandem weh. Andere Wesen waren lieb. Aber man war nie lieb, ohne es wirklich zu meinen.
In Farbek gab es keine Lügen!
Hugo Gelbstift allerdings wirkte nicht nur wegen seiner unterwürfigen Beflissenheit unangenehm. Er strahlte noch dazu den übermäßigen Wunsch aus, geliebt werden zu wollen. So sehr, dass er wahrscheinlich bereit war, alles dafür zu tun – auch eine wirklich böse Tat.
Das ließ Celfie einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen. So eine Beziehung von Gehorsam und Macht war ihr fremd und machte ihr Angst.
Angst war noch so etwas, was sie vorher noch nie empfunden hatte. Doch Glenn hatte sie das Fürchten gelehrt, mit einem einfachen Mittel. Er hatte sie mit einer Nadel in den Finger gestochen und ihr damit gezeigt, was Schmerz ist. Und dass er hier auf der Erde in der Lage war, diesen jedem anderen zuzufügen. Weil er es wollte.
Und plötzlich hatte sie es gefühlt – dieses beklemmende Gefühl in der Brust, als ob sich etwas Dunkles in ihrem Inneren ausbreitete und sie dabei in sich hineinsog.
Celfie schüttelte den Kopf, um nicht schon wieder von den Erinnerungen an ihre Gefangenschaft und den unangenehmen Erkenntnissen über das irdische Leben bedrängt zu werden.
Sie trat aus dem dunklen Hauseingang und setzte sich in Bewegung. Sofort trommelte der Regen heftig auf sie ein. Auch das ließ sich nicht ändern. Sie musste nach Antworten und nach Hilfe suchen.
Als Glenn Celfie loslaufen sah, wandte er den Blick vom Bildschirm, lehnte sich in seinem mit Hirschleder bespannten Sessel zurück und genoss die Abgeschiedenheit seines Büros. Hier oben im Moonson Tower war es angenehm ruhig und trocken.
Niemand störte ihn.
Eine gewaltige Tür aus reinem Gold hielt jeden unerwünschten Besucher fern. Sie trug gewundene Ornamente am Rand, die aussahen wie ineinanderverschlungene Flügel, und hatte, wie das gesamte Mauer- und Stahlbetonwerk auch, einen Kern aus weichem, jeden Ton abfangendem Mammutbaumholz, umhüllt von einer unzerstörbaren Schicht Titan.
Auf ihrer Innenseite prangte das Relief des ersten Moonson Towers, des Turmes, den sein Ziehvater errichtet und leider am Ende verloren hatte. Über dem Relief prangte in goldenen Buchstaben:
Omnes percurrunt secretum, nec animadvertunt
‚Jeder geht durch das Geheimnis hindurch, ohne es zu bemerken.‘
Niemand würde jemals wirklich begreifen, was dieser Satz bedeutete!
Zufrieden atmete er ein. Nichts und niemand drang in diese Räume ein, das Glenn hier nicht haben wollte. Kein Laut und kein Lebewesen. Und niemand würde das Geheimnis seiner Macht auch nur im Ansatz erahnen.
Sein Blick glitt auf den großen Bogen weißen Büttenpapiers, den Glenn mit einer einfachen Stecknadel mit einem roten Plastikkopf an die Wand gepinnt hatte. Es war dieselbe Stecknadel, mit der er Celfie in den Finger gestochen hatte. Er nannte sie seitdem seine Schmerznadel.
Glenn musterte das Papier:
1. Erschaffung
2. Entführung
3. Augenschein
4. Glenns Schule
5. Todestunnel III
6. Blick ins Licht
Hinter jedem Punkt standen Vorhaben, gegen die die ersten Schritte eines Menschen auf dem Mond sich ausnahmen wie die Hüpfer einer betrunkenen Grille. Gleichzeitig aber beruhte sein Vorgehen auf einer einfachen Idee. Ein klarer Gedanke, dessen Umsetzung Zeit brauchte und absolute Unerbittlichkeit.
Glenn Single Despott hatte Zeit. Alle Zeit der Erde und alle Zeit Farbeks dazu, selbst wenn es dort keine gab.
Und Glenn hatte auch die Zeit des Todes, wie er seit wenigen Monaten wusste. Und weil er das wusste, war er ruhigen Herzens und absolut unerbittlich.
Am Ende war es wirklich so simpel.
Er wollte und er würde der Herr der Welt werden.
Glenn beugte sich vor, nahm seinen Federhalter mit nachtschwarzer Tinte von seinem Schreibtisch, erhob sich und trat dann vor das Büttenpapier.
Dort strich er den zweiten Punkt aus. Er war ebenfalls erledigt.
Nun blieben nur noch vier Schritte zu gehen.
Glenn Single Despott seufzte wohlig. Alles verlief so, wie er es wollte. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Er würde der Herr der Welt sein, weil er die Gedanken aller Wesen beherrschen würde, wie es sonst nur das Wetter tat. Oder der Hunger. Oder die Frage nach der Zukunft.
Alle würden nur eins wollen: Glenn!
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
ER war die Zukunft.
Und das war doch ein wirklich schöner Gedanke.
Er blickte wieder auf seinen Bildschirm. Jetzt musste seine kleine Celfie nur tun, was er von ihr erwartete.
Celfie lief und lief und lief.
Sie hielt den Blick gesenkt, um nicht aufzufallen. Denn so dunkel ihre Augen in den vergangenen Wochen auch geworden waren, sie waren immer noch heller und strahlender als Menschenaugen.
Rechts und links ragten Hochhäuser auf und der Regen prasselte weiter auf Celfie ein, auch wenn er schwächer zu werden schien.
Sie musste ruhig bleiben. Selbst, wenn sie noch nicht wusste wie, irgendwann würde sie einen Weg zurück nach Farbek finden. Sie musste jemanden finden, der ihr half. Es gab so viele gute Wesen in Farbek, also musste es auch gute Menschen hier auf der Erde geben. Außerdem war alles besser, als vollkommen allein in einer Welt zu bleiben, in die sie nicht gehörte.
Ein Stück die Straße hinunter, bewegte sich etwas. Vorsichtig sah Celfie auf.
Ihre gletscherfarbenen Augen warfen einen bläulichen Widerschein in die Regentropfen vor ihrem Gesicht. Durch ihr Schimmern hindurch nahm sie einige Menschen wahr, die offenbar in einer Hoteleinfahrt Schutz vor dem Regen gesucht hatten, sich nun aber wieder in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Schirme wurden aufgespannt und Hände ins Freie gehalten. Sie waren jedoch weit genug entfernt, um Celfie nicht zu beachten.
Schnell senkte sie den Blick wieder. Durch das Fenster ihres Gefängnisses hatte sie schon vor ein paar Tagen heftige Regenschauer niedergehen sehen. Und jedes Mal hatte sie beobachtet, dass die Menschen sich vor dem Wasser zurückzogen.
Daher war sie dankbar gewesen, nach ihrer Flucht festzustellen, dass es regnete und sie dadurch einen möglichen Verfolger leicht hätte ausmachen können.
Sie schaute in einen der unter ihrem Blick bläulich aufleuchtenden Regentropfen. Das war neu. Diesen seltsamen Widerschein ihrer Augen in anderen Dingen kannte sie aus Farbek nicht.
Lag das daran, dass es dort kein Wasser gab? Oder verhielt es sich mit allen Menschenaugen so? Glenns und Hugos Augen hatten keinen Glanz in den Dingen um sie herum erzeugt. Womöglich lag es dann daran, dass sie aus Farbek kam?
Celfie schaute kurz in die Straße hinter sich. Sie war weiterhin frei, niemand folgte ihr. Vorsichtig sah sie in den nächsten Regentropfen, der türkisblau aufblitzte. Celfie lächelte dem Regentropfen zu, der dicht an der nächsten Hauswand zu Boden fiel und dort zerplatzte.
Als sie sich wieder umdrehte, fiel ihr Blick auf eine schwarze und glatte, vom Regenwasser spiegelnde Hochhauswand neben ihr. Für einen Moment blitzte in der wie poliert wirkenden Fläche ihr Gesicht auf. Darin leuchteten ihre Augen wie zwei blaue Sonnen in schwarzem Eis. Celfie erstarrte. Ein Spiegelbild hatte sie in Farbek nicht gehabt! Hier auf der Erde aber war es gar nicht zu vermeiden, und einmal hatte sie Hugo Gelbstift dabei beobachtet, wie er sich selbst angestarrt hatte, sich dabei mit der Hand über seinen Kopf gestrichen und dann mit den Fingern seine Augenbauen geglättet hatte.
Celfie schaute sich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig an. Sie hatte mandelförmige, große und türkisfarbene, wie Gletscher leuchtende Augen. Celfie spürte, dass sie in Farbek noch heller gewesen waren als hier auf der Erde. Das musste mit dem Schmerz und der Angst zu tun haben. Dennoch leuchteten ihre Augen heller als alles um sie herum. Ein kristallklares Feuerblau, das einen blendete.
Ihr Haar war schwarz und glatt und hing rechts und links von ihrem Kopf herunter. Die Spitzen waren ziemlich zottelig, wie wildes Gras. Celfie lächelte und das Licht ihrer Augen wurde heller. Der traurige Zug, der bis eben in ihrem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden und einem freundlichen Leuchten gewichen. Vereinzelte Regentropfen rannen ihr Spiegelbild hinunter. Celfie folgt ihnen mit dem Blick und nahm plötzlich aus dem Augenwinkel etwas wahr, das nicht zum Rest der kühlen Fassade passte. Einen kleinen, grünlich schimmernden Fleck. Unwillkürlich beugte sich vor und im nächsten Augenblick begannen ihre Augen zu strahlen …
Zufrieden drückte Glenn auf die Fernbedienung, mit der er die Drohne steuerte, die Celfie verfolgte. Ihre Augen strahlten. Endlich! Denn das hieß, er kam seinem Ziel näher.
Glenn hatte Celfie geschaffen. Dafür hatte er sich Hugo geholt, der ihm das Malen beigebracht hatte und sich als der perfekte Diener herausgestellt hatte. Die Augen des Mädchens hatte er aus kostbarstem, staubfeinem Diamant- und Türkismehl und einem Hauch frisch geschlagenen Kristalls gemalt. Ein einziges Gramm dieser einzigartigen Spezialfarbe kostete mehr, als ein normaler Mensch in einem Jahr verdiente. Dafür leuchteten ihre Augen wie kein zweites Augenpaar auf dem ganzen Planeten. Es waren Leben spendende Augen, dachte Glenn. Doch davon wusste Celfie ja noch nichts.
Es ging dabei um den dritten Punkt auf Glenns Liste: Augenschein. Celfies Augen würden Dinge erwecken, die in die Gedanken der Menschen Einzug halten würden. Und von den Gedanken zu Taten war es dann nur noch ein winziger Schritt, dem sich niemand mehr würde entgegenstellen können.
Er lächelte der kleinen Celfie im schimmernden Monitor seines Computers zu.
Ja, geh nur weiter, trage meinen Plan in die Welt, dachte Glenn zufrieden. Tu, wozu ich dich geschaffen habe.
In diesem Moment klopfte es an die Tür.
„Wer da?“, rief Glenn, obwohl er genau wusste, dass nur einer es wagte, ihn zu stören.
„Ich bin’s, Hugo. Ich habe eine wichtige Neuigkeit für dich!“
Glenn Despott zögerte. Seit Celfie da war, klopfte Hugo jeden Abend an die Tür von Glenns Privatgemächern. Angeblich, um irgendetwas Wichtiges zu berichten.
Ihre Anwesenheit schien ihn zu verunsichern. Vermutlich trieb ihn aber bloß die Angst um seine Mutter um. Glenn hatte sich nämlich Hugos Mutter angenommen und ließ den kleinen Maler im Unklaren, wo diese sich aufhielt. Angst machte Menschen so nützlich. Es war so einfach. Diese Einfachheit gefiel ihm.
Mit einem Knopfdruck ließ er die goldene Tür aufschwingen.
„Hugo, mein Lieber“, begrüßte er ihn überschwänglich. „Ich vermute, es ist sehr dringend?“
„Ja, aber ja! Ja, ja, ja!“, stieß Hugo hervor, während er eintrat und gleichzeitig versuchte, einen Blick auf Glenns Kontrollanzeigen zu erhaschen. Glenn beobachtete den kleinen Maler, während er mit seinem Hirschlederstuhl ein Stück vom Schreibtisch wegrollte, sodass Hugo freie Sicht erhielt. Dazu murmelte er scheinbar nachdenklich: „Hast du Fortschritte in der Nanoschrift erzielt?“
Hugo schluckte hörbar. „Ich komme voran, Glenn! Sehr gut sogar! Die in den Bildern versteckten Nanobuchstaben werden immer kleiner und dringen auch schon fast wie von selbst von dort in die Gehirne vor, um ihre Botschaften zu verbreiten. Es wird ein Meisterwerk. Ein Meis-ter-werk!“
Glenn verzog keine Miene. Wahrscheinlich merkte der feiste Maler nicht einmal, dass er seit Monaten dasselbe erzählte. Aber das war Glenn jetzt egal. Denn wenn Celfie Madison tat, was er sich erhoffte, dann war das gesamte Projekt mit der Nanoschrift bald auch offiziell hinfällig.
„Die kleinen Buchstaben“, wiederholte Glenn deswegen jetzt, als würde er sehr intensiv nachdenken. „Wie klein sind sie denn jetzt? Wie viele passen auf einen Quadratzentimeter?“
„Siebzehn!“, verkündete Hugo und strahlte dabei tatsächlich, während er begierig auf Glenns Monitor schielte.
„Das heißt, du hast Fortschritte gemacht.“
„Natürlich! Aber natürlich fehlt da auch noch etwas“, nickte Hugo, während er in winzigen Schritten versuchte, dem Monitor näher zu kommen. „Aber nicht mehr viel! Wenn ich die Buchstaben erst kleiner habe, dann schaffe ich es ja bald, 100 auf der Fläche eines Streichholzkopfes unterzubringen. Und dann steht da: Glenn Single Despotts Supersonderangebot! Einmalige Chance!“
Hugo strahlte über beide Wangen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Gleichzeitig sprach er weiter: „Und die Leute werden es lesen, ohne es wirklich zu bemerken. Sie werden deine Botschaften lesen, als würden sie es träumen.“
Hugo Gelbstift hüpfte fast bei seinen Worten, die Glenn schon tausendmal zuvor von ihm gehört hatte. Natürlich würde der kleine Maler es nicht schaffen, die Nanoschrift zu vervollkommnen. Aber das war egal, denn Glenns Absichten zielten sowieso in eine ganz andere Richtung.
Plötzlich deutete Hugo auf den Monitor. „Ist das nicht deine Gefangene da?“
„Ja“, murmelte Glenn lässig. „Sie ist mir abgehauen. Aber hör mal …“ Glenn lächelte aufmunternd und zugleich bedrohlich. „Die Nanoschrift ist kostbar, Hugo! Steck deine ganze Kraft da rein. Stell dir vor, deine 101 kleinen Buchstaben, die du eines Tages in einem einzigen kleinen Punkt unterbringen wirst, fliegen dem Leser von selbst ins Auge. Mithilfe der Nanoschrift werden die Menschen gar nicht merken, dass sie mit Werbung gefüttert werden!“
„Ja, äh, sicher …“ Hugo wischte sich über die Augen, die ihm seit Monaten tränten. Die mikroskopische Arbeit machte ihm zu schaffen. Dann holte er rasch Luft. „Aber deine Gefangene?! Sie ist wirklich entkommen? Aus dem Moonson Tower? Weggelaufen? Einfach so? Wie geht das?“
„Sie ist eben weggerannt. Wie, weiß ich auch nicht“, sagte Glenn so leise, dass Hugo sich noch weiter vorbeugen musste, um ihn besser verstehen zu können. Jetzt machte er fast einen Knicks vor Glenn.
„Aber du beobachtest sie doch! Wie kann sie da abgehauen sein?“, rief der kleine dicke Maler.
Glenn lächelte. Er hatte Hugo genau da, wo er ihn haben wollte.
„Sie war nicht wichtig, Hugo. Bei wirklich wichtigen Dingen würde mir so etwas nie passieren.“ Er sah Hugo in die Augen und kostete die Angst aus, die darin aufleuchtete. „Außerdem hat eine meiner automatischen Drohnen sofort die Verfolgung aufgenommen. So, wie bei jedem, der den Moonson Tower unerlaubt verlässt.“ Er blickte Hugo direkt in die Augen, der den Blick sofort senkte. „Übrigens lässt deine Mutter dich herzlich grüßen.“
Hugo erbleichte. „Meine Mutter. Ja, wo ist sie denn? Immer noch in dem Heim?“
„Natürlich“, nickte Glenn. „Im besten Heim, das es gibt. Genau, wie ich es dir versprochen habe. In guter Obhut.“
„Und wo ist das? Ich meine, wann darf ich sie dort besuchen?“ Hugo wirkte jetzt wie ein Fisch auf dem Trockenen, der um Wasser bettelte.
„Natürlich wenn du mit deiner Arbeit fertig bist“, lächelte Glenn. „Das findet deine Mutter auch, erst sollst du deine Arbeit machen.“
„Findet sie das?“, rief der kleine Maler.
„Das hat sie mir gestern noch gesagt, ja“, nickte Glenn sanft. „Am Telefon.“
„Und mit mir wollte sie nicht sprechen?“ Hugo klang weinerlich.
Langsam und mitleidig schüttelte Glenn den Kopf. „Ich habe ihr gesagt, dass du wirklich zu beschäftigt bist. Aber sie denkt an dich!“ Glenn schenkte Hugo ein Lächeln. „Außerdem brauche ich dich jetzt hier. Hättest du Lust, dir mit mir gemeinsam anzusehen, was die kleine Celfie unternimmt? Ich dachte, sie würde uns nützlich sein können, aber in diesem Fall, tja …“ Glenn schnalzte mit der Zunge.
Hugo zog sich einen zweiten Stuhl heran. „Ja, natürlich gucke ich zu. Und ich dachte schon, du hättest sie hergebracht, um mich bei der Arbeit zu überprüfen.“
„Aber Hugo!“, rief Glenn. „Die Nanoschrift kann niemand außer dir in die Welt bringen. Du bist ihr Erfinder, du hattest die Idee – du bist ihr Meister! Wie kommst du nur darauf, ich würde dich von einem kleinen Mädchen aus Farbek überprüfen lassen?“
Hugo starrte auf den Monitor. „Tja, ich, also …“ Schließlich sagte er: „Grüß bitte meine Mutter von mir, Glenn! Ja? Und … Farbek? Den Namen habe ich noch nie gehört. Auf welchem Kontinent liegt das Land eigentlich noch mal?“
Glenn hatte schon Angst gehabt, Hugo hätte das Wort Farbek überhört. Aber irgendwie musste Glenn den Maler schließlich auf das vorbereiten, was hoffentlich gleich eintreten würde.
„Farbek ist ein Landstrich im hinteren Asien, in dem die Leute mit alten Giften und Tränken operieren“, erklärte er. „So gut wie unbekannt.“
„Ach so, aha, verstehe“, Hugo nickte und tat so, als ob er irgendwas verstünde.
Jetzt sah Glenn Hugo fragend an. „Hast du wirklich gedacht, ich hätte sie zu deiner Kontrolle geholt?“
Der kleine Mann erstarrte. „Nein“, murmelte er untertänig. „Natürlich nicht. Ich hatte nur nicht verstanden, warum sie hier ist, und war mir etwas unsicher.“
„Darüber bin ich aber wirklich froh“, entgegnete Glenn. „Denn pass auf! Du sollst dir niemals unsicher sein. Tu einfach nur, was ich sage, und glaube daran. Was hältst du von einem kleine Spiel unter Freunden? Wir beobachten Celfie zusammen. Und wenn sie etwas Ungewöhnliches tut, darf derjenige von uns, der es zuerst bemerkt, ihr einen Streich spielen.“
„Einen Streich?“, wiederholte Hugo.
„Hm, hm!“, machte Glenn. „Einen Streich. Du weißt doch, was das ist?
Hugo räusperte sich. „Natürlich, Glenn. Natürlich kenne ich so was.“
„Sehr gut!“ Glenn Single Despott schob seinen Hirschlederstuhl wieder näher an den Monitor und drängte Hugo zur Seite. „Dann schauen wir jetzt mal, was passiert. Und wer zuerst etwas bemerkt, darf den Streich spielen.“
Celfie näherte sich vorsichtig dem Fleck.
Hinter einem grauen Regenrohr, nah bei seinem Ende, leuchtete ein feucht schimmerndes moosgrünes kleines Graffiti. Celfie riss die Augen auf. So etwas Schönes hatte sie auf dieser Welt noch nicht gesehen.
Es war eindeutig ein Bild. Und es war genau wie in Farbek.
Unwillkürlich musste Celfie lächeln. Das Wesen sah aus wie eine grüne Spraymaus, die sich hinter dem Regenrohr versteckt hatte. Sie saß auf einem sehr langen, schwarzen Schwanz und lugte um das Rohr herum aus kupferfarbenen Augen vorsichtig in die Welt. Die kleinen Ohren sahen ganz so aus, als wäre der Spraydose am Ende die Farbe ausgegangen. Genauso war es mit der Schnauze des Bildes. Sie wurde zur Spitze hin ebenfalls immer dünner und farbloser, sodass der Untergrund durchschimmerte.
„Niedlich!“, murmelte Celfie. Sie sah sich die Schnauze genauer an. Auf ihrer Spitze saß ein kleiner rosa Klecks, der hell leuchtete.
„Knallrosa!“, rief Celfie. „Cooles Pink!“
Der Rest des Wesens glitzerte moosgrün, auch, wenn die Farbe an einigen Stellen vom vielen Regen, der an der Hauswand entlang über das Bild gelaufen sein musste, hier und da etwas verwaschen aussah.
Celfie sah die Augen der Spraymaus an und seufzte. Es waren wunderschöne kupferfarbene, tiefe Punkte, deren Blick, wenn die Spraymaus lebendig gewesen wäre, sicher von durchdringender Kraft hätten sein können.
Celfie spürte einen Stich im Herzen. Was hätte sie dafür gegeben, mit dem Bild sprechen zu können, wie zu Hause in Farbek! Vielleicht wusste es etwas über diese Welt und konnte Celfie einen Rat geben.
Aber anders als in Farbek schienen sich Bilder auf der Erde nie vom Fleck zu rühren. Celfie seufzte und ließ ihren Blick auf der grünen Maus ruhen. Wie das Bild wohl in Farbek gewesen wäre? Leider hatte sie es dort nie getroffen.
Im selben Moment zuckte die Schnauze.
Überrascht beugte sich Celfie vor. Sie hatte sich geirrt, das Bild lebte doch! Wahrscheinlich hatte es nur geschlafen.
„He, hallo?“, flüsterte Celfie.
„Was?“ Die grüne Maus kam hinter dem Regenrohr hervor und plumpste etwas unsanft auf die Straße.
„Was ist los?“ Das Graffiti blinzelte ungläubig und sah Celfie merkwürdig an.
„Wer bist du?“, fragte Celfie.
Die grüne Spraymaus machte einen etwas unsicheren Schritt. „Ich bin …“ Ein Zittern fuhr durch ihren Körper. „Ich wusste bis eben nicht mal, dass es mich überhaupt gibt. Also, ich meine, ich war gar nicht da.“
„Doch“, sagte Celfie ernsthaft. Offenbar hatte das Bild sehr lange oder sehr tief geschlafen. „Du warst da. Ich habe dich gesehen. Und darüber habe ich mich sehr gefreut.“
Die Spraymaus holte Luft. „Und wer bin ich?“
„Na, du natürlich. Weißt du das etwa nicht?“
„Du natürlich …“, wiederholte das Graffiti und schüttelte sich. Aus seinem schimmernden Fell flogen Wassertropfen und ein paar Farbkleckse.
Celfie kicherte. „Du bist ein Farbspritzer!“
„Was?“
„Du schleuderst Farbtropfen … Es gibt viele Farbspritzer in Farbek.“
Die grüne Spraymaus hob die Nasenspitze. „Bin ich in Farbek?“
„Aber nein!“, rief Celfie. Das kleine Wesen schien wirklich etwas langsam zu verstehen. „Farbek, das ist die Welt, aus der ich komme! Hier sind wir auf der Erde.“ Celfie deutete in den Himmel. „Hier gibt es nur grauen und blauen Himmel und ein paar meistens graue Wolken. Farbek ist sehr viel bunter!“
Die grüne Spraymaus folgte Celfies ausgestrecktem Arm mit den Augen. „Ja, hier ist es wirklich ziemlich grau“, murmelte sie matt.
Ihr nasses, grünes Fell schimmerte inzwischen noch viel moosiger und sie schien auch etwas wacher zu werden.
„Und wer bist du?“
„Ich heiße Celfie Madison“, antwortete Celfie.
„Celfie?“, fragte die Maus. „Das klingt nett. Aber was ist Madison?“‘
„Weiß ich nicht. Aber es ist mein zweiter Name. Jemand hat mich so genannt.“
Die grüne Maus schüttelte sich. „Hallo, Celfie Madison. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Aber was ist Farbek? Komme ich auch daher?“
Celfie seufzte. Dieses Bild schien ihr nicht wirklich helfen zu können. Rasch sagte sie: „Eigentlich schon! Farbek ist unsere Welt und lässt sich nicht gut mit der Erde vergleichen. Du hast anscheinend keine Erinnerung an Farbek.“
Die kleine grüne Spraymaus sah Celfie ein wenig fragend und ein wenig traurig an. „Kannst du es nicht beschreiben? Was ist denn da anders als hier?“
Celfie schluckte. Alles, wollte sie sagen. Aber das stimmte natürlich nicht. Denn irgendwo in Farbek musste es auch die grüne Spraymaus geben, schließlich war sie ein Bild und vor jedem Bild stand eine Idee, die, durch den Gedanken eines Wesens von irgendeiner anderen Welt, in Farbek das Licht erblickte. Nur gesehen hatte Celfie sie dort noch nie. Aber vielleicht war sie ja auch erst gemalt worden, nachdem Glenn Celfie entführt hatte? Vielleicht kannte sie sie deswegen nicht?
„Das ist nicht so wichtig“, wiegelte Celfie ab. „Wichtig ist gerade nur, dass ich nicht von hier bin. Ich kenne mich rein gar nicht aus. Und ich hatte gehofft, du kannst mir helfen.“
„Bist du deswegen so ungeduldig?“, fragte die grüne Spraymaus.
Celfie nickte unglücklich.
In den kupferfarbenen Augen des Graffitis glomm es jetzt heller. „Tut mir leid“, sagte die grüne Spraymaus. „Ich war noch nie am Leben. Oder jedenfalls eine Weile nicht mehr. Eigentlich nur in dem Moment, als ich gemalt wurde. Aber das vergeht hier sehr schnell.“
„Was?“, fragte Celfie.
„Du hast echt keine Ahnung, oder?“, hielt ihr die grüne Spraymaus entgegen.
Celfie merkte, dass sie wütend wurde. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele interessante Wesen ich in Farbek schon getroffen habe!“, rief sie. „Und was ich alles weiß. Alle Bilder und Fantasien erzählen eine eigene Geschichte. Jeder kann sein, wie er will. Und wir mögen jeden so, wie er ist. Und es spielt keine Rolle, woher man kommt! Und darum haben wir sehr wohl Ahnung. Wenn hier einer keine Ahnung hast, dann bist das doch du! Du kommst eigentlich auch aus Farbek und kennst es gar nicht!“
Die kleine grüne Spraymaus schaute sie erstaunt an. „Okay, dann würde ich sagen: Gleichstand. Du benimmst dich hier also anders als in Farbek?“
„Was?“ Celfie starrte sie an. Das Bild hatte recht. Zu Hause wäre Celfie niemals über jemand anderen wütend geworden oder hätte zur Eile gedrängelt.
„Entschuldige“, flüsterte Celfie. „In Farbek gibt es keine Zeit.“
„Wie? Keine Zeit?“
„Das heißt, es gibt kein Gestern oder Heute oder Morgen. Alles ist zugleich.“
„Das ist interessant“, sagte die Spraymaus. „Dann hattest du es also noch nie eilig, was?“
„Ja“, nickte Celfie. „Aber hier greift die Zeit nach mir.“ Ihre Augen wurden dunkel. „Ich muss mich wohl davor hüten, zu sehr an sie zu glauben. Sonst werde ich doch wie Glenn.“
„Glenn?“, fragte die kleine grüne Spraymaus. „Wer ist das denn?“
„Glenn Despott“, antwortete Celfie. „Er hat mich hierher entführt. Ich glaube, er hält mich für nützlich.“
„Wieso kommst du darauf?“
„Wenn jemand einen anderen entführt, dann muss er doch einen Grund dafür haben. Oder denkst du das nicht?“
„Möglich. Kann aber auch sein, dass er Angst vor dir hatte. Ich weiß es nicht. Ich kenne dich ja noch gar nicht richtig.“ Die Spraymaus zögerte. „Aber da du mich anscheinend zum Leben erweckt hast, denke ich nicht, dass ich mich vor dir fürchten muss.“
Celfie sah die Spraymaus verwirrt an. Sie sollte die Maus zum Leben erweckt haben?
Doch das Graffiti bemerkte Celfies Blick nicht. Stattdessen fing es nun an, an der Wand hoch und runter zu laufen. Dann umrundete es das Regenrohr und blieb schließlich darauf sitzen. „Das tut gut, sich zu bewegen! Es weckt den Körper und den Geist.“ Die Spraymaus richtete sich auf und streckte sich. „In Farbek ist es also anders als hier. Gut, anders als hier ist es um die nächste Ecke allerdings bestimmt auch. Es ist sogar wahrscheinlich überall anders als da, wo man gerade ist. Und das weiß ich, weil es hinter dem Regenrohr eindeutig anders war als jetzt vor dem Regenrohr.“
Celfie schüttelte den Kopf. „Ich bin jetzt schon durch viele Straßen gelaufen und alle waren ähnlich.“ Sie schaute auf die Wände der Hochhäuser. „Der größte Unterschied sind auf jeden Fall die Farben. Farbek ist bunt.“
„Bunt?“ Die grüne Spraymaus reckte ihre Schnauze senkrecht in die Höhe. „Dass es so grau ist, liegt nur am Regen. Hey, Moment mal! Ich glaube, ich fange an, mich zu erinnern. Bei Sonne ist es nämlich anders. Ich weiß übrigens noch etwas. Mein Name ist mir wieder eingefallen. Ich heiße Fluschfummel.“
Celfie lachte auf.
„Lachst du mich aus?“ Die Spraymaus runzelte ihre grüne Stirn.
„Nein, natürlich nicht. Das ist ein schöner Name. Woher hast du ihn?“
„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat mein Maler mich so genannt. Der Name war plötzlich wieder da. Aber er klingt wie ein Stofftiername, nicht wahr? Dabei weiß ich genau, dass ich nicht aussehe wie ein Stofftier. Ich sehe nicht mal aus wie eine richtige Maus. Die sind grau und nicht grün. Ich sehe aus wie eine Moosratte mit einem Affenschwanz und einer halb aufgelösten Schnauze mit einem rosa Fleck. Ich sehe echt kaputt aus.“
Celfie musste wieder lachen. Fluschfummel sah niedlich aus, wie sie da auf dem Regenrohr saß und sich in alle Richtungen drehte. „Stört dich etwa dein Aussehen?“
Die grüne Spraymaus leckte sich über ihr Fell und ein paar gelbe und rote Spitzer flogen daraus hervor. „Na ja, ich fühle mich wirklich nicht gerade vollkommen. Du bist viel schöner.“ Sie sah Celfie plötzlich in ihre seltsam leuchtenden Augen. „Aber du scheinst dich auch nicht besonders gut zu fühlen!?“
Celfies Augen wurden wieder etwas dunkler. „Nein, wirklich nicht! Bei mir zu Hause wird man nicht eingesperrt.“
„Eingesperrt?“ Das Graffiti reckte seine unscharfe Schnauze empor. „Willst du damit sagen, dass du eingesperrt warst?“
„Das habe ich doch eben erzählt“, rief Celfie.
„Nein, du hast gesagt, dass du entführt wurdest. Du wolltest also sagen, dieser Glenn hat dich entführt und eingesperrt?“
„Da oben!“ Celfie zeigte auf den Moonson Tower.
„Das ist wahrhaftig ein sehr hohes Haus“, murmelte Fluschfummel. „Das verstehe ich nicht so richtig.“ Die Spraymaus hob eine Pfote und kratzte sich an einem ihrer fransigen Ohren.
„Ich ja auch nicht“, seufzte Celfie. Sie setzte sich neben Fluschfummel. Auf einmal fühlte sie sich unendlich traurig. Dazu war es, als fiele der Regen direkt durch sie hindurch und sie flösse mit jedem Tropfen auf die Straße und weiter hinab in die Gullys.
„He!“, rief Fluschfummel. „Weinst du?“
Celfie blickte auf. Sie hatte noch nie geweint. Und doch musste es stimmen. Denn aus ihren Augen flossen Tropfen mit dem Regen hinab zum Boden. Celfie wusste nicht weiter. Sie konnte nicht einfach wie in Farbek die Augen schließen und an den Ort denken, wo sie sein wollte, um dann, wenn sie die Augen wieder öffnete, dort zu sein. Sie konnte auch nicht alleine sein, wenn sie es wollte. Und auch wenn sie jetzt dankbar war, hier auf der Erde jemanden gefunden zu haben, mit dem sie sprechen konnte, die Erde war ein ungerechter Ort. Hier gab es oben und unten zwischen den Lebewesen. Und die oben beherrschten die unten. Das gab es in Farbek nicht.
Fluschfummel sah sie an. „Deine Augen sind wie türkisblaue Sonnen“, flüsterte sie. „Fremd und eigenartig. Haben alle Leute in Farbek solche Augen?“
Celfie schüttelte den Kopf. „Nein, in Farbek sieht wirklich jeder ganz anders aus.“
Eine Träne fiel direkt vor die verschwommene Schnauze der grünen Spraymaus. Als sie zerplatzte, klirrte es ein bisschen wie zerbrechendes Glas.
Mitleidig sah das Graffiti sie an. „Danke, dass du mich zum Leben erweckt hast“, murmelte es dann.
„Was?“ Celfie starrte Fluschfummel an. „Warum sagst du das schon wieder? Das war ich nicht.“
Fluschfummel richtete sich auf und ein grüner Tropfen fiel aus ihrem Fell. „Natürlich warst du das!“
„Nein! Wie kommst du darauf?“ Celfie hatte noch nie jemanden zum Leben erweckt. Sie wusste auch gar nicht, wie so etwas gehen sollte.
„Sonst wäre ich ja wohl nicht hier!“, rief Fluschfummel.
Celfie schüttelte den Kopf. „Du bist hier, weil dich jemand gemalt hat. Du hast bestimmt nur tief geschlafen und geträumt. Und ich habe dich geweckt.“
Die grüne Spraymaus schwieg. Aber in ihren kupferfarbenen Augen stand deutlicher Zweifel, als sie fragte: „Warum hast du mich überhaupt angesehen?“
„Weil ich nicht wusste, wohin ich gehen soll“, gab Celfie zurück. „Ich suche nach einem Versteck und nach Hilfe. Dabei habe ich mein Spiegelbild entdeckt und dann dich. Ich habe Angst, dass mich Glenn Despott verfolgt. Das alles ist so … finster. Du bist das erste schöne Bild, das ich hier getroffen habe.“
„Ich?“ Die grüne Spraymaus kicherte verlegen und sprang in die Luft, sodass erneut einige Farbspritzer aus ihrem Fell flogen. „Eins weiß ich genau: Du hast mich zum Leben erweckt, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Ich schlage vor, dass wir zusammen weitergehen. Ich bin auch neu hier, wenn auch nicht so neu wie du. Ich kann mich nur noch ein bisschen an früher erinnern, an die Zeit, als ich gemalt wurde. Aber es wird immer mehr. Und mein Gefühl sagt mir, dass es auch für mich besser sein wird, einen Unterschlupf zu finden. Ich glaube nämlich nicht, dass lebende Bilder hier besonders sicher sind.“
Celfie lächelte. „Du weißt viel für ein Graffiti, das meint, eben erst zum Leben erweckt worden zu sein.“
Die grüne Spraymaus schüttelte den Kopf. „Du kennst diese Welt auch besser als jemand, der nicht von hier ist. Du sprichst meine Sprache, du kennst die Menschen und hast eine Idee, wonach du suchst. Wir wissen offenbar beide mehr, als wir glauben.“
Celfie lächelte.
In diesem Moment traf ein Sonnenstrahl ihr Gesicht. Am Himmel begann der Regen sich aufzulösen und das Licht der Abendsonne fiel durch die Wolken.
Celfie sah sich um. „Also, wohin?“
„Dahin, wo die Menschen nicht hingehen. Dahin, wo sie den Regen schicken“, schlug Fluschfummel vor. Mit der Schnauze deutete sie auf einen Gully, der direkt vor ihnen lag. „Also da runter! Kannst du den Deckel hochheben?“
Celfie trat an den Gully heran und bückte sich. Der Gullydeckel war aus Eisen und sehr schwer. Mit zusammengebissenen Zähnen hob sie ihn an und schob ihn dann mühsam zur Seite.
„Bravo!“ Die grüne Spraymaus sprang an Celfies Seite. „Du bist ganz schön stark! Und jetzt rein da!“
Celfie blickte in das dunkle Loch, das sich vor ihnen auftat.
Da ist es noch grauer und dunkler als sonst schon auf dieser Welt, dachte sie.
Aber Fluschfummel hatte vermutlich recht. Celfie atmete tief durch. Dann ließ sie sich auf den Boden nieder, schwang die Beine über den Rand und ließ sich auf einige in die Wand eingelassene Metallsprossen gleiten. Als sie sicheren Stand hatte, begann sie den Abstieg.
„He, halt, warte noch!“ Fluschfummel sprang auf Celfies Schulter. „Schieb den Deckel von unten wieder zurück“, piepste sie ihr ins Ohr. „Das ist sicherer!“
Zwischen den Steinwänden hallte ihre helle Stimme wider.
Celfie streckte die Arme aus und tat es. Das war noch schwerer, als den Gully zu öffnen. Mit aller Kraft ruckte sie an dem Eisengitter. Schließlich aber rastete der Gullydeckel mit einem Knirschen ein.
Celfie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und die Augen. Sie fühlte sich müde, aber hier konnten sie unmöglich stehen bleiben und sich ausruhen.
„Lass uns weiterklettern“, zischelte Fluschfummel.
Celfie setzte sich in Bewegung. Die Maus sprang von ihrer Schulter auf die lange Metallleiter und kletterte neben ihr her. „Muss mich einfach bewegen nach so langer Zeit an derselben Stelle!“, erklärte sie dazu.
Celfie nickte stumm.
Lautlos stiegen die beiden neuen Gefährtinnen weiter in den Schacht. Stufe um Stufe wurde es dunkler und dunkler um sie herum.
Das Mädchen aus Farbek hielt kurz inne, holte tief Luft und kletterte dann weiter.
„Hast du das gesehen?“, stammelte Hugo Gelbstift.
Die Lungen des kleinen Malers gaben ein pfeifendes Geräusch von sich, als er nach Atem ringend Luft holte. Mit ausgestrecktem Finger zeigte er auf den Computerbildschirm auf Glenns Schreibtisch. „Glenn! Hast du gesehen, was sie da gemacht hat?“
„Natürlich habe ich das“, entgegnete Glenn gelassen.
Die kleine Celfie Madison hatte tatsächlich genau das getan, was er von ihr erwartet hatte. Sie hatte ein anderes Bild zum Leben erweckt! Es war wunderbar!
Äußerlich blieb Glenn allerdings ruhig und tat so, als wäre es nichts Besonderes. „Sie hat ein Graffiti lebendig gemacht. Und das heißt, du darfst ihr den Streich spielen. Denn du hast es ja eindeutig von uns beiden zuerst bemerkt. Hugo, wie aufmerksam du doch bist.“
Das war natürlich gelogen. Glenn hatte Celfie genau beobachtet und den seltsamen Glanz in ihren Augen schon bemerkt, ehe die hässliche Krakelei an der Wand angefangen hatte sich zu bewegen. Das war es schließlich, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte. Sofort hatte er darauf geachtet, Hugo freie Sicht zu geben. Schließlich sollte Hugo Celfie folgen, denn von nun an genügte eine Drohne nicht mehr und wurde auch zu gefährlich. Celfie Madison durfte nicht merken, dass sie verfolgt wurde. Und Glenn wollte seinen Turm nicht verlassen. Er musste das Kommando behalten, und zwar von hier.
Hugo Gelbstift fuhr zusammen und begann schon wieder zu stammeln. „Ich soll ihr jetzt einen Streich spielen? Aber hast du nicht gesehen, was sie kann! Sie hat ein Graffiti zum Leben erweckt. Vielleicht kann sie ja auch das Gegenteil. Vielleicht sieht sie einen an und man wird zu einem Bild an der Wand. Wirklich, Glenn, solche Sachen sind gefährlich!“
Weiter kam er nicht, denn diesmal unterbrach ihn Glenn unwirsch. „Das war aber unsere Abmachung!“ Er schielte hinüber zu seinem Büttenpapier mit dem roten Nadelkopf. Es wurde Zeit, dass er Punkt 3 ausstrich.
„Aber was soll ich denn tun?“, rief Hugo. Er klang verzweifelt. „Was das Mädchen da gerade gemacht hat – so was gibt es sonst nicht! Das können nur Geisterbeschwörer in blöden Filmen. Solchen Wesen spielt man besser keinen Streich!“
Glenn ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: „Einen wunderschönen Streich wirst du ihr spielen, der uns dann vielleicht bald von großem Nutzen sein wird! Ich möchte, dass du das lebendig gewordene Bild überwältigst und hierher bringst in meine Obhut.“