Raquel J. Palacio

Wunder – Charlottes Auftritt

Aus dem Englischen von André Mumot

But every Spring

It groweth young again,

And fairies sing.

Doch in jedem Frühling

Kommt das neue Grün,

Und die Feen singen.

Flower Fairies of the Spring, 1923

Nobody can do the shingaling like I do.

The Isley Brothers: Nobody but Me

Wie ich mir auf dem Weg zur Schule jede Menge Fragen stellte

Eigentlich habe ich ihn jeden Morgen auf dem Weg zur Schule gesehen, den alten blinden Mann, der auf der Main Street Akkordeon spielte. Er saß auf einem Hocker unter der Markise vom A&P-Supermarkt an der Ecke Moore Avenue, und sein Blindenhund lag vor ihm auf einer Decke. Der Hund trug ein rotes Tuch um seinen Hals. Es war ein schwarzer Labrador. Das weiß ich, weil meine Schwester Beatrix ihn mal danach gefragt hat.

»Entschulden Sie, Sir. Was für eine Art Hund ist das?«

»Joni ist eine schwarze Labradorhündin, Missy«, erwiderte er.

»Sie ist echt süß. Darf ich sie mal streicheln?«

»Lieber nicht. Sie arbeitet gerade.«

»Okay, danke schön. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

»Wiedersehen, Missy.«

Meine Schwester winkte ihm zu. Da er das ja aber gar nicht mitbekam, winkte er natürlich nicht zurück.

Beatrix war damals acht. Das weiß ich noch, denn es war in meinem ersten Jahr im Kindergarten der Beecher Prep.

Ich selbst habe nie mit dem Akkordeonspieler gesprochen. Ich geb’s ja nicht gern zu, aber ich habe mich damals irgendwie vor ihm gefürchtet. Seine Augen, die immer offen standen, waren so milchig und verschwommen. Sie sahen aus wie weiß-braune Murmeln. Das fand ich gruselig. Sogar vor seinem Hund habe ich mich ein wenig gefürchtet, was total komisch ist, denn normalerweise liebe ich Hunde. Ich meine, ich habe ja sogar selbst einen Hund! Aber vor seinem Hund, der einen grauen Maulkorb trug und dessen Augen irgendwie ganz verklebt aussahen, hatte ich Angst. Aber – und das ist ein wirklich gewaltiges Aber – auch wenn ich vor den beiden Angst hatte, vor dem Akkordeonspieler und seinem Hund, warf ich doch immer einen Dollarschein in den offenen Akkordeonkoffer, der vor ihnen stand. Und obwohl er das Akkordeon spielte und ich ganz leise hinüberschlich, hörte er immer das leise Knistern, wenn der Schein in den Kasten fiel, jedes Mal.

»Gott segne Amerika«, sagte er dann und nickte in meine Richtung.

Das wunderte mich jedes Mal. Wie konnte er das hören? Woher wusste er, in welche Richtung er nicken musste?

Mom erklärte mir damals, dass Blinde ihre anderen Sinne in besonderer Weise entwickeln, um so den Sinn auszugleichen, den sie verloren haben. Weil er also nicht sehen konnte, konnte er umso besser hören, fast wie ein Superheld.

Deshalb habe ich mich gefragt, ob er wohl noch andere Superkräfte hatte. Ob zum Beispiel seine Finger im Winter, wenn es eiskalt war, auf magische Weise warm blieben, während er die Tasten seines Akkordeons drückte? Und wie blieb der Rest seines Körpers warm? An diesen wirklich wahnsinnig kalten Tagen, wenn meine Zähne schon zu klappern anfingen, wenn ich bloß ein paar Straßen weit gegen den eisigen Wind gegangen war, wie hielt er sich da warm genug, um sein Akkordeon zu spielen? Manchmal sah ich sogar kleine Seen aus Eis, die sich in seinem Bart gebildet hatten, oder wie er mit der Hand hinuntergriff, um sicherzugehen, dass sein Hund auch ordentlich zugedeckt war. Er spürte die Kälte also sehr wohl, aber wie schaffte er es nur, weiterzuspielen? Wenn das keine Superkräfte waren, dann weiß ich auch nicht!

Im Winter bat ich Mom statt um einen immer um zwei Dollarscheine, die ich in seinen Akkordeonkoffer legen konnte.

Knister, knister.

»Gott segne Amerika.«

Er spielte immer dieselben acht oder zehn Lieder. Außer an Weihnachten, dann kamen »Rudolph, the Red-Nosed Reindeer« und »Stille Nacht, heilige Nacht« dazu, ansonsten waren es aber immer dieselben Songs. Mom kannte die meisten Titel. »Delilah«, »Those Were the Days«, die Titelmelodie von »Doktor Schiwago«. Ich lud sie mir alle aus dem Internet herunter, und sie hatte jedes Mal recht mit den Titeln. Aber warum immer nur diese Lieder? Waren es die Einzigen, die er je gelernt hatte, oder die Einzigen, an die er sich noch erinnern konnte? Oder kannte er vielleicht noch jede Menge anderer Stücke, entschied sich aber bewusst immer nur für diese Songs?

Und all diese Fragen warfen immer nur noch mehr Fragen auf! Wann hatte er gelernt, Akkordeon zu spielen? Schon als kleiner Junge? Wo war er aufgewachsen? Konnte er damals noch sehen? Und wenn nicht, wie konnte er dann Noten lesen? Wo wohnte er, wenn er nicht an der Ecke Main Street und Moore Avenue saß? Manchmal sah ich ihn mit seinem Hund die Straße entlanggehen. Dann hielt er mit der rechten Hand die Hundeleine und mit der linken seinen Akkordeonkoffer. Sie gingen so langsam! Es sah nicht so aus, als würden sie in dem Tempo sehr weit kommen. Wohin gingen sie also?

Ich hätte ihm wirklich jede Menge Fragen gestellt, wenn ich nicht solche Angst vor ihm gehabt hätte. Und so habe ich nie gefragt. Ich habe ihm bloß Dollarscheine gegeben.

Knister.

»Gott segne Amerika.«

Es war immer dasselbe.

Und dann, als ich älter wurde und mich nicht mehr so sehr vor ihm fürchtete, schienen mir meine Fragen an ihn nicht mehr so wichtig zu sein. Wahrscheinlich war ich so sehr daran gewöhnt, ihn zu sehen, dass ich über seine milchigen Augen und seine Superkräfte gar nicht mehr nachdachte. Ich gab ihm immer noch Dollarscheine, wenn ich an ihm vorbeiging, aber das war jetzt mehr eine Gewohnheit, so wie man die MetroCard durch den Schlitz bei der U-Bahn schiebt.

Knister.

»Gott segne Amerika.«

Als ich dann in die fünfte Klasse kam, sah ich ihn gar nicht mehr, weil ich einen neuen Schulweg hatte, der mich nicht mehr an ihm vorbeiführte. Die Beecher Prep Middle School ist ein paar Straßen näher an unserem Haus als die Grundschule, und deshalb gehe ich jetzt mit Beatrix und meiner älteren Schwester zur Schule und nach dem Unterricht mit meiner besten Freundin Ellie und mit Maya und Lina nach Hause, die ganz in der Nähe von uns wohnen. Anfang des Schuljahres holten wir uns manchmal nach dem Unterricht noch etwas Süßes beim A&P-Supermarkt, bevor wir uns auf den Heimweg machten, und dann sah ich den Mann mit dem Akkordeon. Ich gab ihm einen Dollar, und er segnete Amerika. Aber als es dann kälter wurde, taten wir das nicht mehr so oft. Und deshalb merkte ich erst in den ersten Tagen der Winterferien, als ich mit Mom an einem Nachmittag zum A&P ging, dass der blinde alte Mann, der auf der Main Street immer Akkordeon gespielt hatte, nicht mehr da war.

Er war verschwunden.

Wie ich die Winterferien verbrachte

Die Leute, die mich kennen, behaupten immer, ich wäre die reinste Drama-Queen. Ich hab keine Ahnung, warum sie das sagen, denn ich mache wirklich, wirklich, wirklich nie irgendein Drama. Aber als ich feststellte, dass der Mann mit dem Akkordeon nicht mehr da war, bin ich irgendwie abgedreht! Ich weiß echt nicht, warum, aber irgendwie konnte ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, was mit ihm passiert war. Es war wie ein Kriminalfall, den ich aufklären musste! Was um alles in der Welt war dem blinden alten Mann zugestoßen, der auf der Main Street Akkordeon gespielt hatte?

Niemand schien es zu wissen. Mom und ich fragten die Kassiererinnen im Supermarkt, die Dame von der Reinigung und den Optiker auf der anderen Straßenseite, ob sie irgendwas über ihn wussten. Wir fragten sogar den Polizisten, der gerade Strafzettel verteilte. Alle kannten den Mann, aber niemand wusste, was mit ihm passiert war, bloß, dass er eines Tages – puff! – nicht mehr dagewesen war. Der Polizist erzählte mir, dass Obdachlose an wirklich kalten Tagen zu den städtischen Notunterkünften gebracht würden, damit sie nicht erfroren. Er vermutete, dass es dem Akkordeonspieler auch so ergangen war. Aber die Frau von der Reinigung sagte, sie wisse mit Sicherheit, dass der Akkordeonspieler nicht obdachlos sei. Sie glaubte, dass er irgendwo im Stadtteil Riverdale lebte, da sie morgens oft beobachtet hatte, wie er zusammen mit seinem Hund aus dem Bx3-Bus gestiegen war. Und der Optiker sagte, er sei sicher, dass der Akkordeonspieler früher ein berühmter Jazzmusiker gewesen sei und eigentlich jede Menge Geld habe. Ich bräuchte mir also keine Sorgen um ihn zu machen.

Da sollte man doch meinen, dass mich diese Aussagen beruhigt hätten, oder? War aber nicht so! Sie brachten nur einen ganzen Haufen von neuen Fragen zutage, die meine Neugier noch weiter anstachelten. Zum Beispiel: Verbrachte er den Winter in einem Obdachlosenheim? Oder lebte er in seinem eigenen schönen Haus in Riverdale? War er wirklich ein berühmter Jazzmusiker gewesen? War er reich? Und wenn er wirklich reich war, warum spielte er dann für Geld?

Inzwischen fiel ich schon meiner ganzen Familie auf den Wecker.

Beatrix meinte einmal: »Charlotte, wenn du noch einmal damit anfängst, kotz ich dir direkt vor die Füße.«

Und Aimee sagte: »Charlotte, kriegst du dich jetzt endlich mal wieder ein?«

Irgendwann meinte Mom, dass man meine Energie gut umleiten könnte, und schlug vor, in unserem Viertel eine Altkleidersammlung zu starten, um Obdachlosen zu helfen. Wir entwarfen Flyer, auf denen wir die Leute baten, ihre leicht abgetragenen Jacken und Mäntel zu spenden, indem sie sie in Plastiktüten steckten und in eine riesige Tonne warfen, die wir vor unserem Haus aufgestellt hatten. Und nachdem wir etwa zehn große Müllsäcke voller Jacken zusammen hatten, fuhren Mom und Dad und ich ins Stadtzentrum zur Bowery Mission, um sie dort abzugeben. Ich muss wirklich sagen: Es hat sich wirklich gut angefühlt, all diese Kleidungsstücke Leuten zu geben, die sie wirklich gebrauchen konnten! Als ich mit meinen Eltern in dem Missionshaus war, schaute ich mich um und versuchte, den Akkordeonspieler zu entdecken, aber er war nicht da. Immerhin wusste ich, dass er einen schönen Mantel hatte: einen schicken, dick gefütterten orangefarbenen Parka. Deswegen hoffte Mom auch, dass die Gerüchte, dass er eigentlich reich war, doch der Wahrheit entsprachen.

»Man sieht nicht viele Obdachlose, die so teure Jacken tragen«, stellte sie fest.

Als ich nach den Winterferien wieder in die Schule kam, gratulierte mir Mr Pomann, der Leiter unserer Middle School, dazu, dass ich eine Altkleidersammlung organisiert hatte. Keine Ahnung, wie er das rausgefunden hatte, aber er wusste es. Eigentlich waren wir uns sowieso alle einig, dass Mr Pomann eine geheime Überwachungsdrohne besaß, die alles registrierte, was in der Beecher Prep vor sich ging: Nur so konnte er immer über so vieles Bescheid wissen.

»Das ist eine wunderbare Art, die Winterferien zu verbringen, Charlotte«, sagte er.

»Oh, danke, Mr Pomann!«

Ich liebe Mr Pomann. Er ist immer total nett. Ich mag es einfach total, dass er keiner von den Lehrern ist, die mit einem reden, als wäre man ein kleines Kind. Er benutzt schwierige Wörter, weil er davon ausgeht, dass man sie schon kennt und versteht, und er schaut nie weg, wenn man mit ihm redet. Ich finde es auch toll, dass er Hosenträger und eine Fliege trägt und knallrote Turnschuhe.

»Glaubst du, du könntest mir dabei helfen, hier an der Beecher Prep auch eine Altkleidersammlung zu organisieren?«, fragte er. »Nun, wo du eine Expertin auf dem Gebiet bist, hätte ich gern deinen Input.«

»Klar!«, antwortete ich.

Und so kam es, dass ich die erste jährliche Altkleidersammlung der Beecher Prep mit plante.

Bei der Mühe, die das kostete, und dem ganzen Drama, das sich sonst noch in der Schule abspielte, als ich aus den Winterferien kam (dazu später mehr!), hatte ich jedenfalls gar keine Gelegenheit mehr, das Rätsel um den blinden alten Mann zu lösen, der an der Main Street Akkordeon gespielt hatte. Ellie schien nicht mal ansatzweise Interesse daran zu haben, mir dabei zu helfen, die Sache aufzuklären, auch wenn das genau die Art von Aktion war, auf die sie ein paar Monate vorher noch total abgefahren wäre. Und weder Maya noch Lina schienen sich überhaupt an ihn zu erinnern. Genau genommen schien allen völlig egal zu sein, was aus ihm geworden war, also ließ ich die Sache fallen.

Manchmal dachte ich allerdings noch an den Mann mit dem Akkordeon. Hin und wieder kam mir einer seiner Songs in den Sinn. Und dann summte ich ihn den ganzen Tag.

Wie die Jungs ihren Krieg anfingen

Das Einzige, worüber plötzlich alle redeten, als wir aus den Winterferien zurückkamen, war der »Krieg«, auch der »Jungskrieg« genannt. Die ganze Sache fing bereits kurz vor den Ferien an. Jack Will war ein paar Tage zuvor vom Unterricht ausgeschlossen worden, weil er Julian Albans eine runtergehauen hatte. So viel zum Thema Drama! Alle haben darüber geredet. Aber keiner wusste wirklich, warum Jack das getan hatte. Die meisten dachten, dass es was mit Auggie Pullman zu tun hatte. Um das kurz zu erklären: Auggie Pullman ist ein Junge, der bei uns auf die Schule geht und mit sehr schlimmen Gesichtsfehlbildungen geboren wurde. Und mit schlimm meine ich schlimm. Also richtig, richtig schlimm. In seinem Gesicht ist nichts da, wo es hingehört. Und wenn man ihn zum ersten Mal sieht, kriegt man schon einen ziemlichen Schock, weil es aussieht, als würde er eine Maske tragen oder so. Als er neu war an der Beecher Prep, hat ihn auch sofort jeder bemerkt. Es war unmöglich, ihn nicht zu bemerken.

Ein paar Leute – wie Jack und Summer und ich – waren von Anfang an nett zu ihm. Wenn ich ihm zum Beispiel auf dem Flur über den Weg lief, sagte ich immer: »Hi, Auggie, wie geht’s?«, und so was. Na ja, klar, zum Teil auch deshalb, weil Mr Pomann mich schon vor dem Beginn des Schuljahres gebeten hatte, so eine Art Willkommensfreundin für ihn zu sein, aber ich wäre auch nett zu ihm gewesen, wenn er mich nicht darum gebeten hätte.

Die meisten anderen – wie Julian und seine Freunde – waren überhaupt nicht nett zu Auggie, vor allem am Anfang. Ich glaube, die Leute waren gar nicht unbedingt absichtlich gemein. Ich glaube, sie waren einfach ein bisschen verschreckt von seinem Gesicht, das ist alles. Sie haben blöde Sachen hinter seinem Rücken gesagt. Haben ihn Freak genannt. Haben dieses Spiel gespielt, das sie »Die Pest« genannt haben und an dem ich mich übrigens nicht beteiligt habe! (Wenn ich Auggie Pullman nie berührt habe, dann nur, weil ich keinen Grund dazu hatte – das ist alles!) Niemand wollte je mit ihm abhängen oder mit ihm zusammen ein Schulprojekt machen. Zumindest zu Beginn des Jahres. Doch nach ein paar Monaten haben sich die Leute so langsam an ihn gewöhnt. Nicht, dass sie wirklich nett zu ihm gewesen wären oder so, aber zumindest waren sie nicht mehr so fies. Das heißt: mit Ausnahme von Julian, der immer noch einen Riesenwirbel um ihn gemacht hat! Als könnte er einfach nicht darüber hinwegkommen, dass Auggie nun mal so aussieht, wie er aussieht! Als wenn der Arme irgendwas daran ändern könnte!

Na, jedenfalls glauben alle, dass Julian zu Jack irgendwas ganz Furchtbares über Auggie gesagt hat. Und da hat Jack – als guter Freund – Julian eben eine reingehauen. Bumm.

Und dann wurde Julian suspendiert. Bumm.

Und jetzt ist er wieder da! Bumm!

Und das ist das Drama!

Aber das ist immer noch nicht alles!

Danach passierte nämlich Folgendes: In den Winterferien hat Julian diese riesige Party veranstaltet, und auf der hat er im Grunde den ganzen fünften Jahrgang gegen Jack aufgehetzt.

Er hat das Gerücht rumgehen lassen, dass der Schulpsychologe zu seiner Mom gesagt hätte, Jack sei emotional labil. Und dass er bloß durchgedreht und zu einem wütenden Psycho geworden wäre, weil ihm der Druck zu viel geworden sei, mit Auggie befreundet sein zu müssen. Völlig verrückt! Natürlich stimmte das überhaupt nicht, und die meisten wussten das auch, aber das hat Julian nicht davon abgehalten, die Lüge weiterzuerzählen.

Und jetzt führen die Jungs diesen Krieg. So hat es angefangen. Und es ist so dämlich!

Wie ich neutral geblieben bin

Ich weiß, viele Leute behaupten, ich sei bloß eine Streberin, die überall beliebt sein will. Keine Ahnung, warum sie das sagen. Denn eigentlich stimmt das überhaupt nicht. Ich bin aber auch niemand, der gemein zu jemandem ist, nur weil irgendwer gesagt hat, dass man es sein soll. Ich hasse es, wenn Leute sich so verhalten.

Als also die ganzen Jungs anfingen, Jack zu schneiden, und Jack nicht wusste, warum, dachte ich, das Mindeste, was ich tun kann, ist, ihm zu verraten, was los ist. Ich meine, ich kenne Jack, seit wir zusammen im Kindergarten waren. Er ist ein netter Kerl!

Das Problem war nur, ich wollte nicht, dass irgendwer sah, dass ich mit ihm redete. Einige der Mädchen, Savannahs Clique zum Beispiel, hatten sich auf Julians Seite gestellt, und ich wollte unbedingt neutral bleiben, weil ich nicht wollte, dass sie am Ende womöglich auch auf mich wütend waren. Ich hatte immer noch die Hoffnung, dass ich es eines Tages irgendwie in ihre Clique schaffen würde. Ich wollte also auf gar keinen Fall irgendetwas tun, was meine Chancen komplett ruinieren würde.

Also schob ich Jack eines Tages vor der letzten Stunde eine Nachricht zu, er solle nach dem Unterricht in den Raum 301 kommen. Was er auch tat. Und dann erzählte ich ihm alles. Da hättet ihr Jacks Gesicht sehen sollen! Er wurde knallrot! Ganz im Ernst! Der Arme! Wir waren uns ziemlich einig, dass diese ganze Geschichte total daneben war. Er tat mir echt leid.

Dann, nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, schlich ich mich aus dem Raum, ohne dass mich jemand sah.

Wie ich Ellie von meinem Gespräch mit Jack Will erzählen wollte

Am nächsten Tag wollte ich in der Mittagspause Ellie erzählen, dass ich mit Jack geredet hatte. Ellie und ich waren beide heimlich ein bisschen verliebt in Jack Will, seit er in der vierten Klasse den Dodger in unserer Schulaufführung des Musicals Oliver! gespielt hatte. Wir fanden beide, dass er mit seinem Zylinder zum Niederknien ausgesehen hatte.

Ich ging zu ihr rüber, als sie gerade ihr Tablett abräumte. Wir sitzen nicht mehr am selben Tisch beim Mittagessen, seit sie sich zu Savanna und ihren Leuten gesetzt hat – etwa um die Halloween-Zeit war das gewesen. Aber ich vertraute Ellie nach wie vor. Wir sind die besten Freundinnen seit der ersten Klasse! Und das will einiges heißen!

»Hey!«, sagte ich und stupste sie mit meiner Schulter an.

»Hey!«, sagte sie und stupste zurück.

»Warum warst du gestern nicht bei der Chorprobe?«

»Oh, hab ich dir das nicht gesagt?«, fragte sie. »Ich hab gleich nach den Ferien das Wahlfach gewechselt. Ich spiel jetzt im Orchester mit.«

»Im Orchester? Ernsthaft?«

»Ich spiel Klarinette!«, erwiderte sie.

»Wow«, sagte ich und nickte. »Cool.«

Die Neuigkeiten waren eine echte Überraschung für mich, und das aus mehreren Gründen.

»Aber egal, was ist denn mit dir, Charly?«, sagte sie. »Ich hab das Gefühl, seit die Winterferien vorbei sind, hab ich dich kaum noch gesehen!« Sie hob mein Handgelenk hoch, um meinen neuen Armreif zu begutachten.