Cover

ERIC BERG

Das
Küstengrab

Kriminalroman

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Das Zitat von Khalil Gibran stammt aus Khalil Gibran, Sämtliche Werke.
Hrsg. von Ursula und S. Yussuf Assaf © Patmos Verlag
der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2003
www.verlagsgruppe-patmos.de

Copyright © 2014 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-14330-5
V003

www.limes-verlag.de

Für meine WunderBar-Familie
auf Gran Canaria
Ich umarme euch

Die Wölfe überfallen das Lamm im Dunkel der Nacht,
doch die Blutspuren haften auf den Steinen im Tal,
und das Verbrechen wird für alle sichtbar, wenn die Sonne
aufgeht.

Khalil Gibran

Prolog

Voller Gedanken an die Zukunft machte sich der Achtzehnjährige an diesem Abend auf den Weg.

Es war der 31. August in jenem seltsamen Jahr 1990, in der Zeit zwischen den Zeiten, als in Ostdeutschland das Alte noch nicht ganz fort und das Neue noch nicht ganz da war. Alle Leute waren mit dem Kommenden beschäftigt, und auch er hatte ein paar wichtige Entscheidungen getroffen.

Allein spazierte er über die Wiesen der Insel Poel vor der mecklenburgischen Küste. Er liebte den Nebel, der knapp über dem Boden entlangkroch. Ebenso liebte er es, wenn die Strahlen der sinkenden Sonne wie Scheinwerfer zwischen den Wolkenlücken aufs Meer stürzten und es zum Erleuchten brachten, ehe sie wieder verschwanden, um anderswo in einer anderen Farbnuance zu erscheinen.

Am Ende des Weges lag die einsame, abgelegene Klosterruine, die ihm vertrauter war als sein Elternhaus. Das Innere des stark verfallenen Klosters, das er und seine Freunde seit frühen Kindertagen »Palast« nannten, war verschachtelt. Ein Hof ging in den anderen über. Räume gab es keine, weil es keine Decken mehr gab. Durch die bröckelnden Spitzbogenfenster, an denen seit fünfhundert Jahren der Seewind fraß, sah man zur einen Seite auf das Meer, zur anderen Seite auf die Wiesen. Das winzige Dorf, in dem er lebte, war einen Kilometer entfernt hinter einer Allee versteckt.

Mit ausgestreckter Hand, wobei er die Finger über die Mauern streichen ließ, schlenderte er im Halbdunkel herum. An einem der spätgotischen Fenster blieb er stehen und blickte über das Dünengras hinweg auf das weite Meer, das sich still und bleiern vor ihm erstreckte. Als er Schritte zu hören glaubte, wandte er sich um, runzelte die Stirn und rief: »Margrethe?«

Wieso er ausgerechnet ihren Namen rief, konnte er sich selbst nicht erklären. Es war unwahrscheinlich, dass sie noch einmal das Gespräch mit ihm suchen würde.

Er hatte sich geirrt. Der Wind und die bröckelnde Ruine spielten einem solche Streiche. Die spärlichen Konturen verschwanden nach und nach, Mauern und Bogen formten sich zu Ungetümen. Das Unheimliche und die Abgeschiedenheit hatten stets zu diesem Ort gehört wie alles andere auch, wie die Möwen, die bei Tag schreiend darüber kreisten, wie der Klee, der den Boden bedeckte, wie die Disteln in den Mauerritzen und wie die Freunde, die ihn vor zehn Jahren für sich entdeckt hatten: Lea, Mike, Jacqueline, Margrethe, Harry, Pierre und Julian. Ein schönes Jahrzehnt war das gewesen …

Wind kam auf, und wieder raschelte es, löste sich irgendwo ein Stein aus dem Mauerwerk und ließ den Verfall ein winziges Stück voranschreiten.

An diesem besonderen Platz seines bisherigen Lebens nahm er Abschied von seiner Kindheit und dem, was sie ausgemacht hatte. Von den vielen mit Freunden verbrachten Stunden im Palast, von den Gesprächen, den Spielen, dem Lachen, den gelegentlichen Streitigkeiten, von Zigaretten, Lagerfeuern, pubertären Träumen …

Wie fast jede Kindheit hatte auch die seine sich irgendwann still und heimlich davongeschlichen. Seit einigen Jahren schon hatte es kleinere Anzeichen gegeben, auf die niemand geachtet hatte – zum Beispiel hatten einige aus der Clique eine Ausbildung oder geregelte Arbeit begonnen –, dennoch waren sie die ganze Zeit über in Kontakt geblieben und hatten sich freitagabends oder sonntags im Palast zusammengefunden. Jemand brachte Stullen oder Schokolade, Bier oder Glühwein mit, und dann saßen sie zusammen, redeten und rauchten. Selbst wenn einige von ihnen fortgehen sollten, um im Westen zu studieren, die Welt zu erkunden oder eine Ausbildung in der Ferne zu machen, würde der Palast sie doch immer im Geiste verbinden. Keiner würde ihn je vergessen, und jeder würde von Zeit zu Zeit dorthin zurückkehren.

Diese romantische Vorstellung hatte er bis vor Kurzem gehabt. Zum Sommeranfang war diese Welt noch intakt gewesen, doch jetzt, am Ende der warmen Jahreszeit, lag sie in Trümmern, genauso wie die ins Dunkel getauchte Ruine.

»Lea, bist du das?«

Er hoffte noch immer, dass sie sein Angebot annehmen und ihn begleiten würde, dass sie Poel verlassen und mit ihm um die Welt reisen würde. Die Trennung von ihr fiel ihm am schwersten, und in seinen Tagträumen stand sie immer um die nächste Ecke und überraschte ihn mit einem spontanen: »Ja, ich komme mit.« Tatsächlich stand sie nie da. Inzwischen war es so dunkel, dass er kaum sah, wohin er trat. Seufzend holte er die Taschenlampe aus seiner Jackentasche und richtete den Lichtkegel auf den Weg, der ins Dorf führte. Im nächsten Augenblick erschrak er, zuckte zusammen und stieß einen Laut aus, der halb Seufzer und halb Schrei war.

Eine Sekunde später traf ihn ein harter Gegenstand am Kopf.