Cover

ZUM BUCH

Seit ihrer Fremdknutscherei auf einer Betriebsfeier trägt Pastorentochter Evi das Büßerhemd. Mit allen Mitteln versucht sie, ihre Beziehung zu Alex zu retten – selbst wenn das bedeutet, sich seinem Wunsch nach ländlicher Idylle zu beugen und in ein Kuhdorf vor den Toren Hamburgs zu ziehen. Hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht und die Männer sind entweder vergeben oder hässlich oder beides. Soweit die Theorie. Doch ausgerechnet Nachbar Joshua ist ein Bild von einem Mann und stellt Evis Treueschwur erneut auf eine harte Probe. Jetzt ist guter Rat teuer und den sucht Evi an einem Ort, wo man sich mit Versuchungen bestens auskennt: Dem Paradies.

Urkomisch und clever: Was haben uns Adam und Eva wirklich zu sagen?

ZUR AUTORIN

Jana Voosen, Jahrgang 1976, studierte Schauspiel in Hamburg und New York. Es folgten Engagements an Hamburger Theatern. Seitdem war sie in zahlreichen TV-Produktionen (»Tatort«, »Marienhof«, »Hochzeitsreise zu viert« u. a.) zu sehen. Jana Voosen lebt und arbeitet in Hamburg.

LIEFERBARE TITEL

Er liebt mich …

Zauberküsse

Mit freundlichen Küssen

Allein auf Wolke Sieben

Zauberküsse

Prinzessin oder Erbse?

Liebe mit beschränkter Haftung

Pantoffel oder Held?

JANA VOOSEN

UND EVA SPRACH ...

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 11/2014

Copyright © 2014 by Jana Voosen

Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Anne Tente

Umschlaggestaltung: © Eisele Grafik-Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-14479-1
V002

www.heyne.de

»Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.«

2. PETRUS 1, VERS 20-21

1.

Schon als kleines Kind war ich leicht zu beeindrucken.

»Evi ist sehr begeisterungsfähig und geht offen auf ihre Mitschüler zu«, stand in meinem ersten Zeugnis. Aber auch: »Manchmal leidet darunter ihre Konzentrationsfähigkeit und der Wille, ein begonnenes Projekt auch zu Ende zu führen. Sie lässt sich leicht ablenken und neigt zu Sprunghaftigkeit.« Wenn meine Grundschullehrerin Frau Kupfer wüsste, wie sehr sie mit dieser Beschreibung den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Auch heute, fast dreißig Jahre später, bin ich noch leicht entflammbar. Dazu braucht es nicht viel. Ein markantes, von einem leichten Bartschatten überzogenes Kinn und ein Blick aus vorzugsweise hellen Augen mit dichten Wimpern, so, wie mein Gegenüber in der U-Bahn ihn mir gerade zuwirft, und schon ist es um mich geschehen. Meine Freundin Corinna behauptet, ich sei in dieser Beziehung geradezu männlich. Mein Sexualtrieb scheint unmittelbar mit meinem Sehnerv verbunden zu sein. Was jetzt nicht bedeutet, dass ich mit jedem Mann, der mir gefällt, sofort durchbrennen möchte. Auch nicht mit meinem Gegenüber. Er trägt eine Umhängetasche mit der Aufschrift Hamburg-Kurier und ist mit viel gutem Willen Mitte zwanzig. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein Student, der sein Bafög als Fahrradkurier aufbessert. Aus welchem Grund auch immer so einer U-Bahn fährt. Ganz sicher jedenfalls ist er nicht der zukünftige Vater meiner Kinder. Trotzdem pumpert mein Herz schneller, als er mir jetzt ein verschmitztes Lächeln zuwirft. Ich grinse zurück und umklammere meinen Kaffeebecher, der unter dem Druck meiner plötzlich nervös verkrampften Finger nachgibt. Ein Schwall Latte Macchiato ergießt sich über meine Hand.

»Scheiße«, sage ich inbrünstig, während die heiße Flüssigkeit auf meinen hellen Trenchcoat tropft und meine Sitznachbarin empört aufschreit. Dabei habe ich sie überhaupt nicht getroffen. Mit Argusaugen inspiziert sie ihre Kleidung, muss aber dann zugeben, dass nicht der kleinste Spritzer darauf gelandet ist. Trotzdem wirft sie mir noch einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie sich demonstrativ abwendet. Wie ein begossener Pudel sitze ich da, als plötzlich ein altmodisches, kariertes Taschentuch in meinem Blickfeld auftaucht.

»Hier.« Der Fahrradkurier ohne Fahrrad trocknet meine Hand. »Haben Sie sich wehgetan?« Ich schüttele den Kopf, obwohl meine Haut sich jetzt tatsächlich leicht zu röten beginnt. Damit passt sie sich ganz hervorragend meiner Gesichtsfarbe an, die wahrscheinlich mittlerweile ins Purpur übergeht. Das war nämlich mal wieder typisch für mich. Sobald ein hübscher Mann auftaucht, lasse ich garantiert etwas fallen, stolpere über meine Füße, falle eine Treppe hinunter. Je nachdem, was sich gerade so anbietet.

Das ist auch etwas, das Frau Kupfer schon damals erkannt hat: »In ihrem Übereifer schießt Evi so manches Mal über das Ziel hinaus und ist daher anfälliger für Unfälle und Missgeschicke als andere Kinder. Um sich und andere zu schützen, muss sie lernen, sich ihres eigenen Körpers bewusster zu werden.« Zehn Jahre Ballettunterricht verdanke ich dieser Einschätzung. Genützt hat es, wie man gerade einmal wieder sieht, herzlich wenig. Ich bin immer noch ein Tollpatsch.

»Wie schade um Ihren schönen Mantel«, unterbricht der Kurier meine Gedanken und beginnt damit, eben diesen trocken zu tupfen. Und zwar am oberen Ende meiner Oberschenkel. Dabei wirft er mir einen, wie ich finde, flammenden Blick zu. Das Herz schlägt mir nun bis zum Hals und meine Kehle wird ganz trocken. Die Frau neben mir wirft uns einen scheelen Blick zu, was mich dazu veranlasst, nach seiner Hand zu greifen, die in gefährlicher Nähe zu meinem Schritt tupfende und kreisende Bewegungen vollführt. Vielleicht geht das doch ein bisschen zu weit. In einem öffentlichen Verkehrsmittel. Seine Hand ist warm.

»Ähm, danke, ich mach das schon.« Er reicht mir das Opa-Taschentuch.

»Behalten Sie es. Ich muss hier raus.« Ein letztes Zwinkern seiner schönen Augen.

»Zu Ihrem Fahrrad?«, rufe ich ihm hinterher. Er hebt fragend eine Augenbraue. »Ich meine, danke«, schiebe ich schnell hinterher.

»Keine Ursache.« Weg ist er. Ich wische noch ein wenig an meinem Trench herum, dann gebe ich meine Bemühungen auf, weil der schrille Alarmton meines Telefons erklingt. Erneut trifft mich ein vorwurfsvoller Seitenblick und ich krame hektisch in meiner Tasche nach dem Handy.

»Alert! Ovulation expected tomorrow!«, verkündet mir das Display. Prompt erfasst mich das schlechte Gewissen, dass ich mich von dem Fahrradkurier habe ablenken lassen. Und das, obwohl ich doch seit fünf Jahren in einer festen Beziehung mit Alex bin. Und ich meine richtig fest, mit Zusammenwohnen und Kinderwunsch und allem. Aber wie Frau Kupfer es damals so treffend beschrieben hat: »Manchmal vergisst Evi ein bereits begonnenes Projekt.« Natürlich nicht wirklich. Wenn ich in eine kurzzeitige Schwärmerei verfalle, ist Alex nicht vollständig vergessen – er rückt nur in den Hintergrund. Aber nicht so weit, dass ich mich zu einer wirklichen Dummheit hinreißen lassen würde. Meistens beruhigen sich meine Hormone schon nach kurzer Zeit wieder. Zudem habe ich ja, wie gesagt, ein ziemlich zuverlässiges Männer-Abwehrsystem entwickelt. Wahrscheinlich tut mir mein Körper sogar einen Gefallen mit seiner Tollpatschigkeit. Die wirkt nämlich auf die meisten Männer nicht gerade anregend.

»Könnten Sie das abstellen?«, fragt meine Nachbarin gereizt und deutet auf mein noch immer in kurzen Abständen schrillendes Telefon.

Auf dem kurzen Fußweg von der U-Bahn-Station zur Arbeit rufe ich Alex an. Schon nach dem ersten Klingeln hebt er ab.

»Ja?«

»Hey! Du hast doch gesagt, dass du heute mit den Jungs Fußball gucken willst, oder?«

»Ja. Bayern gegen Dortmund! Das wird der Hammer!« Oh, Mist. Ausgerechnet Bayern spielt? Das ist wirklich schlechtes Timing.

»Könnte ich dich vielleicht dazu überreden, erst zur zweiten Halbzeit hinzugehen?« Genauso gut könnte ich den Papst bitten, sein Morgengebet zu verschieben.

»Warum solltest du so etwas tun?« Er klingt ehrlich betroffen.

»Du musst erst noch mit mir Sex haben«, erkläre ich ihm sanft.

»Schon wieder Eisprung?«, stöhnt er und ich bin ein bisschen beleidigt.

»Was heißt hier schon wieder? Er kommt alle 28 Tage, das solltest du in den letzten drei Jahren inzwischen mitbekommen haben.«

»Kommt mir vor, als wäre es erst letzte Woche gewesen.«

»Tut mir sehr leid, wenn du die Vorstellung von Sex mit mir als Pflicht empfindest.«

»Tu ich doch gar nicht. Evi, jetzt sei nicht albern!«

»Dann geh halt zu deinem doofen Fußballspiel!« Ich schiebe die Unterlippe vor, obwohl er das gar nicht sehen kann.

»Ehrlich? Darf ich?«, erklingt es hoffnungsfroh aus dem Hörer.

»Nein«, sage ich empört. »Ich dachte, du willst auch ein Kind.«

»Das will ich doch auch.«

»Und es muss nun endlich klappen.« Wie so oft bei dem Thema schießen mir die Tränen in die Augen. »Ich werde immer älter, Monat für Monat. Bald komme ich in die Wechseljahre und dann ist es zu spät.«

»Süße, du bist fünfunddreißig.«

»Und damit sowieso schon eine Spätgebärende.« Ich weiß selber, dass wir das schon tausend Mal durchgekaut haben, jetzt auf dem Weg zur Arbeit der falsche Zeitpunkt ist und dass die Rumjammerei mich einem Kind auch nicht näher bringt.

»Schon gut. Heute Abend. Ich werde da sein.«

»Danke.«

»Du musst dich nicht bedanken. Ich wünsche es mir genau so sehr wie du.« Mir wird warm ums Herz.

»Wann fängt denn das Fußballspiel an?«

»Um viertel vor neun.«

»Erst? Aber du gehst doch immer schon um sieben aus dem Haus.«

»Ich muss mich mental vorbereiten«, verteidigt er sich. »Und ein bisschen vorglühen.« Der Vater meines zukünftigen Kindes ist vierzig Jahre alt und benutzt trotzdem das Wort Vorglühen. Ich kann mir gerade noch verkneifen zu sagen, dass übermäßiger Bierkonsum nicht gerade förderlich für die Zeugungsfähigkeit ist. Mit meinen ständigen Gesundheitstipps gehe ich Alex sowieso schon auf die Nerven.

»Dann schaffst du es ja locker zum Anpfiff«, sage ich stattdessen. »Ich mache um sechs Schluss und komme ganz schnell nach Hause.«

»Super. Also, bis nachher. Ich muss jetzt mal loslegen.«

»Ich auch. Tschüß!«

Bevor ich ins Büro gehe, mache ich noch einen Abstecher zum Blumengeschäft an der Ecke, das, wie jeden Mittwoch, gerade mit einer neuen Ladung aus Holland beliefert wurde. Schon auf zehn Meter Entfernung kann ich den intensiven Duft nach Tulpen, Rosen und Amaryllis wahrnehmen. Durch die schmale Schneise inmitten des Blumenmeers gehe ich zum Kassentresen, an dem ich von der Besitzerin wie eine alte Bekannte begrüßt werde. Kein Wunder, schließlich bin ich hier seit Jahren Stammkundin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mini-Cooper, den sie sich vor ein paar Monaten gekauft hat und der samt Werbeslogan »Flower Power – weil Blumen das Lächeln der Erde sind« direkt vor dem Laden geparkt ist, komplett von mir finanziert worden ist. Aber das ist schon in Ordnung so. Denn Blumen sind das Lächeln der Erde. Sie machen glücklich. Mich zumindest machen sie glücklicher als Schuhe. Und sie sind im Vergleich ja sogar äußerst preisgünstig. Auch wenn die Lebensdauer von Blumen natürlich etwas begrenzter ist.

»Hallo Evi!«

»Guten Morgen, Rita!« Ich lasse meine Augen über die bunte Pracht gleiten und erwäge kurz, meinen ursprünglichen Vorsatz über Bord zu werfen und einen riesigen Strauß weißer Rosen zu kaufen. Dann entscheide ich mich aber doch für die Orchideen, die in mit Wasser gefüllten Plastikröhrchen auf Käufer warten. Sie sind nämlich die Blumen der Lust und Fruchtbarkeit. Nach jahrelangem Versuchen nehme ich jede Hilfe, die ich bekommen kann. »Ich hätte gerne Orchideen. Zweimal gelb und zweimal rosa bitte.« Rita grinst mich breit an.

»Verstehe. Es ist wieder soweit, hm?« Damit wendet sie sich ab, um mir ein paar besonders schöne Exemplare herauszusuchen und mir gleichzeitig Gelegenheit zu geben, meine Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht sollte ich nicht jedem Menschen, dem ich begegne, meinen Kinderwunsch und die noch so winzigen Details dieser Problematik auf die Nase binden. Halb Hamburg weiß mittlerweile davon, und wenn Alex das mitbekommt, ist er immer ein wenig verstimmt, weil er sich dadurch vor anderen irgendwie kastriert vorkommt. Was mich dazu veranlasst hat, meine ohnehin schon ausführlichen Erläuterungen zum Thema noch auszuweiten und jedem zu erzählen, dass mit Alex’ Sperma laut ärztlichem Befund alles in bester Ordnung ist. Dann sagt er, ich soll endlich aufhören, mit fremden Leuten über sein Sperma zu reden. Versteh einer die Männer. An meinen Eizellen liegt es übrigens ebenfalls nicht. Auch da ist alles so, wie es sein soll.

Mit geübtem Griff schlägt Rita die Blumen in braunes Packpapier ein. »Übrigens, meine Schwägerin meint, Männer sollen ihr Handy keinesfalls in der Hosentasche tragen«, sagt sie mit einem verschwörerischen Unterton in der Stimme, »wegen der Strahlung. Ganz schlecht für die kleinen Kerle da unten, sagt sie.«

»Äh, okay.« Ich muss Alex Recht geben. Vielleicht ist das in aller Öffentlichkeit wirklich kein so gutes Gesprächsthema. Schon gar nicht, wenn sich hinter einem eine weitere Kundin deutlich älteren Jahrgangs angestellt hat, die etwas irritiert schaut.

»Toitoitoi!«, sagt Rita aufmunternd.

»Danke!« Ich schnappe mir die Blumen und verlasse eiligst den Laden, um dem nun entrüsteten Blick der Dame zu entfliehen. Außerdem bin ich sowieso schon zu spät dran. Aber vielleicht lässt sich mein Chef ja durch eine schöne gelbe Orchidee auf seinem Schreibtisch besänftigen. Auch wenn er die als Vater von vier Söhnen nicht wirklich nötig hat.

Ein bisschen abgehetzt betrete ich das »Steuerberatungsbüro Michael Hybel«, in dem ich als Steuerfachangestellte arbeite. Ja, ich weiß: Das klingt sterbenslangweilig. Mir ist schon klar, dass die meisten Leute allein von dem Begriff Steuererklärung Nesselsucht bekommen. Aber ich nicht. Ich finde Steuerrecht interessant. Ich liebe Zahlen, und für die Klienten eine möglichst hohe Ersparnis herauszuschlagen, dabei den Rahmen der Legalität zu dehnen ohne ihn zu sprengen, das ist meine Form von Sudoku.

Als Kind wollte ich noch Pastorin werden, denn mein Vater war Pfarrer. Wenn er sonntags in seiner schwarzen Robe von der Kanzel aus zur Gemeinde sprach, war ich jedes Mal schwer beeindruckt. In meinen Augen passte zwischen ihn und den lieben Gott kein Blatt. Frau Kupfer war damals hellauf begeistert, dass ich im Religionsunterricht sämtliche Geschichten aus der Kinderbibel auswendig vortragen konnte. Von Schneewittchen oder Tischlein deck dich hatte ich dagegen noch nie etwas gehört. Leider ließen sich meine Eltern kurz darauf scheiden, meinen Vater sah ich nach meinem achten Lebensjahr nur noch sporadisch, und mein Interesse an Religion im Allgemeinen und dem Pastorenberuf im Speziellen war erschüttert, wenn mich auch der Glauben, die Bibel und alles, was mit der Kirche zusammenhängt, nie ganz losgelassen haben, inklusive eines quasi permanenten schlechten Gewissens. Pastorentochter bleibt Pastorentochter. Aber wie konnte ich damals noch glauben, wenn Gott es zuließ, dass meine Eltern sich trennten? Und wie weit war es mit Papas Nächstenliebe her, wenn er mir, seiner einzigen Tochter, von da an die kalte Schulter zeigte?

»Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, gibt.«

2. MOSE 20, VERS 12

Ich bemühe mich redlich, das fünfte Gebot einzuhalten, aber manchmal frage ich mich, warum Gott bei Zehn so einfach Schluss gemacht hat. Er hätte ruhig noch erwähnen können, dass Väter ihren Kindern ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit schulden.

Wie immer schlägt mir schon im Eingangsbereich der vertraute, leicht muffige Geruch nach altem Teppichboden und abgestandener Luft entgegen. Außer mir kommt hier nie mal jemand auf die Idee, freiwillig zu lüften. Ich reiße das Fenster auf und durchquere den großen Raum mit den sechs Schreibtischen, an denen meine Kollegen schon fleißig auf ihre Computertastaturen einhacken. Bei näherem Hinsehen aktualisieren die meisten von ihnen jedoch lediglich ihren Facebook-Status, sodass sich mein schlechtes Gewissen über das Zu-Spät-Kommen in Grenzen hält. Ein Blick durch die offene Tür von Herrn Hybels Büro sagt mir, dass der Chef auch noch nicht am Platz ist. Dafür aber meine Freundin Corinna, deren Schreibtisch direkt neben meinem steht. Schon während wir Wangenküsschen tauschen, schaut sie begehrlich auf die Blumen in meiner Hand. Auch auf ihrem Gesicht macht sich ein wissendes Lächeln breit, als ich die Orchideen aus ihrer Papierhülle befreie.

»Ah, die Blume für gewisse Stunden!« Ich überhöre ihren Kommentar, halte den Atem an und eile in die immer ein bisschen nach Schimmel riechende Gemeinschaftsküche, um zwei Vasen mit Wasser zu füllen. Nach Luft schnappend komme ich zurück und platziere die gelben Blumen auf Corinnas Schreibtisch. »Das ist so lieb von dir, Süße. Danke! Ich hoffe nur, bei mir haben sie nicht den gewünschten Effekt. Wenn ich von Mike schwanger werden würde, das wäre eine echte Katastrophe. Dann sehe ich ihn nie wieder.«

»Ich verstehe sowieso nicht, warum du immer noch mit ihm zusammen bist.« Kopfschüttelnd schäle ich mich aus meinem Mantel und begutachte unglücklich die Kaffee-Bescherung darauf.

»Wir sind doch gar nicht zusammen. Mit einem Rockstar ist man nicht zusammen. Mit dem vögelt man bloß.«

»Rockstar?« Ich hebe ironisch eine Augenbraue. »Dass er sich zweimal in der Woche mit ein paar anderen Möchtegern-Musikern in einer Garage trifft und dort auf ein Schlagzeug einprügelt, macht ihn noch nicht zu einem Rockstar.«

»Sie haben auch Gigs!«

»Erinnere mich nicht daran.« Vor ein paar Wochen bin ich Corinna in einen verqualmten Bunker gefolgt, in dem Mikes Band vor fünfzehn Leuten einen solchen Höllenlärm veranstaltet hat, dass meine Ohren Tage brauchten, um sich davon zu erholen.

»Du bist wirklich sehr spießig.« Sie grinst mich gutmütig an. »Aber ich mag dich trotzdem.«

»Danke. Ich mag dich auch.« Aus der untersten Schublade meines Schreibtisches krame ich einen Ovulationstest hervor. »Bin gleich wieder da.«

Zufrieden kehre ich fünf Minuten später an meinen Arbeitsplatz zurück. Der Test hat bestätigt, was die App bereits angekündigt hat: Mein Eisprung steht kurz bevor. Dieses Mal muss es einfach klappen. Es muss. Ich merke schon wieder, wie ich innerlich verkrampfe, und bemühe mich, tief in den Bauch zu atmen. Es zu sehr wollen wirkt nämlich laut meiner Frauenärztin auch nicht gerade Empfängnis fördernd. Also bemühe ich mich, es nicht so sehr zu wollen. Ich wünschte, ich wäre so lässig wie Corinna, die neben mir gerade mit Mike chattet. Ich fahre meinen Rechner hoch und will selber nur mal ganz kurz auf Facebook vorbeischauen, als sich ein Schatten über meine Tastatur legt.

»Hallo«, sagt eine mir wohlbekannte Stimme und ich bekomme augenblicklich Schwitzehändchen. Mich innerlich wappnend blicke ich hoch, mitten hinein in Benjamin Hybels strahlend blaue Augen.

»Ich aber sage euch: Wer eine Frau (oder einen Mann? Anmerkung von Evi Blum) auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr (oder ihm? Anmerkung von Evi Blum) begangen.«

MATTHÄUS 5, VERS 28

»Hallo«, sage ich knapp, während ich Corinnas Grinsen neben mir förmlich spüren kann.

»Schön, dich zu sehen.« Jetzt setzt er sich auch noch halb auf meinen Schreibtisch und schaut lächelnd auf mich runter. Hilfe! Kann mich bitte mal jemand retten? Benjamin Hybel sitzt auf meinem Schreibtisch. Vielleicht muss ich da kurz mal ausholen. Benjamin ist der jüngere, viel besser aussehende Bruder unseres Chefs und taucht öfters unangemeldet bei uns auf. Es gibt also nie die Gelegenheit, mich darauf vorzubereiten. Plötzlich ist er da, und dann ist es so wie in der Cola-Light-Werbung, wenn dieser superheiße Typ aus dem Aufzug steigt und alle Frauen lang hinschlagen.

»Ja, dich auch. Darf ich mal?« Ich greife nach dem Blatt Papier, auf das er sich gesetzt hat. Leider steht er nicht auf, sondern hebt nur leicht seine Pobacke an.

»Natürlich. Tschuldigung.«

»Danke.« Ich werfe Corinna einen flehenden Blick zu.

»Hallo Benjamin. Willst du zu deinem Bruder?« Er nickt. »Tja, der ist leider noch gar nicht da.«

»Macht doch nichts.« Benjamin strahlt jetzt regelrecht. »Ich bleibe einfach so lange hier.«

»Nein!« Ich sage es so laut, dass er zurückzuckt und beinahe von meinem Schreibtisch purzelt. Unwillkürlich greife ich nach seinem Arm, um das zu verhindern. Blöder Fehler. Wie kann ein Mann so weiche Haut haben? Ich lasse los, als hätte ich mich verbrannt. Er fällt glücklicherweise nicht. In diesem Moment beneide ich Corinna brennend um ihre Freiheit. Und ihren Vorsatz, die Familienplanung frühestens mit vierzig zu beginnen. Beruhigend tätschelt sie Benjamin den anderen Unterarm.

»Evi meint damit nur, dass sie noch wahnsinnig viel aufzuarbeiten hat, weil sie heute mal wieder zu spät dran war. Komm, du kannst hier bei mir sitzen.« Mit einer Handbewegung lädt sie ihn ein, sich auf ihrer Arbeitsplatte niederzulassen. Benjamin wechselt den Platz, nicht ohne mir vorher noch einen traurigen Blick zuzuwerfen. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Ich habe eine blühende Fantasie und hatte mein Leben lang eine Schwäche für Star-Crossed-Lover-Geschichten, in denen brutalste äußere Umstände die füreinander bestimmten Liebenden nie, nie, nie oder wahlweise nur nach herzzerreißenden Opfern zueinander kommen lassen. In der elften Klasse war ich unsterblich in meinen Mathe-Lehrer verliebt und habe ihm so lange nachgestellt, bis seine Ehefrau sich genötigt fühlte, mit mir ein Gespräch zu führen. Von Frau zu Teenager sozusagen. Nicht gerade mein rühmlichster Moment. Aber ich habe mich davon erholt, meine Einbildungskraft blüht trotzdem weiter bunt vor sich hin. Es ist also durchaus möglich, dass ich mir Benjamins Zuneigung, nein, seine glühende Verehrung, nur einbilde. Und tatsächlich, er plaudert angeregt mit Corinna und scheint nicht gerade am Boden zerstört. Gut so. Gut so? Und ich? Ich tue beschäftigt.

2.

Um kurz vor halb sieben erklimme ich die Stufen zu unserer Wohnung und muss kurz verschnaufen, bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Eigentlich sollte man meinen, nach drei Jahren im sechsten Stock ohne Fahrstuhl müsste ich gut im Training sein. Trotzdem schnappe ich nach jedem Aufstieg nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Macht aber nichts. Ich liebe unseren Altbau im Schanzenviertel mitten in Hamburg. Man muss nur aus der Haustür treten und schon ist man im Leben. Rund um die Uhr kann man sich an jeder Ecke Falafel, Kaffee, Asia-Food oder Alkohol besorgen. Sicher, am Wochenende kommt man in dem Gedrängel manchmal kaum vorwärts, und das Gegröle der Betrunkenen bis nachts um fünf kann einem schon mal auf die Nerven gehen, aber ich fühle mich hier pudelwohl. Wozu gibt es schließlich Ohropax? Alex dagegen träumt vom Landleben. Ja, er träumt nicht nur davon, sondern besitzt seit fast zwei Jahren sogar einen verträumten, kleinen Bauernhof in Heven. Man muss sich nicht schlecht fühlen, wenn man das nicht kennt. Das ist ein winziges Dorf vor den Toren Hamburgs. Fünfhundert Einwohner, eine Kirche, ein Gasthof. Der Bauernhof gehörte Alex’ Großmutter, und er hat dort als Kind seine sämtlichen Ferien verbracht. Da ist es kein Wunder, dass er die Sache ein bisschen verklärt sieht. Und sich seit seiner Erbschaft zu jedem Geburtstag und Weihnachten von mir nur eins wünscht: Dass ich mit ihm nach Heven ziehe. Offensichtlich ist eine 200-Euro-Uhr zu Weihnachten (letztes Jahr) nichts im Vergleich zu einem Umzug in das ödeste Kaff der Welt. Zu seinem Vierzigsten vor ein paar Wochen hat er Stadionkarten für das Spiel Bayern gegen HSV bekommen. Das war, auch wenn es nicht Heven war, das erste Mal seit zwei Jahren, dass er nicht wie ein trauriger Dackel auf ein Geschenk von mir geguckt hat. Dabei ist es gar nicht so, dass ich es grundsätzlich ausschließe, mit ihm dahin zu ziehen. Irgendwann. Vielleicht, wenn ich endlich schwanger bin. Aber eben noch nicht jetzt.

»Ich bin zu Hause«, brülle ich und öffne mit Schwung die Tür zum Arbeitszimmer. Wie immer kauert Alex in Jeans und Sweatshirt vor seinem Rechner und haut in einem unbeschreiblichen Tempo in die Tasten. Alex ist nämlich von Beruf Spiele-Programmierer. Das heißt, er entwickelt Computerspiele. Dafür muss man sehr schlau sein. Und auch ein bisschen komisch. Mit leicht verschleiertem Blick sieht Alex zu mir hoch.

»Du? Ist schon Abend?« Er hat wieder die Zeit vergessen, das passiert ihm dauernd.

»Allerdings!« Ich gehe um seinen riesigen, penibel aufgeräumten Schreibtisch herum und gebe ihm einen Kuss. »Wollen wir?«

»Sofort«, verspricht er, »nur noch ein paar Minuten. Ich habe in XCode drei Targets eingetragen, geht nicht, obwohl in C++ und SFML geschrieben. Mit nem kleinen cmake script krieg ich’s aber bestimmt kompiliert.«

»Ganz bestimmt.« Ich nicke ernsthaft. »Ich geh schon mal vor.«

»Okay.« Er ist wieder in seine Programmierung versunken.

»Aber wirklich nur ein paar Minuten«, schärfe ich ihm ein. Er nickt abwesend, und ich spiele meinen letzten Trumpf aus. »Um viertel vor neun fängt das Spiel an.«

Die Lösung des Programmierungsdebakels nimmt noch über eine Stunde in Anspruch. Die unserer Familienplanung meistert Alex dagegen in knapp zehn Minuten. Was ich aber in Ordnung finde. Diese ganze Sex-nach-Kalender-Nummer ist sowieso alles andere als erotisch. Warum also so tun als ob? Im ersten Jahr habe ich zu meinem Eisprung noch Duftkerzen angezündet und Rosenblätter auf der Decke verteilt. Nachdem man sie durch wildes Herumgewälze so richtig schön eingearbeitet hat, gehen die Flecken nie wieder raus. Schmückendes Beiwerk ist also mittlerweile passé, stattdessen konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Wie kommt das Spermium zum Ei? Dank Internetrecherche weiß ich darüber genauestens Bescheid. Am besten in der Missionarstellung, und danach eine halbe Stunde liegen bleiben oder noch besser, einen Kopfstand machen. Ich natürlich. Nicht Alex. Nachdem sein Part erledigt ist, springt er aus dem Bett und unter die Dusche, während ich mir ein Kissen vor der Wand zurechtlege, die Beine in die Höhe schwinge und meine allmonatliche Turnübung vollführe. Um viertel nach acht, auch das Duschen dauert bei Alex länger als der Beischlaf, kommt er noch einmal ins Schlafzimmer. Kopfschüttelnd sieht er zu mir runter.

»Evi, das kann für den Rücken nicht gesund sein.«

»Was so ein echter Yogi ist, dem macht das nichts aus«, ächze ich, obwohl es in meinem Nacken gerade tatsächlich bedrohlich geknirscht hat. Und ich von einem Yogi in etwa soweit entfernt bin wie davon, Computerspiele zu programmieren.

»Süße, es reicht jetzt. Ein bisschen Strecke musst du den Jungs auch alleine zutrauen. Sonst sind sie beleidigt.« Mit einem hörbaren Rumms falle ich aus meiner Position und krabbele ins Bett.

»Viel Spaß!«

»Wenn Bayern heute gewinnt, dann klappt’s auch mit dem Baby.« Er gibt mir einen Kuss auf den Bauch.

»Steht Oliver Kahn bei denen immer noch im Tor?«, frage ich mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Alex verschlägt es kurzzeitig die Sprache. »War doch nur ein Scherz!«

»Dann bin ich ja beruhigt!«

»Das kannst du auch sein!«, rufe ich ihm hinterher. »Michael Ballack schafft das schon!« Alex erstarrt eine Sekunde lang im Türrahmen, bevor er mit einem übertriebenen Seufzer das Schlafzimmer verlässt.

Aber die Jungs, die haben es leider nicht geschafft. Nicht mal einer. Unter mehreren Hundert Millionen. Nicht einer! Frustriert sehe ich zwei Wochen später auf den Schwangerschaftstest herunter. Es ist einer von denen, die man schon vor dem Ausbleiben der Regel machen kann. Er zeigt eine rosa Linie. Ich war nur ganz am Anfang so naiv zu glauben, dass die möglicherweise für Sie bekommen ein Mädchen steht. Mittlerweile weiß ich, was sie mir wirklich sagen will: Ätsch, du unfruchtbare Kuh. Wieder nix! Auch wenn ein Stück Plastik zu so viel Boshaftigkeit wahrscheinlich gar nicht in der Lage ist. Ein stechender Schmerz durchfährt meinen Unterleib und kündigt meine Periode an. Kein Wunder, dass ich so schlechte Laune habe.

»Und?«, fragt Corinna aufgeregt, als ich zu meinem Schreibtisch zurückkehre, schickt aber angesichts meines grimmigen Gesichtsausdrucks sogleich ein betretenes »Oh« hinterher.

»Ja. Oh. Das bringt es auf den Punkt.«

»Ach, Süße, das tut mir leid.«

»Ja, schon gut.« Um nicht loszuheulen, starre ich konzentriert auf den Computerbildschirm. Zum Glück lässt sich Corinna zu Floskeln wie »Wird schon« oder »Beim nächsten Mal klappt es bestimmt« schon lange nicht mehr hinreißen. Stattdessen zieht sie wortlos eine Familienpackung After Eight aus ihrer Schreibtischschublade hervor.

Als ich gerade mein zehntes Pfefferminztäfelchen verspeise, öffnet sich mit einem leisen Pling das Chat-Fenster am unteren Bildschirmrand.

ALEX: Und?

EVI: Wieder nix.

ALEX: Tut mir leid.

EVI: Wieso tut’s dir leid? Es liegt ja nicht an dir.

ALEX: So meinte ich das ja nicht.

EVI: Wie denn dann?

ALEX: Ich meinte nicht, tut mir leid im Sinne von meine Schuld. Sondern tut mir leid, dass es dir schlecht geht.

EVI: Ach? Und dir etwa nicht?

ALEX: Doch. Klar.

EVI: Kann dir ja auch egal sein. Du kannst ja mit achtzig noch Kinder zeugen.

ALEX: Kann ich ja offensichtlich nicht mal mit vierzig.

EVI: Tja. Jedenfalls nicht mit mir.

ALEX: Was soll das denn bitte heißen?

EVI: DANN SUCH DIR DOCH EINE ANDERE!

Ehe ich die Return-Taste drücken kann, greift Corinna, die mir offensichtlich schon eine ganze Weile über die Schulter gesehen hat, nach meiner Hand.

»Okay, das schicken wir vielleicht besser nicht ab«, sagt sie im Tonfall einer dieser gönnerhaften Krankenschwestern, wie man sie hasst. »Weil wir das nämlich garantiert später bereuen würden. Hier, nimm noch ein After Eight.« Auffordernd hält sie mir die Packung entgegen. »Eins für jede Hand.« Gehorsam nehme ich mir zwei Stück und sehe ihr dabei zu, wie sie meine Antwort an Alex löscht und stattdessen schreibt:

EVI: Sorry, bin traurig. Ich komme heute erst spät nach Hause. Betriebsfeier!

Sie drückt auf Senden.

»Das kannst du gleich wieder rückgängig machen«, sage ich bockig. »Wenn ich auf eins heute keine Lust habe, dann auf die blöde Betriebsfeier.«

»Natürlich kommst du mit.«

»Nein!«

»Keine Widerrede. Zu Hause schlagt ihr euch doch nur die Köpfe ein. Ein bisschen Ablenkung wird dir gut tun!«

ALEX: Okay. Viel Spaß!

EVI: Danke!

»Kannst du mal damit aufhören, meine Unterhaltungen zu führen?«, frage ich gereizt. Corinna lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern schreibt, ehe ich es verhindern kann, weiter.

EVI: PS: Ich liebe dich!

»Manchmal weiß ich einfach besser, was gut für dich ist.«

ALEX: Ich dich auch!

Triumphierend sieht Corinna mich an, bevor sie sich wieder an ihrem Platz niederlässt. »Siehst du?«

Am Abend hat sich meine Laune noch nicht gravierend gebessert und die stärker werdenden Unterleibschmerzen wirken auch nicht gerade stimmungsaufhellend. Mir wäre jetzt wirklich danach, mich mit einer Wärmflasche ins Bett zu kuscheln und richtig schön leidend meinem Weltschmerz zu frönen. Aber Corinna kennt keine Gnade. Nachdem sie mich den ganzen Tag mit Samthandschuhen angefasst hat, schlägt sie jetzt einen härteren Ton an.

»Dein Rumgejammere ist echt schwer zu ertragen.«

»Dann lass mich nach Hause gehen, dann kriegst du es nicht mehr mit«, sage ich weinerlich.

»Aber der arme Alex, und das möchte ich ihm wirklich gerne ersparen.« Sie hält mir eine Ibuprofen 600 und ein Wasserglas hin. »Die nimmst du jetzt.« Unter ihrem strengen Blick würge ich die Tablette herunter. »Und jetzt gehen wir uns amüsieren.« Damit hakt sie mich unter und schleift mich aus dem Büro.

Eins muss man ihm lassen: Für die Feier des siebenjährigen Bestehens seiner Firma hat Herr Hybel sich nicht lumpen lassen und einen Teil der Tower Bar des Hotels Hafen Hamburg für uns reserviert. Nach allen Seiten hin verglast, hat man in dieser Cocktailbar in über sechzig Metern Höhe einen phänomenalen Ausblick über Hamburg und seinen Hafen. Nach der Begrüßungsansprache unseres Chefs, in der die unvermeidlichen Witze über das verflixte siebente Jahr natürlich nicht fehlen und über die wir, die sechsköpfige Belegschaft, pflichtschuldigst lachen, beginnen Corinna und ich, uns durch die Cocktailkarte zu trinken. Während ich an einer süßen Köstlichkeit namens »Coco loco« nuckele, merke ich, wie die Schmerztablette in Kombination mit dem Alkohol endlich ihre Wirkung tut und die Krämpfe in meinem Unterleib vollkommen verschwinden. Mein Kopf wird mit jedem Schluck ein wenig leichter und meine Enttäuschung über einen weiteren missglückten Versuch rückt merklich in den Hintergrund.

»Ach, sieh mal, wer da kommt!« Corinna rammt mir ihren Ellenbogen in die Seite.

»Aua!«

»Guck doch!« Ich wende mich in die Richtung, in die sie zeigt, und sehe Benjamin Hybel auf mich zukommen.

»Bin ich zu spät? Hab ich was verpasst?« Als sei es das Normalste von der Welt, was es für ihn vermutlich auch ist, lässt er sich auf dem Barhocker neben mir nieder.

»Nur die Rede von deinem Bruder. Es war fast die Gleiche wie in den Jahren vorher«, antwortet Corinna achselzuckend. »Ach so, allerdings hat er gesagt, dass er in Zukunft die Steuererklärungen für seine Familie nicht mehr umsonst machen wird.«

»Wie bitte?«

»War nur ein Scherz.« Ein dummer Scherz, wie ich finde. Warum ärgert sie ihn? Er hat sich, glaube ich, ganz schön erschrocken. Vielleicht aber auch nicht. Er grinst und ich muss mal wieder feststellen, dass mein Blick auf ihn reichlich vernebelt zu sein scheint. In diesem Moment erscheint der Barkeeper und Benjamin vertieft sich in die Karte.

»Einen Ladykiller bitte.« Corinna tarnt ihren Lachanfall mehr schlecht als recht durch eine Hustenattacke. Ich haue ihr fester als nötig auf den Rücken.

»Na, geht’s wieder?«

»Aua! Ich meine, ja, danke! Ich glaub, ich gehe mal da hinten rüber.« Sie deutet in die gegenüberliegende Ecke der Bar. »Ich muss unbedingt … deinen Bruder fragen, wo er seine Strickwesten kauft. Hab ein bisschen Spaß. Lass dich ablenken«, raunt sie mir ins Ohr, während sie von ihrem Barhocker rutscht.

»Warum geht sie denn?« Benjamin schaut ihr fragend hinterher und ich bin ein bisschen beleidigt.

»Wieso? Ist es so schlimm, mit mir alleine zu sein?«

»Im Gegenteil.« Seine himmelblauen Augen fixieren mich. »Aber normalerweise wirft sie sich doch dazwischen, sobald ich drei Worte mit dir gesprochen habe.«

»Tut sie das?«, frage ich unschuldig und nuckele an meinem Strohhalm herum.

»Das weißt du doch selber.«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.« Mit einem schlürfenden Geräusch leere ich meinen Cocktail und stelle das Glas auf dem Tresen ab, als der Barkeeper mit Benjamins Getränk zurückkommt.

»Einmal der Ladykiller!« Das kann ich selbst sehen, dankeschön.

»Ich möchte auch so einen, bitte!«

»Hier, nimm meinen.« Er reicht mir sein Glas. Mitsamt des grünen Strohhalms, der eben noch zwischen seinen Lippen steckte. Ich sauge daran und bilde mir allen Ernstes ein, seinen Mund schmecken zu können. Das ist jetzt ein bisschen so, als würde ich Benjamin Hybel küssen. Wahnsinn. Ja, was für ein wahnsinniger Quatsch. Wie alt bin ich eigentlich? Dreizehn? »Und? Wie geht’s dir, Evi?«

»Gut«, antworte ich und merke selbst, dass diese Antwort nicht unbedingt geeignet ist, um ein ausführliches Gespräch zu beginnen. Aber was soll ich sonst sagen? Etwa die Wahrheit? Es geht mir beschissen. Das Sperma meines Freundes und meine Eizellen wollen einfach nicht zusammenkommen und das schon seit drei Jahren nicht. Ich fühle mich alt und unfruchtbar und unglücklich. Als Benjamins Oberschenkel leicht und mit Sicherheit vollkommen unabsichtlich meinen streift, fühle ich eine prickelnde Welle der Erregung. Dadurch geht es mir natürlich noch schlechter. »Und dir?«

»Auch gut.« Ein paar Sekunden herrscht Schweigen, bevor er sagt: »Tolle Bar, oder?«

»Ja. Sehr schön.« Ich nicke. »Ein super Ausblick.«

»Vor allem bei dem Wetter.«

»Ja, wir haben richtig schönes Wetter.«

»Die ganze Woche schon.« Ich seufze und nehme einen tiefen Schluck von dem Getränk, das nach Kokosnuss und Ananas und Alkohol schmeckt. Unsere Unterhaltung verdient nicht einmal diese Bezeichnung. Vielleicht war es ganz gut, dass Corinna sich jedes Mal dazwischen geworfen hat. »Und die nächsten Tage soll es sogar noch wärmer werden.«

»Was du nicht sagst, Herr Wetterexperte?« Ich werfe ihm einen Blick von der Seite zu.

»Huh, kannst du böse gucken.« Er lacht und ich kapiere erst in diesem Moment, dass die Laberei über das Wetter wohl als Flirt gemeint ist. Was ja eigentlich schon wieder ganz originell ist. Außerdem sieht er einfach unfassbar süß aus, wenn er lacht. »Wusstest du eigentlich, dass der vergangene April im Durchschnitt fast zwei Grad wärmer war als der im letzten Jahr?« Ich verdrehe übertrieben die Augen.

»Was kann ich tun, damit du aufhörst, übers Wetter zu reden?«

»Knutschen wäre gut«, sagt er.

»Okay«, sage ich. »Aber nicht hier.«