Brigitte Blobel
Roman
Bartolomé öffnet Felipe die Tür. Er verbeugt sich und begrüßt den Sohn seines Masters mit jenem sanften, demütigen Lächeln, für das Sureda ihn vor Jahren eingestellt hat.
»Die Herrschaften sind im Arbeitszimmer.«
Er führt Felipe durch die Halle, den Salon, das angrenzende Speisezimmer mit den aus Marmor gebauten Bogenfenstern, durch die man einen Blick auf das türkisblaue Meer und die schroffen Felsen hat, die die Cala Oscura einrahmen.
»Welche Herrschaften?«, fragt Felipe, ohne Blick für die Schönheiten. »Ist mein Vater nicht allein?«
»Mister Brown hat uns zum Frühstück besucht. Er ist schon seit acht Uhr hier. Ihr Vater hat eine sehr schlechte Nacht verbracht, Mister Felipe.«
»Mister Brown?«, fragt Felipe. »Gordon Brown?«
Bartolomé hat die Hand auf der Türklinke. Er wendet sich zu Felipe um. Seine Stimme ist noch leiser als gewöhnlich, nur ein Hauch. »Ja, Mister Brown aus London. Würden Sie bitte einmal fragen, ob ich frischen Tee bringen soll, oder kaltes Mineralwasser. Ich habe Ihrem Vater gesagt, er soll mich rufen, und ich sitze hier und warte, aber er vergisst manchmal, dass er viel trinken muss. Der Arzt hat ihm gesagt, er soll viel trinken, wegen seiner Nieren.«
»Was ist mit Vaters Nieren?«, fragt Felipe.
Bartolomé lächelt sanft. »Ich weiß es nicht. Der Master spricht nicht über solche Dinge mit mir. Er hat mir nur einmal gesagt: Bartolomé, achte darauf, dass ich immer genug Wasser trinke. Der Doktor hat gesagt, drei Liter Wasser täglich, sonst spielen meine Nieren nicht mehr mit. Würden Sie Ihren Vater fragen, bitte? Und vielleicht möchte Mister Brown etwas anderes als Tee? Einen Gin Tonic vielleicht?«
Als Felipe an ihm vorbei ins Arbeitszimmer treten will, fällt sein Blick wie zufällig auf Bartolomés Füße.
»Aber du trägst ja Schuhe!«, ruft er verblüfft.
Der Diener nickt. »Ihr Vater hat es angeordnet. Ich weiß nicht, warum.«
Er schaut auf, schaut in Bartolomés Gesicht, und auf einmal scheint ihm, dass sich etwas verändert hat.
»Geht es dir nicht gut?«, fragt er besorgt.
Bartolomé lächelt. »Oh, mir geht es gut, Mister Felipe. Ich mache mir nur Sorgen wegen des Masters. Was wird passieren, wenn man ihn doch verurteilt?«
»Er hat nichts getan, Bartolomé, er ist unschuldig.«
Bartolomés Augen werden groß. »Ein anderer Mensch ist es gewesen? Ein anderer hat diesen alten Mann getötet?«
Felipe seufzt. Jetzt ist er gereizt. Hinter den Türen verhandelt sein Vater mit Gordon Brown, und er hat keine Ahnung, worüber geredet wird.
»Ich werde sie fragen und dir Bescheid sagen. Ich denke dran.«
Das Konferenzzimmer, ein halbrunder Raum mit Fenstern, die wie Sehschlitze sind, wie Schießscharten, in Augenhöhe, wenn man steht, aber sobald man sich an den Konferenztisch aus poliertem Granit setzt, sieht man nun doch das Licht, das durch die Sehschlitze fällt. Sureda hat seinem Sohn damals, als er den Arbeitstrakt ans Haus anbauen ließ («für Verhandlungen, die nicht unbedingt von der ganzen Belegschaft in der Kanzlei verfolgt werden sollen«), erklärt, dass man in einer Konferenz, bei einem Arbeitsgespräch, durch gar nichts abgelenkt werden soll. Deshalb sind die Wände nackt bis auf die Lampen, die ein gleichmäßiges, neutrales Licht im Raum schaffen, keine Kunst an den Wänden, kein Blumenschmuck, acht Aluminiumstühle mit Lederpolsterung um den Tisch. Auf jedem Platz eine Schreibunterlage aus Löschpapier, in schwarzes Leder eingefasst, ein silberner Drehbleistift, mehrere Kugelschreiber. Und sonst nichts. Nicht einmal Bücher, nicht ein juristisches oder wirtschaftliches Nachschlagewerk. Das alles ist verbannt ins Nebenzimmer. Dort gibt es Fax, Computer, Satellitentelefonverbindungen um den Globus. (Die große Satellitenschüssel ist, von Lorbeersträuchern verdeckt, auf einer Felsspitze angebracht, unter Lebensgefahr des Monteurs, der nur deshalb ausgewählt worden war, weil er in seiner Freizeit Extrembergsteigen liebt.)
Sie umrunden den Tisch, wie immer. Weil die seidenglatt geschliffene Oberfläche des lapislazuliblauen Tisches ihn fasziniert, fährt Felipe mit der Hand darüber.
Bartolomé lächelt. »Ich habe heute Morgen sehr früh noch alles geputzt, Mister Felipe, ich mache das immer selbst. Hier und in das Schlafzimmer des Masters lasse ich die Putzfrauen nicht.« Er legt die Hand auf die Klinke des Arbeitszimmers. Von drinnen dringt kein Geräusch heraus.
»Nicht ein anderer, Bartolomé. Du verwechselst da etwas.«
Bartolomés Augen, erfrischend und groß, auf Felipes Gesicht gerichtet. Felipe lächelt. »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles so bleiben, wie es ist. Alles. Vielleicht wird es sogar noch schöner.«
Bartolomés Mundwinkel zucken. Felipe kann nicht unterscheiden, ob es die Andeutung eines Lächelns ist oder ob er einen Schmerz verbergen will.
Sureda, in Polohemd und heller Leinenhose, steht mit Gordon Brown am Fenster des Arbeitszimmers. Auch hier Bogenfenster mit dem Blick auf die Bucht. Nach dem nächtlichen Regen und dem Sturm, der den Regen begleitet hat, ist das Meer jetzt wieder ruhig. Auf der Jacht, die draußen vor Anker liegt, arbeitet die Crew, schrubbt das Deck, poliert die Messingnischen.
Sureda dreht sich lachend zu Felipe um, als der durch die Tür tritt.
»Felipe, ich habe meinen Freund Gordon Brown eben zu einem kleinen Turn nach Ibiza überreden können. Ich lasse das Boot startklar machen. Wir werden an Bord Mittag essen, es ist alles schon geregelt, das Boot wird in Palma gechartert und kommt hierher zurück, so gegen zwölf. Du hast doch Zeit?«
Felipe begrüßt seinen Vater, indem er ihm die Hände auf die Schultern legt und für einen Sekundenaugenblick seine Wange gegen die glatt rasierte, kühle Wange des Vaters hält. Dann reicht er Gordon Brown die Hand. Gordon Brown, im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und einer Hermès-Krawatte, hat seine Hand gedrückt, wie Felipe es nicht erwartet hätte. Er verzieht schmerzhaft das Gesicht. Sureda lacht aufgeräumt. »Ein Händedruck wie ein Pferdekutscher, was? Ich gebe diesem Mann schon lange nicht mehr die Hand. Ich bin zufrieden mit der Art, wie meine Fingerknöchelchen in den Gelenken sitzen. Ich will nicht, dass sich da was ändert.«
Gordon Brown, gut gelaunt, lacht über diesen kleinen Scherz.
»Es hat nicht wehgetan, oder?«, fragt er. »Nicht wirklich.«
»Nein, wirklich nicht. Nur ein bisschen.« Felipe reibt seine Fingergelenke, während er sich an seinen Vater wendet: »Bevor ihr mir irgendetwas erzählt, etwas Wichtiges, soll ich von Bartolomé fragen, ob du genug getrunken hast, Vater, ob noch Mineralwasser gewünscht wird, Tee oder irgendetwas anderes. Bartolomé schleicht draußen herum. Sehr besorgt, ihr könntet hier drinnen verdursten.«
»Und man schiebt ihm später zwei Morde in die Schuhe.« Sureda wirft einen Blick auf den Teewagen: benutzte Teetassen, geleerte kleine Pellegrino-Flaschen, ausgedrückte Zitronenviertel.
»Ich denke, ein paar Fläschchen Pellegrino wären gut. Felipe, wir haben dir etwas Großartiges mitzuteilen. Gordon Brown hier, mein Freund, der nicht nur mein Freund ist, sondern auch der von Tony …«
»Der Tony?«
»Wer sonst. Er kommt direkt aus London.«
Felipe schaut aufmerksam von Gordon Brown zu seinem Vater. Die beiden schauen sich an, alte Kumpel, alte Kumpanei. Felipe spürt, wie jung er ist, wie wenig er dieses Spiel bislang beherrscht. Jemanden ins Boot ziehen und gleichzeitig das Wichtige ungesagt lassen. Immer noch im Besitz eines Geheimnisses zu sein, immer noch ein paar Dinge nur Chefsache sein lassen. Herrschaftswissen. Das ist die wahre Macht. Dass man immer ein bisschen mehr weiß als die anderen, auch als jene, von denen man erwartet, dass sie mit ins Boot kommen.
Felipe nutzt den Moment, hinauszugehen und Bartolomé, der im Konferenzzimmer wartet, die Bestellung aufzugeben. »Danke, Mister Felipe, danke«, flüstert Bartolomé.
»Wofür bedankst du dich?«, fragt Felipe amüsiert. »Dafür, dass du in die Küche gehen musst und ein Sechserpaket Pellegrino-Fläschchen holen darfst?«
Bartolomés Augen verdunkeln sich. Er verneigt sich, wendet sich ab und geht in seinen neuen Schuhen davon. Der Gang ist nicht mehr so geschmeidig, und vor allen Dingen nicht mehr vollkommen lautlos, obgleich Bartolomé sich große Mühe gibt, mit diesen neuen Ledersohlen kein Geräusch auf dem Marmorboden zu machen.
»Bartolomé trägt jetzt Schuhe«, sagt Felipe, als er zu den beiden Männern zurückkehrt. »Hast du das wirklich angeordnet, Vater?«
Sureda macht eine ungeduldige, barsche Handbewegung. »Ach, hör damit auf. Hat er sich bei dir beklagt? Mir sagt er, seine Füße tun weh, wenn er Schuhe trägt. Aber das ist Unsinn. In der ganzen zivilisierten Welt tragen die Menschen Schuhe.«
»Aber früher hat es dir so gut gefallen, wie Bartolomé lautlos durch das Haus geht. Jetzt ist sein Gang auf einmal plump. Ich glaube, darunter leidet er mehr, als er sagen kann.«
»Sind wir hier zusammengekommen, um über die Schuhe meines Dieners zu reden?« In Suredas Augen blitzt Zorn auf. »Felipe, nimm dich zusammen. Wir sind keine Studentenvereinigung, die für Rechte der Völker in der Dritten Welt kämpft. Bartolomé hat das große Los gezogen, als er diesen Job hier bekommen hat. Weißt du, wie viel Geld er schon auf der Bank hat? Eines Tages wird er sich hinstellen in einem wunderbaren Armani-Anzug und sagen: Master, ich gehe jetzt zurück auf die Philippinen. Vielen Dank. Und machen Sie Ihren Dreck in Zukunft alleine. Ich gehe zurück auf die Philippinen, kaufe mir von dem Geld, das ich bei Ihnen verdient habe, ein Haus und einen Mercedes, gebraucht natürlich, und heirate.«
Felipe weiß, dass jetzt alles gesagt ist und dass es Zeit ist, zum eigentlichen Thema zurückzukehren. Er hat einen Blick auf die Pläne geworfen, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet sind, und einen Blick auf die beiden Computer. Einer druckt gerade die neuesten Börsenkurse des Nasdaq-Index aus Tokio, London und New York aus, der andere zeigt ein Auto, eine Zeichnung, dreidimensional, die im Raum schwebt. Etwas an diesem Auto ist anders, das sieht Felipe auf einen Blick, und er sollte jetzt seinem Vater zeigen, wie schnell sein Kopf funktioniert, wie fantastisch sein Verstand ist. Er sollte zu dem Bildschirm gehen und auf den kleinen Chip deuten, dieses leuchtende kleine Ding unter der Motorhaube, und sagen: Das ist es, nicht wahr? Das ist der Chip, den ihr bauen wollt. Auf dem Land, das du den Villalongas abgekauft hast, nicht wahr? Für diesen Chip wollt ihr da Fabriken bauen lassen und Häuser für die Spezialisten. Das ist das Ding, das alles zwischen Madrid und London so begehrlich macht. Damit werden wir Milliardäre. Nicht wahr? Und kriegen einen Sitz im Corte.
Gordon Brown geht zu dem Computer, auf den Felipe jetzt starrt, deutet mit dem Finger auf den kleinen Chip unter der Motorhaube des dreidimensional restaurierten, skizzierten Autos und sagt: »Raten Sie mal, Felipe, was das ist.«
»Der Chip, der den Benzinverbrauch so steuern kann, dass jeder Motor mit dem geringstmöglichen Benzin die beste Leistung bringt.«
»Richtig.« Gordon Brown klickt ein anderes Bild an.
Eine Küche, hypermodern, auch dreidimensional. Er vergrößert den Kühlschrank, bis er fast das ganze Bild füllt. Auch der Kühlschrank dreht sich jetzt um die eigene Achse.
»Und hier?«
»Keine Ahnung.« Felipe hebt die Schultern. »Für mich ist das ein normaler Kühlschrank. Wollen wir hier Kühlschränke bauen? Ist das nicht ein bisschen spät?«
»Dieser Kühlschrank, mein Lieber«, sagt Gordon Brown, »ist kein normaler Kühlschrank. Er ist so etwas wie ein eigenes Headquarter. Schauen Sie sich diesen Chip an. Hier, in der Seitenwand. Dieser Chip kann ermitteln, welche Bestände im Kühlschrank fehlen, er weiß, was der Haushalt gewöhnlich an Lebensmitteln braucht, und er ist in der Lage, selber die fehlenden Lebensmittel zu ordern. Ebenso kann die Waschmaschine Bestellungen für Waschpulver und Antikalkmittel aufgeben, auch die Geschirrspülmaschine etc. Wir haben einen Spezialisten ins Boot geholt, Felipe, der uns einen Chip bauen wird, bei dessen Anblick Bill Gates alt aussieht.«
»Alt wie ein Greis«, sagt Sureda und lacht.
»Mit diesem Chip werden wir die Elite der Zukunft an uns ziehen. Mallorca wird das neue Silicon Valley Europas.« Gordon Brown atmet tief durch und strahlt Felipe an. »Wie klingt das? Und zwar alles genau auf dem Gelände, das Ihr Vater vorausschauenderweise vor Jahren bereits gekauft hat und für das er alle Genehmigungen in der Tasche hat, die die Regierung von Mallorca verlangen wird.«
»Die Burschen hier sind nicht einfach, seit die Regierung gewechselt hat«, sagt Felipe skeptisch. »Für mich klingt das alles grandios. Aber wird es gelingen?«
Gordon Brown und Sureda wechseln einen Blick.
Wie auf Kommando gehen sie auf Felipe zu. Jeder legt eine Hand auf Felipes Schultern. Ein feierlicher, ernster Augenblick. Ein Augenblick, der über die Zukunft entscheidet. Von Mallorca oder Madrid, London, Europa. Oder vielleicht nur über die Zukunft von Dr. Felipe Ramón Sureda.
»Es wird gelingen, ganz ohne Frage«, sagt Gordon Brown, »alle Weichen, die gestellt werden müssen, sind gestellt. Alle Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden mussten, sind aus dem Weg geräumt. Wir haben das »Go« der Regierung und das Placet der europäischen Gemeinschaft. Natürlich alles topsecret. Natürlich ist das nur auf der allerobersten Ebene gelaufen. Also, deshalb niemals ein Wort an irgendjemanden.«
»Verstehst du?«, warnt Sureda. »An niemanden!«
»Auch nicht einmal an Ihre reizende junge Frau«, sagt Gordon Brown. »Ich werde den Verdacht nicht los, dass ich im Flieger von London neben ihr gesessen habe, ohne es zu wissen. Möglicherweise habe ich furchtbaren Unsinn geredet, und sie wird mich jetzt immer für einen kotzlangweiligen Vertreter halten.«
Sureda und Felipe lachen, wie es Gordon Brown erwartet.
»Ich glaube nicht, dass Ysabel so etwas denkt«, sagt Sureda. »Mein Sohn hat nämlich nicht nur eine sehr attraktive, sondern auch eine kluge Frau geheiratet.«
Man hört Schritte.
Alle drei Männer heben den Kopf und schauen sich an. Kurz darauf ein dezentes Klopfen.
Es ist Bartolomé. Er bringt die Wasserflaschen, er bringt Eiswürfel, die so kalt sind, dass sie knallen, wenn man sie in eine Flüssigkeit gibt, und frisch aufgeschnittene Zitronen, eben vom Baum gepflückt. Wortlos tauscht er die leeren Flaschen aus und verschwindet. Seine Schritte hallen auf dem Marmor.
»Verstehst du jetzt«, wendet Sureda sich an seinen Sohn, »warum ich ihm gesagt habe, er soll in Zukunft Schuhe tragen? Jetzt höre ich ihn, wenn er kommt. Wir dürfen in dieser Sache niemandem trauen. Niemandem.«
»Also, noch einmal.« Gordon Brown lässt das Wasser über die Eiswürfel laufen und hört zufrieden das Knacken des Eises. »Wir kümmern uns um das alles, Felipe. Sie sind mit im Boot, das ist klar, auch wenn wir Sie im Augenblick noch nicht in alles einweihen. Das ist aber kein Misstrauen gegen Sie, sondern nur ökonomisch. Wir wollen nicht, dass Sie Ihre Zeit vergeuden. Sie sollen sich ganz auf eines konzentrieren. Nur auf das eine.«
»Und das wäre?«, fragt Felipe.
»Junge, du musst mir diese Sache vom Hals schaffen. Diesen Richter dazu bringen, dass er die Anklage fallen lässt.« Sureda wendet sich an Gordon Brown. »Die Dinge haben sich ein bisschen verkompliziert, seit wir erfahren haben, dass der arme alte Herr in der Kirche ein Verwandter ist. Genau genommen der Großvater von Ysabel, meiner Schwiegertochter.« Sureda fixiert seinen Sohn. »Es ist so wichtig, dass auf mir nicht der Makel lastet, ich habe seinen Tod willkürlich verursacht. Von Mord will ich nicht reden, denn mit Mord hat diese unselige Geschichte nicht das Geringste zu tun.«
»Aber sie könnte«, sagt Felipe. »Ich habe darüber nachgedacht. Wenn nämlich herauskommt, dass du als Kind von den Villalongas weggegeben wurdest, wenn die Welt erfährt, was diese Familie dir angetan hat, Vater, dann wird der Richter vielleicht denken, du hast ihn aus Zorn ermordet, aus Rache.«
Gordon Brown nippt an seinem Pellegrino und schaut von einem zum anderen. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Sureda legt seinen Arm um Gordon. »Eine Familienangelegenheit. Aber nicht schön.«
»Gar nicht schön, nein«, sagt Felipe. »Die ganze Nacht habe ich an meinen armen Vater denken müssen. Wie er das weggesteckt hat, diese Kindheit. Diese Schmach. Diese Demütigung.« Er wendet sich an seinen Vater. »Wie du das weggesteckt hast. Respekt.«
»Danke. Ich habe immer gehofft, dass du es verstehst.«
»Was muss er verstehen?«, fragt Gordon Brown. »Und was sollte ich wissen, um es auch zu verstehen?«
Sureda schaut auf die Uhr. Er geht ans Fenster. »Das Boot wird in einer Stunde zurück sein. Inzwischen machen wir hier unsere Hausaufgaben, und dann gehen wir raus, aufs Meer, Richtung Ibiza. Und dann erzählen wir dir eine Geschichte, Gordon, die wieder einmal beweist, dass alle großen Entscheidungen in der Welt ihren Ursprung im Privaten haben. Im ganz Persönlichen. Warum ist Napoleon von diesem unbändigen Machtwillen und Ehrgeiz gewesen? Warum hat er sich zum Kaiser krönen lassen? Weil er den Makel loswerden wollte, Kind armer Eltern zu sein. So einfach funktioniert die Welt, meine Lieben. Und jetzt an die Arbeit.«
Der Comandante eilt um den Jeep herum, der vor dem Haus Nr. 22 in der Carrer Font Agustín hält, und reißt für den Untersuchungsrichter Rafael Ginard den Schlag auf.
Der Untersuchungsrichter, der an diesem Morgen bereits einen rückfälligen Einbrecher, einen Triebtäter und eine alte Frau, die ihre zwanzig Katzen verhungern ließ, verurteilen musste, steigt aus dem Wagen auf die Straße und stürzt beinahe über die Schubkarre mit Wassermelonen, die vor dem Gemüseladen aufgestellt ist.
Der Gemüsehändler steht vor der Tür und tut, als sei er furchtbar damit beschäftigt, einen Zopf Peperoni und einen Zopf Knoblauchzehen an der Markise zu befestigen.
Eine Vespa mit stinkendem Auspuff zwängt sich an ihnen vorbei. Oben, im ersten Stock des Hauses Nr. 23, beugt sich eine Frau über das Balkongeländer. Sie trägt einen Morgenmantel, der zu eng für ihren großen Busen ist.
»Was ist los?«, schreit sie. »Wir wollen keine Polizei. Haut ab! Hier ist alles in Ordnung. Schert euch weg! Wir haben lange genug Leute wie euch ertragen müssen, Leute wie euch, die überall herumschnüffeln. Ich habe die Nase voll.« Sie tritt in das Zimmer zurück und schlägt die Balkontüren zu.
Der Richter reibt verlegen sein Kinn, der Gemüsehändler tippt sich an die Stirn. »Sie ist ein bisschen verrückt, machen Sie sich nichts draus.«
»Ich hatte nicht vor, das ernst zu nehmen«, sagt der Richter, nachdem er sich gefasst und seine Würde zurückgewonnen hat.
Der Commandante geleitet den Untersuchungsrichter zum Haus Nr. 22. »Hier ist es«, sagt er beflissen, »hier hat der Ermordete gewohnt, im zweiten Stock. Hier unten stand immer sein Korbstuhl, eine Art Schaukelstuhl, wie der Gemüsehändler sagt. Jeden Morgen, wenn der Gemüsehändler seinen Laden öffnete, saß Don Alonso schon da. Jedenfalls im Sommer, im Winter schlief er bis mittags, und das Frühstück, das er in der Bar Francisco einnahm, war zugleich auch sein Mittagessen. Achtung, bitte, im Eingang ist eine Stufe, die man schlecht sieht, wenn draußen das Licht so hell ist. Überhaupt ist es ein sehr dunkler Flur. Das Geländer, fürchte ich, ist auch nicht sehr fest. Bitte, passen Sie auf.«
»Hören Sie«, der Untersuchungsrichter, die Hand am Geländer, um in den ersten Stock hinaufzusteigen, wendet sich um zum Comandante, »es ist nicht das erste Mal, dass ich ein solches Haus betrete. Ich komme schon zurecht. Zeigen Sie mir nur die Wohnung und den Safe.«
»Die Wohnung im zweiten Stock, wie ich schon sagte, rechts.«
»Gut. Was ist mit Señor Pepe de Villalonga?«
»Er ist unterwegs, wie mir die Köchin sagte. Er kommt mit seiner Frau. Er wollte, dass sie ihn begleitet.«
»Gut so.« Der Untersuchungsrichter nickt zufrieden und beginnt den Aufstieg in den zweiten Stock.
»Schauen Sie, hier, ein Müllsack. Was die Leute alles im Flur stehen lassen.«
»Es ist nicht unsere Sache, uns dafür zu interessieren, was die Leute mit ihrem Müll machen, mein Lieber. Wir müssen uns nur um die Dinge kümmern, für die wir einen Auftrag haben, einen schriftlichen Auftrag, verstanden?«
Der Comandante, beschämt, senkt den Kopf. Er folgt dem Untersuchungsrichter, der für sein Alter erstaunlich behände und ohne geringste Atemnot die ungleichen Stufen nimmt.
Oben auf dem Treppenabsatz wartet Joan auf sie.
»Na, mein Lieber«, ruft der Untersuchungsrichter, »haben Sie noch eine bahnbrechende Entdeckung gemacht?«
Joan schüttelt den Kopf. »Leider nicht. Ich habe nur gewartet und aufgepasst, dass nichts angerührt wird, keine zusätzlichen Fingerabdrücke und so.«
»Gut. Das war gut.« Der Untersuchungsrichter lächelt dem jungen Polizisten leutselig zu, während er an ihm vorbei in die Wohnung tritt. Das gibt dem Comandante einen Stich ins Herz. Hat der Untersuchungsrichter ihm vielleicht zugelächelt, als er von der sensationellen Entdeckung berichtete? Ein geheimer Safe! An der Rückseite des Kleiderschrankes! Den er entdeckt hat durch seinen Spürsinn. Durch seinen Scharfsinn hat er etwas entdeckt, das den Kollegen von der Spurensicherung entgangen ist.
»Ich wusste schon, warum ich Sie noch mal losgeschickt habe«, hat Rafael Ginard gesagt, seinen Sakko angezogen und ist dem Comandante gefolgt. Das war alles. Keine Erwähnung einer Beförderung, nicht mal ein anerkennender Blick. Nicht mal ein Lächeln wie jenes, das der junge Kollege jetzt einheimsen konnte. Steif, nur mühsam seine Empörung unterdrückend, geht der Comandante voran durch den Salon mit den verblichenen grünen Samtsesseln und der Kommode aus Eschenholz in den schmalen Flur, von dem das Schlafzimmer abgeht.
»Hier«, sagt er, »der Schrank. Und dort …« Er geht, immer noch steif, und mit einer Stimme, die reserviert, aber korrekt klingen soll, fügt er hinzu: »Der Safe.«
Der Richter setzt seine Brille auf, blickt sich um, studiert das Bett mit dem zerknüllten Laken und Kaffeeflecken, den Hocker vor dem Bett, auf dem eine alte Hose liegt, ein getragenes Hemd, Socken. Daneben ein paar Schuhe, Alltagsschuhe. Diese Sachen muss Alonso getragen haben, bevor er sich für die Hochzeit umkleidete, bevor er sich auf den Weg machte, zusammen mit der Putanita, seiner Hündin, um die Hochzeitsgesellschaft in Els Sant Castells aufzuschrecken. Was er da wohl gedacht hat.
Der Richter seufzt. Es gibt so viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die ihm immer verschlossen sein werden. Aber er tröstet sich damit, dass dies nicht nur auf ihn zutrifft, sondern auf alle, die ganze Menschheit. Man muss sich begnügen mit dem, was erklärbar ist, entzifferbar. Manchmal ist es viel, einen anderen Tag nur wenig. »Haben wir denn auch einen Schlüssel zu diesem Safe?«
Der Comandante reißt die Augen auf, fasst sich an die Kehle. Der Richter Rafael Ginard, der es gewohnt ist, mit Beamten zu arbeiten, die ihm an Intelligenz und Weitblick nicht das Wasser reichen, lächelt maliziös.
»Dann frage ich mich«, sagt er, »warum wir in dieser Hast aufgebrochen sind, um …«
Da tritt Joan vor den Richter. Er schiebt seine Hand in die Hosentasche, zieht etwas heraus und reicht es dem Untersuchungsrichter stumm, aber mit Pathos, mit angehaltenem Atem und geschwellter Brust. »Ich habe mir erlaubt«, sagt er, »in der Zeit, die ich wartete, nach dem Schlüssel zu suchen.«
»Und Sie haben ihn tatsächlich gefunden!« Der Untersuchungsrichter schenkt dem jungen Kollegen ein zweites, äußerst leutseliges Lächeln. »Das nenne ich eine gute Arbeit. Eine gute Polizistenarbeit.«
Der Comandante kämpft mit einem Hustenanfall. Früher, als Kind, wenn er sich aufregte, hatte er oft diese plötzlichen Hustenattacken. Seine Mutter befürchtete damals, er könne Asthmatiker werden. Aber der Arzt, der ihn untersuchte, hatte solche Befürchtungen nicht. In einem gewissen Alter, sagte er, neigen Jungen zu falscher Atmung.
Seine Mutter hatte gefragt, um welches Alter es sich handele, und da hatte der Arzt gesagt: Es ist immer die Zeit des sexuellen Erwachens.
Daraufhin ist die Mutter des Comandante feuerrot im Gesicht geworden und hat eine Woche nicht mit ihrem Sohn gesprochen. Und der Sohn hat sich in der Woche nicht getraut, abends im Bett, die Hand an sein Geschlecht zu legen. Aber dafür hat er umso heftiger husten müssen.
Jetzt ist es wieder so weit. Der Comandante hustet, ein einziger, krampfartiger, jedoch nicht anhaltender Hustenanfall, und fragt: »Passt er denn auch?«
»Wer?«, fragt Joan.
»Der Schlüssel da, ob er zu dem Safe passt?«
»Selbstverständlich.« Joan lächelt.
»Und woher wissen Sie das?«, fragt der Untersuchungsrichter. »Haben Sie etwa ohne richterliche Genehmigung den Safe bereits geöffnet?«
Joan schaut vom Comandante zum Untersuchungsrichter. Dann schüttelt er heftig den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Ich habe ihn nur reingesteckt, geschaut, ob er passt, ob er sich dreht, und ihn wieder rausgezogen.«
»Hineingesehen haben Sie nicht?« Der Richter wiederholt seine Frage, und der Comandante kann feststellen, dass das leutselige Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden ist.
»Gut«, sagt der Untersuchungsrichter, »dann warten wir jetzt hier, bis die Kinder von Señor Alonso de Villalonga eintreffen. Dann werden wir zusammen den Safe öffnen.« Er lächelt. »Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass wir dabei die Studien der Gesichter betreiben können. Was auch immer im Safe ist: Es wird sich auf den Gesichtern der Kinder etwas spiegeln. Denken Sie ebenso?«
Der Comandante nickt. »Selbstverständlich, Señor Ginard, ich denke ganz genauso.«
Pepe und Margalida kommen die Straße herauf. Sie sind mit dem Taxi gekommen, weil Pepe sich außerstande fühlte, einen Wagen zu steuern. Außerdem hat Margalida eine endlose Zeit im Badezimmer verbracht und eine weitere endlose Zeit vor ihrem Kleiderschrank.
Mein Gott, Frau, hat Pepe empört gerufen, was stehst du so lange und überlegst, was du anziehen sollst? Es ist vollkommen gleichgültig, wie du aussiehst.
Nein, Pepe, das ist es eben nicht. Es ist der erste Besuch bei deinem Vater. Für mich ist es wie eine Art Antrittsbesuch, verstehst du? Ich komme das erste Mal in seine Wohnung, und ich möchte einen guten Eindruck machen.
Aber auf wen? Auf wen?, hat Pepe gerufen, außer sich vor Ungeduld. Papá ist tot! Du kannst keinen Eindruck mehr auf ihn machen. Vielleicht hast du einen Eindruck auf ihn gemacht, als er dich sah, in der Kirche, in der ersten Reihe, ich habe keine Ahnung, wen oder was er überhaupt wahrgenommen hat. Ob er mich gesehen hat, unsere Tochter, Felipe. Ich weiß es nicht. Verstehst du?
Pepe musste schreien, und je mehr er schrie, desto störrischer verhielt sich Margalida. Schließlich kleidete sie sich in Dunkelblau, ein Kleid mit zweireihigen Perlmuttknöpfen, dazu dunkelblaue Schuhe, eine dunkelblaue Handtasche, ein weißer Hut mit dunkelblauem Band. Das hielt sie nun für passend. Ausgerechnet. Warum nur?
Im Taxi hat Pepe immer wieder einen Blick auf die doppelreihigen Perlmuttknöpfe geworfen und sich gefragt, was in aller Welt eine Frau dazu bringt, ein solches Kleid für passender zu halten als zum Beispiel ein gelbes oder schwarzes. Eines ohne Knöpfe oder eines mit Reißverschluss. Aber Margalida war zufrieden mit ihrer Wahl, saß ruhig im Wagen neben ihm, hielt seine Hand und blickte ernst und aufmerksam geradeaus.
Der Taxifahrer fand zuerst die Straße nicht, er verwechselte sie mit einer anderen, die einen ähnlichen Namen hatte, aber schließlich setzte er sie doch auf der Plaza de la Revolución ab, und ein Eisverkäufer, den sie fragten, zeigte ihnen den Eingang zu der kleinen Gasse, in der der Vater fünfzig Jahre gelebt hatte, ohne dass sie davon je etwas wussten.
Sie gehen Hand in Hand, wie ein junges Paar, schüchtern, fast ängstlich. Margalida setzt eine Sonnenbrille auf, und Pepe wagt nicht, an den Häuserfassaden emporzusehen. Diese Straße erinnert ihn an all die Gassen, in denen er im Laufe seines Lebens junge Friseurinnen, Kellnerinnen und Huren besucht hatte, Häuser mit Schlafzimmern, die im Sommer stickig heiß waren und im Winter nach feuchtem Holz rochen.
Diese Straße erinnert ihn an all die Frauen, die er dafür bezahlt hat, dass sie ihm etwas geben, etwas, das er nicht kannte, nach dem er sich gesehnt hat und das er nie bekommen hat. Sein Herz tut ihm weh, als er daran denkt, dass er vielleicht etwas ganz anderes gesucht hat. Etwas, das der alte Mann im Haus Nr. 22 ihm hätte geben können. Der alte Mann, der sein Vater war.
Sie grüßen den Gemüsehändler, der vor der Tür mit einer Kundin den Preis für eine Melone aushandelt, und nicken diskret einer Frau zu, die aussieht, als wisse sie alles über jeden Menschen, der jemals in der Gasse gewohnt hat. Dann entdecken sie das Hausschild Nr. 22 und steigen in den zweiten Stock hinauf.
Die Tür ist verschlossen. Es gibt kein Schild, keinen Hinweis, nicht einmal eine Klingel. Der Mann, der hier gelebt hat, erwartete entweder keinen Besuch oder nur Menschen, die ihn sehr gut kannten.
Pepe spürt einen leichten Schwindel, Schweiß tritt auf seine Stirn.
Margalida, seine Ehefrau seit mehr als dreißig Jahren, nimmt seine Hand und drückt sie. »Du musst jetzt sehr stark sein.«
Er seufzt. Er atmet tief, und seine Lunge brennt. »Ja«, sagt er, »sehr stark, ich weiß.« Er hebt die Faust und klopft.
Der Comandante öffnet die Tür, wortlos verbeugt er sich, macht eine einladende Geste, tritt zur Seite und lässt das Ehepaar de Villalonga Duque de Sa Carrotxa eintreten.
Im Wohnzimmer, auf zerschlissenem grünen Samt, sitzt der Untersuchungsrichter Rafael Ginard. Hinter dem Sessel steht ein junger Polizist mit roten Backen, der freundlich lächelt, dem man aber eine gewisse Aufregung anmerkt.
Der Comandante hustet leicht und wirft Don Pepe einen Blick zu, einen eindringlichen Blick, den Don Pepe aber nicht deuten kann.
Ohne ein Wort der Begründung hebt der Untersuchungsrichter einen goldenen Gegenstand hoch. Ein runder, goldener Gegenstand, wie eine Taschenuhr. Er lässt den Deckel aufschnappen, und da ertönt ein Lied, ein Schlaflied, ein Kinderlied, ein mallorquinisches Wiegenlied.
Horabaixa past el sol …
Pepe schließt die Augen. Er kennt dieses Lied. Er hat es oft gehört. Die Mutter seiner Kinder hat es gesungen.
Margalida, die auf alles, aber nicht auf dieses vorbereitet war, bekommt ein verträumtes Gesicht. Ysabel fällt ihr ein, das Baby, so winzig, das abends im Dunkeln Angst hatte, Anatol, der nachts aufwachte und an ihr Bett lief, um sich trösten zu lassen. Ein kleiner Junge auf großen Füßen, der in einem zu großen Schlafanzug vor ihrem Bett stand und schluchzte: Mamá. Das fällt ihr ein, während die Uhr spielt.
Der Untersuchungsrichter schweigt und schaut die beiden an. Er blickt länger in das Gesicht von Pepe, weniger scheint er an Margalida interessiert zu sein. Als das Lied erklungen ist, hebt er die Uhr hoch und fragt: »Kennen Sie diese Uhr?«
Pepe schüttelt den Kopf.
»Sie kennen diese Uhr nicht?«
»Nein«, sagt Pepe. Er nimmt die Uhr in die Hand, schaut in das Innere des Deckels.
»Lesen Sie, was da steht«, sagt der Richter.
Pepe liest vor. Er stutzt. Er schaut den Richter an.
»Das ist nicht Ihr Geburtsdatum?«, fragt der Richter.
Pepe schüttelt den Kopf. »Nein, nein. Ich bin ein Jahr später geboren. Ungefähr. Ich habe keine Ahnung, wer das sein kann.«
»Darf ich einmal sehen?«, fragt Margalida. Pepe gibt ihr die Uhr. Sie schaut alles an, ruhig und ernst. Dann sagt sie: »Das ist eine sehr alte Uhr. Sie ist bestimmt schon älter als das Datum in dem Deckel. Mindestens hundert Jahre älter. Meine Großtante besaß so eine Uhr. Ein Geschenk zu ihrer Hochzeit. Von ihrer Urgroßmutter. Also, sehen Sie, das sind zwei verschiedene Dinge. Die Uhr und das Datum.«
»Das Datum sagt Ihnen nichts?«, fragt der Untersuchungsrichter.
Margalida schüttelt den Kopf. »Mir muss es ja auch nichts sagen. Ich bin viel später geboren. Ich habe mit dieser Familie erst zu tun bekommen, als Pepe und ich geheiratet haben.«
Der Untersuchungsrichter nickt. Das ist ihm wohlbekannt. Er hat dennoch gehofft, irgendein Hinweis könnte sich ergeben … Irgendetwas …
»Und das Lied?«, fragt er.
Don Pepe schaut seine Frau an. »Du hast das immer gesungen, wenn die Kinder nachts nicht schlafen wollten.«
»Ja«, sagt Margalida, »das stimmt. Ein altes Kinderlied. Ein Schlaflied. Es ist sehr berühmt.«
»Ich weiß, dass es berühmt ist«, sagt der Richter. »Ich selbst …, meine Mutter hat es mir vorgesungen.«
Er erhebt sich, und jetzt erst begrüßt er Don Pepe und seine Frau. Er tut das formvollendet, mit der nötigen Vorsicht und Diskretion, die der Ort und der Augenblick erfordern. Dann sagt er: »Ich möchte Sie jetzt bitten, mir ins Schlafzimmer von Don Alonso zu folgen. Wir haben im Schlafzimmer etwas gefunden, das vielleicht Aufschluss auf manche Unklarheit gibt.«
Er steuert die beiden. Beide blicken ruhig und klar, aufmerksam und ernst.
»Wir haben einen Safe entdeckt und zu dem Safe auch den passenden Schlüssel gefunden«, sagt der Richter. »Zusammen mit Ihnen möchte ich diesen Safe nun öffnen. Wir wissen alle nicht, was in dem Safe ist. Aber mit Sicherheit wird es uns irgendeinen Hinweis geben. Denn warum sonst sollte Señor Alonso sich die Mühe machen, einen Safe zu beschaffen?«
Er geht voran. Margalida und Pepe folgen in das Schlafzimmer. Pepe wagt nicht, auf das Bett zu blicken, das seit dem letzten Weggang seines Vaters nicht benutzt war. Zerknüllte Laken, zerknüllte Kopfkissen, getragene Wäsche auf einem Hocker. Ein offener Kleiderschrank, Hosen und Jacken zur Seite geschoben, der Blick frei auf eine Tür in der hinteren Schrankwand, die offen steht. Der Blick fällt auf eine Safe-Tür, metallgrün, zwanzig mal zwanzig Zentimeter.
Der Untersuchungsrichter kann eine gewisse Aufregung nicht verbergen, dennoch will er die Form wahren. Er wendet sich an Don Pepe. »Sie sind sicher, dass es Sie nicht zu sehr aufregt, wenn wir gemeinsam diesen Safe öffnen?«
Pepe schüttelt den Kopf. »Was auch immer es ist: Schlimmer als das, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, kann es nicht sein.«
Der Untersuchungsrichter steckt den Schlüssel mit den vielen Zacken in den Safe, dreht das Schloss, die Tür schwingt zurück.
Das Safe ist leer. Vollkommen und absolut leer.
Der Comandante wird weiß vor Enttäuschung und Scham. Der junge Polizist hingegen, Joan, pfeift durch die Zähne. Und hält sofort erschrocken die Hand vor den Mund.
Pepes Finger umklammern das Handgelenk seiner Frau. Margalida schaut den Untersuchungsrichter fassungslos an. In das betretene Schweigen hinein sagt sie, unüberhörbar einen Vorwurf in der Stimme: »Und nun, Doktor Ginard?«
Der Untersuchungsrichter seufzt, als er sanft die Safe-Tür wieder zudrückt.
»Nun, gnädige Frau, wird es wohl so sein, dassIhr verehrter Schwiegervater, und …«, er wendet sich mit einer kleinen, angemessenen Verbeugung an Don Pepe, »Ihr sehr verehrter Vater …«
»Hören Sie auf mit dem Schmus, er war nie sehr verehrt, das wissen Sie genau«, knurrt Pepe wütend. »Wenn er sehr verehrt gewesen wäre, hätte er nicht hier gelebt, oder? Abgesondert von seiner Familie. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann hätte mein Vater gestern als Ehrengast an der Hochzeit teilgenommen.«
Der Richter nickt bekümmert und reibt die Handflächen gegeneinander. Seine Fingernägel sind gelb, aber sorgfältig gefeilt. Er betrachtet sie aufmerksam.
»Was ich sagen wollte, Señor de Villalonga, ist doch nur, dassIhr Vater sein Geheimnis mit ins Grab nehmen wird.«
Doña Margalida pflückt eine Flaumfeder vom Jackenärmel ihres Mannes. »Und weißt du was, Pepe, ich denke, es ist gut so.«
Pepe knurrt. Er schaut sich in dem Zimmer um. Er betrachtet jedes Detail. Die schiefe Schranktür, die Kleidungsstücke, sorgfältig zusammengelegt, den Blick aus dem Fenster, er sieht die Wäschestücke auf der Leine, weiße Laken, die sich wie Segel im Wind blähen.
Er stellt sich vor, dass sein Vater sein Schiff besteigt, ein Boot mit großen, geblähten Segeln, das ihn hinunterbringt zum anderen Ufer, hinüber in ein Land, das kein Lebender betreten kann. Er sieht die Sonne, und das Boot, das dem Licht entgegensegelt. Am Bug sieht er die Gestalt eines kleinen, alten Mannes in einem schwarzen Anzug. Er hebt den Arm, als wollte er dem Boot und dieser kleinen, schwarzen Gestalt noch einmal zuwinken. Ein letztes Adieu, Papá.
Barsch fährt er den jungen Polizisten an, der ihm den Weg versperrt. Und betritt den Salon. Das Zimmer, in dem sein Vater fünfzig Winter, fünfzig Weihnachtsabende, Hunderte von Regen- oder Nebeltagen verbracht hat. Das Zimmer, in dem er saß, als Ysabel den Schoß ihrer Mutter verließ und vorher Anatol, oder noch früher – hat er da auch allein in diesem Zimmer gesessen, als Pepe und Margalida ihre Hochzeit feierten? Gab es damals schon diese scheußliche Kommode, diesen düsteren Schrank und den Sessel mit verschlissenem Samt? Hat irgendeine fremde Frau ihm eine Suppe gekocht, als er krank war, hat er hier an diesem Tisch gesessen über den Abrechnungen, den huldvollen Zuwendungen seiner Familie? In einem Zimmer, das in einen Patio führt, vollgehängt mit weißen Laken? Ein Patio, der erfüllt ist von der schrillen Stimme der Witwe Artigues, die ihre Zimmermädchen herumkommandiert, sie verdächtigt, sie beschimpft?
Pepes Brust schmerzt, als er sich umschaut. Drei Zimmer hat sein Vater bewohnt, während es in Els Sant Castells einen ganzen Flügel mit unbenutzten Räumen gibt, die ehemaligen Mönchszellen der Benediktiner, alle mit eigenem Abort und kleiner Loggia. Die Wohnung oben im Turm! Dort, wo seine Margalida ihr Büro eingerichtet hat – einen Raum, den sie nie wirklich gebraucht hat, außer um anzugeben –, hätte er wohnen können. Hier oben hätte sein Vater ein Adlernest haben können, über den Dingen thronend und dennoch weit genug von ihrem eigenen Leben entfernt. Mit dem Blick auf den Camí, der sich ins Tal windet, die Weinberge, die Obstplantagen. Im Februar hätte er im Duft von Orangenblüten Siesta gehalten, im Mai, auf einem Gang über die Felder, meinetwegen mit seinem Hund, hätte er roten Mohn und blaue Kuhschelle unter seinen Schuhen zertreten. Er hätte auf die Jagd gehen können. Palmen züchten. Mit seinen Enkelkindern Ausfahrten machen.
Stattdessen hatte er hier gesessen, in einem schäbigen, halbdunklen Zimmer, und was getan?
Geflucht? Gehasst? Von Rache geträumt?
Oder war er vielleicht froh, dieser Familie und der Verantwortung für so viel Land, so viel Besitz entkommen zu sein? Hatte er vielleicht Laster, denen er so besser frönen konnte?
Pepe denkt an die Huren, die er in dieser Gegend besucht hat, und fragt sich beklommen, ob eine, die ihn bediente, es vielleicht vorher seinem Vater besorgt hat. Er denkt an die vielen Spaziergänge, die er in diesem Viertel unternahm. An die tausend Möglichkeiten, bei denen er seinem Vater hätte begegnen können.
Und es wird ihm schwindlig. Er will sich aber nicht auf diesen Sessel setzen und nicht auf das Sofa. Er tritt an das Fenster und atmet den Laugengeruch zu oft gewaschener Laken ein.
»Wo bist du, Frau?«, ruft er.
Margalida läuft zu ihm hin, sieht, wie weiß er ist. Pepe steckt eine geballte Faust in seinen Mund, um nicht zu schreien.
Sie nimmt sanft die Hand, löst seine Finger einen nach dem anderen, behutsam wie eine Krankenschwester und zärtlich wie eine Geliebte, und sagt: »Ich bin doch hier, Pepe, ich bin doch bei dir.«
Ysabel begrüßt die Chicas am Eingang, rechts und links der alten Tür, die ins Haus führt. Chicas in uralten Töpfen, von denen die Glasur abgesprungen ist. Vierzig, fünfzig, vielleicht hundert Jahre alte Chicas. Die Lieblingspalmen der Mallorquiner, Bonsaipalmen, die pro Jahr nur ein, zwei Palmwedel hervorbringen, die in zehn Jahren nur zehn Zentimeter wachsen. Weil sie so klein sind, nennen die Mallorquiner sie wie ihre Kinder. Und pflegen und hüten sie wie ihre Kinder.
Ysabel streicht im Vorbeigehen mit der Hand über die harten spitzen Blätter der Palmwedel.
»Hallo Chicas«, sagt sie. »Hallo, wie geht’s?«
Sie begrüßt alles, was ihr bei ihrem ersten Rundgang auf Son Rafal begegnet. Sie sagt: »Hallo Brunnen«, und bewegt das Seil, das über die Winde läuft, beugt sich hinunter und sieht tief unten, zwanzig Meter unten, schwarzes, öliges Wasser, und darin einen hellen Fleck, den Himmel, der sich im schwarzen Wasser spiegelt, und in diesem hellen Viereck ihren Kopf.
»Hallo«, sagt sie. Und das dunkle Wasser gurgelt eine Antwort, als sie die Winde bewegt, und das Spiegelbild zerfließt.
Sie steckt den Schlüssel in die alte Tür, streichelt das Holz, die polierten Eisenknöpfe, den Eisenklopfer. Sie hält die Luft an, um das Geräusch der sich öffnenden Tür zu hören, ein leichtes, kaum vernehmbares Knarren, ein Ächzen. »Ja, ja«, sagt sie, »ich bin ja da.«
Im Haus ist es kühl und frisch. Es riecht noch ein bisschen nach Farbe und frischem Mauerkitt. Die Eichenholzfenster, vom Schreiner aufgearbeitet, sind mit neuen Haken versehen. Der Tisch in der Halle ist so groß, dass zwanzig Menschen daran Platz nehmen können. Auf dem Tisch eine Keramikschüssel, gefüllt mit trockenen Artischockenblüten. Ysabel geht zu dem Tisch, fährt mit den Händen über das glatt polierte Olivenholz und sagt feierlich: »Hallo Tisch.«
Alte Stühle, mit geraden Lehnen und geflochtenen Sitzen, schwarzes Holz. In der Ecke eine Truhe, der Anisgeruch entströmt, als sie den Deckel hebt. Kissen in der Truhe. Kelims in alten mallorquinischen Mustern. Kissen für die Schaukelstühle, die sie draußen auf der Veranda begrüßt hat, eine Laube, die mit wildem Wein umrankt ist.
Sie trägt die Kissen nach draußen und verteilt sie in die drei Schaukelstühle aus Bambusrohr. Sie setzt sich in einen der Stühle, lehnt den Kopf zurück und schaut. Ihre Hände streicheln die Lehnen. Ihr Kopf liegt auf dem alten Kissen, das nach Anis riecht. Anis blüht rechts und links vom Weg, überall hier oben. Die Luft ist frisch, mindestens fünf Grad kühler als unten im Es Pla. Kiefernduft. Und der Schrei eines Käuzchens.
Ysabel schaut in den Himmel und sieht einen Bussard, der langsam kreist. Das Käuzchen schreit.
Ihr Blick fällt auf einen Mirabellenbaum, in dem kleinen Garten hinter den Steinmauern.
Sie steht wieder auf, findet das Gatter, das in den Obstgarten führt. Pflückt Mirabellen und probiert sie. Die erste Mirabelle aus ihrem eigenen Garten. Süß und sauer zugleich. Saftig und frisch.
»Hallo Mirabelle«, sagt sie und streichelt die alte Rinde des Baumes.
Opuntien haben ein Viertel des Gartens erobert, an den langen Stacheln rankt sich eine blaue Winde empor, ihre Blüten leuchten wie das Meer zur Mittagszeit.
Auch hier im Garten ein Brunnen aus grobem Stein. Auch diese Winde ist frisch geölt, und das Seil gleitet leicht über sie hin.
Ysabel geht zurück in das Haus, öffnet Türen, geht durch Räume, stößt die Persianas auf und genießt den Blick aus jedem einzelnen Zimmer mit der gleichen Andacht, mit der sie früher in Museen Bilder betrachtet hat. Jeder Ausblick ein Kunstwerk, jedes Fenster ein Bild.
»Hallo Zimmer«, sagt Ysabel. »Hallo Berg. Hallo Baum. Hallo Wald.«
Sie läuft zurück, holt aus ihrer Tasche das Handy, wählt Felipes Nummer.
»Ja?«, fragt Felipe. »Was ist?«
Er weiß, dass sie es ist. Er hat ihre Nummer auf dem Display ablesen können. Und dennoch klingt seine Stimme, als spräche er bereits mit einem Klienten, oder mit dem Untersuchungsrichter Rafael Ginard, fremd und kühl und eilig.
»Felipe, ich bin in Son Rafal!«, ruft Ysabel. »Es ist unglaublich wunderschön hier. So unvergleichlich herrlich. Ach, ich …«
»Ysabel«, sagt Felipe, die Stimme gedämpft. Ysabel stellt sich vor, dass er mit dem Handy in eine Zimmerecke gegangen ist und den Rücken nun den anderen zuwendet, die mit ihm im Raum sind. »Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, mit dir darüber …«
»Du sollst ja gar nicht viel Zeit haben. Ich wollte es dir nur sagen, dass ich hier bin. Ich bin hier, in Son Rafal.«
»Das weiß ich doch. Das hast du mir doch heute Morgen schon gesagt.«
»Und es ist wunderbar, Felipe. Ich kann mich gar nicht lösen. Jedes einzelne Ding hier im Haus, jedes Möbelstück, es ist, es ist …«
»Ysabel, Darling.« Jetzt sagt er Darling. Das sagt er nur, wenn er wirklich im Stress ist und sie abwimmeln will, das kennt sie schon. »Wir sind hier mitten in einer äußerst wichtigen Besprechung.«
»Das bist du doch, seit wir geheiratet haben«, sagt Ysabel.
»Du verstehst das nicht.«
»O doch«, sagt Ysabel, »ich verstehe das. Aber trotzdem dachte ich, wir könnten wenigstens einen Augenblick …«
»Du willst es einfach nicht verstehen.«
Ysabel schweigt. Sie lauscht auf das Schweigen, das Felipe ihr schickt. Horcht auf seinen Atem. Versucht, sich das Zimmer vorzustellen, die anderen Menschen, die in dem Zimmer sind, das Gespräch, das sie gerade geführt hatten, als sie es unterbrach. Und sie stellt fest, dass es sie nicht interessiert.
»Okay«, sagt sie, tief durchatmend, »okay. Wahrscheinlich wirst du heute keine Zeit haben, hierherzukommen.«
»Ich habe dir gesagt, ich weiß es noch nicht, ich komme, sobald ich kann.«
»Gut, ja, ich verstehe.« Ysabel geht durch die Halle hinaus auf die Veranda, lässt sich in den Schaukelstuhl fallen und betrachtet die gelben Früchte am Mirabellenbaum. »Weißt du was, Felipe? Es ist egal. Du kannst kommen, wann du willst. Ich ruf nicht mehr an.«
»Schatz!«, ruft Felipe. Aber da hat sie ihn schon weggedrückt. Sie lässt das Handy auf den Boden fallen, schließt die Augen.
Ein Geruch, denkt sie, in der Luft. Ein wunderbarer, eigenartiger Geruch.
Sie streift die Sandalen von den Füßen, zieht die Beine an, umschlingt die Knie. Sie blinzelt in das helle Licht, das auf die Bäume fällt.
»Hallo«, sagt sie, »ich bin Ysabel.«
Zwei Wochen später sind die Mirabellen geerntet und zu Marmelade verarbeitet. Sie stehen, mit handgeschriebenen Etiketten von Ysabel versehen, auf einem alten Steinbord im Trastero hinter der Küche.
Ysabel hat einen Ventilator dort anbringen lassen, damit die Speisen und der Wein immer von einem frischen Lüftchen zugefächelt werden.
Vor den Fenstern im Schlafzimmer hängen Gardinen aus cremefarbener Spitze. Eine Schneiderin aus Galilea hat den Brautschleier so raffiniert zerteilt, dass es für alle vier Rundbogenfenster reichte.
Jessica ist wieder in London und schickt E-Mails an Ysabel und Felipe. Ihr Süßen, ich vermisse Euch so. Seit ich den Himmel über Mallorca kenne, ertrage ich das Londoner Wetter noch viel weniger. Schickt eine Nachricht, wie es Euch geht. London ist langweilig ohne Ende, wenn Ihr nicht da seid. Außerdem bin ich beleidigt, dass Ihr mir keine Mails aus Mexico geschickt habt. Gibt es nicht einmal Postkarten in diesem Honeymoon-Hotel? Oder seid Ihr vor lauter Liebe überhaupt nicht mehr aus dem Bett oder der Hängematte gekommen? Warum hört man nichts?
Ysabel hat einen alten Tisch vor das Fenster mit dem Blick auf den Puig Major gestellt. Und schreibt:
Meine Süße, wir sind gar nicht nach Mexico gefahren. Wir sind immer noch auf Mallorca und richten uns gerade auf der Finca ein, die Papá mir zur Hochzeit geschenkt hat. Das heißt, ich mache eigentlich alles allein, denn Felipe hat nur noch Zeit für seinen Vater.
Habe ich Dir erzählt, dass mein Schwiegervater unter Mordverdacht steht? Habe ich Dir erzählt, dass der alte Mann, der unsere Hochzeit störte, in der Kirche, Du erinnerst Dich – dass es mein Großvater war? Hier sind so viele Dinge passiert, und ich habe Mühe, einen klaren Kopf zu behalten.
Felipe sagt, ich muss die Dinge voneinander trennen. Aber wie geht das? Felipe sagt, ich muss vergessen, dass der alte Mann mein Großvater war. Oder ich muss vergessen, dass es mein Schwiegervater war, der ihn – so heißt es – wahrscheinlich umgebracht hat. Sonst, sagt Felipe, kann ich seinen Vater nicht mehr respektieren. Ich habe gefragt: Ist das so wichtig?
Mein Großvater ist tot.
Wir haben nun also einen Mörder in der Familie.
Mamá sagt, sie hat gesehen, wie Sureda den alten Mann brutal anfasste, dass er keine Luft bekam. Mamá sagt, sie hat gehört, wie es in seinem Hals geknackt hat. Seine Knochen hat sie gehört, sagt Mamá. Natürlich nicht, wenn Papá dabei ist. Papá sitzt in der Bibliothek über alten Büchern, wenn er sich nicht mit dem Notar trifft. Joaquin Bueno Perez hat all die Jahre dafür gesorgt, dass mein Großvater ein monatliches Geld bekam, aus dem Familienbesitz, und er hat diese Transfers vor uns verborgen! Kannst du dir das vorstellen? Weil es der Wunsch meiner Urgroßeltern gewesen ist. In einem Beiblatt zu ihrem Testament haben sie das festgehalten. Papá hat dieses Beiblatt jetzt erst zu sehen bekommen, fünfzig Jahre, nachdem man seinen Vater aus der Familie verbannte! Ich finde das Ganze so grotesk, so verrückt. Und noch immer weiß niemand, was eigentlich passiert ist. Papá sitzt in der Bibliothek und grübelt und alles mit mit hier hast hier über alles und über