In den mehr als zwanzig Jahren, in denen ich unterschiedlichste Pferde in den verschiedensten Ländern der Welt behandelt habe, sind mir viele Zusammenhänge deutlich geworden, von denen ich zuvor nicht gedacht hätte, dass es sie gibt.
Zwar waren mir auch als Kind schon immer wieder interessante Besonderheiten im Verhalten der Pferde auf der Weide und unter dem Reiter oder vor der Kutsche aufgefallen und einige weitere Verbindungen zwischen Mensch und Pferdewohl wurden mir bewusst, als ich besser reiten lernte. Aber eine solche Komplexität in den Zusammenhängen zwischen vermeintlich kleinen Auslösern und ernsthaften körperlichen Folgen für das Pferd, hatte ich nicht erwartet.
Wenn ich früher schon gewusst hätte, was ein zu hartes Anfassen im Maul oder ein Sporenstich tatsächlich für Auswirkungen auf das Pferdewohl haben kann, hätte ich noch sehr viel penibler darauf geachtet, wie ich mich als Reiter und im Umgang mit dem Pferd verhalte, als ich es aufgrund der bei uns geltenden strengen Regeln ohnehin schon tat.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es den allermeisten Reitern und Pferdebesitzern, deren Pferde ich im Laufe der Jahre „reparierte“, ganz genauso ging.
Das beinhaltet eine einigermaßen ernüchternde Erkenntnis:
Der weitaus größte Teil der von mir behandelten Blockierungen, der mentalen und körperlichen Beeinträchtigungen und Schäden sowie chronischen Erkrankungen der Pferde, hätte verhindert werden können.
Wenn mehr Wissen über das Pferd und die Kunst des Reitens vorhanden gewesen und dadurch bestimmte Fehler nicht passiert wären.
Wer über einige Zusammenhänge Bescheid weiß, zwischen Blockaden, Verletzungen und organischen Erkrankungen des Pferdes, aber auch zwischen der Art der Reiterei und der Art des Umgangs mit dem Pferd und den daraus resultierenden, teils massiven negativen Auswirkungen auf das Pferdewohl, wird sein Pferd mit anderen Augen sehen.
Wie schon mit meinem ersten Buch und mit all meinen anderen Veröffentlichungen, hoffe ich, durch die Weitergabe meiner Beobachtungen und Erfahrungen in diesem Buch etwas zum Wohle der Pferde bewegen zu können.
Denn ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Wissen und Bildung die besten Werkzeuge sind, um zu einer Reiterei zurückzukehren, bei der das Wohl des Pferdes im Mittelpunkt steht und der Reiter im Mittelpunkt der Verantwortung.
Anmerkung: Es handelt sich bei den Inhalten in diesem Buch ausschließlich um meine eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen, nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Inhalte sind für ein leichteres Verständnis kurz und einfach gehalten und werden daher absichtlich nicht in ihrer ganzen Komplexität erläutert.
Als ich Reiten lernte, war „Reiter zu sein“ eine Auszeichnung, die mit dem Befolgen außerordentlich strenger Regeln, Werte und Traditionen einherging.
Diese Regeln stellten, zusammengefasst, das Wohl des Pferdes in den Mittelpunkt aller Bemühungen und den Reiter in den Mittelpunkt der Verantwortung.
Ethisches Handeln im Sinne des Pferdes war mit dem Einhalten dieser Regeln und Werte selbstverständlich.
Die oberste lautete:
Der Fehler liegt nie beim Pferd.
Entweder hat der Reiter etwas falsch gemacht, eine Situation falsch eingeschätzt oder eine unklare Hilfe gegeben, oder er hat das Pferd überfordert, also etwas von ihm verlangt, dass es nicht zu leisten in der Lage war.
Mental oder körperlich.
Wer reiten will, muss zunächst einmal selber über die körperliche Fitness, das Können und die Selbstdisziplin verfügen, die es braucht, um die angestrebten Leistungen im Sattel zu erbringen, unabhängig davon, wie viel das Pferd schon gelernt hat oder kann.
Wer Reiter sein will, muss also die volle Verantwortung für das mentale und physische Wohl seines Pferdes übernehmen, bevor er überhaupt in den Sattel steigen darf.
Gegen diese Grundregel wurde nicht verstoßen.
Das ist heute leider vielerorts nicht mehr so.
Die Grundregeln haben sich verschoben.
Shifting baselines.
Das Shifting Baseline Syndrom ist ein in der Natur des Menschen liegendes Phänomen:
Menschen gewöhnen sich an die absurdesten Dinge und so werden sie langsam aber sicher zu der neuen, geltenden Realität. Das ist in allen Bereichen der Gesellschaft so.
In Bezug auf den Reitsport hat es nur leider fatale Folgen für die Pferde.
Lassen Sie uns daher kurz einen Blick auf die Entwicklung werfen, die letztlich zu dieser Verschiebung der Grundsätze geführt hat.
Früher war der Club der Reiter ein ziemlich überschaubarer Verein, aus dem einfachen Grunde, dass Reiten mit all der dazugehörigen Ausbildung, Ausrüstung und nicht zu vergessen den Pferden, extrem viel Geld kostete.
Reiten war dafür bekannt, dass man damit Geld verbrannte, aber nicht dafür, dass man damit Geld verdiente oder gar seinen Reichtum mehrte.
Das galt sowohl für die Reitlehrer, welche im Hauptberuf den gesamten Stall betreuten, inklusive der Versorgung der Pferde, als auch für die Sattler, die neben den Sätteln der feinen Gesellschaft auch deren Sofas und Sessel polsterten, als auch für die Schmiede, die nicht etwa nur die Pferde beschlugen, sondern auch die Zäune und Einfahrtstore der Anwesen fertigten, auf denen die Rösser grasten.
In dem Moment, in dem Reiten zu einem „Massensport“ wurde, änderte sich das schlagartig.
Reiten wurde plötzlich von einer Notwendigkeit (Kavallerie) und einem aufwendigen Hobby (siehe oben) zu einem eigenen Wirtschaftszweig, zu etwas, mit dem man plötzlich Geld, ja sogar seinen Lebensunterhalt verdienen konnte.
Es gab auf einmal eine so große Zahl an Menschen, die Reiter sein wollten, die also alle Pferde benötigten und Schmiede und Reitlehrer und Sattler, dass es plötzlich Schmiede und Reitlehrer und Sattler gab, die tatsächlich nur Pferde beschlugen, nur Reitschüler unterrichteten, nur Sättel polsterten.
Natürlich konnten auch die Pferdezüchter ihren Absatz vermehren und es bildeten sich neue Berufe in den Nischen dieser Entwicklung. Menschen, zum Beispiel, die ausschließlich mit der Ausbildung und dem Verkauf von Pferden ihren Lebensunterhalt bestritten.
All das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, nur wurden durch diesen Ansturm auf die Reiterei, die bestehenden komplexen Abläufe in der Ausbildung von Reiter und Pferd plötzlich zu zeitintensiv.
Sie waren den angehenden Reitern zu schwierig und/oder zu anstrengend und den Pferdeverkäufern, die nun meist identisch waren mit den Ausbildern der Pferde, zu teuer.
Je schneller man ein Pferd auf Turniere schicken konnte, desto schneller konnte man Geld damit verdienen.
Je schneller ein Pferd Lektionen beherrschte oder hohe Sprünge überwand, desto schneller und teurer konnte man es verkaufen.
Je schneller man einen zufriedenen Reitschüler „Erfolge“ sammeln lassen konnte, desto mehr Nachschub an Reitschülern bekam man, ergo: mehr Geld.
Denn die Zahl der Menschen, die einfach nur reiten wollten, weil sie schon immer davon geträumt hatten, auf einem Pferd zu sitzen, stieg unaufhörlich.
Immer mehr Menschen nutzten die Möglichkeit, ohne größeren persönlichen und finanziellen Einsatz und Aufwand „reiten zu lernen“, die sich hierdurch ergab.
Nun ist das allerdings so eine Sache.
Das Pferd ist ein kompliziertes Geschöpf und Reiten zu lernen ist ein sehr komplexer Vorgang.
Es dauert Jahre und braucht enorm viel Training, um einen einigermaßen guten, ausbalancierten, unabhängigen Sitz zu erarbeiten.
Ebenso lange dauert es in der Regel, die Reaktionsschnelle, die Selbstbeherrschung und das Wissen über die Feinheiten des Wesens des Pferdes zu erlangen, welche die Basis bilden, um ein Pferd so reiten und mit ihm umgehen zu können, dass es gesund bleibt und sich wohl fühlt.
Die Ausbildung eines Reiters lässt sich schon deshalb nicht vereinfachen und diese, nach außen hin funktionierende, „Verflachung“ der Reitausbildung war einer der wesentlichen Schritte hin zu einem Sport auf Kosten des Pferdewohles.
Der andere wesentliche Schritt dorthin, war die radikale Verkürzung der Ausbildung des Pferdes.
Dauerte diese früher bis zum Alter von sieben, acht Jahren an, mussten die Pferde nun bereits dreijährig an Wettkämpfen teilnehmen.
In einem Alter, in dem sie sich mitten im Wachstum befinden und buchstäblich weder mental noch körperlich auch nur annähernd ausgewachsen sind.
Heute müssen dreijährige Pferde anpiaffieren und über M Höhe springen, denn man muss ja sehen, ob die „Veranlagung“ da ist.
Als wäre das Anzüchten spektakulär aussehender Bewegungen ein Ersatz für die jahrelange Grundausbildung und Kräftigung eines Pferdes.
Der Fokus richtet sich ausschließlich auf Leistung:
Das Ziel ist ein möglichst schnell möglichst fertiges Pferd.
Die Grundausbildung des Pferdes, seine durchdachte, Jahre währende mentale und körperliche Stärkung und Gymnastizierung, ist jedoch das Einzige, wodurch verhindert werden kann, dass ein Pferd durch das Reiten Schaden nimmt.
Dies, die Abschaffung der Regel, dass ein Pferd bis es sieben, acht Jahre alt ist, als Remonte gilt und sich die Arbeit in dieser Zeit auf die Stärkung der Muskulatur und des Selbstvertrauens zu beschränken hat, war der zweite große Schritt hin zu einem Sport auf Kosten des Pferdewohles.
Trotz des vorhandenen Wissens, trotz aller Informationen. Im Sinne der Ethik die schlimmste Form unethischen Handelns.
Mit dem Befolgen der alten Richtlinien, Regeln und Werte, wäre weder die Vereinfachung der
Reitausbildung noch die Verkürzung der Ausbildung des Pferdes möglich gewesen.
Und somit verschwanden die wohl durchdachten Ausbildungskataloge der alten Reitmeister und Pferdekenner kurzerhand in den Schubladen der Kellerschränke der „neuen“ Reitlehrer, Bereiter und Verkäufer.
Aus den Augen, aus dem Sinn.
Kaum hatten sich die Schubladen hinter dem Wissen der echten, ursprünglichen Reiterei geschlossen, wurden diese Regeln kurzerhand durch Dinge ersetzt, die zwar nichts mehr mit dem Ziel der Gesunderhaltung des Pferdes zu tun hatten, es dafür aber jedem ermöglichten, auf entsprechend hoch gezüchteten und veranlagten Pferden innerhalb eines Jahres erfolgreich an Turnieren teilzunehmen.
Oder eben in der heimischen Reithalle mit eingerolltem Pferdehals stolz vor dem Spiegel hin und her zu reiten oder auf weggedrücktem Pferderücken und in die Luft ragender Nase durch den Roundpen und den Forst...
Die Pferde wurden zunehmend zu „Dingen“ degradiert, bei denen es nur um Bedienbarkeit, Lektionssicherheit und Springvermögen ging.
Wissen über das Pferd, seine Instinkte, seine feinen Sinne, seinen Organismus, wurde nur noch insoweit vermittelt, als dass „das Pferd zum Weglaufen neigt“, weshalb es oberste Priorität haben muss, die Kontrolle zu behalten.
Und da dies zu verhindern im ursprünglich reiterlichen Sinn, nur mit Geduld, Fleiß, klugem Handeln und Disziplin zu erreichen ist, etwas, das Zeit und Geld und persönlichen Einsatz von den Reitern verlangt hätte, wurde das Pferd kurzerhand zu einer Sache erklärt, die ein jeder mit bestimmten „Hilfsmitteln“ steuern und kontrollieren kann:
Anstelle von jahrelanger, disziplinierter theoretischer und praktischer Ausbildung, bekamen die Reiter nun einfach Knotenhalfter, Schlaufzügel, scharfe Zäumungen und Zwangsmethoden wie „Rollkur/LDR“ in die Hand gedrückt, als völlig selbstverständlichen Ersatz reiterlichen Könnens und Wissens sowie gewissenhafter Grundausbildung von Reiter und Pferd.
Sie bekamen am Sattel haftende Reithosen an den Hintern geschneidert und Sättel, die das Bein von selbst in Position halten und plötzlich war das, und der Strass an der Trense und den Stiefeln, wichtiger als die reelle Ausbildung.
Der ursprüngliche Sinn der Reiterei, die eigentlichen Werte, wurden immer mehr überlagert von Mitteln, mit denen die mangelnde Ausbildung kompensiert werden konnte.
Die Trainer hatten zufriedene Kunden, die mit stolzgeschwellter Brust auf ihren gezwungenen, gestressten, überforderten Pferden hohe Sprünge überwanden oder höchste Dressurlektionen „ritten“.
„Toller Ritt!“ hörte man dann.
Und die Pferde trugen die Konsequenzen.
Das tun sie bis heute, denn leider ist diese Art der Reiterei in den letzten Jahrzehnten zur Normalität geworden.
Shifting Baselines auf Kosten des Pferdewohls.
Es sind die Pferde, die unter dem unbalancierten Sitz, den am scharfen Gebiss zerrenden Händen, dem mithilfe der Schlaufzügel auf die Brust gezerrten Kopf, den Sporen, die sich bei jedem Schritt in ihre empfindliche Haut bohren, leiden.
Es sind die Pferde, die, da sie nicht gewissenhaft auf die Aufgaben vorbereitet werden, unter permanentem Stress, Überforderung und Schmerzen leiden, deren Bewegungsapparat verschleißt und die dann einfach ausgetauscht werden, wenn sie „kaputt“ sind.
Glücklicherweise wurde nicht überall so gehandelt und unterrichtet, aber die Mehrzahl der Reiter hat über Jahrzehnte hinweg so oder so ähnlich reiten gelernt und hält es für normal, dass Pferde eben Rückenschmerzen haben oder Genickbeulen oder Arthrosen.
Ein ganz klassisches Shifting Baseline Syndrom:
Durch die jahrzehntelange Vermittlung von falschen Grundsätzen, wurden diese langsam aber sicher zur Realität.
War es früher jedem klar, dass es etwa sieben bis acht Jahre dauert, ein Pferd auszubilden und mindestens genauso lange, um wirklich reiten zu lernen, gilt es heute als normal, dass Dreijährige aussehen, sich benehmen und Leistungen bringen, wie erwachsene Pferde.
Es gilt als normal, dass Reiter zu „Hilfsmitteln“ greifen, mit denen das Pferd gezwungen werden kann, wenn die Kommunikation mit dem Pferd mangels Wissens / Ausbildung nicht klappt.
Der „Horseman“ greift zum schmerzhaften Knotenhalfter und der scharfen Kandare, der Durchschnittsreiter zur „Hengstkette“ und Schlaufzügeln.
Es gilt als normal, dass Pferde mit der allergrößten Selbstverständlichkeit mit abscheulichen Methoden wie Rollkur / LDR unterworfen werden, die FEI, und das ist immerhin der Weltverband des Pferdesports, bezeichnet diese brutale Art der Pferdetortur gar als „Trainingsmethode“. (Dazu mehr auf Seite 28.)
Der Umstand, dass auf diese Weise tätige Reiter/Innen dann auch noch Weltmeisterschaften und andere große Wettkämpfe gewinnen, verschärft diese Normalität zu etwas Erstrebenswertem und findet entsprechend viele Nachahmer.
So wundert es auch niemanden mehr, dass die Lektionen zur Überprüfung der sorgfältigen Ausbildung von Reiter und Pferd aus den schwersten Dressurprüfungen gestrichen werden, weil die Reiter sie nicht mehr absolvieren können.
Ebenso gilt es als normal, dass zur Überprüfung derselben Parameter gedachte Hindernisse einfacher gestaltet werden, weil regelmäßig schlechte Reiter auf viel zu jungen, vollkommen überforderten (da nicht entsprechend ausgebildeten) Pferden an ihnen scheitern.
Das zeichnet natürlich ein Bild, das furchtbar schwer zu neutralisieren ist (Abb. 1 – 9).
Und genau das ist der Grund, warum wir alle uns mit dem Thema Ethik im Pferdesport auseinandersetzen müssen:
Es handelt sich nicht um eine Momentaufnahme aus der Vergangenheit, sondern ist der bis heute in großen Teilen der Reiterei anhaltende Zustand.
Und dieser Zustand hat für die Pferde massive gesundheitliche Konsequenzen.
Konsequenzen, die, wie wir im Verlauf dieses Buches sehen werden, weit über die Erkrankungen des Bewegungsapparates hinaus gehen.
Abb. 1: Ketten und Stricke statt Vertrauen und Partnerschaft.
(Bild: istockphoto)
Abb. 2: Schlaufzügel-Einsatz: Ausrüstung als Ersatz für Ausbildung. (Bild: istockphoto)
Abb. 3: Pferd im Fight or Flight Modus durch Zufügen von Schmerz. Fliegenohren und Polster unter dem viel zu eng verschnallten Nasenriemen sind kein Ersatz für reiterliches Können. Früher bekam man eine Kandare erst dann in die Hand, wenn man so gut ritt, dass man sie nicht benötigte.
Heute reitet man auf Kandare, weil man sein Pferd auf Trense nicht kontrollieren kann und angezogene Kandarenzügel gelten als normal.
(Bild: istockphoto)
Ich habe, um mir einen Eindruck davon zu verschaffen wie andere Menschen den Reitsport heute wahrnehmen, etwa hundert Personen (Reiter und Nicht-Reiter) gefragt, was für Begriffe ihnen bei dem Wort „Reiten“ als erstes einfallen.
Bei den Nicht-Reitern waren „Wendy.“ und „Hanni und Nanni.“ ziemlich häufig darunter, aber noch öfter fielen Begriffe wie:
„Tierquälerei.“ und „Hobby auf Kosten des Pferdes.“
Bei den Reitern dominierten Begriffe wie:
„Harmonie.“ „Partnerschaft.“ „Liebe zum Pferd.“
Weil ich neugierig war, ob und wie die Antworten der befragten Personen sich ändern würden, fragte ich dieselben Menschen anschließend, welche Begriffe ihnen spontan einfielen, bei der Kombination der Worte „Reiten und Ethik“.
Die Nicht-Reiter blieben bei „Tierquälerei.“, es war der meist genannte Begriff, gefolgt von Assoziationen wie:
„Verbissene, aggressive Reitergesichter.“
„Gestresste, verängstigte Pferde.“
„Übergewichtige Menschen auf gequält aussehenden Pferden.“
Bei den Reitern war das Ergebnis erstaunlich.
Nur durch das Hinzufügen des Wörtchens „Ethik“, veränderten sich die assoziierten Begriffe ganz erheblich:
„Werteverlust.“
„Geldgier / Profit.“
„Spannungstritte, feste Rücken und unnatürliche Bewegungen.“
„Zu früh zu viel.“
„Blood Rule.“
„Rollkur / LDR.“
„Zwang und Gewalt.“
„Falscher Ehrgeiz.“
„Mangelhafte Ausbildung.“
Zwei Dinge sind dabei bemerkenswert:
Erstens: Die befragten Reiter verbanden ausschließlich positive Begriffe mit dem Begriff „Reiten", waren sich gleichzeitig aber offenbar vollkommen bewusst, dass es mit der Ethik im Reitsport nicht weit her ist.
Zweitens: Weder bei den Reitern, noch bei den Nicht-Reitern wurden die Begriffe genannt, die ich persönlich mit Reiten verbinde:
Die vollumfängliche Verantwortung für das Pferd und die Verpflichtung, das Wohl des Pferdes zu jeder Zeit an die erste Stelle zu stellen.
Das gilt für die Haltung, den Umgang und jede Art von Reiterei.
Wer heute die Kombination der Worte „Ethik“ und „Reiten“ hört, denkt stattdessen offenbar sofort an in unnatürlichen Haltungen zusammengezogene Pferde, die mit auf die Brust gezerrter Nase verzweifelt die Augen nach vorne rollen, in dem Versuch, ihr Blickfeld zu erweitern, beziehungsweise überhaupt irgendetwas sehen zu können.
An Pferde, denen die Mäuler zugeschnürt wurden und die mit grober Gewalt und scharfen Zäumungen in Zwangshaltungen zu Leistungen gezwungen werden, die sie in dieser Haltung biomechanisch gar nicht erbringen können.
An mangelhaft ausgebildete Reiter, die auf viel zu jungen, viel zu schnell und fahrlässig ausgebildeten Pferden mit den schmerzhaftesten Zäumungen schwerste Springen bestreiten, an Pferde, die man oft nur im Galopp und Schritt zu sehen bekommt, weil sie im Trab für jeden Laien ersichtlich lahm sind.
An völlig verkrampfte Westernpferde, deren Rücken- und Kruppenmuskulatur knapp am Kreuzverschlag vorbei schlittert und die von den Cowboys auf ihrem Rücken mit Hilfe langer Kandarenaufzüge und noch längerer Zackensporen verbissen und unnachgiebig weiter von einem „Sliding Stop“ zum nächsten gezwungen werden.
An „Freizeitreiter“, die ohne vernünftige Reitausbildung und ohne eigene körperliche Fitness auf unbemuskelten Pferden „ihrem Hobby nachgehen“.
Abb. 4: Einsatz eines gedrehten Drahtgebisses für eine möglichst schmerzhafte Wirkung auf den empfindlichen Unterkiefer des Pferdes. An dieser Stelle ist der Knochen nur von Schleimhaut und dem Zahnfleisch bedeckt, der durch so ein Gebiss zugefügte Schmerz macht es denkbar leicht, dem Pferd zwecks Kontrolle das Maul auf die Brust zu ziehen. (Bild: istockphoto)
Abb. 5: Mangelhaft ausgebildeter Reiter, welcher dem Pferd das Gebiss durch das Maul zieht, aber Sporen an den Stiefeln hat. Letztere musste man sich früher verdienen. Heute gelten sie als selbstverständliche Grundausstattung jeden Reitanfängers. Auch hier scheint die Annahme zu gelten, Ausrüstung könne Ausbildung ersetzen. (Beispiel-Bild: istockphoto)
Abb. 6: Sliding Stop durch Einsatz der Westernkandare statt durch feine Abstimmung und Gewichtshilfen. (Bild: istockphoto)
Abb. 7: Nicht ausreichendes reiterliches Können mit einem so unbalancierten Sitz, dass sogar beim minimalen Vorbeugen zum Loben des Pferdes selbigem mit den langen Rädchensporen in den Bauch gestochen wird.
Unter anderem genau deswegen gab es früher erst dann Sporen, wenn man so gut ritt, dass man keine brauchte. (Bild: istockphoto)
Aus meinen Erfahrungen und Begegnungen mit Pferden, Reitern und Pferdebesitzern auf der ganzen Welt, mit Patienten, die vom „Freizeitpferd“ bis zum Teilnehmer an den wichtigsten internationalen Turnieren reichten, würde ich den Reitsport, wie er heute besteht, unter ethischen Gesichtspunkten im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen:
Zu der ersten Gruppe gehören ganz klar alle Reiter, die, obwohl sie es besser wissen und die Folgen ihrer Handlungen abschätzen können, dieses Wissen bewusst ignorieren.
Also beispielsweise all jene Reiter, die ihre Pferde nicht artgerecht halten, die, statt sie ganztägig auf großen Weiden laufen zu lassen, eine Stunde Bewegung in der Führmaschine für pferdegerecht erklären.
Die ihre Pferde grell füttern, um ein hohes Stresslevel und Tonnen überschüssiger Energie als Ersatz für die gründliche, Jahre dauernde Kräftigung und Ausbildung des Pferdes zu nutzen.
Reiter, die wissen, dass diese Ausbildung durch nichts ersetzt werden kann und der Verzicht darauf zu Lasten der Gesundheit des Pferdes geht.