Herausgeber:

Wenzel M. Götte • Christian Boettger • Claus-Peter Röh

Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen

Wagenburgstraße 6

70184 Stuttgart

© edition waldorf

Stuttgart 2019

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ISBN 978-3-939374-55-8

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Umschlagmotiv: Stefan Krauch, Sehnsucht nach einem sicheren Ort, 2013

Inhalt

Zur Einführung

von Wenzel M. Götte

Unsere Zeit stellt besonders der Pädagogik neue Fragen. So wird uns die sogenannte Digitalisierung auf verschiedenen Gebieten des Lebens mit neuen Fragen konfrontieren. Dazu gehört die Herausforderung: Wie können Kinder noch einen Weg zur Realität der Welt und der Natur finden angesichts der wachsenden Macht der Virtualität in ihrem Leben? Welche Kräfte braucht der Mensch im späteren Leben, wenn er vor das Problem gestellt wird: Wie kannst du dein Leben neben oder gar außerhalb der eindimensionaler werdenden Anforderungen der Arbeitswelt nicht nur fremdbestimmt, sondern aus eigenen Kräften schöpferisch gestalten?

Für die Kinder wird es immer notwendiger, sie die Welt in ihrer ganzen Sinnlichkeit erleben zu lassen. Das ist zunehmend auch eine Aufgabe der Pädagogik. Die Fähigkeiten zur Führung eines selbstbestimmten Lebens bedürfen einer Kraft, die nicht durch intellektuelles Training angeregt wird: es geht um die Kraft des Schöpferischen, wozu die Phantasie und die Gefühls- und Willenskräfte gehören, die zu Freiheit im schöpferischen Handeln führen können.

Der Schlüssel hierzu ist das Künstlerische. Entscheidend ist dabei auch, dass die Künste in der Schule selbst eine besonders wichtige Rolle spielen sollen, nicht aber ein Inseldasein führen dürfen. Der Kern ist jedoch, dass alles Pädagogische im Kindergarten, in der Schule „künstlerisch“ sein soll, ob es der Eurythmieunterricht oder der Mathematikunterricht, das Spielzeug, der Raum ist, alle pädagogischen Elemente gilt es künstlerisch zu durchdringen. Dann erst wird Erziehung „Erziehungskunst“.

Kultur durch Kunst

Im Jahre 1889 schrieb Rudolf Steiner in einem Aufsatz: „Das Bedürfnis nach der Kunst ist so alt wie die Menschheit …“ (Steiner 1961, 27). Tatsächlich: Kultur begann mit Kunst. Erst kam anatomisch die Aufrechte, die Umbildung des ganzen Knochenbaues über die Füße bis zum Kopf – u.a. durch die berühmte, 3,2 Mio. Jahre alte Lucy dokumentiert. Die Freiheit der Hände von der Last des Tragens wurde zur Urzündung für das menschliche Schaffen. Zunächst standen alle Verrichtungen unter dem Zwang der Nahrungsgewinnung, allgemein des Überlebens. Ein wesentlicher weiterer Schritt kam durch den Gebrauch der Hände zur Werkzeug- und Waffenherstellung. Aber schon hier ist zu sehen: Die Technik und die Form sowohl der Waffen als auch der Werkzeuge hatten nicht nur Nützlichkeitscharakter. Werkzeuge wurden schön, symmetrisch und schließlich sogar kaum noch zum Gebrauch geeignet gestaltet, wie das bei den sogenannten Faustkeilen der Fall war. Ihre Mandorla-Form mit zweifacher Symmetrie-Ebene war nicht mehr dem Werkzeugzweck geschuldet. Nicht nur zweckfreie Gegenstände wurden so geschaffen, auch die Waffen wurden künstlerisch bearbeitet. Was spricht sich in dieser Neigung zum Schönen, zur ästhetischen Gestaltung aus?

Die nächste gewaltige Stufe in der Entwicklung war der Schritt vom bloßen Nutzer der umgebenden Schöpfung zu eigenem schöpferischem Tun. Die Kunst entsteht. Der künstlerische Impuls ist der schöpferische Antrieb, Neues zu schaffen. Der Mensch erzeugt eine neue Schöpfung innerhalb der großen göttlichen Schöpfung, von ihm geformte Dinge, die es in der Natur nie gegeben hat. Er wird selbst zum Schöpfer.

Wir sehen das an den großartigen ersten menschlichen Kultur-Erzeugnissen, an den vor vierzig- bis zehntausend Jahren gefertigten Skulpturen und den erstaunlichen malerischen Schöpfungen in den Höhlen und an den Felsen, die wir vor allem aus dem Jungpaläolithikum, der sogenannten Eiszeit, kennen.

Mit diesem Fanal begann der Mensch, Kultur zu schaffen. Sein Denken veränderte sich. Er lernte Dinge zu schaffen, die weit über all das Gesehene, Erlebte hinausgingen. Er lernte Welten in seiner Phantasie zu erschaffen. Und dann die neue Welt seiner eigenen Produktion. Sein Denken eroberte Reiche jenseits des Gegebenen. Seine Phantasie, die Muse der Kunst, sein Wille und seine Tatkraft schufen neue diesseitige Reiche.

Intellektualisierung bedarf des Künstlerischen

Unsere technisch-wissenschaftliche Welt, unsere Wirtschaft, all das auch, was wir im engeren Sinn mit dem Wort Kunst bezeichnen – all dies wuchs aus diesem Aufbruch herauf zu der Welt, in der wir heute leben.

Reines Verstandesdenken schafft Ordnung im Bestehenden, aber nichts Neues. Dazu bedarf es der Phantasie. Über das Vorhandene hinausdenken, kreativ konstruieren, planen, erfinden – dazu ist mit dem schaffenden Willen verbundene Phantasie notwendig.

Beobachten wir Kinder, wie sie spielen im Sandkasten, mit irgendwelchen Hölzern, Steinen, etwas Wasser vielleicht: Es bedarf keiner aufgeregt anregenden erwachsenen Person, die Einfallslosigkeit und Langeweile bei den Kindern befürchtet, um diese in ein reges Spielen, Bauen, Gestalten, Pläneschmieden, Probieren zu versetzen. Kinder haben diesen „Spieltrieb“ natürlicherweise in sich. Und wenn wir die Dimension ernst nehmen, die dieser „Trieb“ in Wirklichkeit hat, dann geht es ganz zentral darum, ihn zu erhalten, anzuregen, ihm die Chance zu geben, sich bis in alles Arbeiten, in das spätere Leben zu entwickeln, zu metamorphosieren (Steiner, 1979, 21 ff.).

Anstelle von langen Ausführungen möge hierzu eine aufschlussreiche Anekdote stehen. David Hilbert, einer der großen Mathematiker, erhielt die Nachricht, einer seiner Assistenten habe seinen Beruf gewechselt, er sei Dichter geworden. Hilberts Kommentar: „Für die Mathematik hat ihm ohnedies die Phantasie gefehlt.“

Man darf davon ausgehen, dass das Spielerische – was nicht etwa in Gegensatz zu Ernst und Sorgfalt gesetzt werden darf – in jeder anspruchsvollen Arbeit ein wichtiges Element ist: „Denn beim Kinde ist das Spiel die ernste Offenbarung des inneren Dranges zur Tätigkeit, in welcher der Mensch sein wahres Dasein hat“ (Steiner 1961, 290). So ist es einerseits überraschend, wenn ein Spezialist für Luftfahrttechnologie und Autor zu künftiger Luftkriegsführung, Walter B. Scott, über Nachwuchsprobleme der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie äußerte, dass die entsprechenden Technologien neben anderen Fähigkeiten insbesondere Kreativität erforderten. Hier herrsche bei dem Nachwuchs ein gravierender Mangel. Gestützt auf entsprechende Studien führte er diesen Mangel u.a. auf die Wirkung der elektronischen Bildmedien zurück, die verhinderten, dass sich die für Kreativität und Imaginationsfähigkeiten notwendigen Gehirnareale ausbildeten. Kinder bedürften einer intensiveren Pflege von literarischer Bildung und vielfältigen Möglichkeiten zum freien Spiel (Scott, in Rittelmeyer 2007, 17).

Was ist „künstlerisch“?

Es gibt viele Theorien über Ästhetik. Steiner hat sich mit den in seiner Zeit formulierten Ansätzen befasst (Steiner 1961). Er erwähnt den Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) als den eigentlichen Begründer einer philosophischen Ästhetik. Die Tatsache, dass sich seitdem alle Philosophen mit Ansichten zu Kunst und ihren Schöpfungen äußerten, führt er auf die Kluft zurück, die entstanden sei zwischen einer Naturwissenschaft, die den Geist nur in Abstraktionen, nur als Idee zu erfassen vermag, und einer Naturanschauung, die in der bloßen Sinnlichkeit nichts Göttliches mehr erblicken kann. Er sieht die Notwendigkeit eines Reiches der Kunst, das, vom Menschen geschaffen, das Material aus der Natur und „den Reichtum des entwickelten Geistes“ (Steiner 1961, 30) durch sein künstlerisches Schaffen verbindet. Was Steiner wichtig ist: Im Kunstwerk lebt das Geistige als individuell schöpferisch Gestaltetes. Es ist nicht irgendeine „allgemeine Wahrheit“, die sich in ihm offenbart. Daher verwendet er auch später in seinen pädagogischen Schriften und Vorträgen vorwiegend den Ausdruck „künstlerisch“. Darin ist nicht nur ein Adjektiv, das definierbar eine allgemeine Eigenschaft bezeichnet, zu sehen, sondern ein aus individueller innerer Tätigkeit, schöpferisch in einem Medium Gestaltetes. So sieht er auch die Versuche, die Kunst zu beschreiben als Weg zu höheren, allgemeinen Wahrheiten, als verfehlt an (vgl. Hegel, Schelling, F. Th. Vischer, G. Th. Fechner u.a.).

Im Folgenden sollen einige Gedanken hierzu die Forderung Steiners verdeutlichen. Alles, was in der Schule geschehe, solle künstlerischen Charakter haben.

Wenn Steiner die Intellektualisierung unserer Zivilisation beklagt (Steiner 1961, 282), so nicht, weil diese nur eine negative Entwicklung wäre –, denn woher sollten all die unser Leben so viel leichter machenden technischen Geräte kommen, die enormen Fortschritte in manchen Bereichen der Medizin usw., wenn nicht aus all den überragenden Verstandesleistungen unserer Wissenschaften? Allerdings dürfte sich die Einschätzung differenzieren, wenn es um Pädagogik geht, um die Frage, wie Kinder und Jugendliche mit all ihren reichen, entwicklungsfähigen Anlagen gefördert werden sollen. Da gilt Steiners Diktum: „Der Verstand wird an der Kunst erst zum wahren Leben erweckt“ (Steiner 1961, 291). Wir finden heute immer wieder wissenschaftlich bestätigt, dass die Aufnahme von etwas zu Lernendem durch die Eigentätigkeit und das seelische Erleben entscheidend gefördert wird.

Das ist das eine Element des Künstlerischen, dass es das eigene Schaffen anregt, aus diesem hervorgeht. Um einen Baum kennenzulernen, muss man ihn sehen, bewusst, aktiv. Man muss seine Rinde anfassen, ertasten, versuchen ihn zu umfassen, und wenn man ihn gezeichnet hat, vielleicht dann noch einmal betrachtet, wird sich das Einzelne, Erlebte, tief in das Gedächtnis einprägen und mit dem Sinnlich-Seelischen des Menschen verbinden. Ein zweites Element ist, dass dieses Schaffen verbunden ist mit der Beteiligung des ganzen Menschen. Der schaffende Wille ist in diesem aktiven Kennenlernen, das eigentlich ein Nachschaffen ist, beteiligt. Darüber hinaus wird sich etwa beim Zeichnen oder der sprachlichen Darstellung zeigen, wie alles auch mit dem Gefühl, der Freude, dem Staunen, der Sympathie oder auch Antipathie verbunden ist. Das heißt., dass das Künstlerische, das Ästhetische auch immer mit Beteiligung des Seelischen einhergeht. Dann wird als Drittes die Kenntnis, so verbunden mit dem Menschen, sich weiter entwickeln lassen zu einer Erkenntnis, die mit den Mitteln des Denkens die Sache begreift.

Sinne wirken

Man kann von der These ausgehen: Alles, was wir über die Sinneswahrnehmung aufnehmen, bringt Wirkungen im Leib hervor. Der Leib lebt – meist – unbewusst mit, was wir bewusst oder unbewusst sehen, hören, riechen, schmecken usw. Diese Tatsache ist Gegenstand einer Forschungsrichtung, der sog. Embodiment-Cognition-Forschung, die eine Fülle von Nachweisen dafür erbracht hat (Rittelmeyer 2014). Und wenn es auch nur ein solcher Vorgang ist: Wenn ich eine gezeichnete Comic-Grimasse betrachte, antwortet die Mimik-Muskulatur mit Bewegungsimpulsen in genau den Muskeln, die mich eine solche Grimasse schneiden lassen (Rittelmeyer 2014, 92). Diese Erkenntnisse fordern Konsequenzen für die Gestaltung der räumlichen Umgebung für Kinder in Kindergärten wie in Schulen. Diese Erkenntnisse genügen jedoch noch nicht, um darauf pädagogisches Handeln zu gründen. Sie helfen aber, um unser Augenmerk weg vom bloß vordergründigen Nützlichkeits- und Kostenaspekt auf entwicklungsfördernde, ja lebensnotwendige Gesichtspunkte der Gestaltung von Schule zu richten. Machen wir uns klar: Wenn es um Pädagogik geht, werden wir alles unter die Lupe nehmen müssen, was den Kindern und Jugendlichen im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule sinnlich begegnet. Es handelt sich um Begegnungen mit Wirkung.

Raum gestalten

Wir können einen Kindergarten oder eine Schule als eine Art Zwiebel vorstellen: von außen nach innen lauter Hüllen – und mittendrin das Kind. Morgens kommt das Kind und sieht von der Straße aus die Landschaft des Schulgeländes: Büsche, Bäume, ein schönes Eingangstor, ein geschwungener Weg führt hindurch zu dem Schulhaus. Dieses steht die ganze Zeit, bis es betreten wird, im Blick des Ankommenden. Sicher wird die Gestaltung des Äußeren vielleicht überhaupt nie bewusst wahrgenommen. Jeder aber, der hier zur Schule gegangen ist, wird in seinen späteren Erinnerungen das Gebäude wiederfinden. Seine Formen und Farben, sogar Gerüche haben sich tief eingeprägt. Schon hier können Wirkungen bis in die Leibeskonstitution konstatiert werden. Hierzu gibt es überzeugende Untersuchungen, bei denen etwa Gebäude, bei denen alles symmetrisch, in der Linienführung gerade, rechteckig, quadratisch, parallel, wie die Aufstellung auf einem preußischen Exerzierplatz ausgerichtet ist, sich deutlich absetzen in ihrer Wirkung von lebendiger gestalteten Formen.

Das Kind betritt durch die Eingangstüre den Innenraum. Wie fühlt sich der Türgriff an, welch ein Raum empfängt die Kinder. Ist es ein Empfang, oder wird nur durch- und weitergeleitet. Die Flure – sind sie eng oder weit, nur ein Schlauch, wie sind sie ausgeleuchtet? Wir haben in einer Schule die Erfahrung gemacht, dass wir nach einem Umzug in ein neuerbautes Schulhaus nicht mehr das Geschrei und das nachunterrichtliche Hinausrennen in den Fluren beobachteten, weil sie nicht nur Weite, sondern auch Licht von außen, Ecken mit Pflanzen, Vitrinen und Sitzgelegenheiten hatten.

Dann kommt das Klassenzimmer. Seine Form, die Deckenformen gestaltet, die Beleuchtung, der Schmuck, Pflanzen, die Sauberkeit, der Geruch – alles dies wirkt. Nicht aber zu vergessen: die Farbgestaltung hier und im ganzen Haus. Treppenaufgänge, Zwischenstock-Absätze und vieles mehr – alles wirkt auf die Kinderseelen. Bis auf den Herzrhythmus, bis in den Blutdruck, die Körperwärme (Rittelmeyer 1994).

Alles, was den Raum betrifft, soll „schön“ sein, was bedeutet: lebendig, bewegt und bewegend, aber auch Ruhe stiftend, was nicht bedeutet „süßlich“ oder nur „harmonisch“ – Kontraste, Geborgenheit vermittelnde und offene Partien in der Raumgestaltung, Wagnisse in der Architektur gehören auch hinzu.

Zeit gestalten

Nicht nur der Raum, auch die Zeit erfordert Gestaltung. Hier kennen wir vieles auch Krankmachende aus der Arbeitsphysiologie. Anstrengende intellektuelle Arbeit in der Zeit am späten Vormittag, wenn die Leistungskurve sinkt, bedeutet gegen den gesunden, natürlichen Rhythmus zu verstoßen. Auch hat sich gezeigt, dass Hetze, zu kurze Pausen zwischen den Stunden, das Aggressionspotenzial erhöhen. Die Gliederung einer Unterrichtsstunde, so dass sie ein „Ein- und Ausatmen“ ermöglicht, die Gliederung eines Tages, einer Woche zu einem Bogen mit Anlauf, Höhepunkt und Auslauf, Besinnung, Rückblick usw. wie auch die Gliederung eines Jahres mit seinen Unterrichtsepochen, Festen, in vielen Waldorfschulen auch die Monatsfeiern gehören dazu. Die Ästhetik einer Zeitgestalt hat auch einen hygienischen, salutogenetischen Aspekt.

Im Innersten der „Zwiebel“: die Begegnung mit dem Menschen. Die Klassenkameraden, die Lehrerinnen und Lehrer, der Unterricht. Über den Unterricht und darüber, was ein guter Unterricht sein könnte, ist viel geschrieben worden und immer wieder auch Neues. Hier soll ein Aspekt hervorgehoben werden, der gewöhnlich weniger im Zentrum der Darstellungen steht, wenn es dabei u.a. auch um die Frage des Lernens, Verstehens und Behaltens geht: Es ist die Frage nach dem Künstlerischen des Unterrichtens selbst. Bei dieser Frage stoßen wir auf etwas, was wir durchaus als einen Kern der Waldorfpädagogik bezeichnen dürfen, mit einem Wort von deren Begründer: „Das Lehren selbst muss ein Kunstwerk, kein theoretischer Inhalt sein“ (Steiner 1961, 288).

Unterricht aus Menschenerkenntnis

Das Künstlerische in der Waldorfpädagogik bezieht sich sehr wohl auf die Achtsamkeit, die den äußeren Gestaltungen gewidmet wird. Der Anspruch richtet sich aber mindestens ebenso auf die Art, wie der Unterricht gehalten, wie mit den Schülern umgegangen wird.

Bei den kurzen Bemerkungen, die bis hierher gemacht wurden, sehen wir schon, dass es darum geht: Wie wird die fühlende Seele der Kinder und damit auch das sinnlichleibliche Erleben angesprochen, wie weit wird der Geist angeregt, geweitet und nicht nur oberflächliche Nützlichkeit praktiziert bei der Gestaltung der Lebensumgebung der Kinder und Jugendlichen, in der sie einen großen Teil ihres Lebens verbringen.

Das Künstlerische steht nicht neben dem „wirklich Wichtigen“ – es ist die Quelle der Kultur. So wie es nicht „Kunst am Bau“ geben sollte, sondern künstlerisches Bauen, so auch nicht Kunstfächer nur neben MINT-Fächern oder Fremdsprachunterricht. Die Waldorfpädagogik bietet selbstverständlich auch Kunst in gesonderten Fächern an, die ebenso wichtig genommen werden wie die übrigen. Der Wurf aber, den Steiner intendierte, war auf ein noch weiter gelegenes Ziel gerichtet: Alles Pädagogische soll künstlerisch sein, vom Äußeren bis ins Innerste.

Dabei warnte er davor, alles dem Nützlichkeitsgedanken unterzuordnen. Die Frage, welche Künste welche Fähigkeiten jenseits der für diese selbst notwendigen entwickeln könnten, hielt er für wenig zielführend (Steiner 1961, 291). So würde die Frage, ob Musik die Kinder intelligenter oder sozialfähiger mache zu dieser Art zwar berechtigter, aber reduktionistisch auf Utilität beschränkter Aspekte gehören. Eine Forschungsrichtung hat sich heute auf diese Aspekte spezialisiert, die sog. Transferforschung (Rittelmeyer 2010).1 Steiners Pädagogik zielt aber nicht auf solche Einzelaspekte. Ihm geht es um einen Weg in der Pädagogik, der die Einseitigkeit fortschreitender Intellektualisierung im Unterricht bricht.

Die Forderung richtet sich an die Lehrer. Wie muss ein Unterricht angelegt sein, um dem Ziel nahe zu kommen? In einfachster Weise hat Steiner das für die ersten angehenden Lehrer – im Hinblick auf den Unterricht in der Unterstufe so formuliert: „Wir sollen daher nicht versäumen, so zu unterrichten, dass […] im höheren menschlichen Sinne der Unterricht wirklich für das Kind eine Art Genießen ist …“ Dies könne sich aber leicht „ins Hausbackene verzerren“. Da helfe nur, „wenn der Lehrer, der Unterrichtende, sich selbst fortwährend herausheben will aus dem Hausbackenen, Pedantischen, Philiströsen. Das kann er eigentlich nur dadurch, dass er nie versäumt, seine Beziehung zur Kunst recht lebendig sein zu lassen“ (Steiner 1992, 143).

Die Dimension, um die es geht, wird von Steiner aber noch tiefer gegriffen. Was in den Schülern angelegt werden soll, ihre eigene schöpferische Natur entfalten zu können, ist zuerst Aufgabe einer Arbeit der Lehrer an sich selbst. Sie sollen einen ästhetischen Sinn, ein ästhetisches Bewusstsein entwickeln, das ermöglicht, „Erziehungskunst“ zu entwickeln.

Das Künstlerische in der Pädagogik

Folgt man Steiner in seiner Interpretation des Künstlerischen, so stößt man vor allem auf die Sichtweisen Goethes und Schillers. Schiller, als wahrer Interpret Goethes, hatte in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (Schiller 1959, 570 ff.) im Kern herausgearbeitet, wie der Mensch aus dem Diktat des „Stoffes“ (Stofftrieb) einerseits und dem der „Vernunft“ (Formtrieb) andererseits im freien Spiel ein „Drittes, Neues, Höheres, Unerwartetes“ (Goethe 1963, 173 f.) aus dem „ästhetischen Gemüt“ das Kunstwerk schaffen solle – ganz in das Reich der Schönheit und Freiheit aufgehend.

Für das pädagogische Handeln gilt freilich, dass wir es hier mit drei Aspekten zu tun haben: dem lehrenden Menschen, dem lernenden Schüler – und dem, was wir als „Stoff“ bezeichnen. Die „Behandlung“ des Stoffes kann in dem Sinne als „ästhetische Aufgabe“ gesehen werden, als hier das schöpferische, freie Gestalten aus den Bedingungen des Stoffes und den Fähigkeiten des Lehrenden ins Spiel kommt. Allerdings wäre das noch ohne die Teilnahme des dritten, des lernenden jungen Menschen gedacht. Hier erst kann der Lehrende ganz zum Künstler werden, wenn er den Stoff, sich selbst und im Zentrum befindlich den jungen Menschen mit seinen Bedingungen und Bedürfnissen in die Gestaltung als mitwirkendes Element ganz einweben kann.

Es sind also drei Aufgaben zu lösen. Die eine betrifft den Stoff, um den es im Unterricht geht. Dabei geht es nicht nur darum, schlicht parat zu haben, was man den Schülern „beibringen“ will. Die Aufgabe besteht darin, sich so intensiv mit den Tatsachen zu befassen, dass sie mit allen Aspekten angeeignet werden, gleichsam zum Bild werden, das innerlich anschaubar wird. So dass man die Darstellung aus dieser tief innerlichen Verbindung heraus neu und frei hervorbringen kann – so wäre also beispielsweise wichtig, eine Kunst der Darstellung zu entwickeln. Freiheit in der Gestaltung des Stoffes ermöglicht die Freiheit, situationsgerecht auf die Bedürfnisse der Schüler einzugehen. Die zweite Aufgabe wäre die fortwährende Arbeit an sich selbst, wie sie angedeutet wurde. Wobei hinzukommt, dass alle Voraussetzungen in permanenter Arbeit an sich selbst geschaffen werden müssen, die unsere elementaren Fähigkeiten für den Umgang mit den Schülern betreffen. Dazu gehören Konzentrationsfähigkeit, um den „roten Faden“ im Unterricht zu halten, Initiativfähigkeit für das Handeln, die Neues an Einfällen, Intuition im Umgang mit den Schülern zulässt, Gelassenheit in den verschiedensten Situationen, denen wir begegnen. Weiter bedarf es einer positiven Grundhaltung den jungen Menschen gegenüber, die alle Neigung zu unpädagogischem Kritisieren und pedantischem Ordnungsfanatismus vermeidet und – nicht zuletzt, bedarf es der Offenheit gegenüber dem, was offen oder verborgen in den Schülerindividualitäten lebt, denn sie sind Zukunftswesen und wir sind diejenigen, die ihnen helfen, ihre eigene Zukunft erst zu gestalten und zu entwickeln (Steiner 1997, 55 ff.).2 Die dritte Aufgabe betrifft die Erarbeitung einer lebendigen, tiefgehenden Erkenntnis der Menschenkunde, die die Grundlage für ein Verständnis des sich entwickelnden Menschen sein soll. Sie erfordert ein Sich-Vertiefen in die Entwicklungsvorgänge und -bedingungen für das Seelische, für das Geistige und das Leibliche und schließlich deren Zusammenwirken in den Kindern und Jugendlichen (Steiner 1992). Für die Waldorfpädagogik sind für ein solches Studium nicht nur eine Fülle von Anregungen in dem umfangreichen Werk von Steiner zur Pädagogik enthalten, sondern auch in der weiteren Ausarbeitung der Pädagogik durch die praxiserfahrenen Waldorflehrer seit Steiner. Dieses Studium soll die Sensibilität der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit für die einzelnen individuellen Schüler und ihre Entwicklungsbedürfnisse anregen. Es soll die Basis dafür sein, dass schließlich im Unterricht zusammenfließen können die Inhalte des Unterrichts, die Wirkung der Persönlichkeit der Lehrer und die Individualität der Schüler.

Das Gelingen eines Unterrichts bleibt dabei immer auch ein Risiko, ein Wagnis, denn Routine kann daraus nicht entstehen. Doch darin liegt eben auch die Freiheit der pädagogischen Arbeit, dass diese drei Elemente in einer freien Handlung sich verbinden können. Es könnte das insofern missverstanden werden, als ob daraus Willkür entstehen könnte. Nein, wie in der Kunst ist auch hier das Künstlerische die freie Gestaltung aus den Bedingungen des Stoffes, den Gesetzen der Form und dem individuellen Willen des Künstlers heraus.

Das Künstlerische (Ästhetische) in der Pädagogik ist nicht die Manipulation des Kindes oder Jugendlichen durch die Lehrenden zum Zwecke des Hervorbringens eines zum Edlen, Schönen bestimmten, fleißigen, intelligenten, nützlichen Menschen. Das Künstlerische soll dem jungen Menschen dienen, indem es in ihm die Kräfte anregt, die ihn aus sich selbst heraus zur Entwicklung bringen. Die Aufgabe ist nicht, den jungen Menschen zu „bilden“ oder zu formen. Bildung würde also heißen: geeignete Anreize geben, die die schöpferischen Kräfte hervorlocken, die das Kind, die Jugendlichen sich selbst bilden lassen.

Die Aufgabe der Lehrenden ist dabei, sich eine Ahnung zu verschaffen darüber, was in dem jungen Menschen zur Entfaltung kommen möchte und sich die Mittel zu verschaffen, die für diese „prophetische“ Aufgabe geeignet sind.

Dafür bedarf es beim Lehrenden der Ausbildung von Wahrnehmungsorganen höherer Art, das heißt von Fähigkeiten, durch liebevolle achtsame Beobachtung Empathie so weit zu entwickeln, dass die dem Wesen des Kindes gemäßen Handlungen daraus hervorgehen können. Dem dient die Beschäftigung mit der „Menschenkunde“. Beschäftigung heißt Studium der allgemeinen Gesetze des Heranwachsens des Menschen und der besonderen Bedingungen der einzelnen Individualität. Studium allein führt aber noch nicht zu dem Handeln, das erforderlich ist, um die Anregung zur Selbstbildung positiv zur Wirkung zu bringen. Denn ein Studium kann damit enden, dass man sich einen Strauß von Erziehungsprinzipien aneignet, die man in der Praxis „zur Anwendung bringt“ und damit dem individuellen Wesen des Kindes oder Jugendlichen Gewalt antut.

So fehlt also noch etwas beim Studium, das dieses fruchtbar macht für die Erringung einer Erziehungs-Kunst. Steiner stellt erziehungswissenschaftliches Studium dem Handeln aus pädagogischem Instinkt gegenüber (Steiner 1979, 9 ff.). Beide sind nicht zureichend, um zu einer Erkenntnis des Wirkens des Geistigen, des Wesens des Menschen in seiner ganzen existenziellen Verfasstheit vorzudringen. Der Sinn, mit dem man von der Abstraktheit der Ideen zu einer lebendigen Anschauung des menschlichen Wesens gelangt, sei, so Steiner, „der künstlerische Sinn“, derselbe, der uns das Auffassen der Kunst ermöglicht (Steiner 1979, 18 ff.). Dieser kann uns „jenes Scheinen des Geistes in der Materie“ geben, das auch zu einer „wahren Menschenerkenntnis“ wird, die in jeder ihrer Anschauungen zu gleicher Zeit „Wille, Tätigkeit“ ist. Diese Menschenerkenntnis geht über „in künstlerisch-pädagogisch-didaktische Gesinnung“, schafft uns „jene Gesinnung, in der diese Menschenerkenntnis als Liebe lebt“. Kurz: so wird Menschenerkenntnis „pädagogische Kunst“.

Die Organe, die gebraucht werden, um eine Ahnung oder Erkenntnis der Bedürfnisse des Schülers zu bekommen, müssen selbst zur Entwicklung gebracht werden. Das ist die Entwicklungsaufgabe, die die Lehrenden sich selbst stellen müssen. Das geistigseelische Milieu, in dem diese Entwicklung gefördert wird, entsteht durch die meditative Vertiefung (Steiner 1972, 50 ff.).

Dies gilt auch in Bezug auf die Mittel, das heißt den Stoff, die didaktischen Handhabungen. Studium, Erleben, Sich-ergreifen-Lassen, sinnende Vertiefung als Vorbereitung des Stoffes.

„Stoff“ und „Idee“ sollen nicht in ihrer rohen bzw. abstrakten Form als Unterricht zur Erscheinung gebracht werden. Beides ist weder individuell noch originell. Beides muss gestaltet werden, erst durch einen schöpferischen Vorgang Gestalt bekommen. Denn dann erst wird es authentisch, lässt den Schüler den Lehrenden als Persönlichkeit erleben, als realen Menschen, zu dem er eine innerliche Verbindung aufnehmen kann. Alles muss durch den Menschen, der unterrichtet, durchgegangen sein. So erst kann das Wissen sich aufschließen und die Schüler sich anschließen lassen. Das Humanum des erlebten und durchlebten Wissens ist die Brücke zu ihm. Alles andere kann eine Maschine leisten. Es ist menschliche Wärme und Kälte, Nähe und Distanz. Nicht nur aus der Quelle von Stoff, Idee und Lehrerseele, sondern auch aus der wirkend erlebten Nähe zu den Menschen, auch den einzelnen, an die es sich richtet. Es ist die Atmosphäre, die entsteht in einem gemeinsamen physischen und seelischen Raum, in dem zusammenströmen die Erlebnisse, Stimmungen, Erfahrungen, Fragen, Sorgen und Nöte etc., die die Unterrichtenden und die Schüler mitbringen, in der „Unterricht“ entsteht.

Dieses Gestalten aus diesen Elementen ist schöpferisch, ist künstlerisch, das ästhetische Element der Pädagogik. Es ist ihr eigentliches „Wie“, das das „Was“ verwandeln muss.

In der Schule ist alles „pädagogisch“. Was oben gesagt ist, gilt in abgewandelter Weise für alles, was sich in der Schule bewegt und nicht bewegt – auch die Gebäude und die Raumgestaltung, auch die Zeitgestaltung ebenso wie alle „Fächer“. In ihnen muss sich das Prinzip „Ästhetik“ jeweils in besonderer Weise brechen.

Zusammengefasst wird das bei Steiner wie folgt:

Die pädagogische Kunst kann nur auf echter Menschenerkenntnis beruhen. Und diese wird nicht eine vollendete sein können, wenn sie sich in einer bloßen Betrachtung erschöpft. Man lernt das menschliche Wesen nicht in einem passiven Wissen kennen. Was man über den Menschen weiß, muss man wenigstens bis zu einem gewissen Grade als das Schöpferische des eigenen Wesens empfindend erleben; man muss es im eigenen Wollen als wissende Tätigkeit erfühlen […] Wird, was hier gemeint ist, Gesinnung des Pädagogen, dann hat er die Vorbedingung, um lebensvoll und belebend Menschensein vor den Zöglingen zu entfalten, und werdendes Menschenwesen zur Selbstoffenbarung anzuregen.“ (Steiner 1961, 288 f.)

Schiller hat das alles in den folgenden Sätzen in schönster Weise ausgedrückt:

„Wer mir seine Kenntnisse in schulgerechter Form überliefert, der überzeugt mich zwar, daß er sie richtig faßte und zu behaupten weiß; wer aber zugleich im Stande ist, sie in einer schönen Form mitzutheilen, der beweist nicht nur, daß er dazu gemacht ist, sie zu erweitern, er beweist auch, daß er sie in seine Natur aufgenommen und in seinen Handlungen darzustellen fähig ist. Es gibt für die Resultate des Denkens keinen andern Weg zu dem Willen und in das Leben, als durch die selbstthätige Bildungskraft. Nichts, als was in uns selbst schon lebendige That ist, kann es außer uns werden, und es ist mit Schöpfungen des Geistes wie mit organischen Bildungen: nur aus der Blüthe geht die Frucht vor.“ (Schiller 1959, 8)

Zu den Beiträgen in diesem Band

Weder kann es eine Definition des „Künstlerischen“ geben – es wäre eine contradictio in adjecto – noch Vollständigkeit bei der Behandlung von Aspekten des Künstlerischen in der Pädagogik. Die in diesem Band zusammengeführten Beiträge beleuchten aber einige der wichtigen Seiten des Themas unter verschiedenen Fragestellungen. Dass hier die Themen weniger auf die Künste fokussiert sind, soll zeigen, dass – bei aller Wichtigkeit die diesen zukommt – das Künstlerische ein die ganze Schule durchdringendes Element sein soll.

Der erste Teil ist gedanklichen Zugängen zum Thema gewidmet. Jost Schieren behandelt unter verschiedenen, auch erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten die Notwendigkeit einer Pädagogik, die nicht nur zu intellektuellem Verstehen, sondern durch ein auch die Phantasie beflügelndes Erleben zu einem Wirklichkeitsbezug führt. In dem Beitrag von Stephan Ronner wird ein Lernen als ästhetischer Prozess vorgestellt und entwickelt. Edwin Hübner zeigt, wie die „Verschränkung von Ich und Welt“ durch Wahrnehmen, sinnliche Erfahrung und ein lebendig tätiges Denken zu einer Wesensbegegnung mit der Welt führt und die Isolation im bloß Virtuellen überwindet.

Im zweiten Teil richtet sich der Blick auf konkrete pädagogische Themen, wie sie vor allem in Bezug auf die Kinder und angehenden Jugendlichen relevant sind. Hier wird von Franziska Spalinger gezeigt, wie das Ästhetische im Bereich des Kindergartens in all dem, was die Kinder an Wahrnehmungen bekommen bis in die Gestaltung des Zeiterlebens für die künftige Entwicklung entscheidende Entwicklungsimpulse erhalten, ergänzt durch die Betrachtungen von Matthias Mochner zu der Bedeutung der Gestaltung der äußeren Hülle des Kindergartens, des Baues und der Wirkungen, die von ihm ausgehen. Claus-Peter Röh fragt: Wie können „menschliche Qualitäten der Empathie, der Phantasie, des Gestaltungswillens und der Sinnfindung angelegt und ausgebildet werden?“ und zeigt an Beispielen, wie ein ästhetisch geprägter Unterricht dazu beitragen kann. Die Eurythmie – nicht so sehr als Kunst, sondern im Hinblick auf ein künstlerisches Unterrichten – steht im Zentrum des Beitrages von Gisela Beck.

Ein dritter Teil enthält Beiträge, die sich vor allem mit der Frage befassen, wie im Bereich der Oberstufe – auch und gerade – bei stärker dem Intellektuellen zugewandten Fächern durch einen künstlerisch durchdrungenen Unterricht lebendiges, bewegliches Denken die Welt erschließen kann – Mona Doosry für die Behandlung der Sprache und Dichtung im Deutschunterricht und Peter Lutzker für den Fremdsprachenunterricht. Wie Denken in einen spannenden Bewegungsprozess versetzt werden kann, entwickelt Florian Osswald, exemplifiziert für das Fach Mathematik von Christian Boettger und für den naturwissenschaftlichen Unterricht von Johannes Kühl.

Im letzten Teil wenden sich zwei Autoren der Frage zu, wie eine künstlerische Gestaltung der beiden Hüllen des Schullebens aussehen kann: für die Schulbauten führt Christian Boettger dies an Beispielen vor und Mathias Maurer widmet seinen Beitrag dem „sozialgestalterischen Impuls“ in der Bildung einer künstlerischen Form des Zusammenlebens in der Schulgemeinschaft.

Möge dieser Band den Leserinnen und Lesern einige Farben und Formen des Bildes von Waldorfschule und deren künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten vermitteln und – was das Schönste wäre – dazu anregen, diese Impulse weiter zu verfolgen und weiterzuentwickeln.

Literatur:

Goethe, J. W., v. (1963): Polarität, in: Schriften zur Botanik und Wissenschaftslehre, Bd. 39, München

Rittelmeyer, Chr. (1994): Schulbauten positiv gestalten. Wie Schüler Farben und Formen erleben, Wiesbaden

Rittelmeyer, Chr. (2007): Kindheit in Bedrängnis. Zwischen Kulturindustrie und technokratischer Bildungsreform, Stuttgart

Rittelmeyer, Chr. (2010): Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick, Oberhausen

Rittelmeyer, Chr. (2014): Aisthesis. Zur Bedeutung von Körper-Resonanzen für die ästhetische Bildung, München

Schiller, F. (1959): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, München

Schiller, F. (1795/1959): Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, 5. Bd., München

Scott, W. B. (2002): Systems Strategy Needed to Build Next Aero Workforce, 6. Mai 2002

Steiner, R. (1889/1909/1961): Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, in: Methodische Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901, GA 30, Dornach

Steiner, R. (1919/1992): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, Dornach

Steiner, R. (1920/1972): Meditativ erarbeitete Menschenkunde, in: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, Dornach

Steiner, R. (1922/1961): Ein Vortrag über Pädagogik während des Französischen Kurses am Goetheanum, 16. September 1922, in: Der Goetheanumgedanke, Gesammelte Aufsätze 1921-1924, GA 36, Dornach

Steiner, R. (1923/1979): Pädagogik und Kunst, in: Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, GA 304a, Dornach

Steiner, R. (1904/1924/1997): Seelenübungen mit Wort- und Sinnbild-Meditationen, GA 267, Dornach


1 Rittelmeyer (2010) hat in einer Monografie hierzu gezeigt, wie unsicher viele Ergebnisse bislang noch sind.

2 Übungen zur Erlangung solcher Fähigkeiten finden sich u.a. in Steiner (1997)

Gedankliche Zugänge

Stefan Krauch, Sonnentank, 2015

Erziehungskunst –
Der Kunstbegriff in der Pädagogik

von Jost Schieren

Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele athmet es der rastlosen Gestirne Riesenwelt, und schwimmt tanzend in seiner blauen Flut – athmet es der funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende Pflanze, und das wilde, brennende, vielgestaltete Thier – vor allen aber der herrliche Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden Gange, und den zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen Natur ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt. (Hardenberg 1960, 131)

Diese Zeilen aus den „Hymnen an die Nacht“ von Novalis künden von einem Bewusstsein, das sich vollständig mit der irdischen Erscheinungswelt verbunden hat.3 Das Licht wird als eine Kraft dargestellt, die die Gestalten der Welt durchdringt. Das menschliche Bewusstsein kann sich mit dieser Lichtkraft identifizieren. Das Gedicht durchschreitet die gesamten Naturreiche der erscheinenden Welt, die „Riesenwelt“ der „rastlosen Gestirne“, das Reich der unbelebten „ewigruhenden“ Steine, dasjenige des Lebendigen, der „sinnigen, saugenden“ Pflanzen, und dann das Reich der empfindungsfähigen, „brennenden“ und „vielgestaltigen“ Tiere. Zuletzt wird der Mensch beschrieben, der sehen kann („sinnvolle Augen“), der gehen kann („schwebender Gang“) und der des Ausdrucks mächtig ist und über Sprache verfügt („tonreiche Lippen“).

In dem Gedicht kommt etwas zum Ausdruck, das als ein Grundmotiv der Pädagogik angesehen werden kann, als dasjenige, was in der Pädagogik angestrebt wird: Die Heranwachsenden sollen sich mit der Welt, die sie umgibt, vertrauensvoll und unmittelbar verbinden können, sie sollen zu einer aktiven Weltteilhabe gelangen. Sie sollen eine Ahnung von der Größe und Schönheit der Welt erhalten und selbstaktiv sowie kenntnisreich in die „Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt“ eingeführt werden. Insbesondere die Frühpädagogik und die ersten Schuljahre haben hier eine Aufgabe, indem sie bei den Kindern die Freude und das Interesse an der Welt wecken und in ihnen das Vertrauen stärken, dass sie die Welt und ihre Erscheinungen, wenn sie sich Mühe geben, mit der Zeit immer besser und besser verstehen lernen.

Weltteilhabe

Es ist nun allerdings so, dass die lebensweltlichen Erfahrungen der Gegenwart eine ungebrochene und vertrauensvolle Weltteilhabe für Heranwachsende nicht als selbstverständlich erscheinen lassen. Die Natur, wenn sie dem zivilisatorischen Erfahrungshorizont nicht vollständig entzogen ist, wird auf Grund des industriellen Raubbaus und der ökologischen Ignoranz als bedroht und im Untergang begriffen erlebt, die sozialen Bindungen der Familie erscheinen – wenigstens statistisch betrachtet – in Auflösung befindlich und die mediale Unterhaltungskultur, die durch die Kinderzimmer flutet, bemüht sorglos die Faszination von Grausamkeit, Hass und Gewalt als Bindemittel der allenthalben flüchtigen Aufmerksamkeitsspanne. Auf diese Weise wird der vertrauensvolle und freudige Zugang zur Welt verstellt und es werden Ersatzlösungen präferiert: Die erwähnten elektronischen Medien scheinen ungleich mehr Teilhabe, Interesse und ungebrochene Hingabe auf sich zu ziehen, als es Primärerfahrungen zu leisten vermöchten. Neben den genannten Gewaltdarstellungen schmücken Naturbilder von grandioser Schönheit die Bildschirme der Wohnzimmer, animierte Spiele, die mit leichten Fingerbewegungen zu beherrschen sind, versprechen Abenteuer- und Entdeckerlust und stimulieren heldenähnliche Euphoriegefühle und letztlich schaffen soziale Netzwerke einen anonymen, beinah antiseptischen Begegnungsraum, wo Nähe ohne Verbundenheit, Begegnung ohne Verpflichtung und die Illusion einer Freundschaft ohne Schmerz praktiziert werden können. Die „echte“ Welt erscheint fern gerückt und die elektronische Ersatzwelt ist an deren Stelle getreten.

Die so beschriebene Weltferne und der Weltverlust sind allerdings keine Erscheinungen, die allein der Gegenwart angehören, sie sind schon länger bekannt. Schon Goethe befasste sich in seinem berühmten Werk „Faust“ sowohl auf der Erlebnis- als auch auf der Erkenntnisebene mit der grundsätzlichen Fragestellung, wie der Mensch die Wirklichkeit mit seinem Bewusstsein erfassen kann. In dem bekannten Anfangsmonolog formuliert Faust seinen Wunsch:

… daß ich erkenne, was die Welt

Im Innersten zusammenhält.

Schau alle Wirkenskraft und Samen

Und tu nicht mehr in Worten kramen.

(Goethe, HA, 1976, Z. 382)

Faust hat bis dahin alle Wissenschaften seiner Zeit studiert. Er hat das Bedürfnis nach einer umfassenden Welt- und Wesenserkenntnis, das allerdings nicht befriedigt werden konnte. Er zweifelt daher an der Leistungsfähigkeit des menschlichen Erkennens:

Und sehe, daß wir nichts wissen können,

Das will mir schier das Herz verbrennen.

[…]

Es möchte kein Hund so länger leben.

(Goethe, HA, 1976, Z. 364)

Faust zweifelt und verzweifelt an den Wissenschaften seiner Zeit. Er entschließt sich daher, einen anderen Weg einzuschlagen, der ihm als der noch verbliebene einzige Ausweg erscheint:

Drum hab ich mich der Magie ergeben, daß mir durch Geistes Kraft und Mund manch Geheimnis werde kund.

(Goethe, HA, 1976, Z. 377)

Er bemüht nun verschiedene Zauberformeln und magische Zeichen, die aber allesamt keinen Erkenntnisfortschritt liefern, bis ihm in Gestalt des Erdgeistes der gesuchte innere Zusammenhang der Welt entgegentritt. Der Erdgeist spricht:

In Lebensfluten, im Tatensturm

Wall ich auf und ab,

Webe hin und her!

Geburt und Grab,

Ein ewiges Meer,

Ein wechselnd Weben,

Ein glühend Leben,

So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit,

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

(Goethe, HA, 1976, Z. 501)

Der Erdgeist stellt sich als die Personifikation der Kraft dar, die die Dinge der Welt seins- und wirkensmächtig durchdringt. Er ist in den Worten Fausts, die Kraft, die „die Welt im Innersten zusammenhält“. Faust sieht sich dem Ziel seiner Wünsche nahe und sagt:

Der du die weite Welt umschweifst,

erhabener Geist,

wie nahe fühle ich mich dir.

(Goethe, HA, 1976, Z. 510)

Er ist mit seinem Erkenntnisbedürfnis an das Ziel gelangt, das er erreichen wollte. Er wird nun aber vom Erdgeist zurückgewiesen, der ihm entgegen schleudert: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir“ (Goethe, HA, 1976, Z. 512).

Diese Zurückweisung trifft Faust hart. Nun sind ihm beide Weltzugänge, der wissenschaftlich-erkenntnisorientierte und der magische, versperrt. Der Erdgeist bedeutet ihm, dass sein Erkennen nicht in der Lage sei, sich selbst zu überschreiten und die Dinge der Welt zu begreifen. Fausts Erkennen ist auf sich selbst zurückgeworfen.

Immanuel Kants „kopernikanische Wende“

Mit dieser Aussage des Erdgeistes bewegt sich Goethe in einer philosophischen Besinnung, die in seiner Zeit ihren Ursprung hat. Nur wenige Jahre später, nachdem Goethe diese ersten Szenen des „Faust“ verfasst hat, veröffentlicht Immanuel Kant seine „Kritik der reinen Vernunft“. Dort findet sich eine ähnliche Aussage, wie sie der Erdgeist im „Faust“ formuliert.

Denn Gesetze existieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen so fern es Sinne hat. – Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind.

Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welche das verknüpfende Vermögen vorschreibt.

(Kant 1974, 156)