LAOTSE -TAO TE KING  

Das Buch vom Sinn und Leben

Das Buch vom Sinn und Leben


Was wir von dem Verfasser der vorliegenden Aphorismensammlung historisch Beglaubigtes wissen, geht sehr eng zusammen. Es ist so wenig, dass die Kritik vielfach gar nichts mehr davon bemerkte und ihm samt seinem Werk im Gebiet der Mythenbildung den Platz anwies. Der Name Laotse, unter dem er in Europa bekannt ist, ist gar kein Eigenname, sondern ein Appellativum und wird am besten übersetzt mit "der Alte". Laotse stammt wohl aus der heutigen Provinz Hon-an, der südlichsten der sogenannten Nordprovinzen, und mag wohl ein halbes Jahrhundert älter gewesen sein als Kung (Konfuzius), so dass seine Geburt auf das Ende des 7. vorchristlichen Jahrhunderts fällt. Im Lauf der Zeit hatte er am kaiserlichen Hof, der damals in Loyang (in der heutigen Provinz Honan) war, ein Amt als Archivar bekleidet.

Als die öffentlichen Zustände sich so verschlimmerten, dass keine Aussicht auf die Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zurückgezogen haben. Als er an den Grenzpass Han Gu gekommen sei, nach späterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend, habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Darauf habe er den Tao te king, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm über-geben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß wohin.

Dass auch an diese Erzählung sich die Sage geknüpft hat, die Laotse nach Indien führte und dort mit dem Buddha in Berührung kommen ließ, ist verständlich. Irgendeine persönliche Berührung zwischen Laotse und Buddha ist jedoch vollkommen ausgeschlossen. Man hat da spätere Umstände in das historische Bild zurückgetragen.

In der Han-Dynastie wenden sich mehrere Kaiser dem Studium des Tao te king zu, so besonders Han Wen Di (197-157 v. Chr.), dessen friedliche und einfache Regierungsart als direkte Frucht der Lehren des alten Weisen bezeichnet wird. Sein Sohn Han Ging Di (156-140 v. Chr.) legt endlich dem Buch die Bezeichnung "Tao te king" (Dau De Ging, d.h. "das klassische Buch vom Sinn und Leben") bei, die es seither in China behalten hat.

Die ganze Metaphysik des Tao te king ist aufgebaut auf einer grundlegenden Intuition, die der streng begrifflichen Fixierung unzugänglich ist und die Laotse, um einen Namen zu haben, "notdürftig" mit dem Worte TAO (sprich: Dau) bezeichnet. In Beziehung auf die richtige Übersetzung dieses Wortes herrschte von Anfang an viel Meinungsverschiedenheit. "Gott", "Weg", "Vernunft", "Wort" sind nur ein paar der vorgeschlagenen Übersetzungen, während ein Teil der Übersetzer einfach das "Tao" unübertragen in die europäischen Sprachen herübernimmt. Im Grunde genommen kommt auf den Ausdruck wenig an, da er ja auch für Laotse selbst nur sozusagen ein algebraisches Zeichen für etwas Unaussprechliches ist. Es sind im wesentlichen ästhetische Gründe, die es wünschenswert erscheinen lassen, in einer deutschen Übersetzung ein deutsches Wort zu haben. Es wurde von uns durchgängig das Wort Sinn gewählt. Um hier gleich die Übersetzung des immer wiederkehrenden Wortes TE (sprich: De) zu rechtfertigen, so sei bemerkt, dass die chinesische Definition desselben lautet: "Was die Wesen erhalten, um zu entstehen, heißt De." Wir haben das Wort daher mit Leben übersetzt.

Kein einziger historischer Name ist in Laotses ganzem Büchlein genannt. Er will gar nicht in der Zeitlichkeit wirken. Darum verschwimmt er für das historisch gerichtete China in nebelhafte Fernen, da ihm niemand zu folgen vermag. Und eben das ist der Grund, warum er in Europa so große Wirkungen ausübt trotz des räumlichen und zeitlichen Abstands, der ihn von uns trennt.

Er hat für sich einen Blick getan in die großen Weltzusammenhänge und hat, was er geschaut, mühsam in Worte gebracht, es gleichgesinnten Geistern der späteren Zeit überlassend, selbständig seinen Andeutungen nachzugehen und im Weltzusammenhang selbst die Wahrheiten zu schauen, die er entdeckt. Es hat zu allen Zeiten einzelne Denker gegeben, die unter den vergänglichen Erscheinungen des menschlichen Lebens den Blick erhoben zu dem ewigen Sinn des Weltgeschehens, dessen Größe alles Denken übersteigt, und die darin Ruhe gefunden haben und Leichtigkeit, die es ihnen ermöglichte, den sogenannten Ernst des Lebens nicht mehr so gar ernst zu nehmen, weil ihm kein wesentlicher Wert an und für sich innewohnt.

Es ist ein Zeichen für die Höhe des Standpunkts von Laotse, dass er sich auf Andeutungen des Unaussprechlichen beschränkt, deren Verfolg jedem einzelnen überlassen bleiben mag.

Richard Wilhelm

1

Der Sinn, der sich aussprechen lässt,

ist nicht der ewige Sinn.

Der Name, der sich nennen lässt,

ist nicht der ewige Name.

"Nichtsein" nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.

"Sein" nenne ich die Mutter der Einzelwesen. Darum führt die Richtung auf das Nichtsein zum Schauen des wunderbaren Wesens, die Richtung auf das Sein

zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.

Beides ist eins dem Ursprung nach

und nur verschieden durch den Namen. In seiner Einheit heißt es das Geheimnis. Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.


2

Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,

so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.

Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und kurz gestalten einander.

Hoch und Tief verkehren einander.

Stimme und Ton sich vermählen einander.

Vorher und Nachher folgen einander.

Also auch der Berufene:

Er verweilt im Wirken ohne Handeln. Er übt Belehrung ohne Reden. Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht. Er erzeugt und besitzt nicht. Erwirkt und behält nicht.

Ist das Werk vollbracht,

so verharrt er nicht dabei.

Und eben weil er nicht verharrt,

bleibt er nicht verlassen.


3

Die Tüchtigen nicht bevorzugen, so macht man, dass das Volk nicht streitet. Kostbarkeiten nicht schätzen, so macht man, dass das Volk nicht stiehlt. Nichts Begehrenswertes zeigen, so macht man, dass des Volkes Herz nicht wirr wird.

Darum regiert der Berufene also:

Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.

Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen

und macht, dass das Volk ohne Wissen

und ohne Wünsche bleibt,

und sorgt dafür,

dass jene Wissenden nicht zu handeln wagen.