Bertil stand am Fenster und guckte hinaus. Es begann dunkel zu werden. Neblig, kalt und unfreundlich sah es auf der Straße aus.
Bertil wartete auf Papa und Mama. Er wartete so schrecklich, dass sie eigentlich schon an der Straßenlaterne hätten auftauchen müssen, nur weil er so darauf wartete. An der Laterne sah er sie immer zuerst. Mama kam meistens ein wenig früher als Papa. Aber natürlich konnte keiner von beiden kommen, bevor in der Fabrik Feierabend war.
Jeden Tag gingen Papa und Mama in die Fabrik. Bertil blieb dann den ganzen Tag allein zu Hause. Mama stellte ihm etwas zu essen hin, damit er etwas hatte, wenn er hungrig wurde. Wenn Mama dann heimkam, gab es Mittagessen. Allein zu essen machte kein bisschen Spaß.
Überhaupt war es sehr, sehr traurig, den ganzen Tag allein in der Wohnung zu sein, ohne mit jemandem reden zu können. Natürlich konnte er auf den Hof gehen und dort spielen; aber jetzt im Herbst war das Wetter schlecht und keine Kinder waren draußen.
Oh, wie verging die Zeit doch langsam! Er wusste nicht, was er anfangen sollte. Seine Spielsachen waren ihm schon längst langweilig. So viele hatte er übrigens gar nicht. Alle Bücher, die es im Haus gab, hatte er von vorn bis hinten angesehen. Lesen konnte er noch nicht. Er war erst sechs Jahre alt.
Es war kalt im Zimmer. Papa heizte am Morgen den Kachelofen, aber jetzt am Nachmittag war beinah alle Wärme verflogen. Bertil fror. In den Winkeln wurde es dunkel. Aber er machte kein Licht an. Wozu? Es gab ja doch nichts, was er tun könnte. Alles war so überaus traurig, dass er beschloss, sich auf sein Bett zu legen und ein wenig darüber nachzudenken, wie traurig es eigentlich war.
Immer war er nicht allein gewesen. Früher hatte er eine Schwester gehabt. Sie hieß Märta. Aber eines Tages kam sie aus der Schule und war krank. Sie war eine ganze Woche lang krank. Und dann starb sie. Die Tränen begannen zu laufen, als er daran dachte und daran, wie allein er nun war.
Und gerade in diesem Augenblick hörte er es: Er hörte kleine, trippelnde Schritte unter dem Bett.
Spukt es hier?, dachte Bertil und beugte sich über die Bettkante, um nachzugucken. Und da sah er ein kleines, wunderliches Ding. Dort unter dem Bett stand ein – ja, es war genau wie ein gewöhnlicher kleiner Junge. Nur war dieser Junge nicht größer als ein Daumen.
»Hallo«, sagte der kleine Junge.
»Hallo«, sagte Bertil ein wenig verlegen.
»Hallo, hallo«, sagte der Kleine.
Danach war es eine Weile still.
»Was bist denn du für einer?«, fragte Bertil. »Und was machst du unter meinem Bett?«
»Ich heiße Nils Karlsson-Däumling«, antwortete der kleine Junge. »Und ich wohne hier. Na ja, natürlich nicht genau unter deinem Bett, sondern ein Stockwerk tiefer. Du kannst den Eingang dort in der Ecke sehen.«
Und dabei zeigte er auf ein großes Mauseloch, das unter Bertils Bett war.
»Wohnst du schon lange hier?«, fragte Bertil den Jungen.
»Nein, erst seit ein paar Tagen«, sagte der kleine Junge. »Vorher hab ich unter einer Baumwurzel im Wald gewohnt. Aber du weißt ja, wenn es Herbst wird, hat man genug vom Lagerleben und möchte gern in die Stadt. Ich hatte großes Glück und konnte dies Zimmer hier von einer Maus mieten, die zu ihrer Schwester nach Södertälje ziehen wollte. Sonst ist es ja schwer, eine Kleinstwohnung zu finden, wie du wohl weißt.«
Ja, davon hatte Bertil schon gehört.
»Ich habe natürlich unmöbliert gemietet«, erklärte der Däumling. »Das ist am besten. Jedenfalls wenn man eigene Möbel hat«, fügte er nach einer Pause hinzu.
»Hast du denn welche?«, fragte Bertil.
»Nein, das ist es ja gerade, ich habe keine«, sagte der Däumling und sah bekümmert aus. Er schüttelte sich.
»Hu, es ist so kalt unten bei mir«, sagte er. »Aber das ist bei dir hier oben ja auch nicht anders.«
»Ja, wahrhaftig«, sagte Bertil, »ich friere wie ein Hund.«
»Einen Kachelofen habe ich«, sagte der Däumling. »Aber kein Holz. Heutzutage ist Holz so teuer.«
Er schlug die Arme um sich, um warm zu werden. Dann sah er Bertil mit großen klaren Augen an.
»Was treibst du tagsüber?«, fragte er.
»Eigentlich nichts Besonderes«, sagte Bertil. »Tatsächlich überhaupt nichts Besonderes.«
»Genau wie ich«, sagte der Däumling. »Es ist ziemlich langweilig, allein zu sein. Findest du nicht auch?«
»Schrecklich langweilig«, sagte Bertil.
»Willst du ein bisschen zu mir runterkommen?«, fragte der Däumling eifrig.
Bertil fing an zu lachen: »Glaubst du denn wirklich, dass ich durch das Loch da hindurchkomme?«
»Das ist die einfachste Sache von der Welt«, sagte der Däumling.
»Du drückst nur auf den Nagel, den du dort neben dem Loch siehst, und dann sagst du ›Killevipps‹. Dann bist du genauso klein wie ich.«
»Ist das sicher?«, fragte Bertil. »Aber werde ich auch wieder groß, bevor Papa und Mama nach Hause kommen?«
»Aber ja«, sagte der Däumling. »Dann drückst du nur wieder auf den Nagel und sagst noch einmal ›Killevipps‹.«
»Ulkig«, sagte Bertil. »Kannst du auch so groß werden wie ich?«
»Nein, das kann ich nicht«, sagte der Däumling. »Leider. Aber es wäre schön, wenn du ein bisschen zu mir runterkämst.«
»Also los«, sagte Bertil.
Er kroch unter das Bett, drückte den Zeigefinger auf den Nagel und sagte: »Killevipps.«
Und tatsächlich! Da stand er vor dem Mauseloch, genauso klein wie der Däumling.
»Übrigens, ich heiße Nisse«, sagte der Däumling und streckte Bertil die Hand entgegen. »Komm, wir gehen zu mir runter!«
Bertil fühlte, es war etwas unglaublich Spannendes und Merkwürdiges, was hier passierte. Er brannte richtig vor Neugierde, in das dunkle Loch zu gehen.
»Vorsichtig auf der Treppe«, sagte Nisse. »Das Geländer ist an einer Stelle kaputt.«
Bertil stieg mit behutsamen Schritten eine kleine Steintreppe hinab. Kaum zu glauben, er hatte nicht gewusst, dass hier eine Treppe war! Sie endete vor einer geschlossenen Tür.
»Warte, ich mach Licht an«, sagte Nisse und knipste an einem Schalter. An der Tür hing eine Visitenkarte. »Nils Karlsson-Däumling« stand sehr ordentlich darauf. Dann öffnete er die Tür und knipste an einem anderen Schalter. Bertil ging hinein.
»Hier sieht es nicht sehr einladend aus«, entschuldigte sich Nisse.
Bertil guckte sich um. Es war ein kleines kahles Zimmer mit einem Fenster und einem blau angemalten Kachelofen in der einen Ecke. »Ja, es könnte freundlicher sein«, gab er zu. »Wo schläfst du denn nachts?«
»Auf dem Fußboden«, sagte Nisse.
»Oh, ist das nicht kalt?«, sagte Bertil.
»Und ob! Darauf kannst du dich verlassen. Es ist so kalt, dass ich jede Stunde aufstehen und herumrennen muss, damit ich nicht erfriere.«
Nisse tat Bertil wirklich sehr leid. Er brauchte nachts wenigstens nicht zu frieren. Plötzlich hatte er einen Einfall.
»Bin ich dumm!«, sagte er. »Holz kann ich doch besorgen!«
Nisse packte ihn heftig am Arm.
»Glaubst du, dass du das kannst?«, fragte er eifrig.
»Natürlich«, sagte Bertil. Dann sah er ein wenig bekümmert aus. »Das Schlimme ist nur, ich darf keine Streichhölzer anstecken«, sagte er.
»Das macht nichts«, versicherte Nisse ihm. »Wenn du Holz besorgst – anzünden werde ich es schon.«
Bertil rannte die Treppe hinauf, drückte auf den Nagel und – hatte vergessen, was er sagen sollte.
»Wie hieß das, was ich sagen sollte?«, schrie er zu Nisse hinunter.
»Killevipps natürlich«, rief Nisse.
»Killevipps natürlich«, sagte Bertil zu dem Nagel. Nichts geschah.
»Ach, du musst natürlich nur Killevipps sagen!«, rief Nisse von unten herauf.
»Nur Killevipps«, sagte Bertil. Nichts geschah.
»Oh, oh«, schrie Nisse, »du darfst nichts anderes als Killevipps sagen!«
Da begriff Bertil endlich und er sagte »Killevipps« und wurde wieder groß, und das ging so rasch, dass er mit dem Kopf von unten an das Bett stieß.
So schnell er konnte, kroch er unter dem Bett hervor und lief zum Küchenherd. Da lagen eine Menge abgebrannter Streichhölzer. Er zerbrach sie in lauter kleine Stücke und stapelte sie neben dem Mauseloch auf. Dann machte er sich wieder klein und rief Nisse zu:
»Komm und hilf mir mit all dem Holz!«
Denn jetzt, wo er wieder klein war, konnte er nicht mehr alles allein hinuntertragen. Nisse kam angerannt und sie schleppten gemeinsam das Holz die Treppe hinunter und ins Zimmer hinein bis zum Kachelofen. Nisse hüpfte vor Freude.
»Prima Holz«, rief er, »wirklich prima Holz!«
Er stopfte den ganzen Kachelofen voll, und was übrig blieb, stapelte er fein säuberlich in einer Ecke daneben auf.
»Jetzt sollst du mal sehen«, sagte er.
Er hockte sich vor den Ofen und blies hinein. Psch, fing es an zu prasseln und zu brennen.
»Wie praktisch«, sagte Bertil. »Das spart Streichhölzer.«
»Und wie«, sagte Nisse. »Was für ein herrliches, herrliches Feuer«, fuhr er fort. »Ich glaube, seit dem Sommer war mir nicht mehr richtig warm.«
Sie setzten sich vor dem lodernden Feuer auf den Boden und streckten ihre blau gefrorenen Hände gegen die mollige Wärme.
»Wir haben noch viel Holz übrig«, sagte Nisse zufrieden.
»Ja, und wenn es zu Ende geht, kann ich noch holen, so viel ich will«, sagte Bertil. Er war auch zufrieden.
»Heute Nacht werde ich bestimmt nicht sehr frieren«, sagte Nisse.
»Was isst du eigentlich?«, fragte Bertil nach einer Weile. Nisse wurde rot.
»Ach – dies und das«, sagte er unsicher. »Was ich so ab und zu erwische …«
»Was hast du heute gegessen?«, fragte Bertil.
»Heute …«, sagte Nisse. »Ach ja, ich erinnere mich – heute hab ich gar nichts gegessen.«
»Aber dann musst du doch schrecklich hungrig sein!«, rief Bertil aus.
»Ja«, sagte Nisse zögernd, »ich bin ganz schrecklich hungrig.«
»Warum hast du das nicht früher gesagt, Dummkopf! Ich hole sofort etwas.«
Nisse keuchte fast.
»Wenn du das tust«, sagte er, »wenn du mir wirklich etwas zu essen besorgst, werde ich dich gern haben, solange ich lebe.«
Bertil war schon halb auf der Treppe. Schnell, schnell sagte er »Killevipps«, schnell, schnell lief er zur Speisekammer. Dort nahm er ein winzig kleines Stück Käse und ein winzig kleines Stück Brot, das er mit Butter bestrich, und einen Fleischkloß und zwei Rosinen. Er stapelte alles neben dem Mauseloch. Dann machte er sich wieder klein und schrie:
»Komm und hilf mir mit dem Essen!«
Aber er hätte gar nicht so zu schreien brauchen, denn Nisse stand schon da und wartete. Sie trugen alles hinunter. Und Nisses Augen strahlten wie Sterne. Bertil bekam selbst auch Hunger.
»Wir fangen mit dem Fleischkloß an«, sagte er.
Der Kloß war fast genauso groß wie Nisses Kopf. Sie fingen jeder von einer Seite an zu essen, um zu sehen, wer zuerst zur Kloßmitte kam. Es war Nisse. Dann aßen sie Käsebrot. Das winzig kleine Brotstück war jetzt so groß wie die allergrößte Scheibe Brot. Nisse wollte seinen Käse aufsparen.