Vier Jahre waren vergangen. Starzew hatte schon in der Stadt eine große Praxis. Jeden Morgen empfing er in großer Hast seine Djalischer Patienten und begab sich dann in die Stadt, von wo er erst spät in der Nacht zurückkehrte. Jetzt fuhr er nicht mehr mit einem Paar Pferde, sondern mit einer Troika mit Schellengeläute. Er war dick und behäbig geworden und ging ungern zu Fuß, da er an Atemnot litt. Auch Pantelejmon war dick geworden, und je mehr er in die Breite ging, um so trauriger seufzte und beklagte er sich über sein bitteres Los: das viele Fahren bringe ihn um! Starzew kam in verschiedene Häuser und lernte viele Menschen kennen, wurde aber mit niemand intim. Alle Stadtbewohner ärgerten ihn mit ihren Gesprächen, Lebensanschauungen und selbst mit ihrem Aussehen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß so ein Bürger, solange man mit ihm Karten spielt oder trinkt, ein friedlicher, gutmütiger und sogar gar nicht dummer Mensch ist; kaum versucht man aber mit ihm über etwas, was sich nicht auf das Essen bezieht, über Politik oder Wissenschaft zu sprechen, so ist er auf einmal ganz blöd, oder äußert so stumpfsinnige und gehässige Ansichten, daß nichts anderes übrigbleibt, als ihn stehen zu lassen und wegzugehen. Wenn Starzew mit irgendeinem, sogar liberalen Bürger z. B. darüber zu sprechen versuchte, daß die Menschheit, Gott sei Dank, vorwärts schreite und sich mit der Zeit auch ohne Pässe und Todesstrafe behelfen werde, so schielte ihn der Bürger mißtrauisch an und fragte: »Dann darf also jedermann jeden Menschen auf offener Straße abschlachten?« Und wenn Starzew in Gesellschaft bei einem Abendessen oder Tee sagte, daß alle Menschen arbeiten müssen und daß man ohne Arbeit nicht leben dürfe, so faßte es ein jeder als einen Vorwurf auf und begann zu widersprechen oder wurde böse. Dabei lebten die Bürger absolut müßig und interessierten sich für nichts, so daß man sich unmöglich ausdenken konnte, worüber mit ihnen zu sprechen. Und Starzew mied auch alle Gespräche und beschränkte seinen Verkehr darauf, daß er mit den Leuten trank oder Whist spielte; wenn er irgendwo zu einer Familienfeier geladen war, so aß er schweigend und blickte von seinem Teller nicht auf; alles, was um ihn her gesprochen wurde, war uninteressant, ungerecht und dumm, er spürte Aerger, regte sich auf, aber schwieg. Und weil er immer schwieg und in den Teller blickte, nannten ihn die Leute »aufgeblasener Pollake«, obwohl er mit Polen gar nichts zu tun hatte.
Theater und Konzerte besuchte er nicht, spielte aber dafür jeden Abend mit Hochgenuß drei Stunden Whist. Er hatte noch eine Zerstreuung, die ihm ganz allmählich zu einer Leidenschaft geworden war: allabendlich die durch die Praxis verdienten Banknoten aus den Taschen zusammenzukramen; es kam vor, daß die gelben Einrubelscheine und die grünen Dreirubelscheine, die nach Parfüm, Essig, Weihrauch und Tran rochen, zusammen ganze siebzig Rubel ausmachten. Und wenn er einige Hunderte beisammen hatte, brachte er sie auf die Gesellschaft für gegenseitigen Kredite und ließ sie sich auf sein Konto gutschreiben.
In den vier Jahren seit der Abreise Jekaterina Iwanownas hatte er die Turkins nur zweimal besucht, beide Male auf Einladung Wjera Iossifownas, die noch immer an Migräne litt. Jekaterina Iwanowna kam jeden Sommer zu ihren Eltern auf Besuch, aber es traf sich immer so, daß er sie nicht sah.
Nun waren die vier Jahre um. An einem stillen, warmen Morgen brachte man ihm ins Krankenhaus einen Brief. Wjera Iossifowna schrieb, daß sie sich nach Dmitrij Ionytsch sehne und bat ihn unbedingt zu kommen, um ihre Qualen zu lindern; übrigens habe sie heute Geburtstag. Unten stand die Nachschrift: »Auch ich schließe mich der Bitte Mamas an. K.«
Starzew überlegte sich die Sache und fuhr am Abend zu den Turkins.
»Ich grütze Sie!« empfing ihn Iwan Petrowitsch mit den Augen allein lächelnd. »Bon jour!«
Wjera Iossifowna, die stark gealtert war und graues Haar hatte, drückte Starzew die Hand, seufzte manieriert und sagte:
»Sie wollen mir wohl nicht mehr den Hof machen, denn Sie kommen nicht mehr zu uns. Ich bin wohl zu alt für Sie. Nun ist aber die Junge gekommen, vielleicht wird sie mehr Glück haben.«
Und das Kätzchen? Sie war magerer, bleicher, hübscher und schlanker geworden; aber sie war Jekaterina Iwanowna und kein Kätzchen mehr; die frühere Frische und der kindlich naive Ausdruck waren verschwunden. In den Blicken und den Manieren lag etwas Neues, Aengstliches und Schuldbewußtes, als fühlte sie sich hier bei den Turkins nicht mehr zu Hause.
»Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen!« sagte sie, Starzew die Hand reichend, und er konnte sehen, wie erregt ihr Herz klopfte; sie blickte ihm gespannt und neugierig ins Gesicht und fuhr fort: »Wie voll Sie geworden sind! Sie sind braun und etwas älter geworden, haben sich aber sonst wenig verändert.«
Auch jetzt gefiel sie ihm, gefiel ihm gut, doch etwas fehlte an ihr, oder etwas war an ihr zu viel, – er wußte selbst nicht zu sagen, was es war; aber etwas ließ in ihm nicht mehr die früheren Gefühle aufkommen. Ihm mißfiel ihre Blässe, ihr neuer Ausdruck, das matte Lächeln, die Stimme, und etwas später mißfiel ihm auch schon ihr Kleid, der Sessel, in dem sie saß; auch in der Vergangenheit, als er sie beinahe geheiratet hätte, mißfiel ihm etwas. Er gedachte seiner Liebe, seiner Träume und Hoffnungen, die ihn vor vier Jahren erfüllt hatten, und wurde auf einmal verlegen.
Man trank Tee mit Kuchen. Dann las Wjera Iossifowna einen Roman vor, las von Dingen, die im Leben niemals vorkommen, und Starzew hörte zu, sah ihren grauen schönen Kopf an und wartete, daß sie aufhöre.
– Talentlos – dachte er sich – ist nicht der, der keine Novellen zu schreiben versteht, sondern der, der sie schreibt und es nicht verheimlichen kann.
»Nicht übelhaft,« sagte Iwan Petrowitsch.
Nach der Vorlesung spielte Jekaterina Iwanowna sehr lange und sehr laut Klavier, und als sie fertig war, dankte man ihr und war entzückt über ihr Spiel.
– Es ist doch gut, daß ich sie nicht geheiratet habe, – dachte sich Starzew.
Sie sah ihn an und erwartete offenbar, daß er ihr vorschlagen werde, in den Garten zu gehen, er aber schwieg.
»Nun, wollen wir ein wenig sprechen,« sagte sie, auf ihn zugehend. »Wie leben Sie? Wie geht es Ihnen? Ich habe alle diese Tage an Sie gedacht,« fuhr sie nervös fort, »ich wollte Ihnen schreiben, wollte selbst zu Ihnen nach Djalisch kommen, und wäre auch gekommen, wenn ich es mir nicht überlegt hätte: Gott allein weiß, was Sie von mir jetzt halten. Mit solcher Aufregung habe ich Sie heute erwartet. Um Gottes willen, gehen wir doch in den Garten.«
Sie gingen in den Garten und setzten sich auf die gleiche Bank unter dem alten Ahorn wie vor vier Jahren. Es war finster.
»Nun, wie geht es Ihnen?« fragte Jekaterina Iwanowna.
»Danke, es geht,« antwortete Starzew.
Und er wußte nichts mehr zu sagen. Beide schwiegen.
»Ich bin so aufgeregt,« sagte Jekaterina Iwanowna nach einer Weile und bedeckte das Gesicht mit den Händen: »aber achten Sie darauf nicht. Ich fühle mich so wohl zu Hause, ich bin so froh, alle wiederzusehen und kann mich gar nicht gewöhnen. So viele Erinnerungen! Ich glaubte, daß wir bis morgen früh sprechen würden.«
Jetzt sah er ihr Gesicht und ihre glänzenden Augen in der Nähe, und sie erschien ihm hier im Dunkeln jünger als im Zimmer, und selbst ihr kindlicher Ausdruck von einst war zurückgekehrt. Sie blickte ihn tatsächlich mit naiver Neugier an, als wollte sie sich den Menschen, der sie einst so heiß, so zärtlich und so unglücklich geliebt hatte, näher ansehen und begreifen. Und er erinnerte sich des Vergangenen mit allen Einzelheiten, wie er auf dem Friedhofe herumgeirrt war und wie er dann beim Morgengrauen todmüde nach Hause zurückkehrte, und es wurde ihm plötzlich traurig zumute, und das Vergangene tat ihm leid. In seiner Seele glimmte wieder ein Feuer.
»Erinnern Sie sich noch, wie ich Sie zum Tanzabend im Klub begleitete?« sagte er. »Es regnete und war stockfinster.«
Das Flämmchen lohte immer stärker, und er hatte Lust, zu sprechen und sich über das Leben zu beklagen ....
»Ach ja!« sagte er mit einem Seufzer. »Sie fragten soeben, wie es mir geht. Wie geht es uns hier allen? Wir werden alt, fett und sinken immer tiefer. Ein Tag ist wie der andere, das Leben vergeht farblos, ohne Eindrücke, ohne Gedanken ... Bei Tage verdiene ich Geld, und abends sitze ich im Klub in Gesellschaft von Spielern und Alkoholikern, die ich nicht leiden kann. Es ist gar nicht schön.«
»Aber Sie haben Ihre Arbeit, ein edles Lebensziel. Sie sprachen einst mit solcher Liebe von Ihrem Krankenhaus. Ich war damals so eigen, bildete mir ein, eine hervorragende Pianistin zu sein. Alle jungen Mädchen spielen heute Klavier, und ich spielte ebenso wie die anderen, durchaus nicht hervorragend; ich bin als Pianistin dasselbe, was meine Mama als Dichterin ist. Natürlich hatte ich Sie damals nicht verstanden, aber später, in Moskau dachte ich oft an Sie. Ich dachte überhaupt nur an Sie. Was für ein Glück ist es, Landarzt zu sein und dem leidenden Volke zu dienen! Was für ein Glück!« wiederholte Jekaterina Iwanowna mit Begeisterung. »Als ich an Sie in Moskau dachte, erschienen Sie mir als ein idealer, erhabener Mensch ...«
Starzew mußte an die Banknoten denken, die er jeden Abend mit solchem Genuß aus seinen Taschen zusammenkramte, und das Flämmchen in seiner Seele erlosch.
Er stand auf, um ins Haus zu gehen. Sie nahm seinen Arm.
»Sie sind der Beste von allen Menschen, die mir im Leben begegnet sind,« fuhr sie fort. »Wir werden uns jetzt öfter sehen und sprechen, nicht wahr? Versprechen Sie es mir. Ich bin keine Pianistin, ich bilde mir nichts mehr ein, und werde in Ihrer Anwesenheit weder spielen noch von Musik sprechen.«
Als sie ins Haus kamen und Starzew bei Abendbeleuchtung ihr Gesicht und ihre traurigem, dankbaren, fragenden Augen, die sie auf ihn gerichtet hielt, sah, empfand er eine gewisse Unruhe und sagte sich wieder:
– Es ist doch gut, daß ich sie damals nicht geheiratet habe. –
Er begann Abschied zu nehmen.
»Sie haben gar kein römisches Recht, vor dem Abendessen wegzugehen,« sagte Iwan Petrowitsch, ihn hinausbegleitend. »Das ist von Ihrer Seite höchst unpopulär. Nun, produziere dich!« wandte er sich im Vorzimmer an Pawa.
Pawa, der kein Junge mehr, sondern ein junger Mann mit einem Schnurrbart war, stellte sich in Positur, hob eine Hand und sprach mit tragischer Stimme:
»Stirb, Unselige!«
All das ärgerte Starzew. Als er sich in den Wagen setzte und auf das dunkle Haus und den Garten zurückblickte, die ihm einst so lieb gewesen, kam ihm wieder alles in den Sinn: die Romane Wjera Iossifownas, das laute Klavierspiel des Kätzchens, die Witze Iwan Petrowitschs, die tragische Positur Pawas, und er sagte sich, was das doch für eine traurige Stadt sein müsse, wo die talentiertesten Menschen so furchtbar talentlos seien.
Nach drei Tagen brachte ihm Pawa einen Brief von Jekaterina Iwanowna.
»Sie kommen nicht mehr zu uns. Warum?« schrieb sie ihm: »Ich fürchte, daß Ihr Verhältnis zu uns sich geändert hat, ich fürchte es, und vor diesem Gedanken ist es mir ganz bange zumute. Beruhigen Sie mich, kommen Sie zu uns und sagen Sie mir, daß alles gut ist.
Ich muß Sie sprechen.
Ihre J. T.«
Er las den Brief, überlegte sich eine Weile und sagte zu Pawa:
»Sag ihr, mein Bester, daß ich heute beschäftigt bin und nicht kommen kann. Sag, daß ich so in drei Tagen kommen werde.«
Es vergingen aber drei Tage, und acht Tage, und er ließ sich nicht blicken. Als er einmal am Hause der Turkins vorbeifuhr, fiel ihm ein, daß er doch eigentlich für ein paar Minuten hineinschauen sollte, – das dachte er sich und ging doch nicht hin.
Und er kam nie wieder zu den Turkins.
Es sind noch einige Jahre vergangen. Starzew ist noch dicker und fetter geworden, atmet schwer und wirft im Gehen den Kopf in den Nacken zurück. Wenn er, aufgedunsen und rot in seiner Troika mit dem Schellengeläute fährt und Pantelejmon, der ebenso dick und rot geworden ist und einen fleischigen Nacken hat, auf dem Bocke sitzt, die Arme so gerade, wie wenn sie aus Holz wären, vor sich ausgestreckt, und die Leute auf der Straße anschreit: »Rechts!«, – so ist das Bild so imposant, als ob kein Mensch, sondern ein Götze im Wagen säße. Er hat in der Stadt eine riesengroße Praxis, die ihm keinen Augenblick freie Zeit läßt, besitzt ein Gut und zwei Häuser in der Stadt und ist eben im Begriff, ein drittes Haus möglichst vorteilhaft zu kaufen. Wenn er in der »Gesellschaft für gegenseitigen Kredit« von einem Hause hört, das zum Verkaufe steht, so begibt er sich in dieses Haus, geht ungeniert durch alle Zimmer, ohne auf die nicht angekleideten Frauen und Kinder, die ihn mit Erstaunen und Angst angaffen, zu achten, tippt mit dem Spazierstock an alle Türen und fragt:
»Ist hier das Kabinett? Hier das Schlafzimmer? Und was ist hier?«
Dabei atmet er schwer und wischt sich den Schweiß aus der Stirn.
Er hat furchtbar viel zu tun, und doch gibt er die Landarztstelle nicht auf; so gierig ist er und will ja keinen Pfennig verlieren. In Djalisch und in der Stadt nennt man ihn jetzt ganz kurz »Ionytsch«. – »Wo fährt der Ionytsch hin?« oder: »Soll man nicht den Ionytsch zum Konsilium rufen?«
Seine Stimme hat sich verändert und ist hoch und schneidend geworden, wohl weil seine Kehle verfettet ist. Auch sein Charakter hat sich verändert: er ist unverträglich und reizbar. Wenn er seine Kranken empfängt, klopft er ungeduldig mit dem Stock gegen den Boden und schreit mit böser widerlicher Stimme:
»Wollen Sie nur meine Fragen beantworten! Keine überflüssigen Gespräche!«
Er ist einsam. Sein Leben ist langweilig, und er hat für nichts Interesse.
Wahrend der ganzen Zeit, seit er in Djalisch wohnt, war seine Liebe zum Kätzchen seine einzige und wohl auch seine letzte Freude gewesen. Abends spielt er im Klub Whist und ißt dann allein am großen Tisch zu Abend. Ihn bedient der älteste und geachtetste Kellner Iwan; er trinkt den Lafitte Nr. 17; die Vorsteher des Klubs, der Koch und der Kellner, alle wissen genau, was er liebt, und was er nicht liebt, und bemühen sich, ihn nach Möglichkeit zufriedenzustellen, damit er nicht auffährt und mit dem Stock gegen den Boden klopft.
Beim Abendessen wendet er sich manchmal um und mischt sich in ein fremdes Gespräch ein:
»Von wem sprachen Sie eben? Wie?«
Und wenn mal an einem der Nebentische die Rede auf die Turkins kommt, so fragt er:
»Was für Turkins meinen Sie? Die, wo die Tochter Klavier spielt?«
Das ist alles, was man über ihn berichten kann.
Und die Turkins? Iwan Petrowitsch ist gar nicht gealtert, hat sich nicht verändert und macht noch immer seine Witze; Wjera Iossifowna liest den Gästen nach wie vor in aller Herzenseinfalt ihre Romane vor. Und das Kätzchen spielt täglich an die vier Stunden Klavier. Sie ist sichtlich älter geworden, kränkelt und geht jeden Herbst mit der Mutter nach der Krim. Iwan Petrowitsch gibt ihnen das Geleite, und wenn der Zug sich in Bewegung setzt, wischt er sich die Tränen aus den Augen und ruft:
»Leben Sie sowohl, als auch!«
Und winkt mit dem Taschentuch.
Übersetzt von Alexander Eliasberg
Unter den Veranstaltern von Liebhaberaufführungen, Konzerten und lebenden Bildern zu wohltätigen Zwecken spielten in unserer Stadt die Aschogins, die im eigenen Hause auf der Großen Adelstraße wohnten, die erste Rolle; sie gaben jedesmal ihre Räume her und übernahmen alle Scherereien und Auslagen. Diese reiche Gutsbesitzersfamilie besaß im Landkreise ein Gut von dreitausend Deßjatinen mit einem herrlichen Herrenhause, liebte aber das Landleben nicht und wohnte im Winter wie im Sommer in der Stadt. Die Familie bestand aus der Mutter, einer groß gewachsenen, hageren, vornehmen Dame, die die Haare kurz geschoren trug und sich nach englischer Mode kleidete, und aus drei Töchtern, die man niemals bei ihren Namen nannte, sondern einfach mit die Aelteste, die Mittlere, die Jüngste bezeichnete. Alle drei Töchter hatten ein spitzes Kinn, waren unschön und kurzsichtig, hielten sich gebückt, kleideten sich wie die Mutter und lispelten höchst unangenehm. Trotzdem nahmen sie unbedingt an jeder Vorstellung teil und betätigten sich immer zu wohltätigen Zwecken; entweder spielten sie, rezitierten oder sangen. Sie waren sehr ernst und lächelten niemals; selbst in Possen mit Gesang spielten sie ohne den leisesten Humor, mit einem so geschäftsmäßigen Ausdruck, als wenn sie Buchhaltung trieben.
Ich liebte unsere Aufführungen und ganz besonders die häufigen, etwas unordentlichen, geräuschvollen Proben, nach denen man immer ein Abendbrot bekam. An der Auswahl der Stücke und der Verteilung der Rollen beteiligte ich mich nicht. Ich betätigte mich nur hinter den Kulissen. Ich malte die Dekorationen, schrieb die Rollen ab, soufflierte, schminkte die Darsteller und sorgte für solche Effekte wie Donner, Nachtigallenschlag usw. Da ich weder eine gesellschaftliche Position noch anständige Kleider besaß, hielt ich mich bei den Proben abseits, im Schatten der Kulissen und schwieg.
Die Dekorationen malte ich bei den Aschogins auf dem Hofe oder im Stall. Mir half dabei der Maler oder »Unternehmer für Malerarbeiten«, wie er sich nannte, Andrej Iwanow. Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, groß, sehr mager und blaß; er hatte eine eingefallene Brust, eingedrückte Schläfen und blaue Ringe um die Augen und sah sogar etwas unheimlich aus. Er litt an irgendeiner auszehrenden Krankheit, und jeden Herbst und Frühling hieß es von ihm, daß er sterbe. Aber er stand immer wieder auf und sagte dann verwundert: »Ich bin nun wieder nicht gestorben!«
In der Stadt nannte man ihn »Rettich« und behauptete, daß das sein richtiger Name sei. Er liebte das Theater ebenso wie ich, und sobald er hörte, daß man wieder eine Liebhaberaufführung plane, ließ er alle seine Arbeiten liegen und ging zu den Aschogins, um Dekorationen zu malen.
Am Tage nach der Aussprache mit meiner Schwester arbeitete ich vom frühen Morgen an bei den Aschogins. Die Probe war auf sieben Uhr abends angesetzt, und eine Stunde vor Beginn hatten sich schon alle Liebhaber im Saale versammelt. Die Aelteste, die Mittlere und die Jüngste gingen auf und ab und lasen ihre Rollen. Rettich lehnte schon in seinem langen rotbraunen Mantel mit einem Tuch um den Hals an der Wand und blickte mit andächtigen Augen auf die Bühne. Frau Aschogina-Mutter ging bald auf den einen, bald auf den anderen Gast zu und sagte einem jeden etwas Angenehmes. Sie hatte die Manier, einen jeden scharf ins Gesicht zu blicken und so leise zu sprechen, als wären es lauter Geheimnisse.
»Es muß doch recht schwer sein, Dekorationen zu malen,« sagte sie leise zu mir. »Als Sie eintraten, sprach ich gerade mit Madame Muffke von den Vorurteilen. Mein Gott, ich habe mein ganzes Leben lang gegen die Vorurteile gekämpft! Um die Dienstboten von der Grundlosigkeit des Aberglaubens zu überzeugen, pflege ich stets drei Lichter anzuzünden und alles Wichtige am Dreizehnten zu beginnen.«
Nun kam die Tochter des Ingenieurs Dolschikow, eine üppige, schöne Blondine, die, wie man sich erzählte, lauter Pariser Sachen trug. Sie spielte nicht mit, aber bei allen Proben stand stets ein Stuhl für sie auf der Bühne bereit, und man begann mit der Vorstellung nicht eher, als bis sie, strahlend und alle durch ihre Toiletten in Verwunderung versetzend, in der ersten Reihe erschien. Als Großstädterin hatte sie das Privilegium, während der Proben Bemerkungen zu machen, und sie machte sie mit einem freundlichen, herablassenden Lächeln, dem man ansehen konnte, daß sie unsere Aufführungen als ein Kinderspiel betrachten, Man erzählte sich, sie hätte am Petersburger Konservatorium Gesang studiert und wäre sogar einen ganzen Winter lang in einer Operntruppe aufgetreten. Sie gefiel mir außerordentlich, und ich pflegte sie bei den Proben und Aufführungen nicht aus den Augen zu lassen.
Ich hatte schon das Heft in die Hand genommen, um mit dem Soufflieren zu beginnen, als plötzlich meine Schwester erschien. Ohne Mantel und Hut abzulegen, ging sie auf mich zu und sagte:
»Ich bitte dich, komm mit!«
Ich folgte ihr. Hinter der Bühne stand in der Türe Anjuta Blagowo, gleichfalls in Hut, mit einem dunklen Schleier vor dem Gesicht. Sie war die Tochter des Vizepräsidenten des Kreisgerichts, der schon sehr lange, fast seit der Gründung des Gerichtshofes in unserer Stadt amtierte. Da sie groß und schön gewachsen war, wirkte sie obligatorisch an den lebenden Bildern mit, und wenn sie irgendeine Fee oder Ruhmesgöttin darstellte, glühte ihr Gesicht vor Scham; aber in den Stücken spielte sie nicht mit und kam zu den Proben immer nur im Vorbeigehen, wenn sie jemand sprechen mußte. Auch jetzt war sie offenbar nur auf dem Sprunge hier.
»Mein Vater hat von Ihnen erzählt,« sagte sie trocken, ohne mich anzusehen und errötete. »Dolschikow hat eine Stelle für Sie bei der Bahn in Aussicht gestellt. Gehen Sie morgen zu ihm hin, er wird zu Hause sein.«
Ich verbeugte mich und dankte für die Bemühungen.
»Das können Sie übrigens lassen,« sagte sie, auf mein Soufflierheft zeigend.
Dann gingen sie und meine Schwester auf die Frau Aschogina zu und tuschelten eine Weile mit ihr, zu mir herüberblickend. Sie schienen etwas zu beraten.
»In der Tat,« sagte Frau Aschogina leise, an mich herantretend und mir gerade ins Gesicht blickend: »in der Tat, wenn Sie das von ernsthafter Beschäftigung ablenkt,« sie nahm mir das Heft aus der Hand, »so können Sie das jemand anders übergeben. Machen Sie sich darüber keine Sorgen, lieber Freund, gehen Sie mit Gott.«
Ich verabschiedete mich von ihr und ging verlegen hinaus. Auf der Treppe sah ich auch meine Schwester und Anjuta Blagowo weggehen. Sie sprachen eifrig über etwas, wahrscheinlich über meinen Eintritt in den Eisenbahndienst, und hatten es sehr eilig. Meine Schwester war bisher noch niemals bei einer Probe gewesen; daher hatte sie wohl jetzt Gewissensbisse und fürchtete, der Vater könnte erfahren, daß sie ohne seine Erlaubnis bei den Aschogins gewesen war.
Ich ging zu Dolschikow am nächsten Tag, bald nach zwölf. Ein Diener führte mich in ein sehr schönes Zimmer, das dem Ingenieur als Empfangszimmer und zugleich als Arbeitszimmer diente. Hier war alles weich, elegant und kam einem Menschen wie mir, der so etwas noch nie gesehen hatte, sogar seltsam vor. Lauter teure Teppiche, riesengroße Sessel, Bronzen, Bilder in Gold- und Plüschrahmen; an den Wänden Photographien, die sehr schöne Frauen mit klugen Gesichtern in ungezwungenen Posen darstellten; eine Tür führte aus dem Empfangszimmer auf die Veranda und in den Garten, und ich sah Fliederbüsche, einen gedeckten Tisch mit vielen Flaschen und einem Rosenstrauß; alles duftete nach Frühling, nach teuren Zigarren, alles atmete Glück und alles schien sagen zu wollen: siehst du, dieser Mensch hat sein Leben lang gearbeitet und schließlich alles Glück erreicht, das auf dieser Welt möglich ist. Am Schreibtische saß die Tochter des Ingenieurs und las in einer Zeitung.
»Sie kommen zu meinem Vater?« fragte sie. »Er nimmt gerade eine Dusche, gleich wird er kommen. Bitte, setzen Sie sich.«
Ich setzte mich.
»Sie wohnen, glaube ich, uns gegenüber?« fragte sie wieder nach einer Pause.
»Jawohl.«
»Vor Langweile schaue ich oft zum Fenster hinaus. Sie müssen es entschuldigen,« fuhr sie fort, in die Zeitung blickend, »ich sehe oft Sie und Ihre Schwester. Sie hat einen so gutmütigen und besorgten Gesichtsausdruck.«
Nun kam Dolschikow herein. Er trocknete sich mit einem Handtuch den Hals ab.
»Papa, es ist Herr Polosnjew,« sagte die Tochter.
»Ja, ja, Blagowo hat mir schon von Ihnen erzählt,« wandte er sich lebhaft an mich, ohne mir die Hand zu reichen. »Aber, hören Sie einmal, was soll ich für Sie tun? Was habe ich für Stellen zu vergeben? Ihr seid doch wirklich merkwürdige Menschen!« fuhr er sehr laut fort, in einem Tone, als ob er mir eine Rüge erteilte. »Täglich kommen an die zwanzig Menschen zu mir, die sich einbilden, daß ich hier ein Ministerium habe! Ich habe ja nur die Bauarbeiten unter mir, meine Herren, und kann nur Schwerarbeiter brauchen: Mechaniker, Schlosser, Erdarbeiter, Tischler, Brunnengräber. Ihr alle versteht aber nur in den Schreibstuben zu hocken. Ihr seid alle nichts als Schreiber!«
Er atmete dasselbe Glück wie seine Teppiche und Sessel. Voll, gesund, rotbackig, mit breiter Brust, frisch gewaschen, in farbigem Kattunhemd und Pluderhose, sah er wie ein Spielzeug, wie ein Kutscher aus Porzellan aus. Er hatte ein rundes, lockiges Bärtchen ohne ein einziges graues Haar, eine Adlernase und dunkle, klare, unschuldige Augen.
»Was verstehen Sie zu tun?« fuhr er fort. »Gar nichts verstehen Sie! Ich bin Ingenieur und gut versorgt, aber bevor ich diese Eisenbahn bekam, mußte ich lange schuften. Ich bin als Maschinist auf der Lokomotive herumgefahren und habe ganze zwei Jahre als einfacher Wagenschmierer in Belgien gearbeitet. Urteilen Sie nun selbst, mein Bester, was für eine Arbeit soll ich Ihnen anbieten?«
»Gewiß, das stimmt ...« stotterte ich in höchster Aufregung. Der Blick seiner klaren, unschuldigen Augen irritierte mich.
»Verstehen Sie wenigstens mit einem Telegraphenapparat umzugehen?« fragte er nach einiger Überlegung.
»Ja, ich habe schon den Telegraphen bedient.«
»Hm ... Nun, wir wollen sehen. Gehen Sie vorläufig nach Dubetschnja. Ich habe dort schon einen sitzen, aber der ist ein ganz unmöglicher Kerl.«
»Worin wird meine Tätigkeit bestehen?« fragte ich.
»Das wird sich schon zeigen. Gehen Sie nur hin, ich werde das Nötige anordnen. Aber um das eine muß ich Sie bitten: daß Sie mir nicht trinken und mich mit keinen Bittschriften behelligen. Sonst jage ich Sie gleich hinaus.«
Er ließ mich stehen und nickte mir nicht einmal mit dem Kopf. Ich verbeugte mich vor ihm und seiner Tochter, die in der Zeitung las, und ging. Es war mir so traurig zumute, und ich hatte so wenig Lust, die Stadt zu verlassen. Ich liebte meine Vaterstadt. Sie schien mir so hübsch und heimlich. Ich liebte dieses Grün, die stillen sonnigen Morgenstunden, das Läuten unserer Kirchenglocken; aber die Menschen, mit denen ich in dieser Stadt zusammenwohnte, langweilten mich und waren mir fremd, zuweilen sogar widerlich. Ich liebte sie nicht und verstand sie auch nicht.
Ich konnte nicht verstehen, wozu und wovon alle diese fünfundzwanzigtausend Menschen existierten. Ich wußte, daß die Stadt Kimry von Stiefeln lebte, daß Tula Samowars und Gewehre produzierte, daß Odessa eine Hafenstadt war, was aber unsere Stadt darstellte und was sie leistete, das war mir unbekannt. Die Große Adelsstraße und noch zwei andere bessere Straßen lebten von Zinsen und von den Gehältern, die der Staat den Beamten zahlte; wovon aber die übrigen acht Straßen lebten, die parallel zueinander drei Werst weit liefen und hinter dem Hügel verschwanden, das war für mich immer ein unlösbares Rätsel.
Und wie diese Menschen lebten, das war die reinste Schande! Es gab weder einen Stadtgarten, noch ein Theater, noch ein anständiges Orchester; die Stadt- und die Klubbibliothek wurden ausschließlich von halbwüchsigen Jungen besucht, und die Zeitschriften und neuen Bücher lagen monatelang unaufgeschnitten herum; selbst die reichen und gebildeten Menschen schliefen in schwülen, engen Räumen auf Holzbetten mit Ungeziefer, hielten ihre Kinder in scheußlichen, schmutzigen Löchern, die sie Kinderzimmer nannten, und die Dienstboten, selbst die alten und geachteten, mußten in der Küche auf dem Fußboden schlafen und sich mit elenden Lumpen zudecken. An Fleischtagen roch es in allen Häusern nach Kohlsuppe, und an Fasttagen – nach Stör und Sonnenblumenöl. Man aß schlecht zubereitete Speisen und trank ungesundes Wasser. Im Rathause, beim Gouverneur, beim Bischof, in allen Häusern sprach man jahrelang davon, daß wir in unserer Stadt kein billiges gutes Trinkwasser haben und daß man beim Staate eine Anleihe von zweihunderttausend Rubel machen sollte, um eine Wasserleitung zu bauen; auch die sehr reichen Leute, von denen es in unserer Stadt an die drei Dutzend gab, und die manchmal ganze Güter am Kartentisch verspielten, tranken das schlechte Wasser und sprachen ihr Leben lang mit großem Eifer von der Anleihe. Ich konnte das nicht verstehen: mir schien es viel einfacher, die zweihunderttausend Rubel aus eigener Tasche zu zahlen.
Ich kannte in unserer Stadt keinen einzigen ehrlichen Menschen. Mein Vater nahm Bestechungsgelder an und bildete sich ein, daß man sie ihm aus Achtung für seine seelischen Eigenschaften schenke; die Gymnasiasten mußten, um alljährlich versetzt zu werden, zu ihren Lehrern in Pension gehen, wofür sich diese ordentlich bezahlen ließen; die Frau des Stadtkommandanten ließ sich zur Zeit der Einberufungen von den Rekruten bestechen und sogar mit Alkohol traktieren, und einmal passierte es, daß sie in der Kirche beim Gottesdienst unmöglich von den Knien aufstehen konnte, da sie betrunken war; auch die Ärzte mußten bei den Einberufungen geschmiert werden, und der Bezirksarzt und der Veterinär hatten alle Fleischläden mit einer Steuer belegt; an der Kreisschule konnte man Atteste kaufen, die die Berechtigung zum Freiwilligendienst gaben; die Pröpste nahmen von den ihnen unterstellten Geistlichen und Kirchenvorstehern Geldgeschenke an; in allen Ämtern rief man jedem Besucher nach: »Es ist üblich, sich zu bedanken!«, und der Besucher kehrte um, um dreißig oder vierzig Kopeken zu geben. Diejenigen aber, die keine Bestechungsgelder annahmen, wie die Gerichtsbeamten, waren hochmütig, reichten bei der Begrüßung nur zwei Finger, zeichneten sich durch die Kälte und Beschränktheit ihrer Urteile aus, waren dem Kartenspiel und dem Trunke ergeben, heirateten reich und wirkten auf ihre Umgebung zweifellos schädlich und demoralisierend. Nur die jungen Mädchen atmeten Reinheit; die meisten von ihnen hatten hohe Bestrebungen und ehrliche, keusche Seelen; aber sie verstanden das Leben nicht und glaubten, daß die Bestechungsgelder in Anerkennung der seelischen Eigenschaften gegeben werden. Wenn sie aber heirateten, alterten sie früh, versumpften schnell und versanken hoffnungslos im Schlamme der trivialen, kleinbürgerlichen Existenz.
In unserer Gegend wurde eine Eisenbahn gebaut. An den Abenden vor den Feiertagen zogen Banden von zerlumpten Kerlen durch die Stadt, die man »Eisenbahner« nannte und vor denen man sich fürchtete. Gar oft sah ich, wie man so einen Kerl mit blutendem Gesicht, ohne Mütze zur Polizei führte, während hinter ihm als corpus delicti ein Samowar oder frischgewaschene, noch neue Wäsche getragen wurde. Die »Eisenbahner« drängten sich meistens bei den Schenken und auf den Märkten herum. Sie aßen und tranken, schimpften unflätig und begleiteten jede Dirne mit gellendem Pfeifen. Zur Unterhaltung dieser immer hungrigen Lumpen pflegten unsere Ladenbesitzer Katzen und Hunde mit Schnaps betrunken zu machen oder einem Hunde eine leere Petroleumkanne an den Schwanz zu binden; dann fingen sie zu pfeifen an, und der Hund raste, vor Entsetzen heulend, durch die Straße, während die Kanne dröhnte. Dem Hunde schien es, daß er von einem Ungeheuer verfolgt werde, er lief weit vor die Stadt ins freie Feld hinaus, bis ihn die Kräfte verließen; es gab in unserer Stadt mehrere Hunde, die immer zitterten und die Schweife eingezogen hielten; von ihnen sagte man, daß sie dieses Spiel nicht hatten ertragen können und verrückt geworden seien.
Der Bahnhof wurde fünf Werst von der Stadt erbaut. Man erzählte sich, daß die Ingenieure fünfzigtausend Rubel dafür gefordert hätten, daß der Bahnhof näher bei der Stadt läge; die Stadtverwaltung hätte dafür aber nur vierzigtausend geben wollen; wegen der zehntausend Rubel hätte sich das Geschäft zerschlagen; die Stadtverwaltung bereute es nun schwer, da sie bis zum Bahnhof eine Chaussee anlegen mußte, die viel teurer zu stehen kam. Auf der ganzen Strecke lagen schon die Schwellen und die Schienen und verkehrten Dienstzüge, die das Baumaterial beförderten; es fehlten nur noch die Brücken, die Dolschikow zu bauen hatte, und auch einige Stationsgebäude waren noch nicht ganz fertig.
Dubetschnja – so hieß unsere erste Station – lag siebzehn Werst von der Stadt entfernt. Ich ging zu Fuß. Die Saaten leuchteten grün in der Morgensonne. Die Gegend war flach und freundlich, und in der Ferne hoben sich klar der Bahnhof, die Hügel und entfernte Gutsgebäude ab ... Wie schön war es hier in Gottes freier Natur! Und wie gern wollte ich diese Freiheit genießen, wenigstens diesen einen Morgen lang, und nicht daran denken müssen, was in der Stadt vorging, nicht an meine Schwierigkeiten und an den Hunger, der mich quälte, denken müssen! Nichts hinderte mich am Lebensgenuß so sehr wie dieses nagende Hungergefühl, wenn meine besten Gedanken sich sonderbar mit den Vorstellungen von Buchweizengrütze, Koteletts und Bratfischen verquickten. Da stehe ich allein im Felde, blicke auf eine Lerche, die in der Luft unbeweglich zu schweben scheint und wie in einem hysterischen Anfall schmettert, und denke mir dabei: »Wie gut wäre es jetzt, ein Stück Butterbrot zu essen!« Oder ich setze mich am Straßenrande nieder, schließe die Augen, um auszuruhen und diesen herrlichen Frühlingsgeräuschen zu lauschen, und plötzlich muß ich an den Geruch gebratener Kartoffeln denken. Obwohl ich groß gewachsen und kräftig gebaut bin, bekam ich im allgemeinen wenig zu essen, und daher war der Hunger meine wesentlichste Empfindung im Laufe des Tages; darum verstand ich vielleicht auch so gut, weshalb so viele Menschen nur des Brotes wegen arbeiten und nur vom Essen sprachen.
In Dubetschnja arbeitete man gerade am Verputz der Innenwände des Stationsgebäudes und baute eine hölzernen Oberstock am Wasserturm. Es war heiß, es roch nach Kalk, und die Arbeiter trieben sich träge zwischen den Haufen von Schutt und Spänen herum; der Weichensteller schlief vor seinem Häuschen, und die Sonne brannte ihm gerade ins Gesicht. Kein einziger Baum war zu sehen. Leise summten die Telegraphendrähte, auf denen hie und da Habichte ausruhten. Ich drückte mich zwischen dem Schutt umher, wußte nicht, was anzufangen und dachte an die Antwort des Ingenieurs auf meine Frage, was ich hier zu tun haben würde: »Das wird sich schon zeigen.« Was konnte sich aber in dieser Wüste zeigen? Die Maurer sprachen von irgendeinem Polier und von einem gewissen Fedot Wassiljew; ich verstand es nicht, und meiner bemächtigte sich allmählich ein Unlustgefühl, – ein körperliches Unlustgefühl, bei dem man seine Arme und Beine und seinen ganzen großen Körper fühlt und nicht weiß, was mit ihnen anzufangen.
Nachdem ich mindestens zwei Stunden so herumgebummelt, bemerkte ich eine Reihe von Telegraphenstangen, die rechts von der Strecke abbogen und vor einer weißen Mauer aufhörten; die Arbeiter sagten mir, daß dort die Baukanzlei sei, und nun begriff ich endlich, daß ich mich dorthin zu wenden hatte.
Es war ein sehr altes, verwahrlostes Gutshaus. Die Mauer aus weißem porösem Stein war verwittert und stellenweise eingefallen. Der Seitenflügel, dessen blinde Wand nach dem Felde lag, hatte ein rostiges Eisendach, auf dem hie und da einige frisch geflickte Stellen glänzten. Durch das Tor sah ich einen sehr geräumigen Hof, der mit wildem Steppengras bewachsen war, und ein altes Herrenhaus mit Jalousien an den Fenstern und einem hohen, vor Rost ganz roten Dach. Rechts und links standen zwei vollkommen gleiche Seitenflügel; die Fenster des einen waren mit Brettern vernagelt, vor dem andern aber, dessen Fenster offen standen, war Wäsche zum Trocknen aufgehängt und weideten Kälber. Der letzte Telegraphenpfahl stand auf dem Hofe, und der Draht ging in eines der Fenster des Flügels, der mit seiner blinden Wand nach dem Felde lag. Die Türe war offen, und ich trat ein. Am Tisch mit dem Telegraphenapparat saß ein Herr mit dunklem Lockenkopf, mit einer Leinenjacke bekleidet; er blickte mich erst streng und mürrisch an, lächelte aber dann gleich und sagte:
»Guten Tag, kleiner Nutzen!«
Es war Iwan Tscheprakow, mein ehemaliger Schulkollege, den man aus der zweiten Klasse wegen Rauchens relegiert hatte. Wir pflegten einst zusammen zur Herbstzeit Stieglitze, Zeisige und Kernbeißer zu fangen und am frühen Morgen, wenn die Eltern noch schliefen, auf dem Markte zu verkaufen. Wir lauerten auch den Staren auf, schossen sie mit seinem Schrot an und sammelten dann die verwundeten. Die einen starben bei uns in schrecklichen Qualen (ich erinnere mich auch heute noch, wie sie nachts in ihrem Käfig stöhnten), die anderen aber, die wieder gesund wurden, verkauften wir und schworen dabei, daß es lauter Männchen seien. Einmal war mir auf dem Markte nur ein einziger Star übriggeblieben, den ich lange nicht anbringen konnte und schließlich für eine Kopeke verkaufte, »Es ist ja immerhin ein kleiner Nutzen!« sagte ich damals zum Trost, die Kopeke in die Tasche steckend, und von nun an hieß ich bei den Gassenjungen und Gymnasiasten »kleiner Nutzen«. Es kam auch jetzt noch vor, daß Gassenjungen und Händler mich damit neckten, obgleich wohl niemand mehr den Ursprung dieses Spitznamens kannte.
Tscheprakow war schwächlich von Statur, engbrüstig und langbeinig, und hielt sich krumm. Seine Halsbinde war wie ein Strick verknotet, eine Weste hatte er überhaupt nicht an, und seine Stiefel hatten schiefe Absätze und waren noch schlechter als die meinigen. Er zwinkerte immer mit den Augen und hatte einen so ungestümen Ausdruck, als wollte er immer etwas packen.
»Wart einmal,« sage er jeden Augenblick sehr geschäftig. »Hör einmal ... Ja, was wollte ich eben sagen? ...«
Wir kamen ins Gespräch. Ich erfuhr von ihm, daß das Gut, auf dem ich mich jetzt befand, noch vor kurzem den Tscheprakows gehört hatte und erst im vergangenen Herbst in den Besitz Dolschikows übergegangen war, der es für vernünftiger hielt, sein Geld in Immobilien als in Papieren anzulegen, und in unserer Gegend bereits drei ansehnliche Güter mit Uebernahme der Schuldenlast gekauft hatte; Tscheprakows Mutter hatte sich beim Verkauf dieses Gutes das Recht ausbedungen, in einem der Seitenflügel noch zwei Jahre wohnen zu bleiben, und obendrein auch eine Anstellung für ihren Sohn an der Baukanzlei erwirkt.
»Warum soll er auch keine Güter kaufen!« sagte Tscheprakow vom Ingenieur. »Was er von den Lieferanten allein schindet! Von allen schindet er!«
Dann forderte er mich auf, mit ihm zu Mittag zu essen. Er hatte in aller Eile beschlossen, daß ich mit ihm im Seitenflügel wohnen und mich bei seiner Mutter beköstigen werde.
»Sie ist zwar ein Geizhals,« sagte er, »wird dir aber nicht allzu viel berechnen.«
In den kleinen Zimmern, die seine Mutter bewohnte, war es sehr eng; überall, selbst im Flur und Vorzimmer standen die Möbel herum, die man nach dem Verkauf des Gutes aus dem großen Hause herübergeschafft hatte; es waren lauter altertümliche Mahagonimöbel. Frau Tscheprakowa, eine volle, alte Dame mit chinesischen Schlitzaugen, saß in einem schweren Sessel am Fenster und strickte. Sie empfing mich höchst zeremoniell.
»Mama, das ist Herr Polosnjew,« stellte mich Tscheprakow vor. »Er tritt hier in Stellung.«
»Sind Sie adlig?« fragte sie mich mit seltsam unangenehmer Stimme, die so klang, als ob in ihrem Halse Fett kochte.
»Ja,« antwortete ich.
»Nehmen Sie Platz.«
Das Mittagessen war schlecht. Es gab eine Pastete mit bitterem Quark, eine Milchsuppe und sonst nichts. Jelena Nikiforowna, die Dame des Hauses, blinzelte mir die ganze Zeit bald mit dem einen, bald mit dem andern Auge zu. Sie sprach und aß, aber in ihrem ganzen Wesen war etwas Totes, und ich glaubte sogar Leichengeruch zu spüren. Das Leben glimmte in ihr ebenso schwach wie das Bewußtsein, daß sie eine Gutsbesitzerin, die einst Leibeigene besessen hatte, und Generalewitwe sei, die die Dienstboten Exzellenz zu titulieren haben; wenn diese kümmerlichen Reste ihres einstigen Lebens in ihr wieder aufleuchteten, pflegte sie ihrem Sohn zu sagen:
»Jean, du hältst das Messer nicht so, wie, es sich gehört!«
Oder sie wandte sich, schwer keuchend, an mich, mit der Geziertheit einer Dame, die ihren Gast unterhalten will:
»Wissen Sie, wir haben unser Gut verkauft. Es tut uns natürlich furchtbar leid, denn wir sind an diese Gegend gewöhnt, aber Dolschikow hat versprochen, Jean zum Stationschef von Dubetschnja zu machen. So werden wir von hier nicht fortziehen müssen, sondern auf der Station wohnen, und das ist genau so wie auf dem Gute. Der Ingenieur ist so gut! Finden Sie nicht auch, daß er ein schöner Mann ist?«
Die Tscheprakows lebten vor nicht langer Zeit als reiche Leute, aber nach dem Tode des Generals hatte sich alles verändert. Jelena Nikiforowna zankte sich und prozessierte mit den Nachbarn, kürzte den Angestellten und Arbeitern die Löhne und hatte immer Angst vor Dieben und Räubern; nach kaum zehn Jahren war Dubetschnja nicht mehr wiederzuerkennen.
Hinter dem großen Hause lag ein alter Garten, in dem Gras und Gesträuch verwilderten. Ich betrat die schöne und noch gar nicht baufällige Terrasse und blickte durch die Glastür ins Innere des Hauses hinein. Ich sah ein Zimmer mit Parkettfußboden, wohl einen Salon mit einem alten Klavier und Stichen in breiten Mahagonirahmen an den Wänden; sonst war nichts drin. Von den früheren Blumenanlagen waren nur Päonien und Mohn übriggeblieben, die aus dem Grase ihre weißen und grellroten Köpfe hoben. Längs der Wege wuchsen, einander drängend, junge Ahornbäume und Ulmen, die von den Kühen ordentlich angenagt waren. Das Dickicht schien undurchdringlich; so war es aber nur in der Nähe des Hauses, wo noch Pappeln, Fichten und Linden, die wohl ebenso alt wie das Haus waren, standen. Aber weiter hinaus war der Garten schon zu einer Weide ausgerodet; hier war es nicht mehr so schwül, hier bekam man nicht fortwährend Spinngewebe in den Mund und in die Augen, hier wehte ein erfrischender Wind. Und noch weiter vom Hause weg war es schon sehr geräumiger; hier standen ganz frei Kirschen-, Pflaumen- und Apfelbäume, von Stützen und Brand entstellt, und so große Birnbäume, daß man gar nicht glauben wollte, daß es Birnbäume seien. Dieser Teil des Gartens war an Obsthändlerinnen aus der Stadt verpachtet, und ein halbverrückter Bauer, der in einer Hütte wohnte, bewachte ihn vor den Staren und Dieben.
Der Garten ging dann allmählich in eine richtige Wiese über und stieg zum Flüßchen herab, das mit grünem Schilf und Weidengebüsch umwachsen war; neben dem Mühlendamme lag ein tiefer, fischreicher Teich. Die mit Stroh gedeckte Mühle rauschte wütend, und die Frösche quakten wie wahnsinnig. Auf dem glatten Wasserspiegel zogen Kreise, wenn ein Fisch die Stengel der Wasserlilien streifte. Jenseits des Flüßchens lag das Dorf Dubetschnja. Der stille blaue Teich lockte zu sich und verhieß Kühle und Ruhe. Und jetzt gehörte das alles – der Teich, die Mühle und die schönen Ufer dem Ingenieur!
Nun begann mein neuer Dienst. Ich empfing Telegramme und gab sie weiter, setzte allerlei Berichte auf und schrieb die Bestellzettel, Klagen und Rechnungen ins reine, die uns die kaum des Schreibens kundigen Poliere und Meister schickten. Den größten Teil des Tages tat ich aber nichts und ging, in Erwartung von Telegrammen, im Zimmer auf und ab; oder ich ließ einen Jungen als Aufpasser zurück und spazierte im Garten, bis der Junge mir meldete, daß der Apparat klopft. Zu Mittag aß ich bei der Frau Tscheprakow. Fleisch gab es sehr selten; meistens bekamen wir Milchspeisen und an Mittwochen und Freitagen – Fastenspeisen; an diesen Tagen standen rosa Teller auf dem Tisch, die man »Fastenteller« nannte. Frau Tscheprakowa hatte die angenehme Angewohnheit, mir immer zuzublinzeln, und in ihrer Gegenwart fühlte ich mich recht unbehaglich.
Da es nicht einmal für einen Menschen genug Arbeit gab, so tat Tscheprakow gar nichts, sondern schlief meistens oder ging mit der Flinte an den Teich, Wildenten zu schießen. An Abenden betrank er sich im Dorfe oder auf der Station, betrachtete sich dann vor dem Schlafengehen in einem kleinen Spiegel und rief sich selbst zu:
»Guten Abend, Iwan Tscheprakow!«
Wenn er betrunken war, sah er sehr blaß aus, rieb sich immer die Hände und wieherte wie ein Pferd. Manchmal zog er sich auch ganz nackt aus und lief in diesem Zustand im Felde herum. Er aß auch Fliegen und behauptete, daß sie säuerlich schmeckten.
Eines Nachmittags kam er zu mir außer Atem gelaufen sagte:
»Komm, deine Schwester ist da.«
Ich ging hinaus. Vor dem großen Hause hielt tatsächlich eine Stadtdroschke. Meine Schwester war mit Anjuta Blagowo und einem Herrn in Militäruniform gekommen. Als ich näher kam, erkannte ich ihn: es war Anjutas Bruder, der Militärarzt.
»Wir sind zu Ihnen zu einem Picknick gekommen,« sagte er: »Ist es Ihnen recht?«
Meine Schwester und Anjuta wollten mich wohl fragen, wie es mir hier ginge, aber beide schwiegen und sahen mich nur an. Auch ich schwieg. Sie wußten, daß es mir hier nicht gefiel; meiner Schwester traten Tränen in die Augen, und Anjuta Blagowo wurde rot. Wir gingen in den Garten. Der Militärarzt schritt voran und rief begeistert:
»Das nenn' ich eine Luft! Heilige Mutter Gottes, ist das eine Luft!«
Er sah noch ganz wie ein Student aus. Er sprach und bewegte sich wie ein Student, und auch seine grauen Augen blickten lebhaft, einfach und offen wie bei einem guten Studenten. An der Seite seiner stattlichen und schönen Schwester erschien er schmächtig und klein; sein Bärtchen