Inhaltsverzeichnis

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  74. Kapitel
  75. Kapitel
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© 2021 Christoph-Maria Liegener

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Cover-Bild: Rechte beim Autor

ISBN: 9783753473758

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Gewidmet meinen Eltern in Dankbarkeit

1.

Es begann mit dem Ende. Gernot hatte die Hoffnung aufgegeben. Das Beatmungsgerät funktionierte einwandfrei, er bekam Sauerstoff und der Sauerstoffgehalt seines Blutes ging so halbwegs. Trotzdem fühlte er sich schlecht, völlig hilflos, wie ein Gehirn an Apparaten. Die Operation war zwar wohl gelungen, der Tumor entfernt, aber es hatte länger gedauert und es hatte sich schwieriger gestaltet als gedacht. Seine Atmung hatte ausgesetzt und man fürchtete eine Sauerstoffunterversorgung.

Seine Frau Susanne und sein Sohn Lothar saßen an seinem Bett. Susanne hielt seine Hand und sprach beruhigende Worte, Worte der Liebe und der Ermutigung. Mehr konnte auch sie nicht tun. Man musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Tatsächlich erlitt er einen Herzstillstand und musste reanimiert werden. Er musste eine Nahtod-Erfahrung durchmachen.

Wie man sich erzählt, zieht in solchen Momenten das ganze Leben noch einmal an einem vorbei, man sieht vieles noch einmal. So geschah es auch mit Gernot – mit dem Unterschied, dass er die Situationen wirklich noch einmal durchlebte. Man nennt so etwas Hypermnesie. Es ist mehr als nur ein Traum. Man glaubt, die betreffende Situation tatsächlich noch einmal zu erleben.

Gernot hatte das Gefühl, in der Zeit zurückzuspringen. Ausgewählte Tage seiner Vergangenheit durfte er noch einmal durchleben, ohne selbst einen Einfluss darauf zu haben, welche es waren und in welcher Reihenfolge sie auftauchten. Tatsächlich konnte er in diesen Flashbacks frei handeln und die Vergangenheit scheinbar ändern, aber dann löste sich alles wieder in Luft auf. Zeitblasen sozusagen.

2.

So sah er sich jetzt plötzlich in jene Situation zurückversetzt, als sein Tumor diagnostiziert worden war. Es geschah in der Sprechstunde seines Arztes, der ihm mit ernstem Gesicht mitteilte, was er auf den Röntgenaufnahmen entdeckt hatte, und ihn an die Universitätsklinik überwies. Damals hatte ihn die Mitteilung umgehauen. Er konnte natürlich nichts anderes tun, als die Fakten zu akzeptieren. Nur langsam begriff er, was los war. Je mehr ihm die Situation klar wurde, desto trauriger wurde er.

Diesmal würde er es anders machen. Er wollte das nicht alles noch einmal durchleben. Er hatte es schon einmal durchlebt. Das musste genügen! Er entschuldigte sich beim Arzt, bevor der überhaupt begonnen hatte zu reden und ergriff die Flucht.

„Warum nicht auf die Operation verzichten?“, dachte er. Sein Berufsleben war zu Ende. Gut, er hätte gern noch eine Weile sein Rentnerdasein genossen, aber im Wesentlichen hatte er sein Leben hinter sich. Lieber wollte er diesen Tag ahnungslos genießen, was natürlich nicht ging, da er die Wahrheit schon kannte.

Trotzdem amüsierte er sich, so gut er konnte. Dieser Tag verlief ohne weitere nennenswerte Ereignisse. Gernot schlief abends mit dem Gefühl ein, sein Leben korrigiert zu haben.

Dann war er plötzlich wieder zurück in der Gegenwart, schwebte über seinem leblosen Körper und beobachtete die Bemühungen der Ärzte und Pflegekräfte.

Nichts hatte sich geändert. Schade. Er hatte doch die Vergangenheit noch einmal durchlebt und es diesmal anders gemacht. Er hätte nicht operiert werden dürfen. Jedoch: Ändern konnte er die Vergangenheit offenbar nicht. Dann war es nichts als ein sehr lebendiger Traum gewesen. Kurz, aber lebensecht! Immerhin hatte er seine Erinnerungen ändern können! Auch etwas, nur eben nicht die Realität.

Wenn er auch nicht die Realität ändern konnte, so konnte er doch eines ändern: sich selbst. Indem er die Vergangenheit neu durchlebte, änderte sich seine Sichtweise auf sich selbst und sein Leben. Er selbst wurde dadurch zu einem anderen.

Insgesamt konnte er höchstens für einen Sekundenbruchteil weggewesen sein. Absolut nichts hatte sich geändert. Nur ein winziger Gedankenfetzen war vorbeigeflattert.

Sein Ende drohte immer noch. Und wieder sprang er in die Vergangenheit zurück.

3.

Er ging an der Hand seiner Mutter. Höchstens sechs Jahre konnte er alt sein. Da kam ein riesiger schwarzer Hund kläffend auf ihn zugerast. Für den kleinen Jungen erschien er bedrohlich, obwohl er offenbar nur spielen wollte.

„Der tut nichts!“, rief die Besitzerin.

Das konnte ein kleines Kind nicht beruhigen, auf den ein riesiges Ungetüm zustürmte. Das Einzige, was ihm Sicherheit gab, war die Hand seiner Mutter.

Die umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr:

„Hab keine Angst! Ich bin bei dir.“

Sofort verschwand seine Angst. Er sah dem Hund fest in die Augen, worauf das Bellen in ein Knurren überging.

Dann rief er:

„Geh weg!“

Tatsächlich ließ der Hund von ihm ab und verzog sich. Seine Mutter streichelte ihn und lobte seinen Mut. Dabei hatte er alles nur ihr zu verdanken.

Über die Jahrzehnte hatte er das Ereignis fast schon vergessen. Jetzt aber holte es ihn ein und erinnerte ihn an sein damaliges Selbstvertrauen.

Die Situation strahlte in die Gegenwart aus. Er spürte die Gegenwart seiner Mutter, obwohl sie schon vor Jahren gestorben war. Ihre Stimme hallte in seinen Ohren nach und er vertraute ihr wie damals. Er hatte jetzt den Mut, dem Tod entgegenzutreten.

Aber wieder sprang er in die Vergangenheit zurück.

4.

Es war kurz vor Ostern, Familienbesuch hatte sich eingestellt. Sein jüngerer Bruder Achim und er hatten eine Tüte Ostereier mitgebracht bekommen, mit dem Hinweis, sie sich zu teilen. Die Tüte enthielt fünf mittelgroße Schokoladeneier – nicht ganz einfach zu teilen.

Die Brüder zogen sich zurück. Als der Ältere hatte damals Gernot die Initiative ergriffen und gefragt:

„Wie wollen wir es machen? Teilen wir brüderlich oder gerecht?“

„Was bedeutet das?“, wollte Achim wissen.

„Brüderlich bedeutet: Du bekommst zwei Eier, ich drei. Gerecht bedeutet: Du bekommst gar nichts.“

Achim hatte sich damals traurig mit zwei Eiern zufriedengegeben.

Diesmal würde Gernot es besser machen. Er teilte die Eier, indem er Achim drei gab und sich selbst zwei nahm. Achims Augen strahlten und er umarmte Gernot spontan.

Gernot traten die Tränen in die Augen. Er hätte doch wirklich öfter mal nett zu seinem Bruder sein sollen! Klar, sie verstanden sich und trafen sich auch jetzt noch regelmäßig, aber solch eine Herzlichkeit wie eben hatte es nie gegeben. Eigentlich schade.

Lange dachte er noch darüber nach, bis es Schlafenszeit wurde und er zu seinem scheintoten Zustand zurückkehrte, um aufs Neue zu starten.

5.

Er war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hatte eine Panne gehabt. Der vordere Reifenschlauch hatte ein Loch bekommen und Gernot hatte kein Flickzeug dabei. Genutzt hätte es ihm sowieso nicht. Er wusste nicht, wie man einen Reifenschlauch flickt. Mühsam hatte er das Rad nach Hause geschoben und sich bei seinen Eltern ausgejammert.

Da hatte sein Vater sich seiner erbarmt und ihm das Rad repariert. Gernot durfte zusehen, damit er in Zukunft wüsste, wie es geht. Es war ein Moment, in dem er seinem Vater sehr dankbar war. Es gab in seinem Leben mehrere solcher Momente.

Als er diesmal diesen Tag erlebte, beschloss er, seinem Vater und sich die Strapazen zu ersparen, und fuhr gar nicht erst los. Diesen Tag konnte er besser nutzen. Er blieb zu Hause und spielte mit seinem Vater Schach. Auch da konnte er etwas lernen und er dankte dem Schicksal, dass ihm diese Zeit mit seinem Vater noch geschenkt wurde.

So schön er war, der Tag verging und ein anderer folgte.

6.

Er saß plötzlich wieder auf einem Fahrrad, war 14 Jahre alt und fuhr auf eine Straßenkreuzung zu. Ja, jetzt wusste er, wo und wann das war: Kurz vor seinem schrecklichen Unfall. Er war damals mit seinem Fahrrad auf der Kreuzung von einem Auto erfasst und umgeworfen worden. Eine Gehirnerschütterung war die Folge und jahrelange Erlebnisse von Angstattacken.

Aber diesmal nicht! Er legte eine Vollbremsung hin und kam vor der Kreuzung zum Stehen. Ein schwarzer Wagen brauste einen halben Meter vor seinem Kopf vorbei. Glück gehabt.

Für sein Leben nutzte ihm das nichts mehr und doch fühlte er, wie sein Selbstvertrauen sich festigte. Er konnte die Dinge besser machen, wenn er sich konzentrierte!

Schon ging seine Reise weiter.

7.

Gernot drückte wieder die Schulbank. Nicht, dass das ein Albtraum wäre, nein, er hatte nichts gegen die Schule. Er hatte dort viel gelernt, ohne ein Streber zu sein. Nicht nach guten Leistungen hatte es ihn gedrängt, sondern er hatte sich für die Inhalte interessiert.

An diesem Tag ging es um die Romantik: Novalis und die blaue Blume. Er war fasziniert. Nach dieser blauen Blume wollte auch er suchen – in seiner Fantasie! Er wollte sie malen, zeichnen, besingen.

Zuhause angekommen, machte er sich gleich ans Werk und fertigte ein Aquarell an. Frustriert ließ er damals nach einer Weile von seinen Bemühungen ab. Zu wenig war er in der Lage, seine Gefühle auszudrücken.

Diesmal ließ er sich mehr Zeit. Im Lauf seines Lebens hatte er so viel Eindrücke gesammelt, auch einige Erfahrung im Malen gemacht, dass er glaubte, es besser machen zu können. In der Tat gelang es ihm besser als damals, aber zufrieden war er immer noch nicht.

Schade, dass er mit der Reife am Ende seines Lebens, kombiniert mit der jugendlichen Frische seiner Gastexistenz, immer noch nicht in der Lage war, sich diesen Traum zu erfüllen. Aber lag das nicht in der Natur der Sache, ging es nicht um die Unerreichbarkeit seiner Sehnsucht?

Für diesen Tag hatte er genug, legte sich schlafen und wartete auf den nächsten Sprung.

8.

Und da war er! Bei einer Klassenarbeit. Gymnasium, 6. Klasse. Sie sollten einen Aufsatz schreiben. Thema: „Mein schönstes Ferienerlebnis“. So ein Blödsinn! Er hatte nichts erlebt.

Na gut, dann musste er sich eben etwas ausdenken. Er schrieb eine Räuberpistole über einen Einbrecher, den er allein dingfest gemacht hätte. Was für ein Quatsch! Trotzdem hatte die Geschichte ihn mit sich fortgerissen. Die Schüler hatten gelernt, Entwürfe zu Papier zu bringen und am Schluss eine Reinschrift anzufertigen. Als Gernot seinen Entwurf beendet hatte, blieb kaum noch Zeit für die Reinschrift. Er tat, was er konnte, aber er schrieb nun einmal sehr langsam. Es klingelte und der Lehrer rief die Schüler auf, ihre Arbeiten abzugeben.

Sehr viel fehlte nicht mehr und Gernot schrieb einfach weiter. Richtig wäre gewesen, den Entwurf abzugeben, aber Gernot wusste, dass seine Klaue kaum als lesbar bezeichnet werden konnte. Also strengte er sich an, doch noch fertig zu werden. Als er es endlich geschafft hatte und aufblickte, war der Lehrer verschwunden. Gernot lief ins Lehrerzimmer, um die Arbeit nachzureichen, aber der Lehrer meinte mit ernster Miene, dass er diese Arbeit nun nicht mehr akzeptieren könne und Gernot eine Sechs dafür bekäme. So ein Mist!

Als Gernot diesmal vor der Arbeit saß, wusste er, dass er sie auf jeden Fall pünktlich abgeben musste. Er entschloss sich, kein Risiko einzugehen und gleich ins Reine zu schreiben. Auch wählte er diesmal eine realistischere Geschichte aus. Seine Familie wäre im Urlaub an die Nordsee gefahren, schrieb er. Dort hätten sie lange Strandspaziergänge unternommen. Auf einem von diesen Spaziergängen hätten sie einen angespülten Seestern gefunden, der noch gelebt hätte. Sie hätten ihn ins tiefe Wasser zurückgebracht und dort ausgesetzt. Dabei seien sie zwar nass geworden, aber es hätte ihnen trotzdem großen Spaß gemacht.

Die Geschichte war kurz genug, um damit zum Schluss zu kommen. Er gab die Arbeit ab und hätte gern die Note erfahren, die er dafür bekommen hätte. Das sollte ihm allerdings verwehrt bleiben, weil er wieder in seinen Nahtod-Zustand zurückkehrte

… und aufs Neue sprang!

9.

Benommen sah er sich um. Er stand im dunklen Anzug auf einer Tanzfläche. Seine Tanzpartnerin sah ihn fragend an: Was war los mit ihm?

Aber ja! Jetzt wusste er es. Er befand sich auf einem Winterball seines Tanzvereins – und was für ein Ball: Bei diesem Ball hatte er Susanne, seine spätere Frau, kennengelernt.

Schnell hatte er sich wieder in die Musik hineingehört – Quickstepp – und tanzte weiter. Margit, seine Tanzpartnerin, nickte ihm zu. Sie war nur seine Tanzpartnerin, was so viel bedeutet, dass sie auf der Tanzfläche gut miteinander auskamen. Befreundet waren sie auch, aber nicht mehr.

Er erinnerte sich, dass ihm an diesem Abend Susanne aufgefallen war, die mit einer Freundin an einem Tisch saß, der sich nicht weit von seinem befand. Er hatte sie schon eine Weile beobachtet. Dann war er sogar hinübergegangen und hatte Susanne zum Tanzen aufgefordert. Sie hatten zwei Tänze getanzt und dabei geplaudert. Dann erforderte es die Etikette, dass er sie zu ihrem Platz zurückbrachte. Dabei stellt sie ihn auch ihrer Freundin Evelyn vor. Er nickte ihr kurz zu. Höflichkeit muss sein.

Weiterhin beobachtete er die beiden. Es schien, dass Susannes Freundin Streit mit ihrem Partner hatte, weshalb ihr Partner seinen Platz mit Susanne getauscht hatte, so dass jetzt zwei Herren zusammensaßen und zwei Damen.

Dann wurde Damenwahl angesagt. Gernot wagte nicht, zu Susanne hinüberzusehen, hoffte aber insgeheim, von ihr aufgefordert zu werden. Es überraschte ihn umso mehr, dass Evelyn ihn aufgesucht hatte. Er erhob sich brav und sah aus dem Augenwinkel, dass auch Susanne auf den Weg zu ihm gewesen war, aber abgedreht hatte, als Evelyn ihn ansprach. Pech!