Zwei bemerkenswerte Frauen

Über Tracy Chevalier

Tracy Chevalier, 1962 geboren, wuchs in Washington D. C. auf. Sie studierte Englische Literatur und arbeitete als Lektorin. Mit ihrem Roman Das Mädchen mit dem Perlenohrring wurde sie 1999 international bekannt. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in London.

 

Die Übersetzerin

Anne Rademacher war Verlagslektorin und übersetzt seit 30 Jahren nebenberuflich Romane aus dem Englischen ins Deutsche, zuletzt von Autorinnen wie Helen Hodgman, Jo Baker und Xiaolu Guo.

Anders als alle Steine am Strand

Den Blitzschlag habe ich in meinem Leben immer wieder gespürt, in Wirklichkeit getroffen hat er mich aber nur einmal. Eigentlich sollte ich mich nicht daran erinnern können, ich war schließlich fast noch ein Baby, aber ich erinnere mich. Ich saß auf einem Feld. Pferde waren da und Reiter, die Kunststücke vorführten. Plötzlich zog ein Gewitter auf. Eine Frau, es war nicht Mam, nahm mich hoch und trug mich unter einen Baum. Als sie mich fest an sich drückte, schaute ich auf und sah ein Muster aus schwarzen Blättern vor weißem Himmel.

Und dann war da plötzlich Krach, als würden alle Bäume umstürzen, und ein sehr helles Licht, wie wenn man in die Sonne blickt. Etwas durchzuckte mich, sirrend und heiß, als hätte ich ein glühendes Kohlenstück angelangt. Ich roch verbranntes Fleisch und spürte, dass da Schmerz sein musste, aber mir tat nichts weh. Mir war nur, als hätte man mein Inneres nach außen gestülpt.

Dann begannen sie an mir herumzuzerren. Ich hörte Geschrei, konnte aber selbst keinen Ton von mir geben. Man trug mich irgendwohin, und Wärme umhüllte mich, nicht von einer Decke, sondern feuchte Wärme. Es war Wasser, und Wasser kannte ich, denn unser Haus stand nah am Meer, ich konnte es vom Fenster aus sehen. Ich schlug die Augen wieder auf, und mir ist, als hätte ich sie seither nie mehr geschlossen.

Jedes Mal, wenn ich ein Fossil finde, fühle ich das Echo des Blitzschlags in mir, dieses leise Sirren, das mir sagt: »Ja, Mary Anning, du bist anders als alle Steine am Strand.« Darum bin ich Fossilienjägerin geworden: Ich will den Blitzschlag spüren und dieses Anderssein. Jeden Tag will ich es spüren.

Schmutzig, mysteriös und nicht sehr damenhaft

Mary Anning führt mit den Augen. Gleich bei unserer ersten Begegnung fiel mir das auf, obwohl sie damals noch ein Mädchen war. Ihre knopfbraunen, hellwachen Augen scheinen, typisch für eine Fossilienjägerin, ständig nach etwas zu suchen, selbst dort, wo es wirklich nichts Interessantes zu finden gibt, auf der Straße etwa oder im Haus. Wegen dieser Angewohnheit wirkt sie sogar dann lebendig und voller Energie, wenn sie sich völlig ruhig verhält. Meine Schwestern behaupten, ich sei genauso, mein Blick schweife ständig suchend umher, statt stetig und fest zu sein. Nur, dass sie das nicht als Kompliment meinen, wie ich bei Mary.

Ich beobachte seit Langem, dass Menschen meist mit einer besonderen Eigenheit des Gesichts oder des Körpers führen. Bei meinem Bruder John zum Beispiel sind es die Augenbrauen. Zum einen natürlich, weil sie ihm in markanten Büscheln über den Augen stehen, aber auch, weil sie der Teil seines Gesichts sind, der am häufigsten in Bewegung ist. Bei John scheinen die Augenbrauen den Gedanken zu folgen, unter denen sich die Stirn in Falten legt und wieder glättet. Nach Louise ist er das zweitälteste der Philpotkinder, und da er der einzige Sohn blieb, musste er nach dem Tod unserer Eltern die Verantwortung für vier Schwestern übernehmen, eine Pflicht, die einem leicht in die Augenbrauen steigen kann.

Frances, die einzige Philpot-Schwester, die geheiratet hat, führt mit dem Busen – was vermutlich alles erklärt. Wir Philpots sind keine Schönheiten, unsere Figuren sind hager und unsere Gesichtszüge herb. Auch reichte das Familienvermögen nur, um eine Tochter problemlos zu verheiraten. Frances machte das Rennen und verließ das Haus am Red Lion Square, um die Frau eines Kaufmanns in Essex zu werden.

Schon immer habe ich Menschen bewundert, die wie Mary Anning mit den Augen führen, denn sie scheinen die Welt und deren Treiben bewusster wahrzunehmen. Aus diesem Grund vertrage ich mich auch mit meiner ältesten Schwester Louise am besten. Louise hat wie alle Philpots graue Augen und ist eher schweigsam, aber wenn sie einen fest anblickt, nimmt man sie ohne Worte ernst.

Auch ich wollte immer mit den Augen führen, doch es war mir nicht vergönnt. Ich habe ein markantes Kinn, und wenn ich die Zähne zusammenbeiße – was aus Kummer über diese Welt leider öfter geschieht, als es sollte –, verspannt es sich und wirkt scharf wie eine Klinge. Auf einem Ball hörte ich einmal einen potenziellen Bewerber um meine Hand sagen, er traue sich nicht, mich zum Tanzen aufzufordern, weil er Angst habe, sich an meinem Gesicht zu schneiden. Von dieser Bemerkung habe ich mich nie wieder richtig erholt, und sie erklärt wohl, warum ich unverheiratet geblieben bin und selten tanze.

Nur zu gern hätte ich das Kinn gegen die Augen eingetauscht,

Mary Anning lernte ich in Lyme Regis kennen, der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes Leben verbrachte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich in so einem Ort landen könnte. Wir Philpots sind natürlich in London aufgewachsen, genauer gesagt am Red Lion Square. Von Lyme hatte ich zwar gehört, weil die modernen Seebäder, die damals überall aus dem Boden schossen, ein beliebtes Gesprächsthema waren, selbst besucht hatte ich es nie. Im Sommer bereisten wir Philpots meist Städte in Sussex wie Brighton oder Hastings. Als unsere Mutter noch lebte, bestand sie darauf, dass wir frische Luft atmeten und im Meer badeten. Sie hing den Lehren des Doktor Richard Russell an, der eine Dissertation über die wohltuenden Auswirkungen des Meerwassers geschrieben hatte, in dem man seiner Meinung nicht nur baden, sondern das man auch trinken sollte. Auch wenn ich mich weigerte, es zu trinken, ging ich gelegentlich zum Schwimmen. Am Meer fühlte ich mich heimisch, nur dass ich einmal wirklich am Meer wohnen würde, hätte ich nicht vermutet.

Doch zwei Jahre nach dem Tod unserer Eltern verkündete mein Bruder eines Abends beim Dinner, dass er sich mit der Tochter eines befreundeten Anwaltskollegen unseres Vaters verlobt habe. Wir küssten John und gratulierten ihm, Margaret spielte einen Festwalzer auf dem Klavier. Nachts im Bett aber weinte ich, wie meine Schwestern vermutlich auch, denn wir wussten, dass dies das Ende unseres trauten Lebens in London sein würde. Hatte unser Bruder erst geheiratet, würden weder Platz noch Geld reichen, um uns alle am Red Lion Square wohnen zu lassen. Die

Wir waren wie Schafe, die von einer abgeweideten Wiese auf die nächste getrieben werden mussten, und John fiel die Rolle des Schäfers zu.

Am Morgen nach seiner Ankündigung legte er ein Buch auf den Frühstückstisch, das er von einem Freund ausgeliehen hatte.

»Ich dachte, ihr wollt in den Sommerferien vielleicht einmal etwas Neues sehen und nicht schon wieder Onkel und Tante in Brighton besuchen«, schlug er vor. »Wie wäre es mit einer kleinen Reise entlang der Südküste? Weil der Krieg mit Frankreich Reisen zum Kontinent unmöglich macht, sprießen in letzter Zeit überall Seebäder aus dem Boden. Eastbourne oder Worthing zum Beispiel. Oder ihr fahrt noch etwas weiter bis Lymington, vielleicht auch bis an die Küste Dorsets, nach Weymouth oder Lyme Regis.« John ließ diese Namen fallen, als hakte er auf einer

Sobald John sich in seine Kanzlei verabschiedet hatte, nahm ich das Buch zur Hand. »Führer zu Trink- und Badekuren für das Jahr 1804«, las ich Louise und Margaret vor. Beim Durchblättern entdeckte ich, dass die englischen Städte alphabetisch aufgelistet waren. Das vornehme Bath hatte mit neunundvierzig Seiten natürlich den längsten Eintrag bekommen, ergänzt durch eine große Landkarte und eine ausklappbare Panoramaansicht der Stadt, deren elegante Fassaden sich harmonisch in die Hügel der Umgebung fügten. Über unser geliebtes Brighton gab es einen begeistert klingenden Bericht von dreiundzwanzig Seiten. Ich schlug die Städte nach, die unser Bruder erwähnt hatte. Einige waren gerade einmal bessere Fischerdörfer und gaben nicht mehr als zwei Seiten voller halbherziger Plattitüden her. John hatte die Orte seiner Wahl mit einem Punkt am Seitenrand markiert. Vermutlich hatte er alle Einträge des Buchs gelesen und sich für diejenigen entschieden, die seinen Vorstellungen am nächsten kamen. Er hatte ganze Arbeit geleistet.

»Und warum nicht Brighton«, fragte Margaret.

Ich las gerade den Eintrag über Lyme Regis und lächelte ironisch: »Hier ist die Antwort.« Ich reichte ihr den Führer. »Schau, was John angestrichen hat.«

»Du könntest hier bei John und seiner Frau bleiben«, schlug ich in einem plötzlichen Anflug von Großzügigkeit vor. »Mit einer von uns kommen sie sicher zurecht. Wir müssen uns nicht gleich alle an die Küste verbannen lassen.«

»So ein Unsinn, Elizabeth, wir lassen uns nicht auseinanderreißen«, erklärte Margaret mit einer Loyalität, für die ich sie umarmen musste.

 

In jenem Sommer reisten wir, wie von John vorgeschlagen, die Küste entlang. Mit von der Partie waren unsere Tante, unser Onkel, unsere zukünftige Schwägerin, deren Mutter und, wann immer er sich freimachen konnte, John. Unsere Begleiter ließen ständig Kommentare fallen: »Was für herrliche Gärten! Wie ich die Menschen beneide, die das ganze Jahr hier leben und sich in ihnen ergehen können!«, hieß es da, oder »Diese Leihbibliothek ist so hervorragend bestückt, man könnte meinen, man wäre in London« oder »Ist die Luft hier nicht wunderbar mild und frisch? Ich wünschte, ich könnte sie das ganze Jahr atmen«.Die Anmaßung, mit der die anderen sich so selbstverständlich in unsere Zukunft einmischten, war verletzend, zumal sich dabei besonders unsere Schwägerin hervortat, die das Haus der Philpots übernehmen würde und sich nicht ernsthaft vorstellen musste, in Worthing oder Hastings zu leben. Ihre Kommentare wurden schließlich so ärgerlich, dass Louise sich immer öfter von

Ich selbst war während unserer Reise meistens schlecht gelaunt. Die Vorstellung, gegen den eigenen Willen in einen bestimmten Ort übersiedeln zu müssen, kann einem diesen als Urlaubsziel verleiden. Im Vergleich zu London musste natürlich jede andere Stadt den Kürzeren ziehen. Selbst Brighton und Hastings, Seebäder, die ich früher gern besucht hatte, schien es plötzlich an Esprit und Eleganz zu mangeln.

Bis wir Lyme Regis erreichten, waren von unserer Gesellschaft nur noch Louise, Margaret und ich übrig geblieben: John musste zurück in die Kanzlei und hatte seine Verlobte samt deren Mutter mitgenommen; unser Onkel hatte einen Gichtanfall bekommen, sodass er humpelnd mit unserer Tante die Rückreise nach Brighton antrat. Begleitet wurden wir jetzt von den Durhams, einer Familie, die wir in Weymouth kennengelernt hatten. Wir nahmen zusammen eine Kutsche, und sie halfen uns, eine Unterkunft in der Broad Street zu finden, der Hauptstraße von Lyme Regis.

Von allen Orten, die wir in jenem Sommer besucht hatten, war Lyme in meinen Augen der ansprechendste. Mittlerweile war es September geworden, ein Monat, in dem es überall schön ist, weil die milde Luft und das goldene Licht selbst den trostlosesten Ferienort aufhellen. Wir genossen das gute Wetter – und dass wir

Lyme Regis ist eine Stadt, die sich ihrer geographischen Umgebung eher angepasst hat, als sich die Landschaft zu unterwerfen. Die steilen Pässe, über die man den Ort erreicht, sind für Kutschen unpassierbar, weshalb die meisten Reisenden beim Wirtshaus Queen’s Arms in Charmouth oder an der Straßenkreuzung von Uplyme aussteigen und sich von kleineren Wägen weiter befördern lassen. Eine schmale Straße führt bis an den Meeresstrand hinab, macht dort eine scharfe Biegung von der Küste weg und steigt gleich wieder hügelauf, als hätte sie nur einen kurzen Blick auf die Wellen werfen wollen, um dann schnell zu fliehen. Unten an der Küste, wo der kleine Fluss Lym ins Meer mündet, hat sich das quadratische Stadtzentrum gebildet. Dort befindet sich das größte Wirtshaus des Ortes, das Three Cups, dem das Zollamt und der Ballsaal gegenüberliegen, der bei aller Bescheidenheit immerhin mit drei Kristallkronleuchtern und einem schönen Erkerfenster zum Strand hin aufwarten kann. Von diesem Zentrum aus erstrecken sich entlang der Küste und des Flusses die Wohnhäuser, während sich alle Geschäfte und die Stände des Shambles-Marktes an der Broad Street befinden. Im Unterschied zu Bath, Cheltenham oder Brighton wurde Lyme nicht geplant, sondern wucherte mal in diese, mal in jene Richtung, als hätte es vergeblich versucht, den Hügeln und der See zu entkommen.

Aber Lyme hat noch eine zweite Seite, denn es sieht so aus, als grenzten unten am Meer zwei verschiedene Gemeinden aneinander, verbunden durch einen schmalen Strand, an dem sich in Erwartung der Besucherströme die Badekarren drängen. Dieses andere Lyme am westlichen Ende des Strandes scheint die See

Bath und Brighton sind trotz ihres Umlands schön, da sie das Auge mit ihren glatten Steinfassaden und dem gleichmäßigen Stadtbild erfreuen. Lyme jedoch ist wegen seines Umlands schön und trotz seiner langweiligen Architektur. Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick.

Auch meinen Schwestern gefiel es in Lyme, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Bei Margaret war die Sache einfach: Sie wurde die Ballkönigin von Lyme. Mit ihren achtzehn Jahren war sie kess und lebendig und so attraktiv, wie eine Philpot es nur sein konnte. Sie hatte hübsche braune Locken und lange, elegant geschwungene Arme, die sie gern zur Geltung brachte, indem sie sie hoch über den Kopf riss. Ihr Gesicht war zwar etwas länglich und ihr Mund zu klein, auch traten die Halssehnen zu stark hervor, doch mit achtzehn Jahren spielte das noch keine Rolle. Erst später würde man darauf schauen. Wenigstens hatte sie nicht mein messerscharfes Kinn geerbt oder war unvorteilhaft hoch gewachsen wie Louise. In Lyme jedenfalls konnte ihr in jenem Sommer kaum jemand das Wasser reichen, und sie erfreute sich weit mehr männlicher Aufmerksamkeit als in Weymouth oder Brighton, wo die Konkurrenz größer gewesen war. Margaret lebte glücklich von einem Ball zum nächsten und vertrieb sich

Louise machte sich nichts aus Bällen und konnte auch dem Kartenspiel wenig abgewinnen, dafür hatte sie gleich in den ersten Tagen auf den Klippen westlich der Stadt ein Gebiet mit überraschend wilder Vegetation und stillen, von Efeu und Moos überwucherten Pfaden entdeckt, die sich an abgestürzten Felsbrocken vorbeischlängelten.

Bei einem Morgenspaziergang über den Monmouth-Strand, der westlich des Cobbs beginnt, fand auch ich meine Lyme-Beschäftigung. Wir begleiteten die Durhams, unsere Freunde aus Weymouth, die nach dem sogenannten »Schlangenfriedhof« suchten, einem langen Felsband, das sich weit über den Strand erstreckt, aber nur bei Ebbe freigelegt wird. Der Weg war weiter, als wir gedacht hatten, und über den steinigen Strand ging es nur mühsam voran. Ich hielt den Blick ständig auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern, und als ich meinen Fuß zwischen zwei Steine setzte, fiel mir ein außergewöhnlicher, mit einem Streifenmuster geschmückter Kiesel auf. Ich bückte mich und hob ihn auf – es war das erste von vielen tausend Malen, die ich das in Zukunft noch tun sollte. Der Stein hatte die Form einer Spirale, auf der sich in gleichmäßigen Abständen Rippen wölbten. Er erinnerte mich an eine Schlange, die sich um ihre Schwanzspitze herum eingerollt hat, und ich fand das regelmäßige Muster so hübsch, dass ich den Stein behalten wollte. Zwar hatte ich keine Ahnung, was ich da in der Hand hielt, doch ich wusste, dass es sich nicht um einen einfachen Kiesel handeln konnte. Ich zeigte meinen Fund erst Louise und Margaret und dann den Durhams.

»Ah, das ist ein Schlangenstein«, erklärte Mr Durham.

Fast hätte ich meinen Fund fallen lassen, obwohl mir mein

»Ich denke schon«, erwiderte Mr Durham. »Solche Steine werden hier oft gefunden. Einige Einheimische verkaufen sie als Kuriositäten und nennen sie deshalb ›Kuris‹.«

»Wo ist der Kopf?«, fragte Margaret. »Es sieht aus, als wäre er abgehackt worden.«

»Vielleicht ist er auch abgebrochen«, gab Miss Durham zu bedenken. »Wo haben Sie den Schlangenstein gefunden, Miss Philpot?«

Ich deutete auf die Stelle. Wir suchten gemeinsam, sahen aber nirgendwo einen Schlangenkopf herumliegen. Die anderen verloren bald das Interesse und gingen weiter, ich aber suchte noch eine Weile allein, bevor ich mich wieder der Gruppe anschloss. Im Gehen öffnete ich gelegentlich die Hand, um meinen Fund anzuschauen, von dem ich bald erfahren sollte, dass es sich um meinen ersten Ammoniten handelte. Ich fand es seltsam, den Körper einer mir unbekannten Kreatur in der Hand zu halten, aber es war auch schön. Die feste Form zu umfassen hatte etwas Beruhigendes, als würde ich mich auf einen Wanderstab oder ein Geländer stützen.

Am Ende des Monmouth-Strandes, kurz vorm Seven Rocks Point, hinter dem sich der weitere Verlauf der Küste dem Blick entzieht, fanden wir den Schlangenfriedhof. Es war eine glatte Kalksteinfläche, die von spiralförmigen Abdrücken übersät war.

»Sind das Boa constrictor, oder was?«, fragte Margaret schließlich. »Die sind ja riesig!«

»Aber in England gibt es keine Boa constrictor«, meinte Miss Durham. »Wie sollten sie hierhergekommen sein?«

»Vielleicht haben sie vor ein paar hundert Jahren hier gelebt«, überlegte Mrs Durham.

»Oder sogar vor tausend oder fünftausend Jahren«, warf Mr Durham ein. »Gut möglich, dass es schon so lange her ist. Vielleicht sind sie später in andere Teile der Welt abgewandert.«

Für mich sahen die Abdrücke nicht wie Schlangen aus, allerdings auch nicht wie irgendein anderes Tier, das ich kannte. Ich balancierte über die Felsplatte, wobei ich meine Schritte vorsichtig setzte, um auf keine der Kreaturen zu treten. Natürlich war mir klar, dass sie schon lange tot waren und es sich auch nicht um Körper, sondern eher um deren Abdrücke im Stein handelte. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie einmal gelebt hatten. Ich fand, dass sie unvergänglich aussahen, als wären sie schon immer im Stein eingeschlossen.

Wenn wir in Lyme leben würden, überlegte ich, könnte ich jederzeit hierherkommen und mir diese Versteinerungen anschauen. Und ich könnte kleinere Schlangensteine und andere Fossilien am Strand suchen. Das war doch etwas. Für mich war es genug.

Unser Bruder war sehr erfreut über unsere Wahl. Lyme war kostengünstig, außerdem hatte sich William Pitt der Jüngere als junger Mann in der Stadt aufgehalten, um sich von einer

Im nächsten Frühjahr zogen wir um. John hatte uns ein Cottage am oberen Ende der Silver Street gekauft, das hoch über den Stränden und den Läden der Broad Street lag, deren Verlängerung die Silver Street war. Bald darauf verkauften John und seine neue Frau unser altes Haus am Red Lion Square und schafften sich mit Hilfe der Mitgift unserer Schwägerin ein neues in der Montague Street an, die direkt am Britischen Museum lag. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass unsere Entscheidung uns gleich vollständig von unserer Vergangenheit abschnitt, doch so war es. Jetzt hatten wir nur noch die Gegenwart und eine Zukunft in Lyme.

Auf den ersten Blick war das Morley Cottage ein Schock für uns. Die Zimmer waren klein, die Decken niedrig und die Fußböden uneben. Alles war ganz anders als in unserem Londoner Zuhause. Das kleine, aus Feldstein gebaute Haus hatte ein Schieferdach. Im Erdgeschoss gab es einen Salon, ein Esszimmer und eine Küche, darüber befanden sich zwei Schlafzimmer und noch eine Kammer unterm Dachvorsprung für unser Dienstmädchen Bessy. Louise und ich teilten uns ein Zimmer und überließen das andere Margaret, denn sie beklagte sich immer, wenn wir abends noch lange lasen; Louise in ihren Botanikbüchern und ich in meinen Werken zur Naturgeschichte. Für das Klavier unserer Mutter, ihr Sofa oder den Mahagonieesstisch reichte der Platz im Cottage nicht, wir mussten sie in London zurücklassen. Stattdessen kauften wir im nahe gelegenen Axminster kleinere und schlichtere Möbelstücke und in Exeter ein winziges Klavier. Diese rein äußerlichen Einschränkungen spiegelten unseren Niedergang von einer wohlhabenden Familie mit mehreren

Allerdings gewöhnten wir uns an unser neues Zuhause. Es dauerte gar nicht lange, da erschien uns unser altes Haus in London als viel zu groß. Mit seinen hohen Decken und den riesigen Fenstern war es schwer zu heizen gewesen, und seine Ausmaße überstiegen bei Weitem, was ein Mensch zum Wohnen brauchte. Was half all die Pracht, wenn man ihr als Bewohner keine eigene Größe entgegensetzen konnte? Das Morley Cottage hingegen war ein Damenhaus, hatte Damengröße und entsprach weiblichen Ansprüchen. Da nie ein Mann mit uns dort wohnte, ist dies natürlich eine rein theoretische Behauptung, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sich ein männliches Wesen aus unserer Gesellschaftsschicht dort niemals wohlgefühlt hätte. John jedenfalls kämpfte bei seinen Besuchen mit allen möglichen Problemen. Ständig schlug er sich den Kopf an den Deckenbalken an, er stolperte über unebene Türschwellen, musste sich bücken, wenn er durch die niedrigen Fenster schauen wollte, und schwankte unsicher auf der steilen Treppe. Im Morley Cottage war alles eine Nummer kleiner geworden, nur der Herd in unserer Küche war größer als sein Gegenstück in Bloomsbury.

Wir gewöhnten uns auch daran, in einem kleineren gesellschaftlichen Kreis zu verkehren. Lyme liegt recht abgelegen, die nächste größere Stadt ist das fünfundzwanzig Meilen entfernte Exeter. Vermutlich erklärt das auch, warum die Einwohner von Lyme sich zwar an die gängigen gesellschaftlichen Konventionen halten, aber trotzdem ihren eigenen Kopf haben und unberechenbar sind. Sie können engstirnig, gleichzeitig aber auch tolerant sein. Kein Wunder also, dass es in dieser kleinen Stadt gleich

Ich knüpfte in Lyme zwar neue Kontakte, doch insgesamt gefiel mir der widerborstige Geist der Stadt als Ganzes besser, als es einzelne ihrer Bewohner taten – zumindest bis zu dem Tag, an dem ich Mary Anning kennenlernte. Wir Philpots galten in der Stadt noch jahrelang als Londoner Gewächse, die man misstrauisch, wenn auch mit einer gewissen Nachsicht beäugte. Reich waren wir zwar nicht, denn mit einhundertfünfzig Pfund im Jahr können drei unverheiratete Frauen keine großen Sprünge machen, aber immer noch wohlhabender als die meisten Menschen in Lyme. Zudem sicherte uns unsere Herkunft aus einer gebildeten Londoner Anwaltsfamilie ein gewisses Maß an Respekt. Darüber, dass keine von uns dreien einen Mann hatte, schienen sich die Leute allerdings gerne lustig zu machen; wenigstens taten sie es hinter unserem Rücken und lachten uns nicht direkt ins Gesicht.

Auch wenn das Morley Cottage nichts Besonderes war, bot er eine atemberaubende Aussicht auf die Bucht von Lyme und die östliche Hügelkette entlang der Küste, aus der als höchster Punkt das Golden Cap herausragte. An klaren Tagen reichte der Blick bis zur Isle of Portland, die wie ein Krokodil, von dem man nur den langen flachen Kopf über Wasser sieht, vor der Küste lag. Oft stand ich schon frühmorgens auf und setzte mich mit meinem Tee ans Fenster, um die Sonne aufgehen und dem Golden Cap seinen Namen geben zu sehen. Der Anblick linderte den Schmerz, mit dem ich immer noch dem lebendig pulsierenden

Schon bald nach unserer Ankunft im Morley Cottage erkor ich Fossilien zu meiner neuen Leidenschaft. Irgendeinen Zeitvertreib brauchte ich schließlich: Ich war fünfundzwanzig, würde wahrscheinlich niemals heiraten und suchte nach einer Liebhaberei, die meine Tage ausfüllen konnte. Das Leben einer Dame kann unendlich öde und langweilig sein.

Meine Schwestern hatten ihre Territorien bereits abgesteckt. Louise sah man den ganzen Tag auf Händen und Knien in unserem Garten in der Silver Street, wo sie die Hortensien rodete, die ihr als Blumen zu vulgär erschienen. Margaret ging im Ballsaal ihrer Liebe zum Kartenspiel und zum Tanz nach. So oft sie konnte, überredete sie Louise und mich, sie zu begleiten, allerdings fand sie bald jüngere Freundinnen. Nichts schreckt potenzielle Bewerber mehr ab als altjüngferliche Schwestern, die am Rand der Tanzfläche stehen und hinter vorgehaltenen Handschuhen dumme Bemerkungen machen. Margaret war gerade neunzehn geworden, und so sehr sie auch über die provinziellen Bälle und Kleider in Lyme lästern mochte, setzte sie doch schönste Hoffnungen darein, im Ballsaal eine gute Partie zu machen.

Ich selbst war nach dem frühen Fund eines Goldammoniten, der am Strand zwischen Lyme und Charmouth in der Sonne geglitzert hatte, hoffnungslos dem verführerischen Kitzel der Schatzsuche verfallen und immer häufiger am Strand anzutreffen. Damals interessierten sich nur wenige Frauen ernsthaft für

Es stimmt schon, dass Fossilien ein ungewöhnliches Steckenpferd sind. Als Überreste einstiger Lebewesen finden sie nicht bei jedem Anklang. Denkt man zu lange darüber nach, was man da in Händen hält, nämlich einen Körper, der schon lange tot ist, mag einem das seltsam vorkommen. Noch dazu stammen Fossilien nicht aus unserer Welt, sondern aus einer Vergangenheit, die wir uns heute nur noch schwer vorstellen können. Einerseits macht genau das sie für mich so anziehend, gleichzeitig ist es aber auch der Grund, warum ich lieber Fischfossilien sammele, die mit ihren beeindruckenden Mustern aus Flossen und Schuppen noch eher den Fischen ähneln, die wir jeden Freitag essen, und die damit mehr mit unserer Gegenwart zu tun haben.

Den Fossilien verdanke ich auch meine erste Begegnung mit Mary Anning und ihrer Familie. Kaum hatte ich eine Handvoll Versteinerungen gesammelt, glaubte ich einen Ausstellungskasten zu brauchen, in dem ich sie ordentlich sortiert präsentieren konnte. Von uns Philpot-Schwestern war ich schon immer diejenige gewesen, die gern organisierte und ordnete. Ich arrangierte Louises Blumen in Vasen und stellte das Porzellan, das Margaret aus London mitgebracht hatte, in Vitrinen aus. Dieses Bedürfnis nach Ordnung führte mich in Richard Annings Kellerwerkstatt in der Unterstadt. Sie lag am Cockmoile Square, wobei Square – Platz – ein recht großspuriges Wort für die kleine, gerade einmal wohnzimmergroße freie Stelle zwischen den Häusern war. Obwohl er sich gleich hinter dem Hauptplatz der Stadt befand, über den die feinen Leute flanierten, waren die Häuser am Cockmoile Square recht schäbig. Dort lebten und arbeiteten die

Selbst wenn man mir Richard Anning nicht als bewährten Möbeltischler empfohlen hätte, wäre ich früher oder später vor seiner Werkstatt gelandet, und sei es nur, um meine Fossilien mit denen zu vergleichen, die dort von der kleinen Mary Anning auf einem Tisch zum Verkauf angeboten wurden. Mary war ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit den rauen Händen eines Kindes, das nie mit Puppen gespielt, sondern schon immer gearbeitet hatte. Zwei forsche braune Augen machten ihr eher gewöhnliches, flaches Gesicht interessant. Als ich mich näherte, wühlte sie gerade in einem Korb mit Fossilien, fischte Ammoniten heraus und warf sie in verschiedene Schüsseln, als handelte es sich um ein Spiel. Selbst in ihrem jungen Alter konnte sie die verschiedenen Ammonitenarten an den Lobenlinien, die sich um den spiralförmigen Körper zogen, unterscheiden. Jetzt blickte sie vom Sortieren auf und sah mich voller Neugierde und Begeisterung an. »Wollen Sie Kuris kaufen, Ma’am? Wir haben hier ein paar schöne Exemplare. Schauen Sie mal, diese hübsche Seelilie kostet nur eine Krone.« Sie hielt einen wundervollen Krinoiden hoch, dessen lange Wedel sich tatsächlich wie eine Lilie entfalteten. Ich mag keine Lilien, denn ihr Geruch ist mir zu aufdringlich süß; generell ziehe ich herbere Düfte vor. Meine Bettwäsche lasse ich von Bessy auf den Rosmarinsträuchern im Garten des Morley Cottage trocknen, während sie die meiner Schwestern über den Lavendel legt. »Gefällt sie Ihnen, Ma’am – Miss?« Mary war hartnäckig.

Ich zuckte zusammen. War es so offensichtlich, dass ich nicht verheiratet war? Natürlich war es das. Erstens fehlte in meiner Begleitung der Ehemann, der auf mich aufpasste und mir meine

Ich klopfte auf meinen Korb. »Vielen Dank, aber ich habe meine eigenen Fossilien. Ich will zu deinem Vater, ist er da?« Mary nickte in Richtung der Stufen, die zu einer offenen Tür hinabführten. Mit eingezogenem Kopf ging ich in einen dunklen, schmutzigen Raum, der von Holz und Steinen überquoll. Sägespäne und sandiger Steinstaub bedeckten den Boden. Es roch so stark nach Lack, dass ich am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht hätte. Doch dazu war es zu spät, denn Richard Anning hatte mich bereits erblickt und nagelte mich mit seiner spitzen, wohlgeformten Nase auf der Stelle fest, als hätte er einen Pfeil durch mich geschossen. Ich habe noch nie Menschen gemocht, die mit der Nase führen: Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf das Zentrum ihres Gesichts, und diese Konzentrierung ruft bei mir eine Art Lähmung hervor.

Er war ein schlanker Mann, mittelgroß, mit dunklem, dichtem Haar und einem markanten Kinn. Seine Augen waren von der Art Dunkelblau, hinter dem sich etwas zu verbergen scheint. Angesichts seiner groben, herablassenden Art und der manchmal ungehobelten Manieren sollte mir seine Attraktivität ein ständiges Ärgernis bleiben. Leider hatte er sein gutes Aussehen nicht der Tochter vererbt, die mehr damit hätte anfangen können.

Er arbeitete gerade an einem kleinen Schrank mit Glastüren und hielt einen Lackierpinsel in der Hand. Vom ersten Moment an hegte ich eine heftige Abneigung gegen ihn, denn während ich ihm beschrieb, was ich wollte, hielt er es noch nicht einmal

Es war eine unverschämte Summe für einen Ausstellungskasten. Glaubte er etwa, er könne die Jungfer aus London über den Tisch ziehen? Oder hielt er mich vielleicht für reich? Einen Moment lang starrte ich in sein attraktives Gesicht und überlegte, ob ich auf meinen Bruder warten sollte, damit er bei seinem nächsten Besuch mit Richard Anning verhandelte. Aber das konnte noch Monate dauern, außerdem wollte ich nicht wegen jeder Kleinigkeit meinen Bruder belästigen. Ich würde mich in Lyme durchsetzen müssen, damit sich die Handwerker nicht länger über mich lustig machten.

Ein Blick in die Werkstatt genügte, um zu wissen, dass Richard Anning den Auftrag brauchen konnte. Ich beschloss, dies zu meinem Vorteil zu nutzen. »Es ist wirklich bedauerlich, dass Sie mir einen dermaßen überhöhten Preis nennen«, sagte ich, wickelte meine Fossilien in ein Musselintuch und legte sie zurück in den Korb. »Natürlich hätte ich Ihren Namen deutlich sichtbar an dem Kasten angebracht. Jeder, der sich meine Sammlung anschaut, hätte ihn gesehen. In diesem Fall aber muss ich mich an jemanden wenden, dessen Preise realistischer sind.«

»Die wollen Sie ausstellen?« Richard Anning machte eine Kopfbewegung zu meinem Korb hin. Seine Ungläubigkeit entschied die Sache endgültig: Eher würde ich mir jemanden in Axminster, wenn nötig sogar in Exeter suchen, als diesem Mann einen Auftrag zu erteilen. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nie wieder.

»Guten Tag, Sir«, sagte ich schnippisch und machte auf dem Absatz kehrt. Ich wollte die Treppe hinaufrauschen, doch Mary verdarb mir meinen dramatischen Abgang. Sie stand mitten in

»Wohl kaum etwas, das dich interessieren dürfte«, zischte ich, drückte mich an ihr vorbei und lief auf den Platz hinaus. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil mich der Tonfall von Richard Anning so verletzt hatte. Was kümmerte mich die Meinung eines Möbeltischlers? Für einen Neuling auf dem Gebiet der Fossilien fand ich meine kleine Sammlung wirklich recht ansehnlich. Ich hatte bereits einen intakten Ammoniten gefunden und mehrere in Einzelteilen, außerdem einen pfeilförmigen Belemniten, dessen dünne Spitze nicht wie bei den meisten Exemplaren abgebrochen, sondern völlig unversehrt war. Doch noch während ich wütend am Tisch der Annings vorbeistürmte, erkannte ich, dass ihre Fossilien schöner und vielfältiger als meine eigenen waren. Alle Fundstücke waren intakt, gereinigt und sortiert. Und es waren wirklich viele. Auf Marys Tisch lagen Exemplare ausgestellt, von denen ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie Fossilien waren: eine zweischalige Muschelart, ein herzförmiger Stein mit einem Muster auf der Oberfläche und eine Kreatur mit fünf langen winkenden Armen.

Mary hatte meine unhöfliche Bemerkung ignoriert und war mir nach draußen gefolgt. »Ha’m Sie auch Vertebis?«

Ich hörte ein Rascheln am Tisch und das klackende Geräusch von aneinanderschlagenden Steinen. »Die kommen aus dem Krokodilrücken«, sagte Mary. »Manche behaupten, dass es Zähne sind, aber Pa und ich wissen es besser. Sehen Sie?«

Ich drehte mich um und sah den Stein an, den sie mir hinhielt. Er war etwa so groß wie ein Zweipennystück, nur dicker, zwar rund, aber an den Seiten leicht eckig abgeflacht. Die Oberfläche war konkav und in der Mitte eingezogen, als hätte ihn jemand in weichem Zustand mit zwei Fingern zusammen gedrückt. Mir

»Du meinst wahrscheinlich Vertebra«, korrigierte ich sie und nahm den Stein in die Hand. »Das sind Wirbel. Aber Krokodile gibt es in England nicht.«

Mary zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ha’m wir nur noch nie welche gesehen, weil sie jetzt woanders hin sind. Nach Schottland zum Beispiel.«

Ich musste lächeln.

Als ich ihr den Stein zurückreichte, blickte sich Mary suchend nach ihrem Vater um. »Behalten Sie ihn«, flüsterte sie.

»Danke. Wie heißt du denn?«

»Mary.«

»Das ist sehr nett von dir, Mary Anning. Ich werde ihn in Ehren halten.«

Und ich hielt ihn in Ehren. Marys Wirbel war das erste Fossil, das in meinen Schaukasten kam.

Wenn ich heute an unsere erste Begegnung denke, muss ich schmunzeln. Damals hätte ich mir niemals vorstellen können, dass mir Mary eines Tages der wichtigste Mensch auf Erden sein würde, mit Ausnahme meiner Schwestern natürlich. Es war undenkbar, dass eine fünfundzwanzigjährige Dame aus der gehobenen Mittelschicht freundschaftlichen Umgang mit einem jungen Mädchen aus der Arbeiterklasse pflegte. Doch schon damals hatte Mary etwas, das mich auf der Stelle für sie einnahm. Natürlich teilten wir das Interesse für Fossilien, aber das allein war es nicht. Obwohl sie noch ein kleines Mädchen war, führte Mary Anning bereits mit den Augen, und das hätte ich gern selbst gekonnt.

Wenige Tage später hatte Mary herausgefunden, wo wir wohnten, was in Lyme Regis mit seinen wenigen Straßen kein großes Kunststück war, und kam uns besuchen. Louise und ich

»Wer ist das denn? Weg mit dir, Mädchen!«, rief sie und blies ihre dicken Backen auf.

Bessy war mit uns aus London gekommen und jammerte ständig darüber, wie sehr sie sich verschlechtert hatte: der steile Weg von der Stadt zum Morley Cottage hinauf, die schneidende Seebrise, die sich ihr auf die Brust legte, der unverständliche Dialekt der Einheimischen, denen sie auf dem Markt begegnete, und die Krabben aus der Bucht von Lyme, auf die sie mit einem Hautausschlag reagierte. Hatte sie in Bloomsbury wie ein stilles und williges Mädchen gewirkt, brachte Lyme eine Sturheit in ihr zum Vorschein, die man ihr jetzt an den Backen ablesen konnte. Hinter ihrem Rücken machten wir Schwestern uns gern über ihr Gejammer lustig, manchmal brachte sie uns allerdings fast so weit, dass wir ihr kündigen wollten – vorausgesetzt, sie drohte nicht gerade selbst damit.

Doch auf Mary machte Bessys Ruppigkeit keinen Eindruck, denn sie wich nicht von der Türschwelle. »Was machen Sie da?«

»Holunderblütensirup«, erwiderte ich.

»Holunderblütenchampagner«, korrigierte mich Margaret und unterstrich ihre Aussage mit einer affektierten Handbewegung.

»Im Juni gibt es hier solche Mengen von Holunder, man muss ihn einfach verwerten«, sagte Margaret. »Tut ihr Landbewohner das etwa nicht?«

Die herablassenden Worte meiner Schwester ließen mich zusammenzucken, doch Mary wirkte nicht beleidigt. Stattdessen folgten ihre Augen Margaret, die sich nun im Walzerschritt durchs Zimmer drehte, kokett mal über die eine, dann über die andere Schulter blickte und die Hände im Takt ihrer gesummten Melodie bewegte.

Um Himmels willen, dachte ich, das Mädchen wird doch nicht die Albernste von uns bewundern? »Was gibt’s, Mary?«, fragte ich. Es klang recht kurz angebunden, was ich nicht beabsichtigt hatte.

Mary Anning drehte sich zu mir um, aber ihr Blick wanderte trotzdem immer wieder zu Margaret zurück. »Pa hat mich geschickt. Ich soll sagen, dass er Ihnen den Ausstellungskasten für ein Pfund macht.«

»Ach, plötzlich doch?« Einen von Richard Anning angefertigten Ausstellungskasten wollte ich eigentlich nicht mehr. »Sag ihm, ich denke darüber nach.«

»Wer ist denn deine Besucherin, Elizabeth?«, fragte Louise, die Hände immer noch in den Holunderblüten.

»Das ist Mary Anning, die Tochter des Möbeltischlers.«

Als sie den Namen hörte, hielt Bessy, die gerade Mehl und Butter für Scones auf den Tisch stellen wollte, in der Bewegung inne und starrte Mary mit offenem Mund an. »Du bist das Blitzmädchen?«

Mary senkte den Blick und nickte.

»Kannst du dich noch daran erinnern, wie das war, als du getroffen wurdest?«, fragte Margaret.

Mary zuckte mit den Schultern. Unser plötzliches Interesse war ihr offensichtlich unangenehm.

Louise, die es wie Mary nicht leiden konnte, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, versuchte das Thema zu wechseln. »Ich heiße übrigens auch Mary. Man hat mich auf die Namen meiner beiden Großmütter getauft. Nur dass ich Großmutter Mary nicht so gerne mochte wie Großmutter Louise.« Sie hielt kurz inne. »Möchtest du uns helfen?«

»Was soll ich machen?« Mary trat an den Tisch.

»Zuerst wäschst du dir die Hände«, befahl ich. »Louise, schau nur ihre Nägel an!« Marys Fingernägel hatten einen grauen Lehmrand, und ihre Fingerkuppen waren runzlig vom Kalkstein, ein Zustand, der mir bald von meinen eigenen Fingern vertraut sein sollte.

Bessy starrte Mary immer noch an. »Bessy, solange wir hier in

Sie brummte unwillig und nahm ihren Wischmopp. »Ich würde kein Mädchen in meine Küche lassen, das der Blitz getroffen hat.«

»Allmählich wirst du so abergläubisch wie die Einheimischen hier, auf die du so gerne herabschaust«, tadelte ich sie.

Bessy blies wieder die Backen auf und schlug mit dem Mopp gegen den Türpfosten. Louise und ich zwinkerten uns lächelnd zu, und Margaret begann erneut summend um den Tisch zu tanzen.

»Margaret, bitte tu uns den Gefallen und tanze woanders!«, rief ich. »Geh und tanze mit Bessys Mopp.«