Das Buch

Seit Generationen herrschen die mächtigen Rancherfamilien Knight und McClellan über die Ländereien des Sacramento Valley. Mit der Heirat von Lily Knight und Everett McClellan scheint die glanzvolle Zusammenfügung beider Dynastien besiegelt zu sein, doch dann bestimmt eine Reihe von tragischen Ereignissen das Schicksal der alten Familien.

Mit der archaischen Geschichte zweier rivalisierender Familien hat Joan Didion ihrer kalifornischen Heimat ein literarisches Denkmal gesetzt.

Die Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen der USA. Sie arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Redakteurin der Vogue. Ihr Debütroman Menschen am Fluss erschien erstmals 1963. Sie hat seitdem vier weitere Romane und zahlreiche Sachbücher veröffentlicht, zuletzt Das Jahr magischen Denkens und Blaue Stunden. Im Jahre 2005 wurde ihr der National Book Award verliehen. Joan Didion lebt in New York City.

Von Joan Didion sind in unserem Hause bereits erschienen:

Im Land Gottes

Das Jahr magischen Denkens

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben

Blaue Stunden

Joan Didion

Menschen am Fluss

Aus dem Amerikanischen von
Gesine Strempel

List

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-0667-4

© für die deutsche Neuausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
© 1963 by Joan Didion
All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part or in any form.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Run River (Obolensky, New York)
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © Lemmler, plainpicture

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Meiner Familie gewidmet.
Und N.

»… das wahre Eldorado liegt noch weiter weg.«
– Peck’s 1837 New Guide to the West

»Die ganze Nacht lang hielt ich deine Hand
als hättest du
ein viertes Mal dem Königreich des Wahns –
dem groben Wort, dem mörderischen Blick –
die Stirn geboten und mich lebend heimgezerrt …«
Robert Lowell

August 1959

1

Als Lily den Schuss hörte, war es siebzehn Minuten vor eins. Sie wusste es so genau, weil sie, ohne aus dem Fenster in die Dunkelheit hinauszublicken, in der der Schuss widerhallte, die Spange der Diamantarmbanduhr schloss, die Everett ihr vor zwei Jahren zu ihrem siebzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie betrachtete die Uhr lange an ihrem Handgelenk, dann setzte sie sich auf die Bettkante und zog sie auf.

Als sich die Uhr nicht weiter aufziehen ließ, stand sie, nach dem Duschen noch barfuß, auf, nahm eine Flasche Joy, schüttete sich einen Schwall davon in die Hand und griff in den Ausschnitt ihres Kleides, um das Nass wie ein schützendes Zaubermittel über ihre kleinen nackten Brüste zu verteilen: Auf den sorgenfreien Seiten der Zeitschriften, in denen Joy regelmäßig zum kostbarsten Parfüm der Welt erklärt wurde, saß nie eine Frau im Schlafzimmer und hörte Schüsse auf ihrem Bootssteg.

Ihr Blick war nicht auf die Fenster gerichtet, sondern auf die gerahmten Fotografien von den Kindern, die über ihrer Frisierkommode hingen (Knight mit acht, der in seiner Pfadfinderuniform strammstand; Julie mit sieben, in demselben Sommer). Lily verweilte mit der Hand unter ihrem Kleid, bis das Joy verdunstet war, bis nichts mehr zu tun war, als die Schublade aufzuziehen, in der sich der .38er befand, seit Everett damals die Klapperschlange auf dem Rasen getötet hatte: die Schublade, wo der .38er immer noch hätte liegen müssen, und wo er nicht mehr lag. Sie hatte gewusst, dass er nicht da sein würde.

Neun Stunden zuvor, um vier Uhr, hatte Lily beschlossen, dass sie nun doch nicht zu der Party der Templetons gehen würde. Es war einfach zu heiß. Den ganzen Nachmittag hatte sie oben verbracht und bei geschlossenen Fensterläden und mit angestelltem Ventilator im Slip auf dem Bett gelegen. Everett war draußen auf den Hopfenfeldern und zeigte einem Farmer, der weiter unten am Fluss lebte, das neue Bewässerungssystem; Knight war in die Stadt gefahren; Julie war vermutlich irgendwo mit einem der Templeton-Zwillinge unterwegs. Sie wusste es nicht genau.

Die Nachmittage verliefen eigentlich immer so. Ende Juni, nach all den Scherereien, hatte sie angefangen darauf zu bestehen, dass sich alle nach dem Lunch hinlegten. An drei Nachmittagen waren auch alle nach oben gegangen, aber am vierten hatte sie Julie unten am Telefon sprechen hören. (»Das kann nicht dein Ernst sein. Er hat geschworen, dass sie vor Monaten Schluss gemacht haben.«) Und am fünften war sie, wie gewöhnlich, allein im Haus. Everett und die Kinder hatten ihren Vorschlag dennoch außerordentlich liebenswürdig aufgenommen: Wenn es ein Wort gab, das beschrieb, wie sich seit Juni jeder zu jedem verhielt, dann war es das Wort liebenswürdig. So war es den Sommer über gewesen, als ob eine einzige Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen alles wieder zerreißen, als ob ein einziges unbedachtes Wort das Gebäude, das sie umgab, endgültig zum Einsturz bringen könnte.

Sie stand auf und öffnete einen Fensterladen. Noch immer flimmerte die Hitze in der Luft, so konzentriert, als könnte sie sich jeden Moment wie eine Brandbombe entzünden. Nach dem Abendessen würde sie noch einmal unter die Dusche gehen, die Fenster aufreißen und eins von Knights Büchern lesen. Der Fußboden seines Zimmers war vollgestapelt mit Büchern. Es kam ihr so vor, als ob Knight den ganzen Sommer damit zugebracht hätte, die Sachen, die er nach Princeton mitnehmen wollte, einzupacken, auszupacken, zu ordnen und neu zu ordnen. Er hatte bereits so viele Bücher eingepackt, die an die Ostküste geschickt werden sollten, dass Everett ihn schließlich fragte, ob er glaube, dass die Bibliothek von Princeton für Erstsemester verboten sei. »Warum soll ich sie hier lassen«, hatte Knight mit einem Achselzucken erwidert, und einen Moment lang hatte Lily ihn dafür gehasst; sie hatte Boshaftigkeit in seine sanfte Stimme hineingehört, während sie beobachtete, wie Everetts Gesicht den Ausdruck betonter Sorglosigkeit annahm.

Wie auch immer, sie wollte versuchen, heute Abend zu lesen, obwohl sie es immer schwieriger fand, sich zu konzentrieren; in letzter Zeit hatte sie nur Bücher über Chicagoer Gangster oder Schriften von Meereskundlern lesen können. Das Massaker am Valentinstag und die Abgrundtiefe des Mindanao-Meeres waren gleich weit weg und interessierten sie brennend. Als Knight letzte Woche nach Berkeley fuhr, hatte sie ihn gebeten, ihr aus einem der Taschenbuchläden in der Telegraph Avenue ein paar Neuerscheinungen mitzubringen. Die Bücher, hatte Knight sie daraufhin belehrt, würden sich mit Sicherheit auch in Sacramento auftreiben lassen. Offenbar habe sie noch nicht registriert, dass es in Sacramento inzwischen Taschenbuchläden gebe. Sie und sein Vater bekämen wohl nie mehr in ihre Köpfe, dass sich in Sacramento alles verändert habe, dass Aerojet General und Douglas Aircraft und sogar das State College eine völlig neue Klasse von Menschen in die Gegend gebracht hätten, Menschen von der Ostküste, Menschen, die Bücher läsen. Sie und sein Vater würden überrascht sein – vorausgesetzt, dass sie überhaupt mal aufwachten –, feststellen zu müssen, dass in Sacramento niemand mehr die McClellans kannte. Oder die Knights. Obwohl er nicht glaube, dass sie jemals aufwachen würden. Sie würden einfach fortfahren, ihre gottverdammten verwahrlosten Kamelienbäume im Capitol Park nach ihren gottverdammten Pionieren zu nennen.

Zwar hatte sie wenig Hoffnung, dass Knight ihr überhaupt neue Bücher über Columbus Iselin oder Mad Dog Coll mitbringen würde, doch war es immer noch besser, einfach im Dunkeln zu sitzen und die Scheinwerfer auf der Uferstraße zu verfolgen, als zu Francie Templeton zu gehen, wo alle schwitzten und jemand zu viel trinken und zu vertraulich werden würde. Der Besuch der Partys am Fluss war inzwischen genauso unerfreulich wie das Betrachten unscharfer Amateurfilme, die, Rolle für Rolle, durch zu häufiges Vorführen ein bisschen zerschrammt waren. Das ist die Küche, und das da ist Joe Templeton, der versucht, Francies Glas in den Ausguss zu schütten; da, Francie, sie stampft mit dem Fuß auf, dabei ist es noch nicht einmal Mitternacht; pass auf, jetzt kommt die kleine Jennie Mason, sie sucht im Garten nach Bud Mason; diese Szene muss man sich merken; denn gleich kann man sehen, wie Jennie Mason (die in einer Sequenz, die aus dieser Rolle herausgeschnitten worden ist, bedauerlicherweise, aber nachvollziehbar, Bud Masons Aufenthalt im Garten mit Lily McClellan falsch auffasst) von Everett McClellan getröstet wird; das da ist Everett, der da, der mit der Leidensmiene. Das verstand man sogar ohne Ton. Auf die kleinen Jennies Soundso war Verlass, auf die immer gleichen Gesichter, die immer gleichen Spiele; im vergangenen Jahr, als Ryder Channing auf einer von Francies Partys provozierend feststellte, dass er fünf von den zehn anwesenden Männern Geld schuldete, musste Lily daran denken, dass sie mit sieben von den zehn im Bett gewesen war und dass sie sich bei vier von ihnen nicht mehr genau an das Wann und Wo erinnern konnte. Und jeden empfand sie jetzt als Geschmacksverirrung. Obwohl sie seit Juni keine Party am Fluss mehr besucht hatte, konnte sie sich mit derselben entstellenden Klarheit, die über dem ganzen Juni hing, daran erinnern, was nach der Party geschehen war: Es war zwar nicht die erste Party, die sie verließ, um in ein Hotelzimmer zu gehen, doch zum ersten Mal ging sie ins Senator-Hotel, das für sie immer noch das Hotel ihres Vaters war. Ihr Vater hatte die Bar im Senator geliebt, und als sie klein war, hatte er sie öfter mitgenommen und ihr eine Limonade mit Grenadine spendiert. (Am Morgen nach der Party presste sie sich Everetts Kopfkissen auf den Bauch und grub die Fingernägel tief in ihre Arme, bis sie blaue Flecken bekam, aber mittags, als sie ganz allein zum See fuhr, war sie so weit, Everett die Schuld an allem zu geben. Es wäre nicht passiert, wenn Everett auf der Party gewesen wäre, statt zu Hause zu bleiben und über seine Schwester nachzugrübeln, nichts von alledem wäre jemals passiert, wenn Everett da gewesen wäre.)

Besser, du lässt es sein, hatte Ryder Channing an jenem Junitag am See, der Teil der Scherereien war, gesagt, und obwohl Ryder der Letzte war, der ihr diesen Rat geben durfte, hatte er recht. Auf einer Party konnte alles wieder losgehen – zwei Drinks, jemand, der nicht aus der Stadt war, Everett, der sich nicht um sie kümmerte, mehr brauchte sie nicht – und als Everett um halb fünf nach oben gekommen war, hatte sie ihm gesagt, dass sie nicht zu Francie Templeton gehen würde.

»Es ist zu heiß. Geh du, wenn du willst.«

Sie bürstete ihr Haar, zog es vor ihr Gesicht und versuchte, die grauen Haare zu finden, die Julie im Dunkelblond entdeckt haben wollte. Lily konnte sich nicht vorstellen, graues Haar zu haben: Erstens war sie noch nicht siebenunddreißig, und außerdem gehörte zu ihrem Stil eine verführerische Zerbrechlichkeit. Mit grauen Haaren würde sie nicht mehr verführerisch zerbrechlich aussehen, sondern nur noch zerbrechlich.

»Knight und Julie gehen auch hin«, fügte sie hinzu.

Everett setzte sich ans Fenster. Sein Gesicht und sein Khakihemd waren fleckig vor Staub und Schweiß. »Ich finde, du solltest hingehen. Sie rechnen mit dir.«

»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie sanft. »Dafür kann ich nichts, nicht wahr? Das würde jeder als höhere Gewalt akzeptieren. Sogar Francie Templeton. Ich erkälte mich, wenn ich mit nassem Hemd neben einem Ventilator sitze.«

»Du und deine Mutter.«

»Das ist angeboren. Das habe ich in Readers Digest gelesen. Von fünf New Yorker Ärzten. Wie man Kopfschmerzen für sich einsetzen kann. Egal. Geh du hin.«

»Gut«, sagte er müde. »Einverstanden.«

Everett pfiff kaum hörbar durch die Zähne. Das und das Surren des Ventilators waren die einzigen Geräusche, die die Stille unterbrachen. Lily spürte, dass er die Augen nicht von ihren nackten Armen wandte, während sie sich das Haar bürstete.

»Wir könnten diesen Winter wegfahren«, sagte er unvermittelt.

»Wegfahren«, wiederholte sie. »Wegfahren, wohin?«

»Wir könnten verreisen. Wir könnten mit einem dieser Schiffe fahren, die einundvierzig Tage oder so unterwegs sind. Oder wir könnten nach Alaska fahren, oder nach Australien, nach Europa oder sonst wo hin.«

»Aber doch nicht nach Alaska, Baby, ich meine, im Winter ist es dort bestimmt nicht lustig.«

»Irgendwohin«, beharrte er.

»Australien. Stell dir das vor.«

»Hör mal«, sagte Everett. »Das würde mir gefallen. Das haben wir noch nie gemacht. Wir sind noch nie zusammen weggefahren. Eine lange Reise. Das würde dir guttun.«

Es war nicht Everetts Art, wegfahren zu wollen. Seit dem Krieg hatte er die Ranch nur gelegentlich an Wochenenden verlassen, zu Versammlungen der Farmer oder zu Beerdigungen im Tal unten; man hätte ihn auch für einen bäuerlichen Ivar Kreuger halten können, den Wächter eines gefährdeten Reiches, das ständig kontrolliert und in Bruchteilen von Sekunden in den Griff bekommen werden musste. Obwohl sie ihn angefleht hatte, mit ihr und den Kindern zu kommen, als sie im Sommer 1957 nach Europa fuhren (Bitte, Everett. Es macht keinen Sinn, wenn du nicht mitkommst, Baby, es ist zwecklos, mich allein irgendwo hinzuschicken, es wird nur genau wie immer sein, wenn ich wiederkomme, bitte, Everett), hatte er sich geweigert.

»Könntest du denn weg?«, fragte sie jetzt.

»Ich glaube schon.« Er stand auf und öffnete einen Fensterladen. »Jedenfalls«, fügte er hinzu, »du und Julie, ihr könntet fahren.«

»Sie kann nicht einfach die Schule schwänzen. Sie muss sich auf das College vorbereiten, und außerdem meint sie, dass sie verliebt ist. Sie glaubt, dass sie sich in diesen Studenten aus Berkeley verliebt hat. Ich bezweifle, dass sie sich lange genug von ihm losreißen können wird, um uns zum Schiff zu bringen.«

»Du meinst doch nicht etwa den Jungen, den sie mitgebracht hat.«

»Doch, genau den.«

»Den konnte ich nicht ausstehen. Das weißt du.« Everett hielt inne. »In dem Jackett sah er wie ein kleiner Itaker aus.«

Lily sagte nichts. Der Junge war eins neunzig, zehn Zentimeter größer als Everett; fast so blond, wie Everett in dem Alter gewesen und Knight jetzt war; und er hatte, als er an einem Julitag hochgefahren war, um Julie zu treffen, ein Madrasjackett getragen, das haarscharf genauso aussah wie das, welches in Knights Kleiderschrank hing. Everett fand ihn unsympathisch, weil er sich einen Drink gemacht und Julie auch einen angeboten hatte.

»Jedenfalls«, sagte Lily schließlich, »geht es doch wohl nicht darum, dass ich mit Julie wegfahre. Oder doch?«

»Eine Reise würde dir guttun«, wiederholte Everett, ohne sie anzusehen.

»Das würde nichts ändern.«

»Abwarten«, sagte er. »Lange Ferien.«

Sie lehnte sich an das Kopfende des Nussholzbetts, bis die geschnitzten Blätter in ihren Rücken schnitten. Lange Ferien.

Everett setzte sich neben sie, nahm ihr die Bürste aus der Hand und bürstete ihr Haar. Als sie den Kopf an seinen Arm schmiegte, legte er die Bürste weg und massierte ihre Schultern.

»Julie sagt, sie hätte Grau gesehen«, sagte Lily.

»Das ist doch nicht so schlimm, oder?«

»Sie findet das elegant. Sie findet, es sieht sehr elegant aus, dass du grau wirst. Sehr elegant und an der Zeit. Ich habe ihr gesagt, dass man im Allgemeinen mit vierzig noch nicht jenseits von Gut und Böse ist, aber sie hat mich nur angesehen.«

Everett massierte Lilys Nackenmuskeln. »Julie ist ganz in Ordnung.«

»Das finde ich auch. Das lindert meine Kopfschmerzen.«

»Leg dich hin«, sagte er, die Hände immer noch auf ihren Schultern.

Sie schlug mit einer Hand die Decke zurück, streifte mit der anderen ihren Slip hinunter und kickte die Strohsandalen weg. Sie lag auf dem Laken und sah zu, wie Everett die Fensterläden wieder schloss und sich auszog. Sie hatte immer bewundert, wie feingliedrig er ohne seine Kleider aussah. Er war der einzige Mann, dessen Körperbau ihr genau richtig vorkam.

»O Gott«, flüsterte sie, als sie nach ihm griff. »Everett, Baby, wir sind so müde.«

Er war noch nicht fertig, als sie zu weinen anfing, ein tränenloses Schluchzen, das sich aus Lust zusammensetzte und aus Müdigkeit, und noch lange nachdem es vorbei war, klammerte sie sich an ihn, ihre Schultern bebten unter ihrem leisen, stoßweisen Schluchzen, ihre Beine umschlangen ihn. (Sie konnten jetzt nur noch am Nachmittag oder mitten in der Nacht zusammen liegen, wenn sie beide schon etwas geschlafen hatten; bis auf eine kurze Zeit in den ersten Jahren nach ihrer Heirat konnten sie nicht einfach das Licht ausknipsen und sich einander zuwenden. Stattdessen überkam sie so etwas wie Stolz, Zurückhaltung, Widerwillen. Im Lauf der Jahre hatten beide viel gelesen.) Ermattet hörte Lily den Ventilator, die Mücken, Knights Auto vor dem Haus; ohne sich zu bewegen, hörte sie das penetrante Klingeln des Telefons und schließlich ein Klopfen an der Schlafzimmertür.

»Knight, deine Ma schläft«, rief China Mary aus der Küche. »Sag ihm, er soll noch mal anrufen.«

»Von wegen noch mal anrufen«, murmelte Everett im Halbschlaf. »Warum sind sie überhaupt rangegangen? Warum stellen sie es nicht leiser, damit sie es gar nicht erst klingeln hören.«

»Warum schläfst du nicht einfach ein«, flüsterte Lily und küsste ihn auf die Wange. Everetts Widerwillen, das Telefon abzunehmen, hatte sie zu Beginn ihrer Ehe als großes Kompliment empfunden: We won’t have it known, dear, that we own a tel-epho-own. Es dauerte fast zwei Jahre, ehe ihr bewusst wurde, dass das nichts mit ihr zu tun hatte, dass Everett das Telefon genauso behandelte wie seine Post: so vorsichtig, als ob er einem nächtlichen Geräusch an der Kellertür auf den Grund gehen müsste.

»Bleib du einfach mal einen Moment ruhig liegen«, fügte sie hinzu, »und ich werde dir einen Drink holen.«

Obwohl sie gern noch eine weitere Stunde mit Everett auf dem Bett gesessen und mit ihm geflüstert und Bourbon getrunken hätte (wieder klingelte zweimal das Telefon), gingen sie schließlich nach unten, zum Abendessen. Julie verspätete sich, sie kam einige Zeit nach den Artischocken, mit erhitztem Gesicht, strahlenden Augen, in einem Baumwollhemd, das sie sich über den Badeanzug gezogen hatte, das nasse blonde Haar mit einem ausgebleichten rosa Ripsband zusammengebunden (sie hatte Mrs Templetons Thunderbird gefahren und redete über die Beschleunigung im ersten Gang – keine Automatik, ein Thunderbird mit Knüppelschaltung, wenn ihr euch das vorstellen könnt), und irgendwann zwischen den Artischocken und Julies Erscheinen ging Lily ans Telefon, sagte Ryder Channing, dass sie abends zu Hause sein würde, was eigentlich eine einfache Übung war, aber natürlich lief bei ihr nichts einfach. Everett fragte nicht, wer angerufen hatte (er wusste es, er wusste es immer), und als sie sah, dass die Hitze und die Anspannung die Ader auf seiner Stirn anschwellen ließen, wusste sie, dass sie irgendetwas sagen musste. Was sie bemüht beiläufig in einem wirren Ansturm von Schuld und Liebe sagte, war, dass sie vielleicht doch zu den Templetons gehen würde. Bei ihr lief eben nichts einfach. Die Anspannung in Everetts Gesicht löste sich etwas, und alles würde gutgehen. Sie konnte mit ihrem Auto fahren, früh wieder gehen (sie hatte, wie Everett wusste, Kopfschmerzen), sich mit Ryder auf dem Bootssteg treffen, aber nur für einen Moment; später dann würde sie sich irgendetwas ausdenken, um alles wieder auszubügeln, alle glücklich zu machen. Das Abendessen wenigstens war gerettet. Trotzdem wünschte sie sich jetzt, dass sie gar nicht ans Telefon gegangen wäre. Sie wünschte sich, dass sie und Everett im Bett geblieben wären, während die Sonne langsam aus dem Zimmer wanderte, das Zirpen der Grillen begann und der Abendwind über dem Fluss aufkam (im ersten Ehejahr hatten sie das manchmal gemacht, waren in der anbrechenden Dunkelheit im Bett geblieben, hatten hin und wieder einen Schluck aus der Flasche Bourbon getrunken, die Everett immer neben dem Bett stehen hatte); jetzt bedauerte sie, dass sie nicht von fünf Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen unerreichbar auf dem Nussholzbett liegen bleiben konnten.

2

Everett saß fünfzehn Minuten auf dem Bootssteg, bis Lily kam. Er hörte sie, lange bevor er sie sah, weil der Mond um diese Zeit, um eins, vollständig untergegangen war. Obwohl die Lichter der weiter flussabwärts gelegenen Häuser auf dem Wasser glitzerten, wurden die eineinhalb Meilen Flussufer, die den McClellans gehörten, nur durch das gleichmäßige Blitzen der Bojen der Küstenwache beleuchtet; die Lampe am Steg funktionierte nicht. Durchgebrannt. Seit wann, wusste er nicht. Liggett erinnern, dachte er. Die Stegbeleuchtung beunruhigte ihn auf einmal. (Erst die Stegbeleuchtung, als Nächstes ein schadhafter Zaun, dann womöglich Macken an der Pumpe, und schon wäre sie hinüber. Und bald würde das ganze Anwesen zerfallen, es würde vor seinen Augen verschwinden, sich zurückverwandeln in was immer es gewesen sein mochte, als sein Urgroßvater zum ersten Mal das Tal betrat.) Durch das Eichen- und Pappelwäldchen konnte Everett ein einsames Licht im zweiten Stock des Hauses erkennen; die unteren Stockwerke verdeckte der Deich.

In diesen fünfzehn Minuten dachte Everett nur an die Stegbeleuchtung (Liggett musste auf so etwas besser achtgeben) und die Hopfenfelder. Obwohl er immer noch den .38er Revolver seines Vaters in der Hand hielt, dachte er darüber ebenso wenig nach wie über Ryder Channings Taschenlampe, die immer noch brannte. Ihr schwacher Schein sickerte durch das trübe, fünf Zentimeter tiefe Wasser, wo sie sich im Gewirr der Wurzeln verfangen hatte. Nächste Woche würden sie den Hopfen ernten, die Hopfenreben von den Schnüren schneiden. Jedes Jahr im August, unmittelbar vor der Ernte, wurde Everett von einer einzigen Furcht durchströmt, einer intensiven Angst, intensiv wie ein quälender Alptraum: Er war fest davon überzeugt, dass der Darrofen, in dem der Hopfen trocknete, explodieren würde. Manchmal ging er nach unten und saß die ganze Nacht in der Küche, weil er vom Küchenfenster aus den Darrofen sehen konnte. Nicht, dass der Verlust der Ernte ihn in diesem oder irgendeinem anderen Jahr ruinieren könnte: diesen Sommer hatte er weniger Morgen Hopfen als vor fünfzehn Jahren, als sein Vater starb. Mit Hopfen ließ sich kein Geld mehr machen: Alle Farmer am Fluss gaben allmählich den Anbau auf. »Es handelt sich hier um eine Kombination von Faktoren«, hatte er versucht, seiner Schwester Sarah und ihrem dritten Ehemann zu erklären, als sie im Juni auf der Durchreise von Philadelphia nach Hawaii zu Besuch kamen. (»Nicht Honolulu, Everett«, hatte Sarah ihn korrigiert. »Maui. Oahu ist seit Jahren versaut.«) Der Reihe nach hatte er wiederholt, was die Abnehmer ihm erzählten. »Deine Aktien werfen nicht mehr so viel ab wie früher, weil wir nicht mehr so viel verdienen wie früher. Zum einen trinken die Leute nicht mehr so viel Bier wie früher. Zum anderen produzieren die Brauer ein leichteres Bier, wie sie es nennen; mit weniger Hopfen.«

Der Verlust des Hopfens würde Sarah nichts bedeuten. Nichts, was die Ranch anging, hatte Sarah jemals etwas bedeutet. Aber Everett hatte die ganze Woche lang wenig mehr als das vertraute Bild gesehen: einen brennenden Darrofen, Flammen, die hoch in den nächtlichen Himmel schlugen und trotzdem (unmöglich, wie in einem Alptraum) kein Licht in die Dunkelheit warfen. Dieses Jahr würde es bestimmt passieren, dachte er jetzt.

Als er Lily hörte, blieb er regungslos sitzen. Plötzlich bemerkte er den .38er Revolver in seiner Hand, das Blut auf dem Ärmel des Dacron-Anzugs, den Lily ihm in San Francisco bei Brooks Brothers gekauft hatte. Er hörte ihre hohen Absätze auf der Holztreppe vom Deich zum Flussufer. (Du lieber Himmel, dachte er mit diffuser Zärtlichkeit, hochhackige Schuhe, um sich am Strand vögeln zu lassen.) Er hörte, wie sie die Zweige der Eichen zur Seite schob, hörte, wie sie seinen Namen rief.

Everett, rief sie, lange ehe sie ihn auf dem Anleger gesehen haben konnte. Sie rief nach ihm, nicht nach Channing, beantwortete damit die Frage, die er nie gestellt hatte: Würde sie den Schuss hören und zu ihm kommen, oder würde sie kommen, um sich, wie immer, mit Channing zu treffen; würde sie es wissen und zu ihm kommen, oder würde sie zu Channing kommen, würde sie sauber und ahnungslos aus der Dusche kommen, unter der sie vor etwa zwanzig Minuten gestanden hatte, würde sie kommen, weil sie mit dem Boot eine halbe Meile flussabwärts fahren wollte, weil sie vorhatte, sich dort mit Channing auf die Sandbank zu legen, auf der Knight und Julie ihre Strandpartys abhielten. (Er hatte die Dusche gehört, als er ins Haus gegangen war, um den Revolver aus der Schublade zu holen, er hatte den Dampf in der offenen Badezimmertür gesehen, hatte gehört, dass sie eine Melodie summte, deren Text sie nie behalten konnte: We will thrive on keep alive on / just nothing but kisses.) Sie hatte also den Schuss gehört und war zu ihm gekommen: Sie hatte Everett gerufen.

Als er aufstand, hielt er immer noch den Revolver in der Hand. Lily stand am Aufgang zum Steg, blickte erst zu ihm, dann zu Channings Leichnam, der ausgestreckt auf einer morschen Planke lag. In diesem Moment, noch bevor einer von ihnen sprach, schoss es Everett durch den Kopf, dass Lily nicht mehr so hübsch war wie früher. Nie hatte irgendjemand sie als schön bezeichnet, aber sie hatte eine zwingende Zerbrechlichkeit an sich, eine Täuschung, die nicht nur durch ihren Körper vermittelt wurde, sondern auch durch ihre Augen. Nicht, dass ihre Augen eine bemerkenswerte Farbe hätten (haselnussbraun müsste in ihrem Führerschein stehen) oder einen ungewöhnlichen Schnitt. Es war einfach nur so, dass sie größer zu sein schienen als irgendetwas sonst an ihr, was bewirkte, dass allein ihre Gegenwart, wie die eines Menschen, der sich im Hungerstreik befindet, zu einer Art emotionaler Herausforderung wurde. Jetzt erschöpfte es ihn, sie anzusehen: Ihre Augen waren zu groß.

»Ich schätze, er war hier, um sich mit dir zu treffen«, sagte Everett und schlug mit der freien Hand nach einer Mücke. Er sah Channings Leichnam nicht an.

Sie schwieg. Unfähig, einen Gedanken zu fassen, wünschte Everett sich, dass sie wieder ins Haus und ins Bett gehen könnten; er wollte ihr einen Drink machen, Bourbon mit zerstoßenem Eis, so wie sie es mochte, mit ihr friedlich im Dunkeln unter dem Moskitonetz sitzen.

»Das war unnötig«, sagte sie schließlich mit kaum hörbarer Stimme. »Unnötig.«

Dann begann sie zu weinen. Everett stand da und sah sie an, bis ihr Schluchzen jenen hilflos automatischen Ton annahm, der anzeigte, dass sie außer sich geriet, dass sie eine unsichtbare Grenze überschritt, ihr kartographisch nicht erfasstes Privatterritorium des Schreckens betrat. Ein plötzlicher oder unerwarteter Tod, der Anblick eines Fremden, der Narzissenzwiebeln pflanzte, oder die Erinnerung an einen alltäglichen, vergessenen Nachmittag (zum Beispiel, als sie mit den Kindern im Golden Gate Park waren, ihnen die geschnitzten Seepferdchen im Aquarium zeigen wollten und die Seepferdchen nicht mehr da waren) konnten Lilys Hysterie ausbrechen lassen. »So sollten die Menschen leben«, hatte sie bei dem Gärtner mit den Narzissen gesagt; er hatte ihr vorgeschlagen, sie könne vor dem Haus Narzissen pflanzen. Er fragte sich, ohne wirkliches Interesse, ob Channing Lily je weinen gesehen hatte. Wahrscheinlich, überlegte er. Wahrscheinlich hat jedes Arschloch am Fluss sie weinen gesehen.

Er legte den Revolver auf den Bootssteg und ging zu ihr. Der Pullover war ihr von den Schultern gefallen, und er blieb stehen, um ihn von der schmutzigen Erde hochzunehmen. Es war ein rosa Kaschmirpullover von Julie. Hinten am Hals war eines der Wäschebänder mit ihrem Namen eingenäht, die Lily gekauft hatte, als Julie auf die Schule der Dominikanerinnen kam. Julia Knight McClellan. Julie war jetzt genauso schön wie Lily früher. Obwohl ihr feines, fast weißblondes Haar Everett immer an seine Schwestern erinnerte. (»Sie sieht vielleicht wie Sarah aus, aber Martha sieht sie nicht im Entferntesten ähnlich«, hatte Lily im Sommer fast geschrien. »Ich weiß nicht, wieso du das auch nur sagen kannst.«) Im Großen und Ganzen sah Julie immer mehr wie Lily aus: Sie bewegte sich wie Lily, hatte sogar ihr scheues, zögerndes Lächeln, das bei Lily inzwischen nur noch eine Marotte war. (Hatte er nicht gerade erst vor einer Stunde, auf der Party der Templetons, beobachtet, wie Julie sich am anderen Ende des Zimmers mit einer für Lily typischen, fahrig raschen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob? Lily, hatte er gedacht, und in dem kurzen Moment, der zwischen dem Sehen der Geste lag und dem Erkennen, dass es doch nicht Lily war, sondern Julie, wurde sein Gesicht kalt vor Erleichterung und Scham. Bis zu diesem Moment der Gewissheit hatte er sich die Frage verwehrt, wo Lily war. Erst da wurde ihm bewusst, dass er sich seit einer halben Stunde nicht aus dem Zimmer gerührt hatte, dass er absichtlich dort geblieben war, um sich in dem Glauben zu wiegen, dass Lily auf der Terrasse war oder unten, im Klavierzimmer. We will thrive on keep alive on / just nothing but kisses. Julie trug ein weißes Kleid mit tiefem Rückenausschnitt, und er starrte ihren sonnenverbrannten Rücken an, als ob er ihn nie zuvor gesehen hätte. Was er nie zuvor gesehen hatte, war, dass ihr Rücken genau wie Lilys aussah. Man konnte die zarten Wirbel erkennen. Lily und Julie hielten sich beide sehr gerade, sie nahmen ihre schmalen Schultern zurück, als wollten sie die Wirbel verstecken. Wie in Trance hatte er auf Julies Rücken gestarrt und sich gereizt gefragt, warum sie kein Kleid trug, das ihren Rücken bedeckte, als er eine Hand auf der Schulter spürte. Er war so nervös, dass er zusammenzuckte. Es war Francie Templeton. »Everett, du brauchst einen Drink«, lachte sie; er lächelte und legte ihr den Arm um die bloßen Schultern. »Genau, Francie«, hatte er gesagt. »Ganz genau.« Sie war also schon gegangen, dachte er nun; zum ersten Mal versuchte er, sich eine zeitliche Reihenfolge vorzustellen.

Der Wind, der sich über dem Fluss erhob, wehte durch die Stille und die brütende Hitze, raschelte in den trockenen Blättern und ließ das Wasser an den Steg spritzen, wiegte den kleinen Kabinenkreuzer in seiner Verankerung, zerrte Channings Taschenlampe aus dem Gewirr der Wurzeln in die Strömung des Flusses. Weiden sind silbern, Espen zittern. Das war die einzige Verszeile, die Everett auswendig kannte: Er hatte sie vor etwa dreißig Jahren gelernt und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wer das geschrieben hatte oder wie es weiterging, aber wenn der Wind über dem Fluss aufkam, ertappte er sich häufig dabei, dass er diese Zeile im Kopf aufsagte. In Colorado hatte er einmal Zitterpappeln gesehen, meilenweit, und sich für die Ranch welche gewünscht.

Er klopfte die Blätter und den Staub von Julies Pullover und legte ihn Lily um die Schultern. Sollte der Wind aufkommen, wenn der Darrofen brennt, dachte er nebenbei, dann könnte das Haus draufgehen. Er strich Lily übers Haar, stellte sich die Eukalyptushecke vor, durch die die Flammen fuhren, die an der Nordseite die große Fläche mit dem dichten staubigen Efeu erfassten, aufglommen, dann unaufhaltsam an der Fachwerkfront des Hauses hochschlugen, konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass Lily im Feuer gefangen war. Und vergeblich schloss er die Augen, um die hässliche Vorstellung ihres zarten Skeletts in der weiß glühenden Ruine zu verbannen.

»Du hast gewusst«, sagte sie endlich, ihr Schluchzen unterbrochen von einem trockenen Husten, »du hast gewusst, dass das unnötig war.«

Er verstand ihr Flehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Er wünschte sich, er könnte sie trösten (es war unnötig, Lily, unnötig, es ging nicht um dich, Lily, es hat nichts mit dir zu tun), weil es in der Tat nichts mit ihr zu tun hatte. Jetzt, da es geschehen war, jetzt, da Channings Leiche zwischen ihnen und dem Fluss lag, kam es Everett so vor, als ob es überhaupt nichts mit ihnen zu tun hatte, am allerwenigsten mit Lily; dass sie alle, er selbst, Lily und Channing einfach Zuschauer eines Geschehens waren, das vor langer Zeit anderen Menschen widerfahren war.

»Du hast ihn erschossen«, flüsterte Lily.

Everett nickte. Plötzlich war er erschöpft. Vielleicht hat sie es nicht begriffen, dachte er, gelähmt von der Vorstellung, es ihr doch noch erklären zu müssen. (Er hatte gedacht, dass wenigstens das zwischen ihnen klar sei, er hatte gedacht, sie wüsste, dass es ausnahmsweise mal etwas gab, worüber es sich zu weinen lohnte.) Vielleicht hatte sie es gerade eben kapiert. Dann sah er, dass sie an ihm vorbei blickte, auf den Steg, wo der Revolver jetzt lag. Und da begriff er, dass sie nur eines wissen wollte: Was würde er jetzt machen?

Er hatte nicht darüber nachgedacht, ob es Alternativen, Lösungen, nächste Schritte geben könnte. Obwohl er sich im Moment nicht darauf konzentrieren konnte, wie es geschehen war oder was als Nächstes geschehen würde, schien er immer gewusst zu haben, dass es geschehen würde, er schien es immer vorausgesehen zu haben, so wie den Brand des Darrofens. Nicht nur, dass es geschehen würde, sondern dass alles, was er kannte, zerstört werden würde. Lily meinte etwas anderes: Du hast ihn erschossen, meinte sie. Was nun?

Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Lily immer darauf geeicht war, die Scherben aufzusammeln, dass sie seltsamerweise auf Notfälle eingestellt war. Die alltäglichen Verrichtungen waren es, die ihr schwerfielen. Sie hätte sich nie ein Kleid ohne seine Zustimmung gekauft, aber sie war, ohne ihn aufzuwecken, Weihnachten mitten in der Nacht zum Krankenhaus gefahren, als der Anruf mit der Mitteilung kam, dass Julie nach dem Weihnachtsball einen Unfall gehabt hatte. In der Nacht, als seine Schwester Martha ertrank, hatte sie innerhalb von zehn Minuten ein Beatmungsgerät zum Steg geschafft. Und einmal, vor vielen, vielen Jahren, hatte sie Knight buchstäblich das Leben gerettet: Er hatte mit Knight auf dem Rasen gespielt, als Knight wegkrabbelte und sich an einer zerbrochenen Coca-Cola-Flasche den Fuß aufschnitt. Er hatte minutenlang dagekniet, Knight in den Armen gehalten und hilflos zugesehen, wie das helle rote Blut auf den Rasen spritzte. Damals, wie jetzt, konnte er nicht denken. (Damals kam Lily, die sie vom Haus beobachtet hatte, mit einem Geschirrtuch angerannt, sie wusste, wie man die Blutung stoppt, und schließlich bugsierte sie Everett und das Baby in den Pick-up und fuhr sie, ohne den Fuß auf der kurvenreichen Uferstraße auch nur einmal vom Gas zu nehmen, die fünfundzwanzig Meilen ins Unfallkrankenhaus nach Sacramento. Knight wäre fast gestorben, und vielleicht wäre er sogar noch im Wartesaal des Unfallkrankenhauses gestorben, wenn Lily den Pfleger nicht geohrfeigt und geschrien hätte: Ihre Vorschriften sind mir gottverdammt egal. Sie werden jetzt meinem Kind helfen, ob es nun Einwohner der Stadt Sacramento ist oder nicht. Und beeilen Sie sich. Sonst wird mein Vater den ganzen Laden hier wegen Totschlags verklagen. Auf der Rückfahrt, mit Knight auf dem Schoß, weinte sie zum ersten Mal: Sie hatte vergessen, sagte sie, dass ihr Vater bereits tot war.)

Lilys Hand lag auf seinem Arm.

»Hatte Ryder eine Waffe?«, flüsterte sie.

»Ich kann dich nicht verstehen«, sagte Everett barsch. Warum flüsterte sie, obwohl sie genau wusste, dass es im Umkreis von mehreren Meilen außer ihnen nur einen Menschen gab (Julie und Knight würden immer noch bei den Templetons sein, und Liggett und die Mexikaner waren in der Stadt, denn es war Samstagabend), und der einzig mögliche Zuhörer, der, um den es ging, war tot.

Lily trat einen Schritt zurück und starrte ihn an.

»Du brauchst nicht zu flüstern«, sagte er und wischte sich eine Mücke aus dem Gesicht.

»Ich will wissen, ob er eine Waffe hatte.«

»Was glaubst du? Glaubst du, dass er eine hatte? Er war, verdammt noch mal, nicht hier, um auf Fasanenjagd zu gehen, oder?«

»Er hat dich bedroht.«

Everett blickte zum Fluss. »Nein«, sagte er. »Er hatte keine Schusswaffe, und er hat mich nicht mal bedroht.«

»Aber er hätte es tun können, verstehst du?« Lily redete langsam und deutlich mit ihm, wie mit den Kindern, als sie noch klein waren. »Er hätte dich bedrohen können.«

Sie läuft um ihr Leben, dachte Everett. Er schwieg.

»Er hat getrunken, und vielleicht war er hier, weil er mich …« Sie brach ab und sah weg. »Weil er was von mir wollte.«

»Klarer Fall«, sagte Everett. »Das ist gut. Glaubst du, dass der ausgekochteste jüdische Anwalt Kaliforniens zwölf Freunde und Nachbarn zwischen hier und Stockton ausfindig machen könnte, die bestätigen würden, dass du es nicht darauf angelegt hast?«

»Wir könnten uns ein Motiv zurechtlegen.«

»Hör zu«, sagte er. »Hör nur ein einziges Mal zu, und merk dir, was ich sage. So einfach geht das nicht. Es gibt kein Motiv. Das will ich nicht.«

»Du hast jetzt keine andere Wahl mehr.«

»Du hast es immer noch nicht begriffen. Ich will das nicht.«

»Was willst du denn?«, fragte sie ungerührt.

Er sah auf den Fluss. Was willst du denn. Zum einen wollte er mit ihr weggehen. Die Idee, einfach wegzugehen, durchzog schon seit Monaten sein Alltagsleben. Anfangs (so etwa im April) hatte er dabei nicht an eine Reise gedacht, eine Möglichkeit, die ohne weiteres von Reisebüroangestellten, Zahlmeistern von Schiffen, den Büroangestellten der Fluggesellschaften arrangiert werden konnte; selbst im Juli hatte sein Wunsch weder die strahlenden Farben von Urlaubsplakaten und Holiday-Zeitschriften angenommen noch die subtileren, exotischeren Pastelltöne der Landkarten von Rand-McNally. Der Wunsch überkam ihn nur kurz und in seltsamen Momenten: wenn er mit einem Agenten über den Hopfenpreis verhandelte oder wenn er darauf wartete, dass am anderen Ende der Telefonleitung jemand abhob. Noch bevor die Idee eine Form annahm, kalkulierte er sie mit ein: Wenn wir erst weg sind, dachte er zum Beispiel, ohne sich bewusst zu sein, dass er es gedacht hatte.

Eine Reise war nicht viel. Noch sehnlicher hatte er sich in diesem Sommer gewünscht, etwas mit den Kindern zu machen; er hatte nichts mit ihnen gemacht. In ein paar Wochen würde Julie wieder zu den Dominikanerinnen zurück müssen, und vom Sommer würde ihm nur die Erinnerung an die Hitze bleiben. Mehr nicht: die Hitze, und Lily, die bei geschlossenen Fensterläden oben lag; Julie, die aufgekratzt nach Hause kam, weil es so heiß war; die Tatsache, dass die Hitze Sarah so zugesetzt hatte, als sie im Juni zu Besuch war, und dass der kühlste Platz unten war, im Sand, zwischen den Hopfenstangen. In diesem Sommer wirkte das Haus plötzlich zu klein. Zwei Stockwerke. Siebzehn große dunkle Zimmer, genug Platz für drei Generationen vor ihm: Das Haus schien für die vier Mitglieder der Familie nicht groß genug zu sein. Schuld war die Hitze. (»Diese Art von Hitze hatte ich vergessen«, entschuldigte sich Sarah atemlos bei ihrem Mann. »Wenn man dort lebt, wo alles grün ist, vergisst man, wie es hier draußen ist. Ist dir klar, dass es hier seit April nicht geregnet hat und dass es hier bis September auch nicht regnen wird? Ist dir das klar?« Immer noch genauso irritiert wie damals, als Sarah zum ersten Mal fortgegangen war, hatte Everett gesagt, sie brauche, wenn sie Grün sehen wolle, nur den Hopfen anzusehen. Mit dem neuen Bewässerungssystem würden sie, alles in allem, in diesem Sommer wahrscheinlich zehntausend Dollar ausgeben, um den Hopfen so grün halten zu können. »Genau das meine ich«, hatte Sarah gesagt.)

Schuld waren die Hitze und Sarah und die Art und Weise, wie der Sommer angefangen hatte. Everett wollte einen Weg finden, um mit Julie zu reden, er wollte ihr sagen, dass er für sie sorgen würde, dass sie sich vor nichts zu fürchten brauche. Er hatte noch nicht mal einen Weg gefunden, ihr zu sagen, dass sie zu schnell fuhr. Einmal hatte er gesehen, wie sie mit dem Lincoln mit achtzig Sachen die Uferstraße hinunterraste. Und Knight wollte an die Ostküste, allein. Nicht, dass Everett etwas dagegen hatte. Obwohl Princeton nicht seine Idee gewesen war, fand er sie gut; er fand sogar, dass er selbst gern ein Jahr woanders als in Stanford studiert hätte. Aber er wusste, dass Knight die Reise an die Ostküste weniger als Zwischenspiel betrachtete denn als Anfang. Egal, was Knight beteuerte, er dachte nicht daran, wieder auf die Ranch zurückzukommen. Was willst du denn. Was immer er gewollt hatte, hatten die anderen nicht gewollt. Everetts Großvater hatte vor seinem Tod Everetts Vater gesagt, dass das Land am Fluss und die übrigen Farmen, alles in allem etwa siebentausend Morgen, zu gleichen Teilen zwischen seinen drei Enkelkindern aufgeteilt werden sollten. Zwischen Sarah, Everett und Martha. Obwohl sie hier ein Stück Land verkauften und dort etwas dazukauften, gehörte das Land am Fluss noch ihnen, und sie hatten immer noch etwa siebentausend Morgen, die von der Company verwaltet wurden, von der McClellan Company. (Es gab sogar einen Firmenstempel, obwohl Julie ihn vor Jahren zerbrochen hatte, als sie versuchte, einen Lederkoffer damit zu prägen.) Seit Marthas Tod gehörte die McClellan Company Everett und Sarah jeweils zur Hälfte, und Everett managte alles. Knight würde sogar noch mehr Land besitzen. Die ganzen alten Obstplantagen der Knights würden von Lily auf ihn übergehen, und er würde möglicherweise alles zum Verkauf freigeben, noch ehe die Tinte auf den Urkunden getrocknet war. (Knight hatte Sarah als Erster darauf aufmerksam gemacht, dass das Stück Land, das flussaufwärts an die Ranch grenzte, Rancho Del Rio Nr. 1 hieß, und das angrenzende Land flussabwärts, das ein Jahr später erschlossen wurde, Rancho Del Rio Nr. 3. »Sie warten auf ihre Chance«, hatte Knight gelacht. »Sie warten auf Rancho Del Rio Nr. 2.«)

Was willst du denn. Das hatte er Martha in jener Nacht gefragt, in der sie an dem Bootssteg, auf dem jetzt sein Revolver lag, ertrank. (Baby, was willst du denn, hatte er gesagt, was hast du gewollt.) Jedes Mal, wenn Sarah nach Hause kam (obwohl sie es nicht mehr ihr Zuhause nannte), wollte er ihr dieselbe Frage stellen. Und Knight. Und Julie. Er sah wieder zu Lily. Sie hatte diesen leeren, ängstlichen Blick, den sie manchmal nachts hatte, wenn er sie aus einem ihrer Alpträume weckte. Sie hatte immer Angst vor der Dunkelheit. Lieber Gott, was hatte sie denn gewollt?

»Ich will zurück ins Haus«, sagte er.